Johann Gottfried von Herder (1744 - 1803)
Deutscher
Schriftsteller, Theologe, Philosoph,
von dem auch der junge Goethe intensiv beeinflusst
wurde. Herder ist der bedeutendste Theoretiker des »Sturm und Drang«. Seine Geschichtsphilosophie ist im Wesentlichen vom Gedanken der sich ausbreitenden Humanität bestimmt.
In seiner »Abhandlung über den
Ursprung der Sprache« gab er wesentliche Anregungen für
die Entwicklung der Sprachphilosophie. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Humanität
ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck
sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben
Der Zweck einer Sache, die nicht bloß ein totes Mittel ist, muß
in ihr selbst liegen. Wären wir dazu geschaffen, um, wie der Magnet sich
nach Norden kehrt, einen Punkt der Vollkommenheit, der außer uns ist und
den wir nie erreichen könnten, mit ewig vergeblicher Mühe nachzustreben:
so würden wir als blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das Wesen
bedauern dürfen, das uns zu einem tantalischen Schicksal verdammte, indem
es unser Geschlecht bloß zu seiner, einer schadenfrohen, ungöttlichen
Augenweide schuf. Wollten wir auch zu seiner Entschuldigung sagen, daß
durch diese leeren Bemühungen, die nie zum Ziele reichen, doch etwas Gutes
befördert und unsere Natur in einer ewigen Regsamkeit erhalten würde:
so bliebe es immer doch ein unvollkommenes, grausames Wesen, das diese Entschuldigung
verdiente; denn in der Regsamkeit, die keinen Zweck erreicht, liegt kein Gutes,
und es hätte uns, ohnmächtig oder bothaft, durch Vorhaltung eines
solchen Traums von Absicht seiner selbst unwürdig getäuschet. Glücklicherweise
aber wird dieser Wahn von der Natur der Dinge uns nicht gelehret; betrachten
wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen:
so kennen wir nichts Höheres als Humanität im Menschen; denn selbst
wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische,
höhere Menschen.
Zu diesem offenbaren Zweck, sahen wir, ist unsre Natur organisieret; zu ihm
sind unsre feineren Sinne und Triebe, unsre Vernunft und Freiheit, unsre zarte
und daurende Gesundheit, unsre Sprache, Kunst und Religion uns gegeben. In allen
Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn
haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe
auch dachte. Ihr zugut sind die Anordnungen unsrer Geschlechter und Lebensalter
von der Natur gemacht, daß unsre Kindheit länger daure und nur mit
Hilfe der Erziehung eine Art Humanität lerne. Ihr zugut sind auf der weiten
Erde alle Lebensarten der Menschen eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft
eingeführt worden. Jäger oder Fischer, Hirt oder Ackermann und Bürger,
in jedem Zustande lernte der Mensch Nahrungsmittel unterscheiden, Wohnungen
für sich und die Seinigen errichten; er lernte für seine beiden Geschlechter
Kleidungen zum Schmuck erhöhen und sein Hauswesen ordnen. Er erfand mancherlei
Gesetze und Regierungsformen, die alle zum Zweck haben wollten, daß jeder,
unbefehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schönern,
freieren Genuß des Lebens sich erwerben könnte. Hinzu ward das Eigentum
gesichert, und Arbeit, Kunst, Handel, Umgang zwischen mehreren Menschen erleichtert;
es wurden Strafen für die Verbrecher, Belohnungen für die Vortrefflichen
erfunden, auch tausend sittliche Gebräuche der verschiedenen Stände
im öffentlichen und häuslichen Leben, selbst in der Religion angeordnet.
Hiezu endlich wurden Kriege geführt, Verträge geschlossen, allmählich
eine Art Kriegs- und Völkerrecht nebst mancherlei Bündnissen der Gastfreundschaft
und des Handels errichtet, damit auch außer den Grenzen seines Vaterlandes
der Mensch geschont und geehrt würde. Was also in der Geschichte je Gutes
getan ward, ist für die Humanität getan worden; was in ihr Törichtes,
Lasterhaftes und Abscheuliches in Schwang kam, ward gegen die Humanität
verübet, so daß der Mensch sich durchaus keinen andern Zweck aller
seiner Erdanstalten denken kann, als der in ihm selbst, d. i. in der schwachen
und starken, niedrigen und edlen Natur liegt, die ihm sein Gott anschuf. Wenn
wir nun in der ganzen Schöpfung jede Sache nur durch das, was sie ist und
wie sie wirkt, kennen: so ist uns der Zweck des Menschengeschlechts auf der
Erde durch seine Natur und Geschichte wie durch die helleste Demonstration gegeben.
Lasset uns auf den Erdstrich zurückblicken, den wir bisher durchwandert
haben. In allen Einrichtungen der Völker von Sina bis Rom, in allen Mannigfaltigkeiten
ihrer Verfassung sowie in jeder ihrer Erfindungen des Krieges und Friedens,
selbst bei allen Greueln und Fehlern der Nationen blieb das Hauptgesetz der
Natur kenntlich: »Der Mensch sei Mensch! Er bilde sich seinen Zustand
nach dem, was er für das Beste erkennet.« Hiezu bemächtigten
sich die Völker ihres Landes und richteten sich ein, wie sie konnten. Aus
dem Weibe und dem Staat, aus Sklaven, Kleidern und Häusern, aus Ergötzungen
und Speisen, aus Wissenschaft und Kunst ist hie und da auf der Erde alles gemacht
worden, was man zu seinem oder des Ganzen Besten daraus machen zu können
glaubte. Überall also finden wir die Menschheit im Besitz und Gebrauch
des Rechtes, sich zu einer Art von Humanität zu bilden, nachdem es solche
erkannte. Irrten sie oder blieben auf dem halben Wege einer ererbten Tradition
stehen, so litten sie die Folgen ihres Irrtums und büßten ihre eigne
Schuld. Die Gottheit hatte ihnen in nichts die Hände gebunden als durch
das, was sie waren, durch Zeit, Ort und die ihnen einwohnenden Kräfte.
Sie kam ihnen bei ihren Fehlern auch nirgend durch Wunder zu Hülfe, sondern
ließ diese Fehler wirken, damit Menschen solche selbst bessern lernten.
So einfach dieses Naturgesetz ist, so würdig ist es Gottes, so zusammenstimmend
und fruchtbar an Folgen für das Geschlecht der Menschen. Sollte dies sein,
was es ist, und werden, was es werden könnte, so mußte es eine selbstwirksame
Natur und einen Kreis freier Tätigkeit um sich her erhalten, in welchem
es kein ihm unnatürliches Wunder störte. Alle tote Materie, alle Geschlechter
der Lebendigen, die der Instinkt führet, sind seit der Schöpfung geblieben,
was sie waren: den Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden; er legte das
Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere
Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte
nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte; sobald
er diese brauchte, war ihm freilich die Pforte zu tausend Irrtümern und
Fehlversuchen, eben aber auch, und selbst durch diese Irrtümer und Fehlversuche,
der Weg zum bessern Gebrauch der Vernunft eröffnet. Je schneller er seine
Fehler erkennen lernt, mit je rüstigerer Kraft er darauf geht, sie zu bessern,
desto weiter kommt er, desto mehr bildet sich seine Humanität, und er muß
sie ausbilden oder Jahrhunderte durch unter der Last eigner Schulden ächzen.
Wir sehen also auch, daß sich die Natur zur Errichtung dieses Gesetzes
einen so weiten Raum erkor, als ihr der Wohnplatz unsres Geschlechts vergönnte;
sie organisierte den Menschen so vielfach, als auf unserer Erde ein Menschengeschlecht
sich organisieren konnte. Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin, und
von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ
sie ihr großes Problem der Humanität von allen Völkern aller
Zeiten auflösen. Das Notwendige, zu welchem der Trieb und das Bedürfnis
führet, konnte beinah keine Nation der Erde verfehlen; zur feinern Ausbildung
des Zustandes der Menschheit gab es auch feinere Völker sanfterer Klimate.
Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in der Mitte zweier Extreme liegt,
so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in
diesem gemäl3igtern Mittelstrich ihren Platz finden, lind sie hat ihn nach
dem Naturgesetz dieser allgemeinen Konvenienz reichlich gefunden. Denn ob man
gleich fast alle asiatischen Nationen von jener Trägheit nicht freisprechen
kann, die bei guten Anordnungen zu frühe stehenblieb und eine ererbte Form
für unableglich und heilig schätzte, so muß man sie doch entschuldigen,
wenn man den ungeheuren Strich ihres festen Landes und die Zufälle bedenkt,
denen sie insonderheit von dem Gebirg her ausgesetzt waren. Im Ganzen bleiben
ihre ersten frühen Anstalten zur Bildung der Humanität, eine jede
nach Zeit und Ort betrachtet, lobenswert, und noch weniger sind die Fortschritte
zu verkennen, die die Völker an den Küsten des Mittelländischen
Meeres in ihrer größern Regsamkeit gemacht haben. Sie schüttelten
das Joch des Despotismus alter Regierungsformen und Traditionen ab und bewiesen
damit das große, gütige Gesetz des Menschenschicksals: »daß,
was ein Volk oder ein gesamtes Menschengeschlecht zu seinem eignen Besten mit
Überlegung wolle und mit Kraft ausführe, das sei ihm auch von der
Natur vergönnet, die weder Despoten noch Traditionen, sondern die beste
Form der Humanität ihnen rum Ziel setzte.«
Wunderbar schön versöhnt uns der Grundsatz dieses göttlichen
Naturgesetzes nicht nur mit der Gestalt unsres Geschlechts auf der weiten Erde,
sondern auch mit den Veränderungen desselben durch alle Zeiten hinunter.
Allenthalben ist die Menschheit das, was sie aus sich machen konnte, was sie
zu werden Lust und Kraft hatte. War sie mit ihrem Zustande zufrieden oder waren
in der großen Saat der Zeiten die Mittel zu ihrer Verbesserung noch nicht
gereift, so blieb sie Jahrhunderte hin, was sie war, und ward nichts anders.
Gebrauchte sie sich aber der Waffen, die ihr Gott zum Gebrauch gegeben hatte,
ihres Verstandes, ihrer Macht und aller der Gelegenheiten, die ihr ein günstiger
Wind zuführte, so stieg sie künstlich höher, so bildete sie sich
tapfer aus. Tat sie es nicht, so zeigt schon diese Trägheit, daß
sie ihr Unglück minder fühlte; denn jedes lebhafte Gefühl des
Unrechts, mit Verstande und Macht begleitet, muß eine rettende Macht werden.
Mitnichten gründete sich z. B. der lange Gehorsam unter dem Despotismus
auf die Übermacht des Despoten; die gutwillige, zutrauende Schwachheit
der Unterjochten, späterhin ihre duldende Trägheit war seine einzige
und größeste Stütze. Denn Dulden ist freilich leichter, als
mit Nachdruck bessern; daher brauchten so viele Völker des Rechts nicht,
das ihnen Gott durch die Göttergabe ihrer Vernunft gegeben.
Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der Erde noch nicht geschehen
ist, künftig geschehen werde; denn unverjährbar sind die Rechte der
Menschheit, und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar. Wir erstaunen
darüber, wie weit Griechen und Römer es in ihrem Kreise von Gegenständen
in wenigen Jahrhunderten brachten; denn wenn auch der Zweck ihrer Wirkung nicht
immer der reinste war, so beweisen sie doch, daß sie ihn zu erreichen
vermochten. Ihr Vorbild glänzt in der Geschichte und muntert jeden ihresgleichen,
unter gleichem und größerm Schutz des Schicksals, zu ähnlichen
und bessern Bestrebungen auf. Die ganze Geschichte der Völker wird uns
in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des schönsten
Kranzes der Humanität und Menschenwürde. So viele glorreiche alte
Nationen erreichten ein schlechteres Ziel; warum sollten wir nicht ein reineres,
edleres erreichen? Sie waren Menschen, wie wir sind; ihr Beruf zur besten Gestalt
der Humanität ist der unsrige, nach unsern Zeitumständen, nach unserm
Gewissen, nach unsern Pflichten. Was jene ohne Wunder tun konnten, können
und dürfen auch wir tun: die Gottheit hilft uns nur durch unsern Fleiß,
durch unsern Verstand, durch unsre Kräfte. Als sie die Erde und alle vernunftlosen
Geschöpfe derselben geschaffen hatte, formte sie den Menschen und sprach
zu ihm: »Sei mein Bild, ein Gott auf Erden! Herrsche und walte! Was du
aus deiner Natur Edles und Vortreffliches zu schaffen vermagst, bringe hervor;
ich darf dir nicht durch Wunder beistehn, da ich dein menschliches Schicksal
in deine menschliche Hand legte; aber alle meine heiligen, ewigen Gesetze der
Natur werden dir helfen.«
Lasset uns einige dieser Naturgesetze erwägen, die auch nach den Zeugnissen
der Geschichte dem Gange der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen
haben, und, so wahr sie Naturgesetze Gottes sind, ihm aufhelfen werden. S.397-400
Aus: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit, R.Löwit, Wiesbaden
Es waltet
eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere
Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben
zu wirken.
Dem sinnlichen Betrachter der Geschichte, der in ihr Gott
verlor und an der Vorsehung zu zweifeln anfing, geschah dies Unglück
nur daher, weil er die Geschichte zu flach ansah, oder von der Vorsehung keinen
rechten Begriff hatte. Denn wenn er diese für ein Gespenst hält, das
ihm auf allen Straßen begegnen und den Lauf menschlicher Handlungen unaufhörlich
unterbrechen soll, um nur diesen oder jenen partikularen Endzweck seiner Phantasie
und Willkür zu erreichen, so gestehe ich, daß die Geschichte das
Grab einer solchen Vorsehung sei; gewiß aber ein
Grab zum Besten der Wahrheit. Denn was wäre es für eine Vorsehung,
die jeder zum Poltergeist in der Ordnung der Dinge, zum Bundsgenossen seiner
eingeschränkten Absicht zum Schutzverwandten seiner kleinfügigen Torheit
gebrauchen könnte; so daß das Ganze zuletzt ohne einen Herren bliebe?
Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in
der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, und seine
Geschichte ist wie die Geschichte des Wurms mit dem Gewebe, das er bewohnt,
innig verwebet. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die
im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben
mag, daß sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in
ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit
offenbaret. Alles, was auf der Erde geschehen kann, muß auf ihr geschehen,
sobald es nach Regeln geschieht, die ihre Vollkommenheit in ihnen selbst tragen.
Lasset uns diese Regeln, die wir bisher entwickelt haben, sofern sie die Menschengeschichte
betreffen, wiederholen; sie führen alle das Gepräge einer weisen Güte,
einer hohen Schönheit, ja der innern Notwendigkeit selbst mit sich.
1. Auf unsrer Erde belebte sich alles, was sich auf ihr beleben konnte: denn
jede Organisation trägt in ihrem Wesen eine Verbindung mannigfaltiger Kräfte,
die sich einander beschränken und in dieser Beschränkung ein Maximum
zur Dauer gewinnen konnten, in sich. Gewannen sie dies nicht, so trennten sich
die Kräfte und verbanden sich anders.
2. Unter diesen Organisationen stieg auch der Mensch hervor, die Krone der Erdenschöpfung.
Zahllose Kräfte verbanden sich in ihm und gewannen ein Maximum, den Verstand,
so wie ihre Materie, der menschliche Körper, nach Gesetzen der schönsten
Symmetrie und Ordnung, den Schwerpunkt. Im Charakter des Menschen war also zugleich
der Grund seiner Dauer und Glückseligkeit, das Gepräge seiner Bestimmung
und der ganze Lauf seines Erdenschicksals gegeben.
3. Vernunft heißt dieser Charakter der Menschheit: denn er vernimmt die
Sprache Gottes in der Schöpfung, d. i. er sucht die Regel der Ordnung,
nach welcher die Dinge zusammenhangend auf ihr Wesen gegründet sind. Sein
innerstes Gesetz ist also Erkenntnis der Existenz und Wahrheit, Zusammenhang
der Geschöpfe nach ihren Beziehungen und Eigenschaften.
Er ist ein Bild der Gottheit, denn er erforschet die Gesetze der Natur, die
Gedanken, nach denen der Schöpfer sie verband, und die er ihnen wesentlich
machte. Die Vernunft kann also ebensowenig willkürlich handeln, als die
Gottheit selbst willkürlich dachte.
4. Vom nächsten Bedürfnis fing der Mensch an, die Kräfte der
Natur zu erkennen und zu prüfen. Sein Zweck dabei ging nicht weiter als
auf sein Wolilsein, d.i. auf einen gleichmäßigen Gebrauch seiner
eignen Kräfte in Ruhe und Übung. Er kam mit andern Wesen in ein Verhältnis,
und auch jetzt ward sein eignes Dasein das Maß dieser Verhältnisse.
Die Regel der Billigkeit drang sich ihm auf; denn sie ist nichts als die praktische
Vernunft, das Maß der Wirkung und Gegenwirkung zum gemeinschaftlichen
Bestande gleichartiger Wesen.
5. Auf dies Principium ist die menschliche Natur gebauet, so daß kein
Individuum eines andern oder der Nachkommenschaft wegen da zu sein glauben darf.
Befolget der Niedrigste in der Reihe der Menschen das Gesetz der Vernunft und
Billigkeit, das in ihm liegt, so hat er Konsistenz, d. i. er genießet
Wohlsein und Dauer, er ist vernünftig, billig, glücklich. Dies ist
er nicht vermöge der Willkür andrer Geschöpfe oder des Schöpfers,
sondern nach den Gesetzen einer allgemeinen, in sich selbst gegründeten
Naturordnung. Weichet er von der Regel des Rechts, so muß sein strafender
Fehler selbst ihm Unordnung zeigen und ihn veranlassen, zur Vernunft und zur
Billigkeit als den Gesetzen seines Daseins und Glücks zurückzukehren.
6. Da seine Natur aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist, so tut
er dieses selten auf dem kürzesten Wege er schwankt zwischen zwei Extremen,
bis er sich selbst gleichsam mit seinem Dasein abfindet und einen Punkt der
leidlichen Mitte erreicht, in welchem er sein Wohlsein glaubet. Irrt er hiebei,
so geschiehet es nicht ohne sein geheimes Bewußtsein, und er muß
die Folgen seiner Schuld tragen. Er trägt sie aber nur bis zu einem gewissen
Grad, da sich entweder das Schicksal durch seine eigenen Bemühungen zum
Bessern wendet, oder sein Dasein weiterhin keinen innern Bestand findet.
Einen wohltätigern Nutzen konnte die höchste Weisheit dem physischen
Schmerz und dem moralischen Übel nicht geben; denn kein höherer ist
denkbar.
7. Hätte auch nur ein einziger Mensch die Erde betreten, so wäre an
ihm der Zweck des menschlichen Daseins erfüllt gewesen, wie man ihn bei
so manchen einzelnen Menschen und Nationen für erfüllt achten muß,
die durch Ort- und Zeitbestimmungen von der Kette des ganzen Geschlechts getrennet
wurden. Da aber alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem
Beharrungsstande bleibt, fortdauret: so hatte auch das Menschengeschlecht, wie
alle Geschlechte der Lebenden, Kräfte der Fortpflanzung in sich, die dem
Ganzen gemäß ihre Proportion und Ordnung finden konnten und gefunden
haben. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ,
die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hinunter. Allmählich ward
die Erde erfüllt, und der Mensch ward alles, was er in solchem und keinem
andern Zeitraum auf der Erde werden konnte.
8. Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch
die menschliche Vernunft aneinander: nicht, als ob sie in jedem Einzelnen nur
ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgend existieret,
folglich auch nicht der Zweck des Schöpfers sein konnte, sondern weil es
die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte. Wie sich
die Menschen fortpflanzen, pflanzen die Tiere sich auch fort, ohne daß
eine allgemeine Tiervernunft aus ihren Geschlechtern werde; aber weil Vernunft
allein den Beharrungsstand der Menschheit bildet, mußte sie sich als Charakter
des Geschlechts fortpflanzen; denn ohne sie war das Geschlecht nicht mehr.
9. Im Ganzen des Geschlechts hatte sie kein andres Schicksal. als was sie bei
den einzelnen Gliedern desselben hatte; denn das Ganze bestehet nur in einzelnen
Gliedern. Sie ward von wilden Leidenschaften der Menschen, die in Verbindung
mit andern noch stürmischer wurden, oft gestört, jahrhundertelang
von ihrem Wege abgelenkt und blieb wie unter der Asche schlummernd. Gegen alle
diese Unordnungen wandte die Vorsehung kein andres Mittel an, als welches sie
jedem einzelnen gewähret, nämlich daß auf den Fehler das Übel
folge, und jede Trägheit, Torheit, Bosheit, Unvernunft
und Unbilligkeit sich selbst strafe. Nur weil in diesen Zuständen
das Geschlecht haufenweise erscheint: so müssen auch Kinder die Schuld
der Eltern, Völker die Unvernunft ihrer Führer, Nachkommen die Trägheit
ihrer Vorfahren büßen, und wenn sie das Übel nicht verbessern
wollen oder können, können sie Zeitalter hin darunter leiden.
10. Jedem einzelnen Gliede wird also die Wohlfahrt des Ganzen sein eigenes Beste:
denn wer unter den Übeln desselben leidet, hat
auch das Recht und die Pflicht auf sich, diese Übel von sich abzuhalten
und sie für seine Brüder zu mindern. Auf Regenten und Staaten hat
die Natur nicht gerechnet; sondern auf das Wohlsein der Menschen in ihren Reichen.
Jene büßen ihre Frevel und Unvernunft langsamer, als sie der einzelne
büßet, weil sie sich immer nur mit dem Ganzen berechnen, in welchem
das Elend jedes Armen lange unterdrückt wird; zuletzt aber büßet
es der Staat und sie mit desto gefährlicherem Sturze. In alle diesem zeigen
sich die Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung
bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers, und der
höchste Regent Europas bleibt den Naturgesetzen des Menschengeschlechts
sowohl unterworfen als der Geringste seines Volkes. Sein Stand verband ihn bloß,
ein Haushalter dieser Naturgesetze zu sein und bei seiner Macht, die er nur
durch andre Menschen hat, auch für andre Menschen ein weiser und gütiger
Menschengott zu werden.
11. In der allgemeinen Geschichte also wie im Leben verwahrloseter einzelner
Menschen erschöpfen sich alle Torheiten und Laster unsres Geschlechts,
bis sie endlich durch Not gezwungen werden, Vernunft und Billigkeit zu lernen.
Was irgend geschehen kann, geschieht, und bringt hervor, was es seiner Natur
nach hervorbringen konnte. Dies Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste
Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt,
daß eine gegenseitige Wirkung die andre aufhebe, und zuletzt nur das Ersprießliche
daurend bleibe. Das Böse, das andre verderbt, muß sich entweder unter
die Ordnung schmiegen, oder selbst verderben. Der Vernünftige und Tugendhafte
also ist im Reich Gottes allenthalben glücklich; denn sowenig die Vernunft
äußern Lohn begehret, sowenig verlangt ihn auch die innere Tugend.
Mißlingt ihr Werk von außen, so hat nicht sie sondern ihr Zeitalter
davon den Schaden: und doch kann es die Unvernunft und Zwietracht der Menschen
nicht immer verhindern: es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt.
12. Indessen gehet die menschliche Vernunft im Ganzen des Geschlechts ihren
Gang fort; sie sinnet aus, wenn sie auch noch nicht anwenden kann; sie erfindet,
wenn böse Hände auch lange Zeit ihre Erfindung mißbrauchen.
Der Mißbrauch wird sich selbst strafen und die Unordnung eben durch den
unermüdeten Eifer einer immer wachsenden Vernunft mit der Zeit Ordnung
werden. Indem sie Leidenschaften bekämpfet, stärkt und läutert
sie sich selbst; indem sie hier gedruckt wird, fliehet sie dorthin und erweitert
den Kreis ihrer Herrschaft über die Erde. Es ist keine Schwärmerei,
zu hoffen, daß, wo irgend Menschen wohnen, einst auch vernünftige,
billige und glückliche Menschen wohnen werden; glücklich, nicht nur
durch ihre eigene, sondern durch die gemeinschaftliche Vernunft ihres ganzen
Brudergeschlechtes.
Ich beuge mich vor diesem hohen Entwurf der allgemeinen Naturweisheit über
das Ganze meines Geschlechts, um so williger, da ich sehe, daß er der
Plan der gesamten Natur ist. Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden
Kristall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält
auch mein Geschlecht; sie machte seine eigne Natur zum Grunde der Dauer und
Fortwirkung desselben, solange Menschen sein werden. Alle
Werke Gottes haben ihren Bestand in sich und ihren schönen Zusammenhang
mit sich; denn sie beruhen alle in ihren gewissen Schranken auf dem Gleichgewicht
widerstrebender Kräfte durch eine innere Macht, die diese zur Ordnung lenkte.
Mit diesem Leitfaden durchwandre ich das Labyrinth der Ge¬schichte und sehe
allenthalben harmonische göttliche Ordnung; denn was irgend geschehen kann,
geschieht; was wirken kann, wirket. Vernunft aber und Billigkeit allein dauren,
da Unsinn und Torheit sich und die Erde verwüsten.
Wenn ich also, nach jener Fabel, einen Brutus, den Dolch in der Hand, unter
dem Sternenhimmel bei Philippi sagen höre: »O
Tugend, ich glaubte, daß du etwas seist; jetzt sehe ich, daß du
ein Traum bist«, so verkenne ich den ruhigen Weisen in dieser letzten
Klage. Besaß er wahre Tugend, so hatte sich diese wie seine Vernunft immer
bei ihm belohnet, und mußte ihn auch diesen Augenblick lohnen. War seine
Tu¬gend aber bloß Römer-Patriotismus, was Wunder, daß der
Schwächere dem Starken, der Träge dem Rüstigem weichen mußte?
Auch der Sieg des Antonius samt allen seinen Folgen gehörte zur Ordnung
der Welt und zu Roms Naturschicksal.
Gleichergestalt, wenn unter uns der Tugendhafte so oft klagt, daß sein
Werk mißlinge, daß rohe Gewalt und Unterdrückung auf Erden
herrsche, und das Menschengeschlecht nur der Unvernunft und den Leidenschaften
zur Beute gegeben zu sein scheine: so trete der Genius seiner Vernunft zu ihm,
und frage ihn freundlich, ob seine Tugend auch rechter Art und mit dem Verstande,
mit der Tätigkeit verbunden sei, die allein den Namen der Tugend verdienet?
Freilich gelingt nicht jedes Werk allenthalben; darum aber mache, daß
es gelinge, und befördre seine Zeit, seinen Ort und jene innre Dauer desselben,
in welcher das wahrhaft Gute allein dauret. Rohe Kräfte
können nur durch die Vernunft geregelt werden; es gehört aber eine
wirkliche Gegenmacht, d. i. Klugheit, Ernst und die ganze Kraft der Güte
dazu, sie in Ordnung zu setzen uiid mit heilsamer Gewalt darin zu erhalten.
Ein schöner Traum ists vom zukünftigen Leben, da man sich im freundschaftlichen
Genuß aller der Weisen und Guten denkt, die je für die Menschheit
wirkten und mit dem süßen Lohn vollendeter Mühe das höhere
Land betraten; gewissermaßen aber eröffnet uns schon die Geschichte
diese ergötzende Lauben des Gesprächs und Umgang mit den Verständigen
und Rechtschaffenen so vieler Zeiten. Hier stehet Plato
vor mir; dort höre ich Sokrates freundliche Fragen und teile sein letztes
Schicksal. Wenn Mark Antonin im Verborgenen mit seinem Herzen spricht, redet
er auch mit dem meinigen, und der arme Epiktet gibt Befehle, mächtiger
als ein König. Der gequälte Tullius, der unglückliche Boethius
sprechen zu mir, mir vertrauend die Umstände ihres Lebens, den Gram
und den Trost ihrer Seele. Wie weit und wie enge ist das menschliche Herz! Wie
einerlei und wiederkommend sind alle seine Leiden und Wünsche, seine Schwachheiten
und Fehler, sein Genuß und seine Hoffnung! Tausendfach ist das Problem
der Humanität rings um mich aufgelöset, und allenthalben ist das Resultat
der Menschenbemühungen dasselbe: »Auf
Verstand und Rechtschaffenheit ruhe das Wesen unsres Geschlechts, sein Zweck
und sein Schicksal«. Keinen edlem Gebrauch der Menschengeschichte
gibts als diesen: er führt uns gleichsam in den Rat des Schicksals und
lehrt uns in unsrer nichtigen Gestalt nach ewigen Naturgesetzen Gottes handeln.
Indem er uns die Fehler und Fol¬gen jeder Unvernunft zeigt, so weiset er
uns in jenem großen Zusammenhange, in welchem Vernunft und Güte zwar
lange mit wilden Kräften kämpfen, immer aber doch ihrer Natur nach
Ordnung schaffen und auf der Bahn des Sieges bleiben, endlich auch unsern kleinen
und ruhigen Kreis an. S.416ff..
Aus: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
R.Löwit, Wiesbaden
Über
den Ursprung der Sprache
Nehmt die sogenannte göttliche erste Sprache, die hebräische, von
der der größte Teil der Welt die Buchstaben geerbet: daß sie
in ihrem Anfange so lebendigtönend, so unschreibbar gewesen, daß
sie nur sehr unvollkommen geschrieben werden konnte, dies zeigt offenbar hier
ganze Bau ihrer Grammatik, ihre so vielfachen Verwechselungen ähnlicher
Buchstaben, ja am allermeisten der völlige Mangel ihrer Vokale. Woher kommt
die Sonderbarkeit, daß ihre Buchstaben nur Mitlaute sind und daß
eben die Elemente der Worte, auf die alles ankommt, die Selbstlauter, ursprünglich
gar nicht geschrieben wurden? Diese Schreibart ist dem Lauf der gesunden Vernunft
so entgegen, das Unwesentliche zu schreiben und das Wesentliche auszulassen,
daß sie den Grammatikern unbegreiflich sein müßte, wenn Grammatiker
zu begreifen gewohnt waren. Bei uns sind die Vokale das Erste und Lebendigste
und die Türangeln der Sprache; bei jenen werden sie nicht geschrieben.
— Warum?— Weil sie nicht geschrieben werden konnten. Ihre Aussprache
war so lebendig und feinorganisiert, ihr Hauch war so geistig und ätherisch,
daß er verduftete und sich nicht in Buchstaben fassen ließ. Nur
erst bei den Griechen wurden diese lebendige Aspirationen in förmliche
Vokale aufgefädelt, denen doch noch Spiritus usw. zu Hilfe kommen mußten;
da bei den Morgenländern die Rede gleichsam ganz Spiritus, fortgehender
Hauch und Geist des Mundes war, wie sie sie auch so oft in ihren malenden Gedichten
benennen. Es war Othem Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaschete, und die
toten Buchstaben, die sie hinmaleten, waren nur der Leichnam, der lesend mit
Lebensgeist beseelt werden mußte! Was das für einen gewaltigen Einfluß
auf das Verständnis ihrer Sprache hat, ist hier nicht der Ort zu sagen;
daß dies Wehende aber den Ursprung ihrer Sprache verrate, ist offenbar.
Was ist unschreibbarer als die unartikulierten Töne der Natur? Und wenn
die Sprache, je näher ihrem Ursprunge, desto unartikulierter ist —
was folgt, als daß sie wohl nicht von einem höhern Wesen für
die vierundzwanzig Buchstaben und diese Buchstaben gleich mit der Sprache erfunden,
daß diese ein weit späterer, nur unvollkommener Versuch gewesen,
sich einige Merkstäbe der Erinnerung zu setzen, und daß jene nicht
aus Buchstaben der Grammatik Gottes, sondern aus wilden Tönen freier Organe
entstanden sei. Es wäre doch sonst artig, daß eben die Buchstaben,
aus denen und für die Gott die Sprache erfunden, mit Hilfe derer er den
ersten Menschen die Sprache beigebracht, eben die allerunvollkommensten in der
Welt wären, die gar nichts vom Geist der Sprache sagten und in ihrer ganzen
Bauart offenbar bekennen, daß sie nichts davon sagen wollen.
Es verdiente diese Buchstabenhypothese freilich ihrer Würde nach nur einen
Wink: aber ihrer Allgemeinheit und mannigfaltigen Beschönigung wegen mußte
ich ihren Ungrund entblößen und in ihm sie zugleich erklären,
wie mir wenigstens keine Erklärung bekannt ist. Zurück auf unsre Bahn:
Da unsre Töne der Natur zum Ausdrucke der Leidenschaft
bestimmt sind, so ists natürlich, daß sie auch die Elemente aller
Rührung werden! Wer ists, dem bei einem zuckenden, wimmernden
Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch selbst bei einem stöhnenden
Vieh, wenn seine ganze Maschine leidet, dies Ach nicht zu Herzen dringe? Wer
ist der fühllose Barbar? Je harmonischer das empfindsame Saitenspiel selbst
bei Tieren mit anderen Tieren gewebt ist, desto mehr fühlen selbst diese
miteinander: ihre Nerven kommen in eine gleichmäßige Spannung, ihre
Seele in einen gleichmäßigen Ton, sie leiden wirklich mechanisch
mit. Und welche Stählung seiner Fibern! Welche Macht, alle Öffnungen
seiner Empfindsamkeit zu verstopfen, gehört dazu, daß ein Mensch
hiegegen taub und hart werde! — Diderot meint, daß ein Blindgeborner
gegen die Klagen eines leidenden Tiers unempfindlicher sein müßte
als ein Sehender; allein ich glaube unter gewissen Fällen das Gegenteil.
Freilich ist ihm das ganze rührende Schauspiel dieses elenden, zuckenden
Geschöpfs verhüllet, allein alle Beispiele sagen, daß eben durch
diese Verhüllung das Gehör weniger zerstreut, horchender und mächtig
eindringender werde. Da lauschet er also im Finstern, in der Stille seiner ewigen
Nacht, und jeder Klageton geht ihm um so inniger und schärfer, wie ein
Pfeil, zum Herzen! Nun nehme er noch das tastende, langsam umspannende Gefühl
zu Hilfe, taste die Zuckungen, erfühle den Bruch der leidenden Maschine
sich ganz — Grausen und Schmerz fährt durch seine Glieder: sein innrer
Nervenbau fühlt Bruch und Zerstörung mit: der Todeston tönet.
Das ist das Band dieser Natursprache!
Überall sind die Europäer, trotz ihrer Bildung und Mißbildung,
von den rohen Klagetönen der Wilden heftig gerührt worden. Lery erzählt
aus Brasilien, wie sehr seine Leute von dem herzlichen, unförmlichen Geschrei
der Liebe und Leutseligkeit dieser Amerikaner bis zu Tränen seien erweicht
worden. Charlevoix und andre wissen nicht genug den grausenden Eindruck auszudrücken,
den die Krieges- und Zauberlieder der Nordamerikaner machen. Wenn wir später
Gelegenheit haben werden zu bemerken, wie sehr die alte Poesie und Musik von
diesen Naturtönen sei belebet worden, so werden wir auch die Wirkung philosophischer
erklären können, die z. E. der älteste griechische Gesang und
Tanz, die alte griechische Bühne, und überhaupt Musik, Tanz und Poesie
noch auf alle Wilde machen. Und auch selbst bei uns, wo freilich die Vernunft
oft die Empfindung und die künstliche Sprache der Gesellschaft die Töne
der Natur aus ihrem Amt setzet, kommen nicht noch oft die höchsten Donner
der Beredsamkeit, die mächtigsten Schläge der Dichtkunst und die Zaubermomente
der Aktion dieser Sprache der Natur durch Nachahmung nahe? Was ists, was dort
im versammleten Volke Wunder tut, Herzen durchbohrt und Seelen umwälzet?
—
Geistige Rede und Metaphysik? Gleichnisse und Figuren? Kunst und kalte Überzeugung?
Sofern der Taumel nicht blind sein soll, muß vieles durch sie geschehen,
aber alles? Und eben dies höchste Moment des blinden Taumels, wodurch wurde
das? — Durch ganz eine andre Kraft! Diese Töne, diese Gebärden,
jene einfachen Gänge der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese
dämmernde Stimme — was weiß ich mehr? Bei Kindern und dem Volk
der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen,
Betrübten wirken sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst wirken würde,
wenn ihre leise, feine Stimme vom Himmel tönte. Diese Worte, dieser Ton,
die Wendung dieser grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, da wir
sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem Heere von Nebenbegriffen
des Schauders, der Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude in unsre Seele.
Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern stehen sie alle mit einmal
in ihrer dunkeln Majestät aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den
reinen, hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden konnte.
Das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung tönet. Dunkles Gefühl
übermannet uns: der Leichtsinnige grauset und zittert — nicht über
Gedanken, sondern über Silben, über Töne der Kindheit. und es
war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen. Kein
Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetz lag zum Grunde:
Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf
in denselben Ton versetzen!
Wollen wir also diese unmittelbaren Laute der Empfindung Sprache nennen, so
finde ich ihren Ursprung allerdings sehr natürlich.
Er ist nicht bloß nicht übermenschlich, sondern offenbar tierisch:
das Naturgesetz einer empfindsamen Maschine. S.12-16
[...]
Daß der Mensch den Tieren an Stärke
und Sicherheit des Instinkts weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei
so vielen Tiergattungen angeborne Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen,
gar nicht habe, ist gesichert; nur so wie die Erklärung dieser
Kunsttriebe bisher den meisten und noch zuletzt einem gründlichen Philosophen
Deutschlands mißglücket ist, so hat auch die wahre Ursach von der
Entbehrung dieser Kunsttriebe in der menschlichen Natur noch nicht Licht gesetzt
werden können. Mich dünkt, man hat einen Hauptgesichtspunkt verfehlt,
aus dem man, wo nicht vollständige Erklärungen, so wenigstens Bemerkungen
in der Natur der Tiere machen kann, die, wie ich für einen andern Ort hoffe,
die menschliche Seelenlehre sehr aufklären können. Dieser Gesichtspunkt
ist die Sphäre der Tiere.
Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich
eintritt, in dem es lebenslang bleibet und stirbt. Nun ist es aber sonderbar,
daß je schärfer die Sinne der Tiere, je
stärker und sichrer ihre Triebe und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind,
desto kleiner ist ihr Kreis, desto einartiger ist ihr Kunstwerk. Ich habe diesem Verhältnisse nachgespüret, und ich finde überall
eine wunderbar beobachtete umgekehrte Proportion zwischen der mindern Extension
ihrer Bewegungen, Elemente, Nahrung, Erhaltung, Paarung, Erziehung, Gesellschaft
und ihren Trieben und Künsten. Die Biene in ihrem Korbe bauet mit der Weisheit,
die Egeria ihrem Numa nicht lehren konnte; aber außer diesen Zellen und
außer ihrem Bestimmungsgeschäft in diesen Zellen ist sie auch nichts.
Die Spinne webet mit der Kunst der Minerva; aber alle ihre Kunst ist auch in
diesen engen Spinnraum verwebet; das ist ihre Welt! Wie wundersam ist das Insekt
und wie enge der Kreis seiner Wirkung!
Gegenteils. Je vielfacher die Verrichtungen und Bestimmung
der Tiere, je zerstreuter ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Gegenstände,
je unsteter ihre Lebensart, kurz, je größer und vielfältiger
ihre Sphäre ist, desto mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen
und schwächen. Ich kann es mir hier nicht in Sinn nehmen, dies
große Verhältnis, was die Kette der lebendigen Wesen durchläuft,
mit Beispielen zu sichern; ich überlasse jedem die Probe oder verweise
auf eine andre Gelegenheit und schließe fort:
Nach aller Wahrscheinlichkeit und Analogie lassen
sich also alle Kunsttriebe und Kunstfähigkeiten aus den Vorstellungskräften
der Tiere erklären, ohne daß man blinde Determinationen
annehmen darf (wie auch noch selbst Reimarus angenommen und die alle Philosophie
verwüsten). Wenn unendlich feine Sinne in einen kleinen Kreis, auf ein
Einerlei eingeschlossen werden und die ganze andre Welt für sie nichts
ist: wie müssen sie durchdringen! Wenn Vorstellungskräfte in einen
kleinen Kreis eingeschlossen und mit einer analogen Sinnlichkeit begabt sind,
was müssen sie wirken! Und wenn endlich Sinne und Vorstellungen auf einen
Punkt gerichtet sind, was kann anders als Instinkt daraus werden?
Aus ihnen also erkläret sich die Empfindsamkeit, die Fähigkeiten und
Triebe der Tiere nach ihren Arten und Stufen.
Und ich darf also den Satz annehmen: Die Empfindsamkeiten,
Fähigkeiten und Kunsttriebe der Tiere nehmen an Stärke und Intensität
zu im umgekehrten Verhältnisse der Größe und Mannigfaltigkeit
ihres Wirkungskreises. Nun aber —
Der Mensch hat keine so einförmige und enge Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn warte: eine Welt von Geschäften und Bestimmungen
liegt um ihn.
Seine Sinne und Organisation sind nicht auf eins geschärft: er hat Sinne für alles und natürlich also für jedes einzelne
schwächere und stumpfere Sinne.
Seine Seelenkräfte sind über die Welt verbreitet; keine Richtung seiner Vorstellungen auf ein Eins: mithin kein Kunsttrieb,
keine Kunstfertigkeit — und, das eine gehört hier näher her, keine Tiersprache.
Was ist doch das, was wir, außer der vorher angeführten Lautbarkeit
der empfindenden Maschine, bei einigen Gattungen Tiersprache
nennen, anders als ein Resultat der Anmerkungen, die ich zusammengereihet?
Ein dunkles sinnliches Einverständnis einer
Tiergattung untereinander über ihre Bestimmung im Kreise ihrer Wirkung.
Je kleiner also die Sphäre der Tiere ist, desto weniger haben sie Sprache
nötig. Je schärfer ihre Sinne, je mehr ihre Vorstellungen auf
eins gerichtet, je ziehender ihre Triebe sind, desto zusammengezogner
ist das Einverständnis ihrer etwannigen Schälle, Zeichen, Äußerungen.
Es ist lebendiger Mechanismus, herrschender Instinkt, der da spricht und vernimmt.
Wie wenig darf er sprechen, daß er vernommen werde!
Tiere von dem engsten Bezirke sind also sogar gehörlos; sie sind für
ihre Welt ganz Gefühl oder Geruch und Gesicht: ganz einförmiges Bild,
einförmiger Zug, einförmiges Geschäfte; sie haben also wenig
oder keine Sprache.
Je größer aber der Kreis der Tiere: je unterschiedner ihre Sinne
— doch was soll ich wiederholen? Mit dem Menschen ändert sich die Szene ganz. Was soll für seinen Wirkungskreis,
auch selbst im dürftigsten Zustande, die Sprache des redendsten, am vielfachsten
tönenden Tiers? Was soll für seine zerstreuten Begierden, für
seine geteilte Aufmerksamkeit, für seine stumpfer witternden Sinne auch
selbst die dunkle Sprache aller Tiere? Sie ist für ihn weder reich noch
deutlich, weder hinreichend an Gegenständen noch für seine Organe
— also durchaus nicht seine Sprache; denn was heißt, wenn wir nicht
mit Worten spielen wollen, die eigentümliche Sprache eines Geschöpfs,
als die seiner Sphäre von Bedürfnissen und Arbeiten, der Organisation
seiner Sinne, der Richtung seiner Vorstellungen und der Stärke seiner Begierden
angemessen ist? Und welche Tiersprache ist so für den Menschen?
Je doch es bedarf auch die Frage nicht. Welche Sprache
(außer der vorigen mechanischen) hat
der Mensch so instinktmäßig als jede Tiergattung die ihrige in und
nach ihrer Sphäre? — Die Antwort ist kurz: keine!
Und eben diese kurze Antwort entscheidet.
Bei jedem Tier ist, wie wir gesehen, seine Sprache eine Äußerung
so starker sinnlicher Vorstellungen, daß diese zu Trieben werden; mithin
ist Sprache, so wie Sinne und Vorstellungen und Triebe,
angeboren und dem Tier unmittelbar natürlich. Die Biene sumset wie sie sauget; der Vogel singt wie er nistet — aber
wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht, so wie er wenig oder nichts durch
völligen Instinkt, als Tier, tut. Ich nehme bei einem neugebornen Kinde
das Geschrei seiner empfindsamen Maschine aus; sonst ists stumm; es äußert
weder Vorstellungen noch Triebe durch Töne, wie doch jedes Tier in seiner
Art; bloß unter Tiere gestellet, ists also das verwaisetste Kind der Natur.
Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet;
und, was die Summe seines Elendes ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt.
Mit einer so zerstreueten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten,
schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren,
offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise
bestimmt — und doch so verwaiset und verlassen, daß es selbst
nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern —
Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen
statt der Instinkte andre verborgne Kräfte in ihm schlafen! Stummgeboren;
aber—
Doch ich tue keinen Sprung. Ich gebe dem Menschen nicht gleich
plötzlich neue Kräfte, keine sprachschaffende Fähigkeit wie eine
willkürliche qualitas occulta. Ich suche nur
in den vorher bemerkten Lücken und Mängeln weiter.
Lücken und Mängel können doch nicht
der Charakter seiner Gattung sein: oder die Natur war gegen ihr
die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter
war, jedem Insekt gab sie, was und wieviel es brauchte: Sinne zu Vorstellungen
und Vorstellungen in Triebe gediegen, Organe zur Sprache, soviel es bedurfte,
und Organe, diese Sprache zu verstehen. Bei dem Menschen ist alles in dem größten
Mißverhältnis — Sinne und Bedürfnisse, Kräfte und
Kreis der Wirksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache. —
Es muß uns also ein gewisses Mittelglied fehlen, die so abstehende Glieder
der Verhältnis zu berechnen.
Fänden wirs, so wäre nach aller Analogie der
Natur diese Schadloshaltung seine Eigenheit, der Charakter
seines Geschlechts, und alle Vernunft und Billigkeit forderte, diesen
Fund für das gelten zu lassen, was er ist, für Naturgabe, ihm so wesentlich
als den Tieren der Instinkt.
Ja fänden wir eben in diesem Charakter die Ursache
jener Mängel und eben in der Mitte dieser Mängel, in der Höhle
jener großen Entbehrung von Kunsttrieben, den Keim zum Ersatze, so wäre diese Einstimmung ein genetischer Beweis, daß hier die wahre
Richtung der Menschheit liege und daß die Menschengattung über den
Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art.
Und fänden wir in diesem neugefundnen Charakter der Menschheit sogar den
notwendigen genetischen Grund zu Entstehung einer Sprache für diese neue
Art Geschöpfe, wie wir in den Instinkten der Tiere den unmittelbaren
Grund zur Sprache für jede Gattung fanden, so sind wir ganz am Ziele. In
dem Falle würde die Sprache dem Menschen so wesentlich,
als — er ein Mensch ist. Man siehet, ich entwickle aus keinen
willkürlichen oder gesellschaftlichen Kräften, sondern aus der allgemeinen
tierischen Ökonomie. S.20-25 [...]
Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt,
der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion)
zum erstenmal frei wirkend, hat Sprache erfunden. Denn was
ist Reflexion? Was ist Sprache?
Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich:
so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache.
Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!
Lasset uns nur beide Begriffe entwickeln: Reflexion und Sprache.
Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei wirket, daß
sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet,
eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit
auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er
beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die
seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf einem
Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale
absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset
also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar
erkennen, sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich
anerkennen kann:
der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff; es ist das erste
Urteil der Seele — und —
Wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte
und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. ... Dies erste
Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache
erfunden!
Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn: ihm wie keinem andern Tiere.
Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blutleckenden Löwen
— die wittern und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit hat sie
überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! — Nicht
wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur als den Gegenstand seines Genusses
fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit überwältigt und der Instinkt
darüber herwirft. Nicht wie jedem andern Tier, dem das Schaf gleichgültig
ist, das es also klar-dunkel vorbeistreichen läßt, weil ihn sein
Instinkt auf etwas anders wendet. —
Nicht so dem Menschen! Sobald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennenzulernen,
so störet ihn kein Instinkt, so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe
zu nahe hin oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert.
Weiß, sanft, wollicht — seine besonnen sich übende Seele sucht
ein Merkmal —das Schaf blöket! sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn wirket. Dies Blöken, das ihr
am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des
Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt
ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht — sie sieht,
tastet, besinnet sich, sucht Merkmal — es blökt, und nun erkennet
sies wieder!
»Ha! du bist das Blökende!« fühlt
sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit
einem Merkmal, erkennet und nennet. Dunkler? So wäre es ihr gar nicht wahrgenommen,
weil keine Sinnlichkeit, kein Instinkt zum Schafe ihr den Mangel des Deutlichen
durch ein lebhafteres Klare ersetzte. Deutlich unmittelbar, ohne Merkmal? So
kann kein sinnliches Geschöpf außer sich empfinden, da es immer andre
Gefühle unterdrücken, gleichsam vernichten und immer den Unterschied
von zween durch ein drittes erkennen muß. Mit einem Merkmal also? Und
was war das anders als ein innerliches Merkwort? Der
Schall des Blökens, von einer menschlichen
Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward, kraft dieser Besinnung,
Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.
Er erkannte das Schaf am Blöken: es war gefaßtes
Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann — was
ist das anders als Wort? Und was ist die ganze menschliche Sprache als eine
Sammlung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem
andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung
ihm mit den Lippen vorblöken zu wollen oder zu können, seine Seele
hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen
wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte - die Sprache ist erfunden! ebenso natürlich und dem Mensch notwendig erfunden,
als der Mensch ein Mensch war. S.31-34
[...]
Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft
keine Sprache. Ohne Sprache und Vernunft ist er keines göttlichen
Unterrichts fähig, und ohne göttlichen Unterricht hat er doch keine
Vernunft und Sprache — wo kommen wir da je hin? Wie kann der Mensch durch
göttlichen Unterricht Sprache lernen, wenn er keine Vernunft hat? Und er
hat ja nicht den mindsten Gebrauch der Vernunft ohne Sprache. Er soll also Sprache
haben, ehe er sie hat und haben kann? Oder vernünftig werden können
ohne den mindesten eignen Gebrauch der Vernunft? Um der
ersten Silbe im göttlichen Unterricht fähig zu sein, mußte er
ja ein Mensch sein, das ist deutlich denken können, und bei dem ersten
deutlichen Gedanken war schon Sprache in seiner Seele da; sie war also aus eignen
Mitteln und nicht durch göttlichen Unterricht erfunden. —
Ich weiß wohl, was man bei diesem göttlichen Unterricht meistens
im Sinne hat, nämlich den Sprachunterricht der Eltern an die Kinder; allein
man besinne sich, daß das hier gar nicht der Fall ist. Eltern lehren die
Kinder nie Sprache, ohne daß diese nicht immer selbst mit erfänden.
Jene machen diese nur auf Unterschiede der Sachen, mittelst gewisser Wortzeichen,
aufmerksam, und so ersetzen sie ihnen nicht etwa, sondern erleichtern und befördern
ihnen nur den Gebrauch der Vernunft durch die Sprache. Will man solche übernatürliche
Erleichterung aus andern Gründen annehmen, so geht das meinen Zweck nichts
an; nur alsdenn hat Gott durchaus für die Menschen keine Sprache erfunden,
sondern diese haben immer noch mit Wirkung eigner Kräfte, nur unter höherer
Veranstaltung, sich ihre Sprache finden müssen. Um das erste Wort, als
Wort, d. i. als Merkzeichen der Vernunft, auch aus dem Munde Gottes empfangen
zu können, war Vernunft nötig, und der Mensch mußte dieselbe
Besinnung anwenden, dies Wort, als Wort, zu verstehen, als hätte ers ursprünglich
ersonnen. Alsdenn fechten alle Waffen meines Gegners gegen ihn selbst: er mußte
wirklichen Gebrauch der Vernunft haben, um göttliche Sprache zu lernen;
den hat immer ein lernendes Kind auch, wenn es nicht wie ein Papagei bloß
Worte ohne Gedanken sagen soll. Was wären aber das für würdige
Schüler Gottes, die so lernten? Und wenn die ewig so gelernt hätten,
wo hätten wir denn unsre Vernunftsprache her? S.37f.
[...]
Was heißt ein göttlicher Ursprung der Sprache als:
Entweder: »Ich
kann die Sprache aus der menschlichen Natur nicht erklären, folglich ist
sie göttlich.«—
Ist Sinn in dem Schlusse? Der Gegner sagt: »Ich
kann sie aus der menschlichen Natur und aus ihr vollständig erklären.«—
Wer hat mehr gesagt? Jener versteckt sich hinter eine Decke und ruft hervor:
»Hier ist Gott!«; dieser stellt sich
sichtbar auf den Schauplatz, handelt —»Sehet!
ich bin ein Mensch!«
Oder ein höherer Ursprung sagt: »Weil ich die menschliche Sprache nicht aus der menschlichen Natur erklären
kann, so kann durchaus keiner sie erklären — sie ist durchaus unerklärbar.«
Ist in dem Schlusse Folge? Der Gegner sagt: »Mir
ist kein Element der Sprache in ihrem Beginn und in jeder ihrer Progression
aus der menschlichen Seele unbegreiflich, ja die ganze menschliche Seele wird
mir unerklärbar, wenn ich in ihr nicht Sprache setze; das ganze menschliche
Geschlecht bleibt nicht das Naturgeschlecht mehr, wenns nicht die Sprache fortbildet.«
— Wer hat mehr gesagt? — Wer sagt Sinn?
Oder endlich die höhere Hypothese
sagt gar: »Nicht bloß keiner kann die Sprache
aus der menschlichen Seele begreifen, sondern ich sehe auch deutlich die Ursache,
warum sie ihrer Natur und der Analogie ihres Geschlechts nach durchaus für
Menschen unerfindbar war. Ja ich sehe in der Sprache und im Wesen der Gottheit
die Ursache deutlich, warum keiner als Gott sie erfinden konnte.« Nun
bekäme zwar der Schluß Folge; aber nun wird er auch der gräßlichste
Unsinn. Er wird so beweisbar als jener Beweis der Türken von der Göttlichkeit
des Korans: »Wer anders als der Prophet Gottes konnte
so schreiben?« Und wer anders als ein Prophet Gottes kann auch
wissen, daß nur der Prophet Gottes so schreiben konnte? Niemand als Gott
konnte die Sprache erfinden! Niemand als Gott kann aber auch einsehen, daß
niemand als Gott sie erfinden konnte! Und welche Hand kann es wagen, nicht bloß etwa Sprache und die menschliche Seele, sondern Sprache und Gottheit auszumessen?
Ein höherer Ursprung hat nichts für sich, selbst nicht das Zeugnis der morgenländischen Schrift, auf die er sich
beruft, denn diese gibt offenbar der Sprache einen menschlichen Anfang durch
Namennennung der Tiere. Die menschliche Erfindung hat alles
für und durchaus nichts gegen sich: Wesen der menschlichen
Seele und Element der Sprache; Analogie des menschlichen Geschlechts und Analogie
der Fortgänge der Sprache — das große Beispiel aller Völker,
Zeiten und Teile der Welt!
Der höhere Ursprung ist, so fromm er scheine, durchaus
ungöttlich. Bei jedem Schritte verkleinert er Gott durch die niedrigsten,
unvollkommensten Anthropomorphien. Der menschliche zeigt Gott im größesten
Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich
selbst eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine menschliche
Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn
der Vernunft als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung
der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, sofern er
menschlich ist.
Der höhere Ursprung ist zu nichts nütze und äußerst schädlich. Er zerstört alle Wirksamkeit der
menschlichen Seele, erklärt nichts und macht alles, alle Psychologie und
alle Wissenschaften unerklärlich — denn mit der Sprache haben ja
die Menschen alle Samen von Kenntnissen von Gott empfangen? Nichts ist also
aus der menschlichen Seele? Der Anfang jeder Kunst, Wissenschaft und Kenntnis
also ist immer unbegreiflich? — Der menschliche
läßt keinen Schritt tun ohne Aussichten und die fruchtbarsten
Erklärungen in allen Teilen der Philosophie und in allen Gattungen und
Vorträgen der Sprache. S.122-124
Aus: Johann Gottfried Herder, Abhandlung über
den Ursprung der Sprache. Herausgegeben von Hans Dietrich Irmscher
Reclams Universalbibliothek Nr. 8729. © 1966 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Einige Gespräche über Spinoza's
System nebst Shaftesbury's Naturhymnus
An gnôs,
ti esti Theos, hêdiôn esê.
(Vollständiger, ungekürzter,
aktualisierter Text!)
Inhaltsverzeichnis
Vorrede
zur zweiten Ausgabe
Vorrede
zur ersten Ausgabe
Erstes Gespräch
Biographisches
zu Spinoza
Spinoza:
Von der Besserung des Verstandes und
von dem Wege, auf welchem man am Besten zur wahren Kenntnis der Dinge gelangt
Zweites
Gespräch
Drittes Gespräch
Viertes Gespräch
Fünftes Gespräch
Nachschrift
Lessing:
Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott
Naturhymnus
von Shaftesbury
Vorrede
zur zweiten Ausgabe
Schon vor mehreren Jahren hätte diese Ausgabe erscheinen
können, mit der ich aber aus verschiednen Ursachen säumte. Seit 1787
nämlich (in welchem Jahr diese
Gespräche gedruckt waren) hatte sich im philosophischen Horizont
Deutschlands Manches geändert. Der Name Spinoza,
den man vorher gewöhnlich mit Schauder und Abscheu nannte, war seitdem
bei Einigen so hoch gestiegen, dass sie ihn nicht anders als zur Verunglimpfung
Leibnizes und anderer trefflicher Geister zu nennen
wussten. Ja, man hatte sein System
so missbraucht, dass, vergessend alle Schranken menschlicher Erkenntnis, die
er so richtig anerkannte, man den Kegel auf den Kopf stellte und aus einem eingebildeten
engen Ich das gesamte Weltall seinem ganzen Inhalt nach auszuspinnen sich erkühnte.
Diesen objektlosen Traum nannte man den transzendentalen
Spinozismus und höhnte den alten Spinoza,
dass er so weit nicht gelangt war.
Andererseits fuhr man fort, zu behaupten: »Spinoza
habe Gott zerteilt, ihm
das Denken geraubt; sein Gott
sei nur ein Kollektivname«.
Und fuhr dennoch fort, auch zu behaupten:
»unter diesem Kollektivnamen liege bei
Spinoza Alles
in Ketten blinder Notwendigkeit gefangen.
Spinoza's Gott sei ein despotischer, wilder Polyphem,
dem er das Auge geraubt«. In so anmaßend absprechenden Zeiten durften
anspruchlose Gespräche über Spinoza's System
keinen erfreulichen Anblick des offnen Sonnenlichts erwarten.
Da indessen ihr Zweck nicht gewesen war, Spinoza's System
in jedem gebrauchten Ausdruck zu retten oder es gar zu apotheosieren [verherrlichen],
wohl aber, es verständlich zu machen und durch Weghebung einiger Wortwände
zu zeigen, wohin Spinoza wollte, so durfte und
darf ich dieser, einem achtungswürdigen Denker erwiesenen Pflicht der Menschheit
mich nicht schämen. Archytas' Schatten bei
Horaz schien mir zuzurufen:
» - - Schiffer, versäume Du nicht,
dem unbegrabnen
Haupt und meinen Gebeinen ein Wenig
Fliegenden Staubes zu schenken. -
Eilest Du gleich, Du darfst nicht lange verweilen; ein' Handvoll
Erde dreimal auf mich! dann segle weiter!«
Warum sollte ich ihm diese Liebe nicht
erzeigen? Jahrhunderte hindurch ist das Reich der Wahrheit ein
zusammenhängendes, ungeteiltes Reich; wer Missverständnisse
voriger Zeiten hebt oder mindert, läutert damit den Verstand zukünftiger
Zeiten. In einer andern Sprache und Denkart, war Spinoza
gewissermaßen ein Fremdling
des Idioms, in welchem er schrieb; fordern es also nicht Vernunft und Billigkeit,
dass man seinem Ausdrucks zurechthelfe,
nicht aber zuerst an den Steinen kaue, d.i.
sich ausschließend an die härtesten Worte halte? Einen
Schriftsteller aus sich selbst zu erklären, ist die honestas
jedem honesto
schuldig.
Überhaupt gehört zu Beurteilung und Erfassung eines Systems,
in welchem auf Freiheit und Freude des Gemüts,
auf wahrhafte Erkenntnis und tätige Seligkeit Alles ankommt,
ein vorurteilsfreier, liberaler Sinn; denn wie erzwänge sich wahres Erkenntnis,
froher Sinn, tätige Liebe? »Seligkeit«,
sagt Spinoza, »ist
nicht Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Nicht weil wir die Leidenschaften
bezwingen, sind wir selig; sondern weil wir es sind, bezwingen wir jene.«
Ein Gleiches ist's auch mit dem Erkennen der Wahrheit. Weil wir sie erkennen,
bezwingen wir Vorurteile; dagegen in ihr dem Übelwissenden ein ehern Joch
dünkt, wird dem wahrhaften Erkennenden das tätige, das königliche,
Gesetz der Freiheit. »In ihm leben, weben
und sind wir,« sagt der Apostel;
»wir sind seines Geschlechts,« hatte
ein Dichter vor ihm gesagt, den der Apostel mit Beifall anführt. Mit derselben
Freiheit, mit der Paulus Worte eines Dichters,
die der Inbegriff dieses Systems
sind, anführt, durfte ich dies System erläutern.
Den Platz der versprochenen Adrastea möge
vor der Hand Shaftesbury's
Naturhymnus ersetzen.
Eine weitere Ausbildung durfte ich ihm nicht geben, als die ihm in den beliebten
Gesprächen der Moralists der Zusammenhang erlaubte. Was der lyrischen Vollkommenheit
abgeht, erstatte der Inhalt.
Nicht Vollkommenes nur, nicht Wahres, Schönes
und Gutes:
Wahrheit und Güt' ist er und die Vollkommenheit selbst.
Feinde schafft sie zu Freunden, zum Lichte schafft sie das Dunkel,
Wen Gott liebet, der liebt, selig von Allem geliebt.
Vorrede
zur ersten Ausgabe
Zehn oder zwölf Jahre sind's, seit ich eine kleine
Schrift mit mir umhertrug, die den Namen: Spinoza, Shaftesbury,
Leibniz führen sollte. Sie war fertig in meinen Gedanken, und ich
ging mehrmals an die Ausführung derselben; allemal aber ward ich unterbrochen
und musste ihr eine andre Stunde wünschen. Neue Zeitumstände führten
mich unvermerkt zu folgenden Gesprächen. Man würde ihren Zweck sehr
verkennen, wenn man sie bloß für eine Ehrenrettung des Spinoza
hielte; bei Verständigen hat Spinoza diese
Ehrenrettung nicht nötig, und er sollte, meinem Zweck gemäß,
jetzt bloß die Handhabe eines Opfergefäßes werden, aus welchem
ich einige Tropfen dem Altar meiner Jugend darbringen wollte. Warum ich von
Spinoza ausging, lag teils in der Reihe meiner
Gedanken, teils in Veranlassungen, die meine Zeit mir darbot.
Niemand indes nehme meine Schrift so auf, als ob ich irgend einer gangbaren
Philosophie vor- oder zwischentreten, sie verdrängen, Parteien herausfordern
oder zwischen Parteien ein unberufener Schiedsrichter werden wollte. Es sind
Gespräche einiger Personen, die ihre Meinungen mit eben dem Recht äußern,
mit welchem jeder Andre seine Lehrsätze darstellt. Gespräche sind
keine Entscheidungen, noch minder wollen sie Zank erregen; denn über Gott
werde ich nie streiten.
Sehnlicher wünschte ich, dass, was hier im Gespräch bloß angedeutet
werden konnte, eine unserer Philosophie angemessenere Form erlebte. Nur einen
ruhigen, heitern Sommer wünschte ich mir für meine Adrastea
oder von den Gesetzen der Natur, sofern sie auf Weisheit, Macht
und Güte als auf einer innern Notwendigkeit ruhen. Da ich aber bestimmt
bin, in meinem Leben selbst der Notwendigkeit, nicht der Willkür zu folgen,
so wird die ewige Wahrheit, wenn ihr mein Werk angenehm ist, mir auch Muße
dazu verleihen. Zufrieden wäre ich, wenn diese kleine Vorarbeit einige
unbefangene Liebhaber der Philosophie erfreute, Kennern gefiele und hie und
da einem Irrenden den Weg zeigte.
Weimar, den 23. April 1787.
Herder.
Erstes
Gespräch
PHILOLAUS. Sehen
Sie, Theophron, die erquickende Stunde, die nach
dem schrecklichen Gewitter folgt. Schwefelwolken türmten sich auf, die
uns den Anblick der Sonne nahmen und alles Irdische in schwerer Odem setzten;
sie sind zertrümmert, und Alles haucht wieder leicht und fröhlich.
So stelle ich mir den Zustand der Wissenschaft vor, da
Spinoza und Seinesgleichen der Welt den Anblick Gottes mit ihren schweren
Dünsten rauben wollten; diese türmten sich auch zum Himmel empor und
umzogen das Firmament; aber eine gesundere Philosophie hat sie wie die Riesen
hinuntergestürzt, und der nachdenkende Geist erblickt die strahlende Sonne
wieder.
THEOPHRON. Haben sie den Spinoza
gelesen, lieber Freund?
PHILOLAUS. Gelesen habe ich ihn nicht; wer wollte auch jedes
dunkle Buch eines Unsinnigen lesen? Aber das habe ich aus dem Munde Vieler,
die ihn gelesen haben, dass er ein Atheist und Pantheist, ein Lehrer der blinden
Notwendigkeit, ein Feind der Offenbarung, ein Spötter der Religion, mithin
ein Verwüster der Staaten und aller bürgerlichen Gesellschaft, kurz,
ein Feind des menschlichen Geschlechts gewesen und als ein solcher gestorben
sei. Er verdient also den Hass und Abscheu aller Menschenfreunde und wahren
Philosophen.
THEOPHRON. Die Gewitterwolke indessen
verdiente ihn nicht, mit der Sie ihn eben verglichen haben; denn auch sie gehört
zur Naturordnung und ist heilbringend und nützlich. Aber, ohne Gleichnis
zu reden, haben Sie, mein Freund, auch nichts Näheres Bestimmtes über
Spinoza gelesen, woran wir uns im Gespräch
halten könnten?
PHILOLAUS. Vieles, z.B. den Artikel
über ihn in Bayle.
THEOPHRON. An Bayle
haben Sie diesmal nicht eben den besten Gewährsmann. Er, dem sonst alle
Systeme gleichgültig waren, weil er selbst kein System hatte, blieb in
Absicht des Spinoza nicht gleichgültig. Er
nahm eifrig Partei gegen denselben, wozu ihn ohne Zweifel Umstände der
Zeit und des Orts veranlassten. Vielleicht lebte er dem Verstorbnen zu nahe;
die Lehre, ja selbst der Name des Spinoza war damals
ein Schimpfwort, wie beide es großenteils noch jetzt sind; alles Ungereimte
und Gottlose nannte und nennt man zum Teil noch
Spinozistisch. Nun war es des feinen Dialektikers Bayle
wohl nicht, ein System als System
zu ergründen und mit dem tiefsten Gefühl der Wahrheit ganz
zu beherzigen. Er durchflog alle Lehrgebäude,
nahm scharfsinnig ihre Verschiedenheiten auf, sofern
sie ihm zu seinen Zweifeln dienten; jetzt war ihm diese Meinung wichtig, jetzt
eine andre; von dem aber, was innere philosophische Überzeugung heißt,
hatte er bei seiner leichten Denkart schwerlich einen Begriff, wie solches sein
Wörterbuch beinahe unwidersprechlich zeigt.
PHILOLAUS. Sein Wörterbuch und seine übrigen Schriften.
Auch ich habe mich oft gewundert, wie ein so scharfsinniger Mann in seinen Meinungen
so unstet, so unzusammenhängend sein konnte. Jetzt ist ihm dieser wichtige
Gedanke, jetzt jene Ungereimtheit gleich wichtig; eine falsch zitierte Jahrzahl
des Moreri und die Frage, ob ein Gott sei, wieviel
derselben seien, woher das Böse in der Welt entspringe u. dergl. beschäftigen
ihn mit gleichem Interesse. Ich glaube aber, das gehöre zum
Wörterbuchschreiber.
THEOPHRON. Dahin wollen wir
Bayle nicht setzen, ob er gleich ein Wörterbuch schrieb, auch in
diesem zeigt sich allenthalben der Selbstdenker
mit einer leichten Gewandtheit des scharfsinnigsten Gedankenspieles.
Nennen Sie mir einen andern Schriftsteller, der so viel und vielerlei mit gleicher
Anmut, mit gleicher Aufmerksamkeit umfasst oder berührt hätte. Er
war philosophisch-historische Voltaire seiner Zeit,
dessen Liebhaberei sich vom erhabensten Gegenstande bis zur kleinsten Kleinigkeit
eines historischen Umstandes, einer Anekdote, eines Büchertitels oder gar
einer Zote erstreckte. Für einen Geist solcher Art war nun Spinoza's
System eben nicht. Dieser eingeschlossene, schwere Denker hatte von allem,
was Meinung war, einen vielleicht zu wegwerfenden
Begriff und ging mit mathematischer Genauigkeit der reinen Wahrheit nach, wo
er solche zu finden glaubte. Für sie vergaß er alles Andre, und von
Bayle's Gelehrsamkeit, von seinem Witz und Scharfsinn
hatte er vielleicht nicht Eins gegen Tausend. Zwei Köpfe solcher Art werden
einander schwerlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, und doch bin ich überzeugt,
hätte es Spinoza gegen den Verfasser des Wörterbuchs
eher getan, als der muntre, vielgeschäftige Bayle
es
gegen Spinoza tun mochte. Diesem warf man schon
in seinem Leben vor, dass er Spinoza's System nicht
recht gefasst habe, und er hat sich gegen diesen Vorwurf in einem Briefe verteidigt.1
PHILOLAUS. Übel also für
Spinoza; denn für den größten Haufen
hat eben doch Bayle festgesetzt, den man von ihm
hegt. Wie Wenige lesen Spinoza's dunkle Schriften,
und alle Welt liest den tausendfach abwechselnden, angenehmen
Bayle.
THEOPHRON. So ist's, mein Freund,
und doch auch nicht ganz also. Für das leichte Heer von Lesern hat Bayle
den Begriff von Spinoza fixiert; leider aber für
den schweren Phalanx haben es meistens streitende Philosophen und Theologen
getan, und da ist ihm noch übler begegnet. Es ging ihm nach dem Evangelio:
seine nächsten Hausgenossen wurden seine ärgsten Feinde, die Cartesianer.
Sie wollten und mussten ihre Philosophie, von der er ausgegangen war, und mit
deren Worten er sprach, von der seinigen absondern, damit nicht auch sie den
Verdacht des Spinozismus kämen; natürlich
hat sich diese philosophische Behutsamkeit von des Cartesius
Schule auf jede nachfolgende verbreitet. Noch bitterer gingen die Theologen
fast aller Konfessionen gegen ihn los; denn er hatte nicht nur über das
Judentum und die Bücher des Alten Testaments seine Meinung sehr frei, ihnen
sehr anstößig geäußert, sondern, welches ihnen viel ärger
dünken musste, er hatte zuerst vorzüglich gegen sie die Feder ergriffen.
Ihrer Streitsucht, ihren Zänkereien schrieb er einen großen Teil
vom Verfall des Christentums, vor der Unwirksamkeit der schönsten Lehrsätze
desselben zu, und ob er dies gleich ohne Bitterkeit tat, so können Sie
sich doch leicht die Aufnahme seines Buchs vorstellen.
PHILOLAUS. Die ist mir vor Augen.
Hitzigen Parteien darf nur ein Friedensstifter ohne Vollmacht zwischentreten,
und er hat beide gegen sich. Welche Vollmacht aber hatte der Jude Spinoza?
THEOPHRON. Keine andre Vollmacht,
als die er glaubte aus der Hand der Billigkeit empfangen zu haben; nur freilich
bediente er sich derselben nicht eben auf weltkluge Weise. Er machte seine religiöse
Politik in einem Werk bekannt, dessen Theologie Juden und Christen aufbringen
musste;2 seine politischen Grundsätze
waren so strack, so schnurgerade, dass sie der damaligen Zeit gewiss nicht eingehen
konnten. Dem Staat räumte er das völlige Recht ein, den äußern
Gottesdienst anzuordnen; der Vernunft behielt er die uneingeschränkte Freiheit
des Gebrauchs ihrer Kräfte vor: Beides dünkte den Meisten so übertrieben,
als ob er Feuer und Wasser mischen wollte. Seine Theorie also musste notwendig
scheitern, wie sie dann in manchem auch uns noch jetzt zu hart, zu
Hobbesisch dünkt, ob mir gleich in Grundsätzen der Duldung
weit vorgerückt sind. - Locke, Bayle, Shaftesbury
u. A. gingen leiser.
PHILOLAUS. Und doch mussten auch
sie dulden, eh ihre billigsten Sätze allgemein anerkannt wurden. In Materien
solcher Art hat freilich ein disputierender Dialektiker wie Bayle
oder ein einkleidender Dichter wie Voltaire viel
Vorteil vor dem ernsten Philosophen, der seine Sätze strack hinstellt.
Jene dürfen und können immer sagen: »Ich habe nur disputiert,
Wahres und Falsches einander entgegengestellt und Beides eingekleidet; man wähle!«
In diesem angenommenen, immer veränderten Gewande gehen sie nicht nur sicherer,
sondern wirken auch allgemeiner. Bayle machte gewiss
auf sein Zeitalter mehr Wirkung als Spinoza und
Leibniz, Voltaire mehr als Rousseau
oder als andere noch strengere Philosophen.
THEOPHRON. Wie man's nimmt, Philolaus;
es gibt eine zwiefache Wirkung. Eine breitet sich weit umher; eine andre wurzelt
um so fester. Ich wollte, dass ein philosophisch-kritischer Mann, kein Jüngling,
zu unsrer Zeit den theologisch-politischen Versuch des Spinoza
mit Anmerkungen herausgäbe.3 Es
wäre ein nützlicher Versuch, zu sehen, was die Zeit in ihm bekräftigt
oder widerlegt habe. In der Kritik über die Schriften des Alten Testaments
haben seitdem Manche Manches als eine neue Entdeckung, dazu unvollkommener gesagt,
das in Spinoza bereits gründlicher stand.
Im Punkt der Toleranz hat die Natur unsrer Staaten beinah keinen andern Weg
nehmen mögen, als den ihr Spinoza damals zu
allgemeinen Haß vorzeichnete. Freilich ist in diesem Werk wie in allen
seinen andern Schriften Alles hart gesagt; für Werke der Einbildungskraft,
Poesie z.B., hatte Spinoza nur einen metaphysischen
Sinn; in der ganzen Komposition seines Werks ist er ein einsamer Denker, dem
die Grazie des Weltumganges, des einschmeichelnden Vortrages unbekannt war und,
wie mich dünkt, wohl auch unbekannt sein durfte.
PHILOLAUS. Nur darauf setzen Sie
es, Theophron? Ein Mensch ohne gesunde Grundsätze,
ein Atheist, ein Pantheist u.s.w., über welche Materie könnte der
schreiben, dass er bei Vernünftigen Eingang fände? Er soll sogar den
Pantheismus und Atheismus haben demonstrieren wollen; was geht über den
Unsinn?
THEOPHRON. Den Atheismus und Pantheismus demonstrieren? und
beide zugleich? Wie sind beide in einem und demselben System
möglich? Der Pantheist hat doch immer einen Gott, ob er sich gleich in
der Natur Gottes irrt; der Atheist hingegen, der Gott schlechterdings leugnet,
kann weder Pantheist noch Polytheist sein, wenn man nicht mit den Namen spielt.
Überdem, mein Freund, wie kann man den Atheismus, d.i. eine Negation erweisen?
PHILOLAUS. Warum nicht, wenn man
einen innern Widerspruch im Begriff von Gott entdeckte oder zu entdecken glaubte?
THEOPHRON. Einen innern Widerspruch
im einfachsten, im höchsten Begriff, dessen die Menschheit fähig ist?
Ich bekenne, dass ich davon nichts begreife.
PHILOLAUS. Deshalb war er auch
ein Unsinniger, der demonstrieren wollte, was nicht zu demonstrieren war; denn
unsre neue Philosophie sagt laut: »Weder dass ein
Gott sei, noch dass er nicht sei, ist zu demonstrieren. Das Erste muss man als
Postulat annehmen und - glauben.«
THEOPHRON. »So«, würde ein Andrer sagen,
»müsste es wenigstens freistehn, 'Eins von Beiden zu glauben und
als Postulat anzunehmen, d.i. Atheist, Deist oder Theist zu sein, nachdem wir
Glauben haben'.« - Doch lassen Sie diesen Punkt unberührt:
Spinoza sei Atheist, Phantheist oder eine Zwittergestalt
von beiden gewesen, so schmerzen mich die Beinamen, die Sie einem Unbekannten
geben. In der Philosophie sind wir aus den Zeiten der Ehrentitel hinaus, mit
denen Spinoza noch von Kortholt,
Brucker und Andern genannt ward. Der Erste glaubte witzig zu sein, wenn
er den Benedictus in einen Maledictus
und den Namen Spinoza in einen stachlichten
Dornbusch verkehrte. Bei Andern sind die Beiworte »frech, gottlos, unsinnig,
unverschämt, gotteslästerlich, pestilenzialisch, abscheulich«
gewöhnliche Formeln, mit denen sie ihn aus dem Reich der Geister zitieren.
Ein Erwählter hat sogar das Zeichen der ewigen Verwerfung auf seinem Gesicht
gefunden, Andre haben ihn auf seinem Todesbette um Erbarmung winseln hören.
Ich bin kein Spinozist und werde nie einer werden;
die Art aber, mit der man über diesen verlebten stillen Weisen die Urteile
des vorigen Jahrhunderts, des jämmerlichsten Streitjahrhunderts, noch zu
unsrer Zeit wiederholen will, ich gestehe es, mein Freund Philolaus,
ist mir unerträglich. Hier haben Sie ein Büchelchen von acht
Bogen,4 in denen noch dazu das
Meiste ein Gemisch von Anmerkungen ist, die Sie ganz überschlagen dürfen;
es ist nichts als das Leben Spinoza's,
sehr trocken, aber mit historischer Genauigkeit erzählt; denn man
sieht, dass der Verfasser um jeden Umstand besorgt gewesen. Ein unparteiischer
Mann hat es geschrieben, kein Spinozist, sondern ein evangelischer Pastor, der
»vor Gott bezeugt, dass er in Spinoza's
'Theologisch-politischem Traktat' nichts Gründliches gefunden, noch
etwas, das in dem Glaubensbekenntnis, womit er den evangelischen Wahrheiten
zugetan ist, ihn im Geringsten auf der Welt zu beunruhigen fähig gewesen,
weil anstatt der gründlichen Beweise man nichts als vorausbegebungene Sätze,
und was man in den Schulen petitiones principii nennt,
darinnen finde«. Einem so vorsichtigen Führer können Sie Sich
sicher anvertrauen, wenn sie den Mann näher kennen wollen.5
- Meine Geschäfte rufen mich weg; bald sehen wir uns wieder. Wenn Sie hineinblicken
wollen, so lege ich Ihnen auch des Atheisten Werke
selbst hin; leider sind es nur zwei kleine Bände.
PHILOLAUS. Ich begreife den Theophron
nicht. Für einen Demonstrator solcher Art sich zu verwenden! und was soll
mir hierüber sein Leben einem evangelischen Pastor, also geschrieben und
also gedruckt, sagen?
* * *
Biographisches
zu Spinoza
Ein sonderbarer Mann, dieser Spinoza. Wie auch
sein System sein möge; es
ist etwas Wahrheitsuchendes, Standhaftes und Selbstbeständiges in seinem Charakter und Leben. Er legt sich
auf die jüdische Theologie und verlässt sie, um die Naturlehre gründlich
zu erlernen; die Werke des Descartes kommen ihm in die Hände, und da er sie mit sonderbarer Begierde gelesen hat und
nachher bekennt, dass, was er an philosophischer Erkenntnis besitze, er aus
ihnen geschöpft habe, so wendet er sich still vom Judentum weg, weil er
sich überzeugt glaubt, dass er den Lehrsätzen desselben nicht weiter
folgen könne. Man bietet ihm ein Jahrgeld von tausend Gulden an, damit
er nur fernerhin die Synagoge besuchen möge; er schlägt es aus und
zieht sich ohne Geräusch in die Stille. Man tut ihn in dem Bann; er antwortet
und lernt in der stille eine Hantierung, sich selbst zu nähren. Welch ein
andres Betragen als in ähnlichen Umständen des unglücklichen,
brausenden Acosta,6 der nicht
zur Ruhe kommen konnte, bis ihm der Tod Ruhe schaffte! Ich wollte, dass man
Spinoza's Antwort auf den Bann der portugiesischen
Synagoge in Amsterdam (wenn sie nicht sogleich zerrissen
und abgetan ist) erhalten könnte; sie würde uns die Ursache
seines Entschlusses, wie mich dünkt, ebenso stark und bündig als sanft
und stille sagen; denn es herrscht ein sanftmütiger, stiller Geist in dieses
Mannes Leben. Jetzt verfertigt er optische Gläser und lernt von ihm selbst
zeichnen. Der Lebensbeschreiber hat eine Sammlung seiner Zeichnungen in Händen
gehabt, darunter auch Personen gewesen, die bei ihm nur einen Besuch abstatteten,
die er also wahrscheinlich aus dem Gedächtnis gezeichnet. Unter diesen
Übungen war auch Masaniello in seiner bekannten
Fischerkleidung, von dem der Wirt des Spinoza versicherte,
dass dies Bild ihm selbst ähnlich gesehen habe. Ein sonderbarer Einfall,
sich als Masaniello zu zeichnen; oder vielleicht
ein Wirtseinfall. - Nun schleift Spinoza Gläser,
seine Freunde verkaufen sie, und der lebt sparsam; in zwei bis drei Tagen sieht
er oft Niemand. Viele bieten ihm ihren Beutel und ihre Hilfe an; alles aber
schlägt er bescheiden aus, lebt von geringen Speisen und schließt
seine Rechnungen alle Vierteljahre, nur damit er nicht mehr aufwende, als er aufzuwenden habe. Er ist, wie er seinen Hausleuten sagt, eine Schlange,
die mit dem Schwanz im Munde einen Zirkel macht, anzuzeigen, dass ihm von seinen
Jahrseinkünften nichts übrig bleibe. Ich habe das Symbol unter seinem
Bilde gesehen und es töricht auf sein System gedeutet. Welch ein wahrerer
Philosoph in diesem Allen als manche dieses Namens! Er will nicht mehr sammeln,
als was nötig sei, um mit Wohlstand begraben zu werden; er will aber auch
Niemanden zur Last fallen und nur durch sich selbst leben. Sein Betragen ist
still und friedlich: Herr über seine Leidenschaften, zeigt er sich nie
weder sehrtraurig noch sehr fröhlich. Gesprächig tröstet er die
Leidenden seines Hauses und ermahnt sie, ihre Unglücksfälle als ein »von Gott ihnen zugeschicktes Los« geduldig
zu ertragen; er redet den Kindern zu, dass sie den Gottesdienst fleißig
besuchen möchten, und unterrichtet sie, wie sie ihren Eltern gehorsam sein
sollten, fragt seine Hausgenossen, welchen Nutzen sie aus der angehörten
Predigt geschöpft, und hält hoch von dem erbaulichen, guten Geistlichen,
der hier genannt wird.7 »Eure
Religion ist gut,« spricht der stille Weise, »Ihr
habt nicht nötig, eine andere zu suchen, noch daran zu zweifeln, dass Ihr
dabei die Seligkeit erlangen werdet, sofern Ihr nur der Gottseligkeit Euch ergebt
und zugleich ein friedliches und ruhiges Leben führt.« Sein
aufrichtigster Freund bietet ihm ein Geschenk von zweitausend Gulden an, um
mit einiger mehreren Bequemlichkeit zu leben; er verbittet es freundlich. Jener
will ihn zu seinem Erben einsetzen; er nimmt die Wohltat nicht an und setzt
das Jahrgeld, das dieser ihm in seinen letzten Lebensjahren aufdringt, fast
noch um die Hälfte herunter. So lebt er und stirbt in seinem fünfundvierzigsten
Jahr ebenso ruhig, als er gelebt hatte. Wenige Stunden vorher hatte er mit seinen
Hausleuten noch ein langes Gespräch über die gehörte Predigt,
und ehe sie nachmittags die Kirche verlassen, erblasst er in Gegenwart seines
Arztes. Sein ganzer Nachlass beträgt nach dem Verkauf 390 Gulden und 14
Stüber, um welche Summe sich noch seine Anverwandten zankten. Ein sanfter
Schimmer strahlt durch sein Leben; denn man sieht, wie seine Freunde ihn lieben,
wie alle, die ihn kennen, ihn schätzen, und wie er sich dessen nie überhebt,
keinen störrisch abweist. Als ihm der Kurfürst von der Pfalz eine
Lehrstelle auf seiner Universität antragen ließ, mit der Freiheit,
nach seinen Grundsätzen fortzuschließen, wie er es seinem Vorhaben
am Dienlichsten finden würde, antwortete er vorsichtig: »er wisse
nicht, in welche Schranken die Freiheit, seine Meinungen zu erklären, eingeschlossen
sein solle, damit es nicht schiene, dass er die Landesreligion stören wolle«,
und nahm den Ruf nicht an.
Von seinen Meinungen weiß ich freilich noch nicht, was ich zu halten habe;
selbst aber die hier als irrig angeführten, wahrscheinlich seine ärgsten
Stellen
tragen bei aller Paradoxie das Siegel der Überzeugung dessen an sich, der
diese Meinungen hegte. Er will sie keinem aufdringen, er will keine Sekte stiften,
und zwar nicht aus Menschenfurcht, sondern aus Scheu, die Meinungen andrer Menschen
auch nach seinem Tode zu stören. Während seines Lebens hat er nichts
herausgegeben als einen kleinen Traktat, mit welchem er Ruhe zu stiften gedachte;
als diese Bemühung fehlschlug, wohnte er mit seiner Philosophie allein
und verbrennt wenige Tage vor seinem Tode noch eine angefangene Übersetzung
des Alten Testaments, damit sie auch nach seinem Tode keinen Unfrieden verursachen
möchte. Ich wollte, dass er sie nicht verbrannt hätte; denn hatte
sie keinen Wert in sich, so hätte sie die Zeit doch vertilgt.
* * *
Wohlan also zu seinen Schriften! Sie
sind nach seinem Tode erscheinen; er hatte sie, wie der Augenschein zeigt, für
sich selbst geschrieben. Und es sind meistens Fragmente.8
»Von
der Besserung des Verstandes und von dem Wege, auf welchem man am Besten zur
wahren Kenntnis der Dinge gelangt«9
»Belehrt von der Erfahrung, dass
alles, was uns im gemeinen Leben häufig begegnet, ein leerer Tand sei,
weil ich sah, dass alles, was ich fürchtete, in sich selbst weder Böses
noch Gutes habe, als sofern das Gemüt dadurch bewegt wird, entschloss ich
mich endlich, zu forschen, ob es etwas gebe, das wahrhaft
gut sei und sich mitteile, so dass mit Verwerfung alles Andern
die Seele von ihm allein affiziert würde; ja, ob es etwas gäbe, das,
wenn ich's fände und hätte, mir einen unverrückten, höchsten
und ewigen Freudegenuss gewähren könne. Ich sage, dass ich mich endlich
entschlossen; denn dem ersten Anblick nach schien es unratsam zu sein, um eine
mir damals ungewisse Sache eine gewisse verlieren zu wollen; ich sah nämlich
die Vorteile, die aus Ehre und Reicht um entspringen,
und die ich nicht weiter suchen müsste, sobald ich mich ernstlich nach
meinem neuen Zweck wenden wollte. Läge also das höchste Stück
in ihnen, so sahe ich wohl, dass ich desselben entbehren müsste; fände
es sich aber in ihnen nicht, und ich jagte ihnen doch nach, so müsste ich
seiner auch entbehren. Ich überlegte also bei mir selbst, ob es nicht möglich
sei, zu meinem neuen Zweck oder wenigstens zur Gewissheit zu kommen, dass es
einen solchen gebe, wenn ich auch meine gewöhnliche Lebensweise nicht veränderte;
dies versuchte ich oft, aber vergebens. Denn was uns gemeiniglich im Leben vorkommt
und von den Menschen (nach ihren Handlungen zu urteilen)
für das höchste Gut angesehen wird, lässt sich auf
drei Stücke bringen: auf Reichtümer, Ehre und Lust. Durch alle drei
aber wird das Gemüt so zerstreut, dass es an kein anderes Gut irgend gedenken
kann. Denn was die Wollust betrifft, so täuscht sie das Gemüt eine
Zeit lang, als ob es in einem Gut ruhe, und hindert es damit, an irgend ein
anderes Gut zu denken; bald aber folgt auf ihren Genuss die tiefste Traurigkeit,
die den Geist, wenn nicht fesselt, so doch stört und stumpf macht. Auch
wenn wir Ehre und Reichtum verfolgen, zerstreut sich die Seele, insonderheit
wenn wir jene um ihr selbst willen begehren, weil sie uns alsdann ein höchstes
Gut dünken. Und zwar zerstreut die Ehre das Gemüt noch mehr als der
Reichtum, weil sie fortwährend
als ein wahres Gut und als der letzte Zweck geschätzt wird, nach welchem
man alles einrichten müsse. Ferner findet bei Ehre und Reichtümern
zwar nicht, wie bei der Wohllust, die Reue statt, sondern je mehr man von beiden
besitzt; desto mehr freut man sich und wird mehr und mehr angeregt, sie zu vermehren.
Schlägt aber bei irgend einem Zufalle die Hoffnung fehl, so bringen beide
die größte Traurigkeit. Endlich ist auch die Ehre deswegen ein großes
Hindernis, weil, um sie zu erlangen, man sein Leben notwendig nach der Denkart
andrer Menschen einrichten muss, dass man nämlich fliehe, was sie fliehen,
und suche, was sie suchen.
Da ich also sahe, dass dies alles mir Hindernis sei, mich auf mein neues Werk
zu legen, ja mit demselben in solchem Widerspruch stehe, dass ich von Einem
oder dem Andern notwendig ablassen müsse, so ward ich gezwungen zu forschen,
welches von beiden mir nützlicher wäre. Denn ich kam, wie gesagt,
in den Fall, ein gewisses Gut für ein ungewisses aufgeben zu wollen. Als
ich aber diese Überlegung etwas fortgesetzt hatte, so fand ich zuerst,
dass, wenn ich meine alte Lebensweise gegen die neue vertauschte, ich immer
doch nur ein seiner Natur nach
ungewisses Gut gegen ein andres ungewisses aufgebe, das seiner Natur nach nicht
ungewiss sein könne, weil ich eben ein festes Gut suchte, sondern das nur
sofern zweifelhaft bliebe, ob ich's erreiche.
Durch fortgesetztes Nachdenken kam ich gar so weit, einzusehen, dass, wenn ich
alles recht und ganz überlegte, ich gewisse Übel gegen ein gewisses
Gut vertauschte. Ich sah nämlich, dass ich in der größten Gefahr
schwebte und in der Not wäre, ein auch ungewisses Rettungsmittel mit allen
Kräften zu suchen; wie der Kranke, der, wenn er kein Mittel braucht, den
gewissen Tod vor sich sieht, auch ein ungewisses Mittel mit allen Kräften
suchen muss, da seine ganze Hoffnung darauf beruht.
Alle die Dinge aber, denen der große Haufe nachstrebt, gewähren nicht
nur kein Mittel zur Erhaltung unsers Seins, sondern sie verhindert dasselbe
auch und sind oft die Ursache des Untergangs derer, die sie besitzen, immer
aber die Ursache des Untergangs derer, die von ihnen besessen werden.
Es gibt viele Beispiele von Menschen, die ihres Reichtums wegen sich bis auf
den Tod verfolgen ließen, auch Beispiele von Menschen, die, um Güter
zu
erlangen, sich so vielen Gefahren aussetzen, da sie endlich ihre Torheit mit
dem Leben büßten. Nicht wenigere gibt es, die, um Ehre zu erlangen
oder zu
erhalten, aufs Elendeste litten. Unzählige Beispiele endlich sind von solchen
vorhanden, die durch übermäßige Wohllust ihren Tod beschleunigt
haben. Alle diese Übel scheinen mir daher zu kommen, dass das ganze Glück
oder Unglück in der Beschaffenheit des Gegenstandes
liegt, dem wir mit Liebe zugetan sind. Denn um etwas, was man
nicht liebt, entsteht kein Streit; man grämt sich nicht darüber, wenn
es verschwindet; man fühlt keinen Neid, wenn es ein Anderer besitzt, keine
Furcht, keinen Hass, kurz keine Gemütsbewegung; welches alles zutrifft,
wenn man so vergängliche Dinge liebt, wie alle die sind, von denen wir
bisher geredet haben. Liebe aber zu einem ewigen und unendlichen Gegenstande
kann nur Freude der Seele gewähren, eine Freude, die von keiner Traurigkeit
weiß; wahrlich, ein sehr wünschenswürdiger Zweck, nach welchem
man mit allen Kräften streben müsste! Ohn' Ursach aber bediene ich
mich nicht des Ausdrucks: wenn ich mich nur ernstlich
entschließen könnte; denn ob ich gleich dies alles
in meiner Seele so klar einsah, so konnte ich deswegen doch allen Geiz, alle
Lust- und Ehrsucht nicht ablegen.
Das Eine sah ich, dass, so lange mein Gemüt mit diesen Gedanken beschäftigt
war, so lange verabscheute es jene Neigungen und dachte ernstlich an
eine andre Lebensweise; welches mir denn zum großen Trost gereichte. Denn
ich sah, mein Übel sei wenigstens doch noch nicht so groß, dass kein
Mittel dagegen wäre. Und obgleich anfangs diese hellen Zwischenräume
selten waren und nur kurze Zeit dauerten, so kamen sie doch, nachdem ich das
wahre Gute mehr und mehr erkennen lernte, nicht nur öfter, sondern dauerten
auch länger; zumal da ich einsah, dass der Erwerb des Geldes oder die Lust-
und Ehrbegierde nur so lang Hindernisse blieben, so lange man sie nicht als
Mittel, sondern als Zwecke suchte. Sucht man sie als Mittel, so haben sie Maß
und hindern nicht, sondern fördern vielmehr, zu dem Zweck zu gelangen,
deshalb man sie sucht.
Hier will ich nur kurz sagen, was ich durchs wahre
Gute verstehe, und zugleich was das höchste
Gut sei. Dies recht zu fassen, merke man, dass
gut und böse
nur beziehungsweise gesagt werden, so dass eine und dieselbe Sache gut und übel
heißen kann in verschiedener Rücksicht; so auch vollkommen
und unvollkommen. Denn
seiner Natur nach kann nichts vollkommen oder unvollkommen genannt werden, vornehmlich
weil wir wissen, dass alles, was geschieht, nach einer ewigen Ordnung und nach
gewissen Naturgesetzen geschehe. Da aber der schwache Mensch diese Ordnung mit
seinen Gedanken nicht erreicht und sich dabei doch eine menschliche Natur denkt,
die viel fester als die seinige sei, ja kein Hindernis sieht, warum er eine
solche Natur nicht erlangen könnte: so wird er angereizt, Mittel zu suchen,
die ihn zu dieser Vollkommenheit führen. Alles, was ein Mittel sein kann,
dahin zu gelangen, heißt ihm ein wahres
Gut; das höchste Gut aber
ist, dahin zu gelangen, dass er mit andern Individuen wo möglich einer
solchen Natur genieße. Was dies für eine Natur sei, werden wir an
seinem Ort sehen: sie sei nämlich Erkenntnis
der Vereinigung, die mein Innerstes (mens)
mit der ganzen Natur hat.
Dies ist also der Zweck, nach welchem ich strebe, eine solche Natur zu
erlangen, und dass Viele sie mit mir erlangen mögen; d.i. zu meiner Glückseligkeit
gehört es auch, Fleiß anzuwenden, dass viele Andere das einsehen,
was ich einsehe, dass ihr Verstand und ihre Begierde völlig mit der meinigen
übereinstimme. Und damit dies werde, so ist nötig, dass sie von der
Natur so viel verstehen, als nötig ist, eine solche Natur zu erlangen;
ferner, eine Gesellschaft zu stiften, in welcher eine große Anzahl auf
die leichteste Art mit Sicherheit dahin gelangen möge. Weiter muss man
auf die Moralphilosophie und auf die Lehre von der Erziehung der Kinder Fleiß
anwenden, und weil die Gesundheit kein kleines Mittel ist, diesen Zweck zu erreichen,
muss die ganze Medizin in Ordnung gebracht werden. Weil auch durch die Kunst
viel Schweres leicht gemacht, viele Zeit erspart und viele Bequemlichkeit fürs
Leben erworben wird, so ist auch die Mechanik auf keine Weise zu verachten.
Vor allen Dingen aber ist eine Art auszusinnen, wie der Verstand geheilt und
(wiefern es anfangsweise geschehen kann) gereinigt
werde, damit er die Sache ohne Irrtum und aufs Beste einsehen lerne. Jedermann
sieht hieraus, dass ich alle Dinge auf einen
Zweck, auf ein Ziel richten wolle,
nämlich dass man zur ebengenannten höchsten Vollkommenheit des Menschen
gelange. Was also in den Wissenschaften nichts zu unserm Zweck beiträgt,
muss als unnütz verworfen, kurz, alle unsre Gedanken und Handlungen zu
diesem Zweck gerichtet werden. Weil aber, wenn wir den Verstand auf den rechten
Weg zu lenken suchen, wir auch leben müssen, so müssen wir auch einige
Lebensregeln als gut annehmen. Diese nämlich:
1. Nach der Denkart des gemeinen Mannes zu reden und alles
zu bewirken, was uns kein Hindernis in Weg legt, unser Ziel zu erreichen. Denn
von ihm können wir großen Vorteil erwarten, wenn wir, so weit es
sein kann, uns seiner Denkart bequemen. Er wird auch auf diese Weise der Wahrheit
selbst ein geneigtes Ohr schenken.
2. Des Vergnügens nur sofern zu genießen, als es
zur Gesundheit gehört.
3. Geld und jedes Andre nur soweit zu suchen, als es zum Leben,
zur Gesundheit und zur Sitte der Landes gehört, inwiefern diese unserm
Zweck nicht widerstrebt.«
* * *
Träume ich oder habe ich gelesen? Ich glaubte einen
frechen Atheisten zu finden, und finde beinah einen metaphysisch-moralischen
Schwärmer. Welch ein Ideal des menschlichen Bestrebens, der Wissenschaft,
der Naturkenntnis ist in seiner Seele! und er geht zu ihm mit so überdachtem,
mühsam-schwerem Schritt und Stil, als Manche zur Umänderung ihres
Lebens nicht ins Kloster wandern. Offenbar ist der
Aufsatz aus den Jahren des Mannes, da er vom Judentum Abschied nahm und seine
philosophische Lebensart wählte.10 Er
hat diese fortgesetzt bis ans Ende seines Lebens; was mag er in ihr erreicht
haben? - Aber siehe, da kommt Theophron.
THEOPHRON. So fleißig? Philolaus,
Sie haben die Witterung nicht ganz wahr gelobt; die abgeregneten Gewitterwolken
haben uns ein Kälte verursacht, die man nach Ihrem Gleichnis nicht vermuten
sollte.
PHILOLAUS. Lassen Sie mein Gleichnis
und geben mir diesen Band mit! ich sehe, ich habe mich an Spinoza
geirrt. Was, meinen Sie, soll ich zuerst lesen?
THEOPHRON. Seine »Ethik«.
Das Übrige ist Fragment, und der »Theologisch-politische
Traktat« war ein frühere Probe-Zeitschrift. Gefällt's
Ihnen, so nehmen Sie einige Regeln mit auf die Reise.
1. Ehe Sie den Spinoza lesen,
muss Ihnen Descartes, wenn auch nur als Wörterbuch,
bekannt sein. In ihm sehen Sie den Ursprung der Worte und Formeln, also auch
manch sonderbaren harten Formeln des Spinoza. Nehmen
Sie hiezu Descartes' Hauptschriften oder einen
seiner Schüler,11 unter welchen
insonderheit Clauberg die Sätze des Cartesianismus
klar und ordentlich vorträgt; Sie werden solche hier in
einem Bande beisammen finden. Sodann gehen Sie an des Descartes
Principia philosophiae von Spinoza
selbst, die er für einen seiner Lehrlinge aufgesetzt hat;12
Sie treffen in ihnen den Übergang zu seinem eignen System
an. Einen Baum muss man nicht etwa nur in seinem Gipfel und Zweigen, sondern
in Stamm und Ästen, ja wo möglich den Veranlassungen seines Entstehens
und Wachstums nach, in Wurzel, Boden und Klima kennen lernen, gesetzt, dass
es auch ein Giftbaum wäre. Denn läsen Sie diesen Philosophen des vorigen
Jahrhunderts nach der Sprache unsrer
Philosophie, so müsste er Ihnen freilich, wie er Vielen noch jetzt erscheint,
ein Ungeheuer dünken.
2. Geben sie sorgfältig auf seine geometrische Methode
Acht und lassen Sich von ihr nicht nur nicht berücken, sondern bemerken
auch, wo diese ihn berückte. Descartes verleitete
ihn zu ihr; und er wagte den kühnen Versuch, sie auch der Form nach auf
alle, selbst die verflochtensten moralischen Materien anzuwenden. Eben dieser
Versuch hätte seine geometrischen Nachfolger in der Metaphysik warnen mögen.
3. Bleiben Sie nie bei Spinoza
stehen, sondern rufen bei jedem seiner paradoxen Sätze die ältere
und neuere Philosophie zu Hilfe, wie diese etwa solche oder eine ähnliche
Behauptung weggeräumt oder leichter, besser, unanstößiger, glücklicher
ausgedrückt habe. Sogleich wird Ihnen dann ins Auge fallen, warum dieser
Autor sie nicht also, vielleicht nicht so glücklich habe ausdrücken
können; mithin werden Sie den Ursprung seines Wortirrtums und den Fort-
oder Rückgang der Wahrheit selbst gewahr werden. Nehmen Sie in dieser Absicht
seine
wenigen Briefe als Erläuterungen zu Hilfe;13
sie klären in manchem viel auf, und an dem Rande meines Exemplars werden
Sie von einer alten Hand geschriebene Nachweisungen auf die »Ethik«
und in der »Ethik« auf sie finden.
Dienten diese Briefe zu keinem andern Zweck, so zeigten sie, wie ganz es dem
Spinoza mit seiner Philosophie ein Ernst gewesen,
wie sehr er sich von ihr überzeugt hatte, und wie glücklich er sich
in derselben fühlte. Wenn Sie dies Geschäft geendet haben und Ihnen
daran etwas liegt, wollen wir über Ihre Zweifel oder über
seine Irrtümer ein Weiteres reden.
PHILOLAUS. Ich will Ihrem Rat
folgen, ob er gleich viel fordert.
THEOPHRON. Eben fällt mir eine Ode in die Hand: An
Gott, von einem Atheisten.
PHILOLAUS. Von Spinoza?
THEOPHRON. Der war kein Dichter;
von einem Atheisten, der des Atheismus wegen verbrannt ward.
PHILOLAUS. Und eine Ode auf Gott
machte? ich will sie lesen.14
Gott
Durchwebt
von Dessen Odem, der ewig lebt,
Bist
Zahl und Maß und Zirkel und Harmonie |
Deo Dei supremo percita flamine Mentem voluntas exstimulat meam; Hinc per negatum tentat alta Daedaliis iter ire ceris; Audetque coeli non memorabile Metari Numen principio carens Et fine, definire Musae Exiguo breviore gyro. Origo rerum et terminus omnium, Origo, fons et principium sui Suique finis terminusque Principio sine terminoque. Ubique totus, tempore in omnibus Omni quiescens ipse Deus locis, Partes in omnes distributus Integer usque , manens ubique. Nec comprehensum ullis regionibus Ullisve clausum limitibus loca Tenent, sed omnis liber omne Diditus15 in spatium vagatur. Illius alta est velle potentia, Opus voluntas invariabilis; Et magnus absque quantitate Atque bonus sine qualitate. Quod dicit, uno tempore perficit; Mirere, fiat vox vel opus prius? Cum dixit, en cum voce cuncta Sunt universa simul creata. Cuncta intuetur, perspicit omnia, Atque in una solus (solus est omnia), Quae sunt, fuerunt et futura Praevidet ipse perennitate. Atque ipse plenus cuncta replet Sui Et semper idem sustinet omnia Et fert movetque amplectiturque Atque supercilio gubernat. Te, Te oro, tandem respice me bonus, Tibique nodo junge adamantino: Id namque solum unumque et omne Reddere quod potis est beatos. Quicunque junxit Te sibi et altius Uni adhaerescit, continet omnia Teque omnibus circumfluentem Divitiis nihilique egentem. Tu, cum necesse est, nullibi deficis Ultroque praebes omnibus omnia Ipsumque Te, qui sis futurus; Omnibus omnia subministras. Laboriosis Tu vigor inclitus, Tu portus alto navifragantibus, Tu fons perennis perstrepentes Qui latices salientis ardent Tu summa nostris pectoribus quies, Tranquillitasque et pax placidissima, Tu mensus16 es rerum modusque, Tu species et amata forma. Tu meta, pondus, Tu numerus, decor Tuque ordo, Tu pax atque honor atque amor Cunctis, salusque et vita et aucta Nectare et ambrosia voluptas. Tu verus altae fons sapientiae, Tu vera lux, Tu lex venerabilis, Tu certa spes, Tuque aeviterne Et ratio et via veritasque; Decus jubarque et lumen amabile Et lumen almum atque inviolabile; Tu summa summarum, quid ultra? Maximus, optimus, unus, idem. |
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Zweites
Gespräch
PHILOLAUS.
Ich komme mit meinem Spinoza; aber beinah ungewisser,
als ich vorher war. Dass er kein Atheist sei, erscheint auf allen Blättern;
die Idee von Gott ist ihm die erste und letzte, ja die einzige aller Ideen,
an die er Welt- und Naturkenntnis, das Bewusstsein sein selbst und aller Dinge
um ihn her, seine Ethik und Politik knüpft. Ohne den Begriff Gottes ist
seine Seele nichts, vermag nichts, auch nicht sich selbst zu denken; es ist
ihm fremd und beinah unbegreiflich, wie Menschen Gott gleichsam nur zu einer
Folge andrer Wahrheiten, sogar sinnlicher Bemerkungen haben machen können,
da alle Wahrheit wie alles Dasein nur aus einer in sich bestehenden ewigen Wahrheit,
aus dem unendlichen, ewigen Dasein Gottes folgt.17
Dieser Begriff ist Spinoza so gegenwärtig,
so unmittelbar und innig geworden, dass ich ihn eher für einen Begeisterten
fürs Dasein Gottes als für einen Zweifler oder Leugner desselben hielte.
In Erkenntnis und Liebe Gottes setzt er alle Vollkommenheiten, Tugend und Glückseligkeit
der Menschen; und dass dies keine Maske, sondern des Philosophen Überzeugung
sei, zeigen seine Briefe, ja, ich möchte sagen, jeder kleinste Teil seines
philosophischen Gebäudes, jede Zeile seiner Schriften. Möge er sich
in der Idee von Gott geirrt haben; wie aber Leser seiner Werke je sagen konnten,
dass er die Idee von Gott verleugnet und den Atheismus demonstriert habe, ist
unbegreiflich.
THEOPHRON. Auch ich traute mir beinah selbst nicht, da ich diesen
Autor las und mit dem zusammenhielt, was Andere über ihn sagten. Und doch
las ich ihn nicht als ein Neuling der Philosophie oder in einiger Nebenansicht,
sondern unbefangen, eher mit Vorurteil wider als für ihn, nachdem ich außer
den alten Weltweisen die Schriften Baumgarten's,
Leibniz', Shaftesbury's
und Berkeley's nicht nur gelesen, sondern studiert
hatte. Lassen Sie uns indeßsbei dieser Befremdung nicht stehen bleiben,
die sich von selbst aufklären wird, wenn wir sein System durchgehen: was
haben Sie für Zweifel dagegen?
PHILOLAUS. Wo soll ich anfangen?
wo endigen? Das ganze System ist mir ein Paradoxon. »Es
ist nur eine Substanz; diese ist Gott; alle Dinge sind in ihm nur Modifikationen.«
THEOPHRON. Am Wort Substanz stoßen
Sie Sich nicht; Spinoza nahm's nach seiner reinsten,
strengsten, höchsten Bedeutung und musste es so nehmen, wenn er, seiner
gewählten Methode nach, d.i. syn thetisch, einen ersten Begriff zum Grunde
legen wollte. Was heißt Substanz, als ein Ding, das
für sich besteht, also das die Ursache seines Daseins in sich selbst hat?
Ich wollte, dass dem Wort diese reine Bedeutung in der Philosophie hätte
bleiben können. Im schärfsten Verstande ist kein subsistierendes Ding
der Welt eine Substanz, weil alles von einander und zuletzt alles von Einem
abhängt, das die Selbstständigkeit selbst, d.i. die höchste,
einzige Substanz ist. Da aber die menschliche Philosophie immer gern dem
Gefühl der Menschen treu bleibt und ihm in einem gewissen
Sinn treu bleiben muss, da wir uns aber bei aller unsrer Abhängigkeit doch
auch für selbstständig
halten, auf gewisse Weise dafür auch halten können, ob wir gleich
nur bestehend sind -
PHILOLAUS. Ei dann! Nun und nimmer
sind wir doch bloße Modifikationen?
THEOPHRON. Das Wort ist anstößig
und wird nie in der Philosophie Raum gewinnen. Wagte es indes die Leibnizische
Schule, die Materie eine Erscheinung von
Substanzen zu nennen, warum sollte dem Spinoza
nicht sein Ausdruck erlaubt sein? Werden die sogenannten Substanzen
der Welt allesamt von göttlicher Kraft erhalten, ja, bekamen
sie, wie jedes hergebrachte System annimmt, nur
durch göttliche Kraft ihr Dasein, was sind sie, wenn man will, anders als
modifizierte Erscheinungen göttlicher Kräfte (phaenomena
substantiata), jede nach der Stelle, nach der Zeit, nach den Organen,
in und mit welchen sie erscheinen, bestehend und energisch? Spinoza
nahm also mit seiner einzigen
Substanz eine kurze Formel, die seinem System allerdings
viel Zusammenhang gibt, ob sie gleich unserm Ohr fremd klingt. Immer war sie
doch besser als jene Gelegenheitsursachen
der Cartesianer, nach denen Gott gleichfalls Alles
selbst, nur aber gelegentlich
wirken sollte.
PHILOLAUS. Allerdings ein weit unbequemerer Ausdruck -
THEOPHRON. Und doch, wie lange
hat er gegolten! Selbst die Leibnizische Philosophie
hat ihn nur durch eine andere artigere Formel höflich hinweggescheucht.
PHILOLAUS. Sie meinen die prästabilierte
Harmonie aller Dinge.
THEOPHRON. Eben sie. In keinem
dieser Ausdrücke liegt Ketzerei; nur einer ist unbequemer als der andere,
und im Grunde verstehen wir bei allen gleich wenig. Wir wissen nicht, was Substanz,
d.i. ein bestehendes Prinzipium der Kraft, sei, oder wie Kraft wirke; viel weniger
wissen wir, was die Allkraft sei, oder wie sie alles hervorgebracht habe, jetzt
noch alles hervorbringe und jedem Dinge seine
Weise mitteile. Dass indessen alles in einem Selbstbestande
ruhen, von einem Selbstständigen,
sowohl seinem Dasein nach als in seiner Verbindung
mit andern, mithin im Grunde sowohl als in jeder Äußerung seiner
Kräfte abhangen müsse, daran kann kein konsequenter Geist zweifeln.
- Woran denken Sie, Philolaus?
PHILOLAUS. Ich sehe so manche
pathetische Deklamation gegen Spinoza auf einmal
in ihr Nichts zurückgehn, die mit nichts als dem Namen seiner »einzigen
Substanz und seiner Modifikationen« kämpfte; sie
fochten alle bloß mit einem Nebel unbequemer Worte. Ihnen ist bekannt,
Theophron, welch ein Heer lächerlicher Widersprüche
und Gotteslästerungen man ihm andichtete, z.B. dass, seinem System zufolge,
Gott bei allem Guten alles Böse in der Welt tue, dass sonach Gott es sei,
der alle Torheiten verübe, alle Irrtümer denke, gegen sich selbst
streite, sich in Spinoza selbst lästere und
leugne u.s.w. Was von Spinoza's Modifikationen
gilt, gilt es von Descartes' gelegentlichen Ursachen,
von Leibnizens prästabilierter Harmonie, ja
selbst vom physischen Einfluss minder? Geschehen diese Dinge in Gottes Welt,
so geschehen sie durch den Gebrauch und Missbrauch seiner Kräfte, d.i.
der Kräfte, die er abhängigen Wesen anschuf und in ihnen erhält;
man möge sich seine Vorhersehung oder Mitwirkung auf solche oder eine andre
Weise denken. Überhaupt habe ich's gefunden, dass, wenn man die Meinung
eines vernünftigen Menschen gar zu unvernünftig und ungereimt vorstellt,
man selbst entweder eine Ungerechtigkeit begehe oder eine Ungereimtheit sage.
Man macht sich mit solchen Formeln den Sieg zwar leicht, es ist aber auch nur
das Blendwerk eines Sieges.
THEOPHRON. Also werden Sie jetzt auch darin keine Gotteslästerung
finden, wenn Spinoza das selbstständige Wesen
eine nicht vorübergehende, sondern
die bleibende immanente Ursache aller Dinge nennt?18
PHILOLAUS. Wie könnte ich
sie finden, da sich gegenteils, auch nach den angenommenen Formeln, bei Gott
als einer vorübergehenden Ursache
der Dinge nichts denken lässt? Wie und wann und wem geht er vorüber?
Ein Geschöpf ohne des Schaffenden Beistand ist nichts; und wie kann Der
vorübergehen, der keinen abgeschlossenen Ort hat, keinen Ort räumt,
in dem keine Abwechselung und Veränderung sein kann?
THEOPHRON. Aber wie? wenn Gott
»außer der Welt«
wohnte?
PHILOLAUS. Was ist ein Ort außer
der Welt? Sie selbst und Raum und Zeit in ihr, durch welche wir die Dinge messen
und zählen, sind ja allein durch ihn, den Unendlichen, denkbar, der mit
den Dingen selbst ihr Wo und Wann,
d.i. das Maß und den Zusammenhang ihrer Kräfte setzt, begrenzt, ordnet.
THEOPHRON. Sie geraten also auch nicht in das Labyrinth von
Fragen:
»Wie Gott die Ewigkeit
erst einsam durchgedacht?
Warum einst, und nicht eh er eine
Welt gemacht?«
Oder:
- »Wie sich die weiten Kreise
Der anfangslosen Dau'r gehemmt in ihrer Reise?
Und ewig ward zur Zeit, und wie
ihr seichter Fluss
Ins Meer der Ewigkeit sich einst
verlieren muss?«
u.s.w.
PHILOLAUS. Ich setze nicht hinzu:
»Das soll ich nicht verstehn
und kein Geschöpfe fragen;
Es möge sich mein Feind mit solchem Vorwitz plagen.«
Denn auch
meinem Feinde wünschte ich dergleichen Phantome der Einbildungskraft als
einen unergründlichen Gegenstand des Wissens nicht. Gott durchdachte keine
Ewigkeit einsam: es war kein Jetzt und kein Ehe, eh eine Welt war; eine anfangslose
Dauer ist keine Ewigkeit Gottes, und in dieser gibt's keine Reise. Das »ewig«
kann so wenig zur Zeit als die Zeit zur Ewigkeit oder das Endliche zum Unendlichen
werden.
THEOPHRON. Das haben Sie doch nicht erst aus Spinoza
gelernt?
PHILOLAUS. Vielmehr freute es mich, dass er die gewöhnlichen,
ganz unphilosophischen Verwirrungen hierüber strenge vorübergegangen
war und Zeit und Ewigkeit, d.i. das Endlos-Unbestimmte und das durch sich unendliche
Höchstbestimmte genau unterschied.19 Ewigkeit
im reinen Sinne des Wortes kann durch keine Zeitdauer erklärt werden, gesetzt,
dass man diese auch endlos (indefinite) annähme.
Dauer ist eine unbestimmte Fortsetzung des Daseins, die schon in jedem Moment
ein Maß der Vergänglichkeit, des Zukünftigen wie der Vergangenen,
mit sich führt. Dem Unvergänglichen, durch sich Unveränderlichen
kann sie so wenig zugeschrieben werden, dass vielmehr sein reiner
Begriff mit dieser zugemischten Phantasie
verschwindet.
THEOPHRON. Die Welt ist also auch mit Gott nicht gleich ewig?
PHILOLAUS. Wie kann sie dies sein,
da sie Welt, d.i. ein System der Dauer zu- und nach einander geordneter
Dinge ist, deren keinem das absolute Dasein oder die unwandelbare Ewigkeit ohne
Maß und Zeitendauer zukommt?
THEOPHRON. Also macht's Ihnen
auch keine Verwirrung der Begriffe, dass die ewige Macht Gottes (in
unsrer gewohnten Sprache zu reden) schafft,
schuf und schaffen werde,
und doch keinem der Geschöpfe, auch in ihrem ganzen System nicht, seine
Ewigkeit zukommt?
PHILOLAUS. Die ewige Macht Gottes
schafft, schuf und wird schaffen, weil sie, die ewig wirkende Macht, nie müßig
ist und nie müßig sein konnte; des Geschaffenen Dasein beruht nur,
wie sein Name selbst sagt, auf einer Folge und hat mit allen seinesgleichen
das Zeitenmaß der Veränderung in sich. Also auch eine immerhin fortgesetzte
Weltschöpfung wird durch diese Fortsetzung nie ewig. Ihr Maß ist
endlos; aber nur in Gedanken des Messenden ist und wird dieses Endlosen Maß.
Dies alles begreife ich leicht; ich habe aber einen andern Zweifel, den ich
gelöst wünschte. Er betrifft die Eigenschaften
dieses unendlichen, ewigen Gottes bei Spinoza.
Wie konnte er, der Zeit und Ewigkeit so richtig unterscheidet, auf der andern
Seite so unzusammenhängend sein, dass er »die
Ausdehnung zur Eigenschaft Gottes macht«?
Verhält sich der Raum nicht wie die Zeit? Ist nun jene mit dem Begriff
des Ewigen ganz unvergleichbar, so ist auch Ausdehnung
(Extension) mit dem Begriff einer unteilbaren Substanz, die Spinoza
mit felsenfester Stärke annimmt,20
gleichfalls unvereinbar.
THEOPHRON. Ihre Bemerkung ist
wahr; sehen Sie aber auch, wo Spinoza
diesen Ausdruck wählt. Bedient er sich seiner in seiner reinen Theorie
von Gott?
PHILOLAUS. Sonderbar! Er braucht
ihn nur, wenn er die Seele von der Materie, d.i. das Denkende vom Ausgedehnten
unterscheidet.21
THEOPHRON. Ist nun Ausdehnung und Materie einerlei? Sehen Sie
da den Cartesischen Fehlausdruck, den unser Autor
in der Sprache seiner Zeit nicht wohl umgehen konnte, und der für viele
die Hälfte seines Systems verdunkelt. Descartes hatte
die Materie durch Ausdehnung
erklärt, und man könnte sie ebensowohl durch Zeit erklären; denn
jene wie diese sind Maße ihres Daseins mit andern und nach einander. Nun
mögen beide Maße unumgänglich notwendig für jeden denkenden
Geist sein, der selbst durch Ort und Zeit beschränkt ist; das Wesen der
Materie aber werden sie durch diese unsre Denkart nie. Spinoza
sah das Unhinreichende dieser Cartesischen Erklärung so gut als
wir; lesen Sie seine Briefe.22 Wenn
er also in seiner Ethik die Materie,
d.i. Körper mit Ausdehnung,
d.i. mit Raum gleichgeltend annahm und sie einem ganz ungleichartigen Dinge,
dem Gedanken, gegenüberstellte, so wusste er selbst, dass zu Erklärung
des Wesens der Körper dies kein ausdrückender Begriff sei. Ebenso
wusste er und wiederholt's, dass Gedanke und Ausdehnung nichts mit einander
zu schaffen haben; er tadelt Descartes, dass er
von der Zirbeldrüse hinaus den Körper bewegen, die Affekte bändigen
wolle u.s.w. Ihm war Ausdehnung ein reiner Verstandesbegriff, unteilbar in sich,
nur durch Hilfsmittel der Imagination teilbar. Den Punkt also, warum gerade
nur diese beiden Begriffe, Ausdehnung und Gedanke, die
zwei Eigenschaften seien, dadurch sich unter unendlichen
andern Eigenschaften, die allesamt eine höchste Realität ausdrücken,
der Unendliche uns offenbart habe, ließ Spinoza
unerörtert, so oft er deshalb befragt wurde. Was ist in der Ausdehnung
für Realität, wenn wir solche auch endlos, d.i. so unbestimmt fortgesetzt
wie eine immerhin fortwährende Dauer annehmen? Ohne Wesen, ohne wirkende
Kräfte ist nichts in ihr; nur für sinnliche Geschöpfe ist sie
das Maß einer Welt, eines Nebeneinanderseins mehrerer Geschöpfe.
Zum Absolut-Unendlichen gehört sie nicht, so wie sie auch keine innere
wesentliche Vollkommenheit seines Daseins ausdrückt, das keinen, also auch
nicht einen endlosen Raum erfüllt, das keine, also auch nicht eine endlose
Zeit ausmisst.
PHILOLAUS. Da, lieber Theophron,
verjagen Sie mir einen widrigen Nebel; denn dieser unendlich-ausgedehnte
Gott, wie man den Gott des Spinoza zu nennen pflegte,
war mir ganz undenkbar.
THEOPHRON. Dem hellen Weltweisen
Spinoza war er es ebenso sehr. Nicht Gott nennt
er ein Extensum (dessen Unteilbarkeit er vielmehr strenge
behauptet), sondern die Körperwelt (res
extensas) nannte er »ein Attribut, das
ein Unendliches seines Selbstbestehenden,
wie die Gedankenwelt von ihm ein andres Unendliches ausdrückt«.
Gröbere Formeln, phantastische Bilder vernichten seinen Begriff
ganz.
PHILOLAUS. Mich wundert, dass ich dies unbemerkt ließ,
da so klare Stellen seiner Briefe darauf weisen. Das sahe ich wohl, dass Spinoza
der Teilung eines unendlich-ausgedehnten und doch einfachen Wesens durch die
Vorstellung des mathematischen Raums entweichen wollte, in welchem aus mathematischen
Linien und Flächen keine physischen Körper werden. Da nun der mathematische
Raum auch nur ein Abstraktum der Einbildungskraft, eine Bedingung der Wahrheiten
ist, die nicht anders als im Raum gedacht werden können, so kann er auch,
wenn Spinoza ihn der Materie gleich zu achten scheint
und ihn ein Attribut Gottes nennt,
nur eine Auskunft sein, durch welche physische, d.i. wirkliche Körper in
ihrer Varietät erklärt werden sollen; und da ist er, nach Spinoza
selbst, keine Auskunft. Ich wollte, der Weltweise hätten einen Ausdruck
vermieden, der von den Meisten grob missbraucht worden ist, Andern aber, wie
Sie mit Recht sagen, die Hälfte seines so durchdachten Systems verdunkelt.
THEOPHRON. Wörter mein Freund,
gelten wie Münzen. Spinoza's oder vielmehr
Descartes' Zeit war die Zeit der Messkunst, aber die Kindheit der Naturkunde,
ohne welche die Metaphysik Luftschlösser baut. Descartes
selbst baute dergleichen, denen Spinoza, wie mehrere
Stellen zeigen, genau ihren Wert zu geben wusste. Je mehr man seitdem die Materie
der Körper physisch untersucht hat, desto mehr entdeckte man in ihr wirkende,
einander gegenwirkende Kräfte und verließ die leere Definition der
Ausdehnung. Schon Leibniz, in dessen Geist sich
aus allen Naturreichen und Wissenschaften fruchtbare Begriffe gesellten, drang
darauf, dass man auch im Begriff der Körper notwendig zuletzt auf einfache
Substanzen kommen müsse, von denen er unter dem Namen wesentlicher
Einheiten, d.i. der Monaden,
manches erzählte. Leider aber, da der lebhafte Verstand dieses Mannes alles
so gern als Dichtung vortrug, wurden diese seine Monaden, deren Sinn Wolff
selbst nur teilweise aufnahm, bald nur als ein witziges Märchen betrachtet.
Der Mathematiker Boskowich ist, obwohl von einer
ganz andern Seite, auf eben dergleichen unteilbare wirkende Elemente gekommen,
ohne welche sich, wie er glaubte, die Natur der Körper nicht erklären
lasse;23 die Chemiker wählen
wiederum eine andre Sprache. Fällt Ihnen ein Ausdruck bei, der dem schroffen
Unterschiede zwischen Geist und Materie, dem Cartesischen
Dualismus
entweicht und prägnanter als das leere Wort Ausdehnung
oder als das grobe Wort Materie die
Natur der Körper bezeichnet?
PHILOLAUS. Ich wüsste keins
als organische Kräfte. Dadurch,
dünkt mich, bekäme Spinoza's System selbst
eine schönere Einheit. Wenn seine Gottheit unendliche Eigenschaften in
sich fasst, deren jede ein ewiges und unendliches Wesen auf unendlich verschiedene
Weise ausdrückt, so haben wir nicht mehr zwei Eigenschaften des Denkens
und der Ausdehnung zu setzen, die nichts mit einander gemein hätten; wir
lassen das unpassende Wort Eigenschaft
(Attribut) weg und setzen dafür, dass
sich die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen, d.i.
organisch offenbare.
Sofort bleibt uns auch nicht mehr der hinderliche Riegel vorgeschoben:
»in welchen Eigenschaften außer dem Gedanken und der Ausdehnung
sich die Gottheit andern Weltsystemen offenbare,« da sie doch,
unserm Weltweisen zufolge, unendliche dergleichen
ihr Wesen ausdrückende Eigenschaften besitzen soll, von welchen er uns
keine als diese zwei zu nennen wusste. In allen Welten offenbart sich die Gottheit
organisch, d.i. durch wirkende
Kräfte. Diese Wesen ausdrückende
Unendlichkeit der Kräfte Gottes hat durchaus keine Grenzen, obwohl sie
allenthalben denselben Gott offenbart. Kein Weltsystem darf das andre neidend
befragen: »wie sich denn in ihm die Gottheit dargestellt
habe«. Überall ist's wie hier; überall können nur
organische Kräfte wirken, und jede derselben macht uns Eigenschaften einer
unendlichen Macht kenntlich.
THEOPHRON. Wohl, Philolaus. Dies
trifft in den Mittelpunkt des Spinozischen Lehrgebäudes.
Macht ist ihm Wesenheit; alle
Attribute und Modifikationen derselben sind ihm
ausgedrückt dargestellte, wirkliche und wirksame Tätigkeiten.
In der Geisterwelt ist's der Gedanke, in
der Körperwelt die Bewegung;
ich wüsste nicht, unter welches Hauptwort beide sich so ungezwungen fassen
ließen als unter den Begriff Kraft, Macht,
Organ, von denen jede Tätigkeit in der Körper- und
Geisterwelt ausgeht. Mit dem Wort organische Kräfte
bezeichnet man das Innen und Außen, das Geistige und Körperhafte
zugleich; denn wie keine Kraft ohne Organ ist, so ist und wirkt kein Geist ohne
Körper. Es ist indessen auch nur Ausdruck;
denn wir verstehen nicht, was Kraft ist, wollen auch das Wort
Körper damit nicht erklärt haben.
PHILOLAUS. In Ansehung des innern
Zusammenhanges der Welt gibt uns, dünkt mich, der Ausdruck schöne
Folgen. Nicht durch Raum und Zeit allein, als durch bloß äußere
Maße der Dinge, ist sie verbunden; sie ist's durch ihr eigentliches Wesen,
durch das Prinzipium ihrer Existenz selbst, da allenthalben in ihr, und zwar
im innigsten Zusammenhange, nur organische Kräfte
wirken. In der Welt, die wir kennen, steht die Denkkraft obenan; ihr folgen
Millionen andre Empfindungs- und Wirkungskräfte, und er, der Selbstständige,
er ist im höchsten, einzigen Verstande des Worts Kraft,
d.i. die Urkraft aller Kräfte, Organ aller
Organe. Ohn' ihn ist keines derselben denkbar, ohn' ihn wirkt keine der Kräfte,
und alle im innigsten Zusammenhange drücken in jeder Beschränkung,
Form und Erscheinung ihn aus, den Selbstständigen,
die Ur- und
Allkraft, durch welche auch sie bestehen und
wirken.
THEOPHRON. Mich freut's, Philolaus,
dass Sie diese Idee so rein aufnehmen und so reich anwenden. Auch dem
Ausdruck nach tritt das System unsers Philosophen beinahe schon damit in das
Licht einer tadellosen Einheit, die ihm das anstößige Wort Ausdehnung
raubte; bemerken Sie aus dem von Ihnen gegebnen Gesichtspunkt
nicht noch andre Aussichten?
PHILOLAUS. Eine Reihe andrer.
Alle anstößigen Ausdrücke z.B. fallen weg, wie Gott nach diesem
oder nach einem andern System auf und durch die tote Materie wirke. Sie ist
nicht tot, sondern sie lebt; denn in ihr wirken ihren innern und äußern
Organen gemäß lebendige mannigfaltige Kräfte. Je mehr wir die
Materie kennen lernen, desto mehrere derselben entdecken wir in ihr, so dass
der leere Begriff einer toten Ausdehnung bei ihr völlig verschwindet. In
unsern Zeiten, wie zahlreiche, verschiedene Kräfte hat man in der Luft
entdeckt! was hat die neue Chemie in den Körpern für mancherlei Energien
der Anziehung, Bindung, Auflösung, Zurückstoßung gefunden! Ehe
die magnetische, ehe die elektrische Kraft entdeckt war, wer hätte sie
in den Körpern vermutet? wie zahllose andre mögen in ihnen noch unentdeckt
schlafen! Es ist schade, dass ein denkender Geist, wie
Spinoza war, so frühe von unserm Schauplatz hinweg musste.
THEOPHRON. Auch wir müssen hinweg,
mein Freund, und erleben nicht, was der forschenden Nachwelt aufbehalten bleibt;
genug, wenn wir, so lange wir da sind, die Gegenwart und Wirkung der Gottheit
erkennen, wo und wie sich uns dieselbe offenbart. Spinoza
sagt, dass jede Eigenschaft, oder wie wir's nannten, jede in der Schöpfung
offenbarte Kraft Gottes ein Unendliches ausdrückt; wie verstehen Sie das,
da jeder Teil der Welt seine Schranken hat, nicht bloß nach Ort und Zeit,
sondern auch selbst zufolge der ihm einwohnenden Energien?
PHILOLAUS. Sind nicht Raum und
Zeit, diese großen Gedankenbilder, endlos? welche unzählbare Menge
göttlicher Kräfte und Formen kann sich in ihnen offenbaren! Und da
nach Ort und Zeit, geschweige den wirkenden Kräften selbst nach keine zwei
Erscheinungen dieselben sein können: welche Unendlichkeit entspringt aus
diesem immer neu sich verjüngenden Quell göttlicher Schönheit!
Sehen Sie hinaus gen Himmel, nach jenen Milchstraßen von Sonnen und Welten!
Mit seinem Spiegelglase entdeckt der Kolumbus unsrer Nation vielleicht eben
jetzt neue Heere derselben in einem kleinen, unsern Augen unsichtbaren Nebelwölkchen.
In wie merkwürdigen Zeiten leben wir, da unerhörte, kaum geahnte Offenbarungen
Gottes vom Himmel niedersteigen, jede derselben aufs Neue ausdrückend die
Herrlichkeit des Wesens, das alle diese Welten schuf und schafft und hält
und trägt!
»Im Unendlichen ist der Unendliche:
Einer und ewig,
Im Darstellen, im Sein, im Erhalten und Schaffen nur Einer,
Immer sich gleich und unendlich. Wie ewige Säulen, so stehen
Fest die Gesetze, die er sich dachte; so wie er sie dachte,
Fließt aus ihnen Verändrung und bleibt in ihnen die Allmacht«.24
THEOPHRON. Vortrefflich,
mein werter Philolaus! Mit dem letzten Zuge haben
Sie zugleich das Unendliche angedeutet, das in
jeder Naturkraft selbst, auch ohne Rücksicht ihrer Verbindung
in einem endlosen Raum, in einer endlosen Zeit bleibend wohnt. Erwägen
Sie die innere Fülle der Kraft, die in jedem lebendigen Wesen wirkt, wie
es durch eine ihm eingepflanzte stille Energie entstehen und sich nicht anders
als durch solche erhalten und fortpflanzen konnte! Betrachten Sie die Kräfte,
die im Bau eines Tiers so verschwiegen wirken! Mit welcher Macht hängen
seine Teile zusammen! welch ein Räder- und Triebwerk gehört dazu,
dass es sich bewege, sich seinen Lebenssaft bereite, alle die Handlungen ausübe,
dazu es bestimmt ist, endlich, dass es aus seiner Natur gleichartige Wesen,
Bilder seiner selbst, lebend und wirkend, mit gleicher Kraft begabt, nach gleicher
Anlage gebildet, hervorbringe, erzeuge! In der Generation allein liegt ein Wunder
der Schöpfung, d.i. einer eingepflanzten, einwohnenden Macht der Gottheit,
die sich, wenn ich so kühn reden darf, in das Wesen jeder Organisation
gleichsam selbst beschränkt hat und in diesem Wesen nach ewigen Gesetzen,
unverrückt und unwandelbar, wie allenthalben die Gottheit allein wirken
kann, wirkt. In der Materie, die wir tot nennen, streben auf jedem Punkt nicht
minder und nicht kleinere göttliche Kräfte: wir sind mit Allmacht
umgeben, wir schwimmen in einem Ozean der Macht, so dass jenes alte Gleichnis
immer und überall wahr bleibt: »die Gottheit
sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt allenthalben, dessen Umkreis nirgends ist«,
weil weder im Raum noch in der Zeit, als in bloßen Bildern unserer
Einbildungskraft, die Einbildungskraft irgend ein Ende findet. Mich dünkt,
der Ausdruck des Spinoza sei glücklich, dass
die Zeit nur ein symbolisches Bild der Ewigkeit
sei; ich wollte mit Ihnen, dass er den Raum auch als ein solches, als das
symbolische Bild der absoluten Unendlichkeit des Unteilbaren dargestellt
hätte, wie er sich ihn dachte. Nicht etwa nur für uns ist das Wesen
des Ewigen unausmessbar; es ist an sich keines Maßes fähig; in jedem
Punkt seiner Wirkung, der nur für uns ein Punkt ist, trägt es seine
Unendlichkeit in sich.
PHILOLAUS. Ich befürchte, mein Freund,
dass wenige diesen Unterschied des durch sich selbst
Unendlichen und des durch Raum und Zeit in der Einbildungskraft
gedachten Endlosen fassen werden,
auf welchem doch Spinoza's ganzes System ruht.25
Als eingeschränkte Wesen schwimmen wir im Raum und in der
Zeit; wir zählen und messen alles mit ihrem Maß und steigen mit Mühe
von Bildern der Einbildungskraft zu dem Begriff, der alles Raum- und Zeitenmaß
ausschließt. Hätte man diesen Unterschied gefasst, gewiss, man hätte
nicht so viel von dem weltlichen und außerweltlichen Gott geredet, noch
weniger würde man den Spinoza je beschuldigt
haben, dass er seinen Gott in die Welt einschließe
und mit derselben identifiziere.
Sein unendliches, höchst-wirkliches Wesen ist so wenig die Welt selbst,
als das Absolute der Vernunft und das Endlose der Einbildungskraft eins sind;
kein Teil der Welt kann also auch ein Teil Gottes sein; denn das höchste
Wesen ist seinem ersten Begriff nach unteilbar. Deutlich sehe ich jetzt, dass
man unserm Philosophen den Pantheismus
ebenso unrecht Schuld gegeben habe als den Atheismus.
»Alle Dinge«, sagt er,
»sind Modifikationen« oder, wie er es sonst unanstößiger
nennt, »tätige
Ausdrücke der göttlichen Kraft, Darstellungen
einer der Welt einwohnenden ewigen Wirkung Gottes«; nicht
aber sind sie zertrennliche Teile eines völlig unteilbaren einzigen Daseins.
THEOPHRON. Leugnen wollen wir's
indessen nicht, Philolaus, dass manche Ausdrücke
Spinoza's seinen Gegnern, die nur bei Ausdrücken
stehen bleiben und solche durch andre seiner deutlichsten Grundsätze zu
erklären nicht Lust hatten, zu Missverständnissen Anlass geben konnten.
Auf eine ihm eigentümliche Bedeutung des Worts Substanz
hatte er sein System angelegt, und da er dieser ebenso ungewöhnliche
Bedeutungen der Worte Attribut, Modifikation u.s.w.
beifügte, auch die Cartesische Erklärung
der Materie als Ausdehnung beibehielt, so musste er dem größten Teil
seines Systems nach harte Ausdrücke wählen. Den Irrtum aber, dass
er das Wesen Gottes und der Welt verwirrt habe, hätte man ihm am wenigsten
aufbürden sollen; viele seiner Theoreme werden eben deswegen unbequem,
weil er das Wesen Gottes und der Welt ja immer unterscheiden will und nicht
genug wiederholen kann: »Gott unter solcher Modifikation,
unter solchem Attribut betrachtet«. Wer ist, der den Begriff der
naturierenden und naturierten
Natur mehr als er unterscheidet? Den leichteren Zusammenhang
philosophischer Wahrheiten fördern glückliche Wortkombinationen, und
Leibniz, dieser Proteus der Wissenschaft, ein vor
Millionen andern leichtverbindender Kopf, er behält das Verdienst, eben
nach so manchen unbequemen Darstellungsarten der Scholastiker,
des Descartes, Spinoza, Hobbes u. A., viel zu diesem
leichtern Zusammenhange beigetragen zu haben. Eine glückliche Leichtigkeit
mannigfaltiger Verbindungen war, wie mich dünkt, Leibnizens
glänzendstes Talent; in seinen unbedeutendsten Aufsätzen hat er oft
Samenkörner hingeworfen, die lange noch nicht alle aufgenommen, geschweige
denn zur Ernte gediehen sind. Ihm selbst fehlte die Zeit, seinen Reichtum ganz
zu nutzen, weil er mit zu vielem zerstreut war und ihn zuletzt der Tod übereilte.
PHILOLAUS. Sie schrieben unserm deutschen Philosophen unter
andern das Verdienst zu, dass er es zuerst gewesen, der beim Begriff von der
Materie den Grund ihrer Erscheinung, immaterielle
Substanzen, in die Metaphysik eingeführt habe; sollte nach
Einführung derselben seine zwar sinnreiche, aber, wie mich dünkt,
zu weit getriebene Hypothese der prästabilierten
Harmonie zwischen Seelen und Körpern, als ob beide wie
zwei Uhren zwar übereinstimmend, aber völlig unabhängig von einander
spielen, nötig gewesen sein? Ward seine Materie von immateriellen Kräften
dargestellt, in welche jede höhere Art immaterieller Kräfte
wirken mag und kann, so bestätigte sich ja hiermit der sogenannte
physische Einfluss (den uns allenthalben
die Natur zeigt, und gegen welchen keine willkürliche Hypothese etwas vermag)
eben aus seinem System in einer standhaften Vorstellungsweise. Die ganze
Welt Gottes wird ein Reich immaterieller Kräfte, deren keine ohne Verbindung
mit andern ist, weil eben nur aus dieser Verbindung und gegenseitigen Wirkung
ihrer aller alle Erscheinungen und Veränderungen der Welt werden. Und mit
wie weniger Aufopferung hätte Leibniz diesen
Schritt tun mögen, da seine prästabilierte Harmonie
eigentlich doch schon im Cartesianismus lag, der
jene Abschichtung der Geister und Körper, von der wir bei Spinoza
sprachen, auf sie gründet.
THEOPHRON. Und wie, wenn eben diese Nähe des Cartesianismus
unsern Leibniz wie den Spinoza
am vollen Gebrauch seiner bessern Erklärung gehindert hätte? denn
das ist das Schicksal auch des furchtbarsten menschlichen Geistes, dass er,
mit Ort und Zeit umfangen, in gewissen Ideen gleichsam aufwächst und sich
nachher nicht ohne Mühe von ihnen zu trennen vermag. Leibniz
lebte die blühendste Zeit seines philosophischen Lebens den Gedanken
nach mehr in Frankreich als in Deutschland. Dort stand er in so vielen Verbindungen;
von dort aus glänzte sein scharfsinniger Verstand zuerst über Europa
auf. Da nun in Frankreich Descartes und
Malebranche, sie mochten angenommen oder bestritten werden, im meisten Ruf
standen: wie anders, als dass seine Bemühung vorzüglich auf dieses
Feld der Ehre gezogen werden musste? Er bildete also seine Hypothese der prästabilierten
Harmonie mit einer Geschicklichkeit aus, dass sie die Gelegenheitsursachen des
Cartesius sowie den unmittelbaren göttlichen
Einfluss des Malebranche allerdings entbehrlich
machen konnte, ob sie gleich auf die mangelhaften Grundsätze des ersten
Philosophen selbst gebaut war. Leibniz sprach so
gern nach der Fassungskraft andrer; für sie erfand er seine sinnreichen
Hypothesen.26 Als er späterhin
durch die Lehre der Monadologie der Metaphysik über Körper einen andern
Weg anwies, ließ er jene Hypothese, die einmal in Ruf gekommen war und
zum Ruhm seines Namens viel beigetragen hatte, an ihrem Ort stehen, oder vielmehr
er bog sie dieser neuen Hypothese sehr geschickt an, indem er jede Seele mit
einem organischen Körper vereinigte. Blieb es gleich keine prästabilierte
Harmonie mehr zwischen Geist und Materie, sondern eine Harmonie zwischen höheren
und niederen Kräften: Harmonie
blieb es doch immer; denn wer konnte, wer kann es erklären, wie Kraft auf
Kraft wirkt?
PHILOLAUS. Sie retten Ihren Verehrten
fein; erlauben Sie mir aber zu sagen, dass ich im ganzen Spinoza,
in dessen Ausdrücken doch Hartes genug ist, nichts so Gezwungenes gefunden
habe als eben diese prästabilierte Harmonie, die auch er zum Grunde legt.
THEOPHRON. Er? Wo?
PHILOLAUS. Mich dünkt, allenthalben.
»Seine zwei Attribute Denken
und Ausdehnung oder
Bewegung stehen neben einander; jedes muss für sich gedacht,
keins kann aus dem andern erklärt werden; jedes durch sich aber drückt
die Realität des Ewigen aus«: ist dies nicht Harmonie? Harmonie
zweier einander unmitteilbarer Ausdrücke
der höchsten Realität? Da sie in dieser ihren ewigen
Grund haben, warum sollte man sie nicht Harmonie
nennen dürfen?
THEOPHRON. Prästabilierte
Harmonie gewiss nicht, am wenigsten in
Leibniz' Sinne; von ihr weiß Spinoza's System
nicht. Es kennt keine endlose Zahl einzelner Substanzen, deren Harmonie prästabiliert
wäre; nur eine Selbstständigkeit kennt es, die sich auf unendliche
Weise für uns in zwei großen Attributen ausdrückt. Nach
Spinoza drücken beide eine Wesenheit
aus, aber, wie er meint, ist eine aus der andern nicht erklärlich. Jene
Regel: »Wenn Zwei in einem Dritten eins
sind, sind sie unter einander selbst eins«, soll hier
also nicht stattfinden; oder beide Attribute fielen in einander und würden,
da sie ein Wesen auf verschiedne
Art ausdrücken, eins. Die Materie würde Geist, der Geist Materie,
nur in unsrer Vorstellungsart unterschieden; ein Einerlei, dem Spinoza
stark entgegen redet. Sie sehen, hier will
sein System nicht erklären; es setzt voraus und nimmt an, was wir eben
erklärt wissen wollten, »wie nämlich die ewige Monas
[Einheit]
sich in Attributen als eine Dyas
[Zweiheit],
als eine innere Denk- und äußere Bewegkraft offenbare«. Die
Harmonie zwischen diesem Äußern und Innern entwickelt Spinoza
nicht, da er sie als dasselbe, als
Eins in einem verschiednen Zwei, voraussetzt und auch im Menschen bei der Verbindung
zwischen Seele und Körper unerklärt annimmt. Man könnte sie nicht
anders als eine symbolische Harmonie
nennen, wenn man ihr den Namen Harmonie geben wollte. Das Expansum mit allen
in ihm wirkenden Kräften, der Bewegung u.s.w. wäre eine äußere
Darstellung der innern ewigen
Denkkraft, wie unser Körper der Ausdruck
oder, wie er's nennt, das Objekt der
Seele ist; sind wir mit dieser mystischen Harmonie
weiter, als wir waren?27
PHILOLAUS. Ich hoffe nicht, dass
wir je weiter gelangen werden, ja, ich sehe nicht, warum wir weiter gelangen
müssten. Metaphysik
heißt Nachphysik; nie sollte
jene die Physik verlassen, sie aber immer begleiten. Allenthalben sodann bemerkt
sie, wie Kraft ohne Organ nicht wirken oder von uns wenigstens nicht wahrgenommen
werden könne, wie allenthalben sich also das Äußere
zum Innern fügen, jenes in
diesem erscheinen, dies das Innere ausdrücken müsse, mit einem Wort,
wie allenthalben sich die Natur organisiere. Dies
ist Philosophie, die mit Weglassung mystischer Wortformen ihren Weg rüstig
fortgehen und jene Spekulation ergänzen darf,
die seit Descartes, zum Teil im Gewande der Mathematik
selbst, der wahren Philosophie, d.i. der Kenntnis der Natur, voreilte.
THEOPHRON. Übereilen auch
Sie Sich nicht! Dies Gewand, mein Freund, war ihr
nützlich, es bereitete die Sprache der Philosophie zu einem Kalkül
der Beobachtungen und Gedanken. Denn forderte es nicht Bestimmtheit in den Begriffen,
Genauigkeit in den Beweisen und Ordnung? Freilich konnte das Kleid nicht die
Sache selbst ändern oder vertreten. Sind die Begriffe einmal willkürlich
erfasst oder unvollständig abstrahiert, so hilft alle mathematisch reine
Darstellung derselben in der besten methodischen Ordnung nicht. Hat man angenommen,
was man nicht annehmen sollte, so werden die Beweise Scheinbeweise und die strenge
Form selbst ein Hindernis der Wahrheit. Wir sahen dies an Spinoza.
Mit einem willkürlich angenommenen
Begriff, z.B. Substanz,
Attribut, Modifikation
[Veränderung, Abwandlung],
war eine Menge andrer willkürlichen Erklärungen eines Einen, das sich
in zwei Attributen darstellt, u.s.w. veranlasst, welche seine vortreffliche
synthetische Methode nicht gut machen, wohl aber täuschend verbergen konnte.
In der Kritik macht man die Probe, Verse in Prosa aufzulösen, und nimmt
den Grundsatz an, dass, was in Prosa Unsinn ist, es auch in Versen sein müsse;
mit dem mathematischen Vortrage metaphysischer Sätze sollte man es ebenso
machen. Voraussetzungen, behauptend harte Ausdrücke, die in ungebundner
Rede den Verstand beleidigen, können durch die geometrische Form so wenig
gut gemacht werden, dass man sich eher aufgebracht fühlt, wenn man Sätze
der Art dem Scheine nach demonstriert
sieht und sich zuletzt orientieren muss, wie man mit der gefunden Vernunft daran
sei.
PHILOLAUS. Sonderbare Philosophie,
die sich zuletzt orientiert, da
eben sie dem Inhalt wie der Methode nach vom Anfange bis zum Ende uns
orientieren sollte. Genug indessen, dass Spinoza
weder ein Atheist noch Pantheist ist; ein dritter harter Knoten in ihm
bleibt mir noch übrig.
THEOPHRON. Ich merke leicht, wer
er sei; und wie, wenn wir eben in dem harten Knoten ein Goldstück fänden?
PHILOLAUS. Es soll mich freuen, und jede Mühe der Auflösung
des Knotens wird mir willkommen sein; aber wer, mein Freund, ist der Verfasser
der scholastischen Ode, die Sie mir neulich mitteilten?
THEOPHRON.
Ein Atheist, der verbrannt wurde, Vanini.
Noch auf dem Richtplatz hob er einen Strohhalm auf und sagte:
»dass, wenn er so unglücklich wäre, keine andern Beweise
vom Dasein Gottes zu haben als diesen Strohhalm, so würde dieser ihm genug
sein«.
PHILOLAUS. Und ward verbrannt?
Vielleicht sonst als Ketzer?
THEOPHRON. Ein eitler junger Mann
war er, von vielen Fähigkeiten und vieler Ruhmsucht; er wollte ein Julius
Cäsar in der Philosophie sein und ward ihr trauriges Opfer. Wie
gefällt Ihnen seine Ode?
PHILOLAUS. Für die Zeiten
Vanini's gefällt sie mir sehr wohl. Der Ausdruck
ist im Latein der damaligen Zeit und die Theorie über das höchste
Wesen scholastisch; der zweite Teil des Gedichts aber ist innig und herzlich.
Der Dichter, durchdrungen von seinem Gegenstande, bietet allen Reichtum seiner
Sprache auf, um uns den Einzigen darzustellen, ohne den wir nichts, durch den
wir alles sind, was wir sind, was wir können und wirken.
THEOPHRON. So wird Ihnen vielleicht auch dies Blatt morgenländischer
Sentenzen über das höchste Wesen nicht missfallen. Sie sind im Geist
der Sprachen des Orients gedacht und können nichts anders als in solchen
gelesen werden. Zu Spinoza passen sie wohl; morgen
sprechen wir über ihn weiter.
Gott
Einige Aussprüche
der Morgenländer
In ihm leben,
weben und sind wir. Wir sind seines Geschlechts.
Paulus.
*
Von ihm, in ihm und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.
Paulus.
*
Wenn wir gleich viel sagen, so
werden wir's doch nicht erschöpfen; der Inbegriff aller Gedanken, das All
ist er.
Sirach.
*
Ihm allein kommt es zu, zu sagen:
Ich! Er, dessen
Reich ewig und dessen Wesen sich selbst genug ist.
Wer außer ihm sagt: Ich! ist ein Teufel.
*
Der Geschöpfe Eigenschaften sind alle zwiefach;
denn wie sie auf der einen Seite Macht haben, so haben sie auf der andern Schwachheit.
Wenn sich in einer Sache Überfluss befindet, so findet sich auch Mangel
bei ihr. Kenntnis und Unwissenheit sind mit einander vereinigt, Kraft und Schwachheit,
Leben und Tod. Nur des Schöpfers Macht ist ohne Grenzen, sein Reichtum
ohne Mangel, seine Wissenschaft ohne Dunkelheit, sein Leben ohne Tod. Alle Dinge
sind zwiefach geschaffen, Gott allein ist einzig und ewig.
*
Die Menschen, o Gott, messen Dich nicht mit dem
Maß, mit welchem Du gemessen werden musst; nur von Deinem Wesen allein
kann Dein Wesen begriffen werden. Denn was für ein Verhältnis kann
sein zwischen Dem, der ewig ist, und zwischen dem, der in der
Zeit geschaffen worden? zwischen ein wenig Wasser und Erde und zwischen dem
Herrn aller Dinge?
*
Die droben im Tempel seiner Herrlichkeit anbeten, gestehen
es und sagen: »Wir verehren Dich nicht, o Gott, mit würdiger Verehrung.«
Wenn sie den Glanz seiner Schönheit preisen, stehn sie erstaunt und klagen:
»Wir erkennen Dich nicht, o Gott, mit wahrer
Erkenntnis.«
Und wenn nun jemand mich um sein Lob fragte, was
sollte der Sinnlose vom Bildlosen sagen? Der Liebende wird ein Opfer des Geliebten,
und das Opferverstummt.
Saadi.
*
Ein Betrachter Gottes, ein redlicher Mann, senkte das
Haupt zum Busen und schien wie untergegangen im Meer der Beschauung. Als er
emporkam, redete ihn einer seiner Vertrauten an und sprach: »Was hast
du uns Schönes mitgebracht aus dem Garten, in dem Du warest?«
»Ich wollte Rosen brechen,« antwortete er; »mein Kleid, meinen
Busen wollte ich anfüllen mit ihnen, ein Geschenk für meine Freunde;
schon nahte ich mich dem Busch voll schöner erquickender Rosen; allein
der starke Duft derselben berauschte, überwältigte mich; meiner Hand
entsank das Kleid und alle gesammelte Rosen.«
Lautsingende Nachtigall, von der Mücke lerne, was Liebe sei! sie fliegt
hinein in die geliebte Flamme, ihr Flügel versengt; tot und stumm sinkt
sie danieder.
Jene Prahler, jene Schwätzer von Gott wissen nichts von ihm; wer ihn kennt,
schweigt.
O Du, höher als alle Gedanken, als alles Urteil, als jede Meinung, als
jede Einbildung! Alles, was die Väter sagten, las und hörte ich; Gespräch
und Leben ist zu Ende, und ich bin eben am Anfange Deiner Beschreibung.
Saadi.
Drittes
Gespräch
PHILOLAUS. Was
haben Sie da für eine schöne Göttin vor Sich? Schön wie
die Liebe und ernst wie die Weisheit; sie blickt zum verschleierten Busen hinab
und hält die Linke, als ob sie etwas an ihr messe; die gemessene Hand hält
einen Zweig. Ihr stiller Tritt, die sanfte Erhabenheit in ihrer ganzen Haltung
bezeichnen gewiss eine glückbringende, gute Göttin.
THEOPHRON. Es ist die Nemesis
der Griechen; ein personifizierter Begriff, den ich liebe. Ernst
ist sie, die Tochter der Gerechtigkeit; sie misst mit der Rechten das Betragen
und Glück der Sterblichen ab und blickt unparteiisch zum Busen hinunter.
Für den, der das Maß trifft, hält sie den Zweig
der Belohnung.
PHILOLAUS. Hat sie nicht sonst
ein Rad unter ihren Füßen?
THEOPHRON. Sie hat's, zur Anzeige,
dass sie das Glück des Übermütigen im schnellen Nu durch die
leichteste Berührung stürze und ihn verderbe. Bei der Bildsäule
ließ der Künstler dies Symbol weg und gab ihr dafür den stillen
Tritt, die sanfte Haltung, die Sie bemerkten; unsre Nemesis,
mein Freund, soll des schreckenden stürzenden Rades auch nicht bedürfen.
Das ernst-gütige Angesicht der Göttin, ihr weises Maß und der
Zweig des Glückes in ihrer Hand sind der Symbole genug, uns an die feste
Naturwahrheit zu erinnern: »dass aller Bestand,
alles Wohlsein, ja das Dasein der Dinge selbst nur auf Maß, Proportion
und Ordnung gebaut seien und sich durch diese allein erhalten«.
PHILOLAUS. Da treffen Sie, Theophron,
auf den Satz eines meiner geachtetsten Philosophen, den ich den Leibniz
unsrer Zeit nennen möchte, Lambert's.
Sowohl in seinem Organon als in
seiner Architektonik kann er nicht
oft genug auf die Wahrheit zurückkommen, »dass
der Beharrungszustand, mithin das Wesen jedes eingeschränkten Dinges allenthalben
auf einem Maximum beruhe, bei welchem gegenseitige Regeln einander einschränken,
mithin die Bestandheit der Dinge und ihre innere Wahrheit nebst dem Ebenmaß,
der Ordnung, Schönheit, Güte, die sie begleiten, auf eine Art
innerer Notwendigkeit
gegründet sei«. Er gibt Ihnen also Ihre
Nemesis, mit dem messenden Arm und dem Zweige in
der Hand, als eine mathematisch-physisch-metaphysische Formel.
THEOPHRON. Auch in dieser Gestalt
habe ich sie lieb, und wenn sich ungleichartige Dinge vergleichen ließen,
fast noch lieber, als in welcher sie der Künstler bildete. Dieser musste
sich begnügen, mancherlei Symbole zusammenzufügen; die abstrakte Wahrheit
gibt mir solche als notwendige Bestimmungen des Begriffes selbst, mithin nehmen
das Maß und der Zweig der Belohnung in ihr eine wesentlichere Gestalt
an. Aber wo ist das Rad der Veränderung, das der
Nemesis gehört, in Ihrer mathematischen Formel?
PHILOLAUS. Der Weltweise vergaß
es nicht; er bemerkte, »dass, wenn Dinge oder Systeme
von Dingen in ihrem Beharrungszustande gestört werden, sie sich demselben
auf eine oder die andere Weise wieder zu nähern trachten«,
und bestimmte diese Weisen.
THEOPHRON. Vortrefflich! Sie sehen,
Philolaus, den Vorzug solcher wissenschaftlichen
Formeln. Was der gemeine Verstand in täglichen Erfahrungen dunkel bemerkt,
bringen sie ins Licht, führen es auf allgemeine Gesetze, ja wo möglich
auf Zahl und Größe zurück; dadurch bekommt ihre Behauptung einen
Wert der bestimmten Gewissheit, ja einer allgemeinen Anwendung, die man nachher
bei jedem einzelnen Gegenstande gern verfolgt. Wahrscheinlich wird es Ihr Lambert
auch so gemacht haben.
PHILOLAUS. In reichem Maße.
Er wendet das Maximum seines Beharrungszustandes in mancherlei Beispielen auf
die verschiedensten Gegenstände an und findet es bei allen beschränkten
und zusammengesetzten Systemen der Kräfte. So hat er in einer eignen Abhandlung
die Bewegung des menschlichen Körpers berechnet und eine Reihe von ihren
Maximis gefunden; gleichergestalt
hat er eine Theorie der Ordnung versucht und seinen Beharrungszustand auch auf
Gegenstände der Schönheit, der Güte, des Nutzens anzuwenden angefangen.
Er hat mehrmals den Wunsch geäußert, dass bei allen Systemen zusammengesetzter,
beschränkter Kräfte diese Regel bewiesen und angewandt werden möchte.
Gewiss hätte er auch selbst diesen seinen Lieblingssatz noch weiter verfolgt,
wenn ihn nicht ein frühzeitiger Tod zum Nachteil mehrerer Wissenschaften,
die er anbaute, dahingerissen hätte.
THEOPHRON. Sein Tod ist zu bedauern;
aber andre Geister werden anbauen, was er angebaut zu werden wünschte.
In der mathematischen Physik hat man mehrere dergleichen Gesetze und Kompensationen
bereits gefunden, die alle Willkür ausschließen und dem denkenden
Geist den hohen Begriff »innerer Vollkommenheit,
Güte und Schönheit in der Existenz und Fortdauer eines Dinges«
zu seiner unbeschreiblichen Freude geben. Aus manchen dieser Bemerkungen hat
man freilich anfangs zu viel schließen wollen; das schadet aber der Schönheit
ihrer Erfindung nicht. Der Irrtum schleift sich ab, die Wahrheit bleibt. Je
mehr die Physik zunimmt, desto weiter kommen wir aus dem Reich blinder Macht
und Willkür hinaus, ins Reich der weitesten Notwendigkeit, einer in sich
selbst festen Güte und Schönheit. Jede sinnlose Furcht verschwindet,
wenn der freudig - klare Sinn allenthalben eine Schöpfung gewahr wird,
in deren kleinstem Punkt der ganze Gott in Gesetzen seiner Weisheit und Güte
gegenwärtig ist und, dem Wesen jedes Geschöpfs nach, mit seiner ungeteilten
und unteilbaren Kraft wirkt. Wo bleibt z.B. das leere Schrecken, dass ein Komet
unsre Erde überflügeln möge, seitdem man den Gang dieser Weltkörper
genauer kennt und nach den bisher gemachten Wahrnehmungen selbst die Fälle
berechnet hat, in welchen eine solche Überstürzung zu befürchten
wäre? Die Möglichkeit dieses Unfalls wird durch die Berechnung so
ungeheuer klein, dass sie, dem großen Verhältnis der Kräfte
nach, durch welche sich das Weltall erhält, beinahe zum Nichts verschwindet.
Was hat man nicht von den Unregelmäßigkeiten und ihren bösen
Folgen gewähnt, in welche sich die Himmelskörper durch ihre gegenseitigen
Anziehungen mit der Zeit stürzen müssten! Das leere Schrecken ist
durch die klarere Ansicht der Sache selbst verschwunden, da man gefunden hat,
dass nach unwandelbaren Gesetzen alle Störungen der Planeten periodisch
in bestimmten Grenzen enthalten sind und diese Unregelmäßigkeiten
einander selbst kompensieren; das Planetensystem ist also bestehend,
bleibend. Wohltätige, schöne Notwendigkeit, unter
deren überall ausgebreitetem Zepter wir leben! Sie ist ein Kind der höchsten
Weisheit, die Zwillingsschwester der ewigen Macht, die Mutter aller Güte,
Glückseligkeit, Sicherheit und Ordnung.28
Wüsste ich ein schöneres Bild derselben aus dem Altertum,
die Nemesis sollte dieser höheren Adrastea
sogleich ihren Platz einräumen.
PHILOLAUS. Das also war das Goldstück,
das Sie mir in dem Knoten versprachen, den uns Spinoza
mit seiner innern Notwendigkeit der Natur Gottes,
die uns offenbart, ja in und um uns wesentlich ausgedrückt
sei in allem höchsten Naturgesetzen, geknüpft hat? Aber, Theophron,
der Knoten ist noch nicht gelöst. Wie hart redet er gegen alle Absichten
Gottes in der Schöpfung! Wie bestimmt spricht er Gott den Verstand und
Willen ab und leitet alles, was da ist, bloß und allein aus seiner unendlichen
Macht ab, die er nicht nur über Verstand und Absichten setzt, sondern auch
von denselben trennt und unterscheidet.29
Sie wissen, mein Freund, dass diese Sätze unserm Philosophen die eifrigsten
Gegner zugezogen haben;30 selbst
Leibniz, der den Spinoza
ehren musste, hat sich in seiner »Theodicee«
und sonst aufs Bestimmteste gegen sie erklärt.31
Wenn Sie diese so beleidigenden Sätze mit dem in manchem Andern so vortrefflichen
System des Spinoza vereinigen können, so wünsche
ich mir selbst die Nemesis zu sein, die Ihnen den
Zweig reiche.
THEOPHRON. Ich wünsche ihn
nur aus der Hand der Wahrheit; denn ich kann beweisen, teils dass Spinoza
auch in diesen Sätzen nur deshalb anstößig ist, weil
er in der Cartesischen Sprache sprach und auf das
Bestimmteste in ihr sprechen wollte; teils dass man ihn noch viel härter
verstanden hat, als er sich hart ausdrückte. Setzen wir jene Ausdrücke
des Cartesianismus in andre uns geläufigere
um und erklären des Spinoza Sätze der
reinen Grundidee zufolge, auf welche er sein ganzes System baute, so hellen
sie sich auf; die Nebel ziehen hinweg, und Spinoza gewinnt,
wie mich dünkt, selbst einen Schritt vor Leibniz
voraus, der vorsichtig, aber in diesem Stück vielleicht zu vorsichtig,
also auch nicht genugtuend auf ihn folgte.
PHILOLAUS. Ich bin sehr neugierig.
THEOPHRON. Zuerst
leugne ich's völlig, dass Spinoza Gott zu
einem gedankenlosen Wesen dichte; schwerlich kann es einen Irrtum geben, der
seinem System mehr zuwider liefe als dieser. Das Wesen Gottes ist bei ihm durchaus
Wirklichkeit, und
Spinoza war selbst zu sehr ein Denker, um nicht
die Realität auch dieser Vollkommenheit, der höchsten, die wir kennen,
innig zu schätzen und zu fühlen. Sein höchstes Wesen also, das
alle Vollkommenheit auf die vollkommenste Weise
besitzt, kann der vorzüglichsten derselben, des Denkens, nicht ermangeln,
denn wie wären sonst, da alles nur durch ihn und in ihm ist, Gedanken und
Vorstellungsarten in eingeschränkten, denkenden Geschöpfen, die, nach
Spinoza's System, allesamt ja nur Darstellungen
und reale Folgen jenes höchstrealen Daseins sind, das nach seiner Erklärung
allein den Namen eines Selbstbestehenden verdient? In Gott ist also, wie er
oft und deutlich sagt,32 unter
unendlichen Eigenschaften auch die Vollkommenheit eines unendlichen Denkens,
die Spinoza eben nur deswegen vom Verstande und
den Vorstellungsweisen eingeschränkter Wesen streng unterscheidet, um jene
als ursprünglich, absolut und einzig in ihrer Art, ganz unvergleichbar
mit diesen, zu bezeichnen. Sie werden sein Gleichnis bemerkt haben, dass sich
die Gedanken Gottes zu menschlichen Vorstellungsarten wohl kaum anders verhalten
könnten als das Gestirn am Himmel, das man den Hund nennt, zu einem irdischen
Hunde.
PHILOLAUS. Das Gleichnis hat mich
mehr betroffen als belehrt.
THEOPHRON. Belehren sollte es
auch nicht, aber scharf unterscheiden. Es zeigt, dass
Spinoza auch hier lieber zu scharf griff und sich zu hart ausdrückte,
als dass er, ein Eiferer für den würdigsten höchsten Begriff
von Gott, diesen zu irgend einer schwachen Vergleichung mit Verstandesbegriffen
oder Kräften, denen die verständlichen Dinge vorliegen müssen,
erniedrigen wollte. Dass alle reine, wahre, vollständige Erkenntnis auch
in unsrer Seele gleichsam nur eine Formel des
göttlichen Erkennens sei, das, getraue ich mir zu sagen,
hat niemand stärker behauptet als Spinoza,
er, der die Natur des Göttlichen im Menschen einzig nur in diese, Gott
gleichsam ähnliche, reine, lebendige Erkenntnis Gottes, seiner Eigenschaften
und Wirkungen setzte.
PHILOLAUS. Wie aber? sollte
Spinoza's unendlich - denkendes Wesen nicht bloß ein gesammelter
Name aller der Verstandes- und Denkkräften sein, die in einzelnen Geschöpfen
allein wirklich sind und denken?
THEOPHRON. Gott ein gesammelter
Name? das wirkliche Wesen ein Unding, der Schatte in der Vorstellungsart einzelner
Menschen? oder vielmehr ein bloßes Wort, der Schall eines Namens? Der
Höchstlebendige also ein Toter, der Allwirksame ein Nichts, die letzte
stumpfste Wirkung menschlicher Kräfte? Philolaus,
wenn Sie das aus eigner Meinung dem Spinoza zuschreiben
und das völligste Gegenteil seines Systems zu seinem System machen können
- doch das können Sie nicht. Unmöglich, dass Sie den auch in seinen
Behauptungen wenigstens zusammenhangenden Weltweisen von Blatt zu Blatt, von
Anfang zu Ende so missverstehen konnten. Wahrscheinlich sprachen Sie aus dem
Munde seiner Gegner im vorigen Jahrhundert. -
PHILOLAUS. Eifern Sie nicht; im
Gespräch führt man bisweilen auch einen fremden Gast ein, wenn er
der Materie forthilft und sie durch Gegensätze erläutert. Für
mich bin ich über Spinoza's Meinung hierüber
durchaus nicht zweifelhaft gewesen, seitdem ich seine
»Ethik« gelesen. Wie eifert er gegen die, die Gott
zu einem abstrakten, toten Konsektarium der Welt machen wollen, da dieses einzige
Wesen bei ihm die Ursache alles Seins und Denkens, mithin auch unsrer Vernunft,
jeder Wahrheit und jeder Verbindung von Wahrheiten ist! Wie hoch hält er
eine vollständige und vollkommene Idee!33
Sie ist ihm die Erkenntnis der Gesetze der Natur, in ihnen des ewigen, göttlichen
Wesens; göttlich auch darin, dass sie die Dinge nicht zufällig, sondern
als notwendig unter einem Bilde der Ewigkeit denkt und eben dieser innern Notwendigkeit
wegen ihrer so gewiss ist, wie Gott derselben gewiss sein kann. Höher lässt
sich das Wesen des menschlichen Gemüts, das kraft seiner Natur Wahrheit
erkennt und solche als Wahrheit liebt, schwerlich heben; und er, der das Denken
so hoch erhob, sollte seinen Gott den Ursprung, Gegenstand und Inbegriff aller
Erkenntnis, gedankenlos, blind wie einen
Polyphemus gedichtet haben? Beinah schäme ich mich selbst vor dem
Geist des Mannes, dass ich diesen Antipodenvorwurf gegen ihn auch nur beiläufig
anführe.
THEOPHRON. Wohlan also, eine unendliche, ursprüngliche
Denkkraft ist nach Spinoza
Gott wesentlich; über die unendliche Wirkungskraft
in ihm haben wir diesem System
nach nicht zu zweifeln.
PHILOLAUS. Nein; denn auch in der entsprungenen Natur ist nach
Spinoza Verstand und Wille sogar eins; d.i. in
unsrer lindern Sprache: ein Verstand, der das Beste einsieht, muss auch das
Beste wollen, und wenn er die Kraft dazu hat, es wirken. An der unendlichen
Macht seines Gottes aber ist nicht zu zweifeln, da eben diese
Macht d.i. Wirklichkeit und Wirksamkeit,
ihm das ist, woher er alles leitet.
THEOPHRON. Was, meinen Sie, hinderte ihn also, dass er die unendliche
Denk- und Wirkungskraft nicht verband und in dieser Verbindung das nicht deutlicher
ausdrückte, was er ihn ihr notwendig finden musste, nämlich (nach
unserer Weise zu reden): »dass
die höchste Macht notwendig auch die weiseste Macht, mithin eine nach innern
ewigen Gesetzen geordnete, unendliche Güte sei«?
Denn eine ungeordnete, regellose, blinde Macht ist ja nie die höchste;
nie kann sie das Vorbild und der Inbegriff aller der innern Wahrheit und Regelmäßigkeit
sein, die wir, obgleich so eingeschränkte Wesen, nach ewigen Gesetzen in
der Schöpfung bemerken, wenn sie selbst diese
Gesetze nicht kennt und solche nicht als ihre ewige, innere Natur ausübt.
Von einer geordneten müsste die blinde Macht notwendig übertroffen
werden und könnte also nicht Gott sein.
PHILOLAUS. Ich danke Ihnen, da
Sie mir auf einmal den Schleier zerreißen, der mir, nicht Spinoza,
das Licht nahm. In der Cartesischen Terminologie
standen Gedanken und Ausdehnung ihm als zwei aus einander unerklärliche
Attribute entgegen; der Gedanke kann nicht durch die Ausdehnung, die Ausdehnung
nicht durch den Gedanken begrenzt werden. Da er nun beide als Eigenschaften
Gottes, eines unteilbaren Wesens, annahm und keine durch die andre zu erklären
wagte, so musste er ein Drittes annehmen, unter welches sich beide fügten,
und das war - was konnte es anders sein als Macht,
d.i. wirkliche Wirksamkeit, wirksames Dasein? Der Begriff von Macht, wie der
Begriff der Materie und des Denkens - entwickelt, fallen alle drei, diesem System
selbst zufolge, in einander, d.i. in den Begriff einer Urkraft, die ebensowhol
in der Materie, als dem Organ der Begriffe, als im Denken selbst unendlich wirkt.
Auch Macht und Gedanke werden hiemit eins; denn der Gedanke ist Macht,
und zwar die vollkommenste, schlechterdings unendliche Macht,
eben dadurch, dass er alles in sich ist und hat, was zur unendlichen, in sich
selbst gegründeten, sich selbst ausdrückenden Macht gehört. Der
Knoten ist also gelöst, und das Gold in demselben liegt vor mir. Die »ewige
Urkraft«, die Kraft aller Kräfte ist nur
eine; und in jeder Eigenschaft derselben, wie solche unser Verstand
auch teilen möge, ist sie gleich unendlich. Nach ewigen Gesetzen seines
Wesens denkt, wirkt und ist Gott das Vollkommenste auf jede von ihm allein denkbare,
d.i. die vollkommenste Weise. Nicht weise sind seine Gedanken, sondern die Weisheit;
nicht gut allein sind seine Wirkungen, sondern die Güte; und das alles
nicht aus Zwang, nicht aus Willkür, als ob auch das Gegenteil statthaben
könnte, sondern aus seiner innern, ewigen, ihm wesentlichen Natur; aus
ursprünglicher, vollkommenster Güte, d.i. Tätigkeit und Wahrheit.
Jetzt sehe ich auch, mein Freund, warum Spinoza
so sehr gegen die »Endabsichten« ist
und dem Anschein nach hart gegen sie redet. Sie sind ihm schwache Überlegungen
und Vorstellungsarten, Willkürlichkeiten
und Velleitäten [kraftloses
Wollen, Wunsch, der nicht zur Tat wird], die z.B.
der Künstler gewollt, aber auch nicht gewollt haben könnte. Was Gott
wirkte, darüber durfte er nicht erst ratschlagen und wählen; die Wirkung
floss aus der Natur des vollkommensten Wesens, sie war einzig und außer
ihr nichts Anderes möglich. Jetzt weiß ich, warum die vielen Anthropopathien,
selbst in Leibniz' vortrefflicher »Theodicee«,
mir nie recht zum Herzen wollten, ob ich damals gleich an ihre Stelle nichts
Besseres zu setzen wusste, weil ich vor der blinden Notwendigkeit zurückbebte.
Ich bemerke jetzt, dass meine Furcht vergebens war, und dass man keine blinde
Notwendigkeit nötig habe, um jene lichtvolle, wirkende Notwendigkeit zu
verehren, die durch die Natur ihres Wesens ist und denkt und will und wirkt.
Haben Sie die »Theodicee«
zur Hand, Theophron?
THEOPHRON. In mehr als
einer Sprache; hier aber eine kürzere »Theodicee«
von einem unsrer beliebtesten Dichter.34
PHILOLAUS.
»Die Risse liegen aufgeschlagen,
Die, als die Gottheit schuf, vor ihrem Auge lagen:
Das Reich des Möglichen steigt aus gewohnter Nacht;
Die Welt verändert sich mit immer neuer Pracht,
Nach tausend lockenden Entwürfen,
Die eines Winks zu schnellem Sein bedürfen.
Doch Dämmerung und kalte
Schatten
Sehn über Welten auf, die mich entzücket hatten:
Der Schöpfer wählt sie nicht; er wählet unsre Welt,
Der Ungeheuer Sitz.«
Es ist die treue »Theodicee«
des Leibniz, schön versifiziert, doch aber,
wie mich dünkt, vom Philosophen gedacht auf Kosten rein philosophischer
gotteswürdiger Wahrheit. Vor Gott lagen keine Risse aufgeschlagen; er saß
nicht wie ein grübelnder Künstler, der sich den Kopf zerbrach, entwarf,
verglich, verwarf, wählte. Kein Reich des Möglichen ist außer
der Macht und dem Willen des Unendlichen da: denn wenn er's nicht schaffen wollte,
nicht schaffen konnte, so war es nicht möglich. Keine Welt, geschweige
tausend Welten nach lockenden Entwürfen, die nur eines Winks zu ihrem Dasein
bedurft hätten, und die Gott doch nicht wählte, konnten je ein Gedanke
Gottes werden. Er spielte nicht mit Welten, wie Kinder mit Seifenblasen spielen,
bis ihm eine gefiel und er sie vorzog. Waren tausend andre außer dieser
möglich, so konnte ein größerer Gott sie erschaffen; der schwächere,
mühsam-überlegende ward von ihm überwunden und war nicht Gott.
THEOPHRON.
Bemerken Sie es? Eben dies sagt Spinoza.35
PHILOLAUS. Ich bemerke es wohl und lese weiter:
»Eh ihn die Morgensterne
lobten
Und auf sein schaffend Wort des Chaos Tiefen tobten,
Erkor der Weiseste den ausgeführten Plan.«
Die schönen Verse sagen dasselbe. Der Weiseste erkor nicht, wo es keiner vorgängigen, zweifelnden Überlegung bedurfte. Alle diese Gedankenreihen, diese Plane, diese wechselnden Entwürfe sind mit der vollkommensten Natur des unendlichen, unveränderlichen Geistes unvereinbart. Sie gehören in jene taube und stumme Ewigkeit, die der müßige Gott
»- - - einst einsam durchgedacht,
Bis dann erst und nicht eh er eine Welt gemacht,«
worüber wir schon eins sind.
Mich wundert, wie Leibniz dergleichen Anthropopathien
Raum geben konnte.
THEOPHRON. Darüber
wundern Sie Sich nicht. Er gab ihnen in einem populären Buch, seiner »Theodicee«,
Raum, und Sie wissen, wozu die populäre Vorstellungsart oft verleitet.
Die vielen und scheinbaren Einwürfe Bayle's zwangen
ihn, seine Gegengründe behutsam vorzutragen und sie auf alle Seiten zu
wenden; daher denn die Anthropopathien [menschliche
Empfindungen], ja beinah durchgängig ein fortgesetzter
seiner Anthropomorphismus,
den auch ich zwar für mich aus diesem Zweck nötig war. Schade nur,
dass seine Nachfolger nicht immer unterschieden, was bei ihm bloß Einkleidung
oder Akkommodation [Angleichung,
Anpassung] war, und was strenge zu seinem System gehört.
So hat man z.B. auch den Spinoza lange und oft
durch Unterscheidung der Welt »außer Gott
und in Gott« widerlegen wollen. »In
Gott sei die Welt ewig als Idee«, d.i. als Seifenblase gewesen,
mit welcher er in der Einbildung spielte; er ergötzte sich an ihr und brütete
große, große Ewigkeit hindurch das ungeborne Ei aus. Jetzt kam die
Zeit (denken Sie Sich in der Ewigkeit des müßigen
Gottes die lange, lange Zeit), und nun beschloss er zu schaffen. Plötzlich
trat die Welt aus Gott heraus,
sie, die so lange in ihm gewesen war, und jetzt ist sie immer außer
demselben, er außer der
Welt. Im großen Nichts der uralten, müßigen Ewigkeit hat er
sein Räumchen, wo er sich selbst betrachtet und wahrscheinlich über
das Projekt einer andern Welt nachsinnt. Ich gestehe es, Epikur's
Götter sind mir leidlicher als dies müßige, melancholische Wesen,
durch welches man frisch und frei den Spinoza zu
widerlegen glaubte. Leibniz ist an diesen Unbegriffen
nicht Schuld, als sofern er als ein dichterischer Kopf auch bei strengen Wahrheiten
Einkleidung, d.i. Bilder, Gleichnisse, Allegorien, Anthropopathien, und bei
anstößig scheinenden Wahrheiten das Bequemen zu fremden Begriffen
nie verschmähte.
PHILOLAUS. Desto schlimmer für
seine Nachfolger; denn da sie den Kern von der Schale nicht sonderten, so hieß
ihnen Leibnizianismus, was bei Leibniz
selbst nur einkleidende Dichtung oder Akkommodation war. Gegen die Notwendigkeit
des Spinoza indessen hat er sich stark erklärt.
THEOPHRON. In einer populären
»Theodicee«, in der
es nicht sein Zweck war, den Spinoza sanft zurechtzurücken,
wie er's in einer andern vortrefflichen Schrift mit Locke
getan hat,36 sondern sein eigenes
System von Spinoza's scharf zu unterscheiden.
PHILOLAUS. Und dies eigne
System Leibnizens war -
THEOPHRON. Das System der moralischen
Notwendigkeit in Gott, nach welchem er das Beste aus
Konvenienz [Harmonie,
Übereinstimmung] wählte.
PHILOLAUS. Und wie ist die moralische Notwendigkeit von der
Notwendigkeit, die wir die wesentliche, innere,
göttliche nennen wollen, unterschieden? Gott muss das Beste,
nicht durch eine schwache Willkür, sondern seiner Natur nach, ohne langsame
Vergleichung mit dem Schlechtern, das an sich ein Nichts ist, vollständig
einsehen und wirken. Auch im System des Spinoza
ist von einem physischen, d.i. blinden äußern Zwange gar nicht die
Rede; gegen ihn streitet er aus vollen Kräften.37
Sittengesetze von außen aber kennt Gott nicht.
THEOPHRON. An die dachte auch
Leibniz nicht, da er das Wort »moralische
Notwendigkeit« wählte; er setzte sie bloß der
physischen, d.i. der blinden Macht oder dem äußern Zwange entgegen
und stieß sich in Ansehung der ersten an die harten Ausdrücke des
Spinozas. Selbst seine moralische Notwendigkeit
in Gott hat er, so viel er konnte, durch Anthropopathien
eines Entwurfs, einer Wahl, der Konvenienz u.s.w.
gemildert.
PHILOLAUS. Ob Bayle
nichts darauf zu antworten gehabt hätte, ist eine Frage.
Leibniz musste sich bei jener Wahl, in welcher Gott das Beste nach Konvenienz
wählt, aus Absichten beziehen, die nur Gott wisse, die wir als gut
annehmen, eben weil sie Gott wählte, sonst würde er sie nicht gewählt
haben u.s.w.
THEOPHRON. Das musste er freilich.
PHILOLAUS. Und welcher Sterbliche
wird's nicht tun müssen, sobald er von der innern Notwendigkeit, die durch
sich selbst Güte ist, den Blick weg wendet und einzelne Absichten Gottes
nach Konvenienz erraten will? Unvermutet sinkt er in ein Meer erdichteter Endzwecke,
die er bewundert oder vermutet, bei welchen er aber den Grund der ganzen Erscheinung,
die innere Natur der Sache nach unwandelbar ewigen
Gesetzen, zu erforschen leicht aufgibt. Welche Menge Theodiceen,
Teleologien,
Physiko-Theologien sind auf diese Konvenienz errichtet,
die aus Konvenienz dem höchsten Wesen oft
nicht nur sehr eingeschränkte, schwache Absichten unterschoben, sondern
zuletzt darauf hinausgingen, Alles zur Willkür Gottes zu machen, die goldne
Kette der Natur zu zerreißen, um ein paar Gegenstände in ihr so zu
isolieren, dass eben an dieser und jener Stelle ein elektrischer Funke willkürlicher
göttlicher Absicht erscheine. Ich gestehe, das ist meine Philosophie nicht.
THEOPHRON. Und welches ist die Ihrige, Philolaus?
PHILOLAUS. Um die Gesetze der
Natur, um die innere Natur der Dinge mich zu bekümmern, wie sie da sind.
Bedingt ist das Dasein der Welt, daran zweifelt niemand; denn eine Wirkung ist
nur durch ihre Ursache, nicht durch sich selber. Da aber die Welt einmal da
ist (wie sie auch entstanden sein möge) und
nicht etwa nur hie und da Spuren von Macht, Weisheit und Güte zeigt, wie
man gemeiniglich redet, sondern in jedem Punkt, im Wesen jedes Dinges und seiner
Eigenschaften (wenn ich so sagen darf) den ganzen
Gott offenbart, wie er nämlich in diesem
Symbol, in diesem Punkt des Raumes
und der Zeit sichtbar und energisch werden konnte: welche Kindheit wäre
es, allein uns immer zu fragen, warum und zu welchen geheimen Absichten er sich
denn wohl hier also, dort also geoffenbart haben möge, statt der notwendigern
und schönern Untersuchung: was es denn eigentlich sei, das sich und welchergestalt
es sich offenbare, d.i. welche Kräfte der Natur und nach welchen Gesetzen
sie nicht nur in diesem oder jenem Organ, sondern allenthalben organisch wirken?
THEOPHRON. Fahren Sie fort, Philolaus!
PHILOLAUS. Wir nennen die Welt,
weil sie eine Wirkung und voll Wirkungen ist, zufällig;
der Ausdruck ist unpassend und selbst der Sprache zuwider. Die
Wirkung der höchsten Macht, die nach notwendigen innern Gesetzen ihres
Wesens, mithin der vollkommendsten Güte und Weisheit wirkt, ist nicht Zufall,
so wenig der Verstand Gottes (das Wort im rechten Sinne
gebraucht) zufällig-weise, zufällig-gut ist. Er schuf das Mögliche
und einer unendlichen Macht ist alles Mögliche möglich. Dies Alles
nun ist, wie wir's nennen, durch Raum und Zeit, d.i. durch wesentliche Ordnung
verbunden; jedes hervorgebrachte Ding ist durch die vollkommenste Individualität
bestimmt und mit ihr umschränkt; weder im Ganzen der Welt noch in ihrem
kleinsten Teile ist also Zufall. Außer dem, was der allmächtig-wirkende
Geist möglich fand, ist jede Möglichkeit ein Traum, so wie es außer
dem Raume keinen Raum, außer der Zeit keine Zeit gibt. Alles dies sind
leere Phantome der Einbildungskraft, Worte, die ein Traum zusammensetzte und
in einem Traum Anschauungen wähnt.
Keinen Augenblick also ruhte der Schöpfer; denn in der Ewigkeit Gottes
gibst's keine Augenblicke und der wesentlich Wirksame ruhte nie. Deshalb aber
ist die Welt nicht wie Gott ewig; denn sie ist eine Verbindung von Dingen der
Zeit. Jeder Augenblick der Zeitenfolge also, ja die ganze Zeitenfolge selbst
ist mit der absoluten Ewigkeit Gottes unvergleichbar. Alle Dinge der Zeitenfolge
sind bedingt, sind abhängig von einander, ganz abhängig endlich von
der Ursache, die sie hervorgebrachte; keins derselben ist also mit dem Dasein
Gottes zu vergleichen. Was die Zeit für die Folge ist, ist der Raum für
die Koexistenz. Gott ist durch keinen Raum ausmessbar,
weil er mit keinem Dinge als Seinesgleichen koexistiert; er ist aber die ewige
Ursache, die unergründliche Wurzel aller Dinge, so erhaben über unsere
Einbildungskraft, dass in ihm aller Raum und alle Zeit, Denkbilder unserer Phantasie,
schwinden. Wir endliche Wesen, mit Raum und Zeit umfangen, die wir uns alles
nur unter ihrem Maß denken, wir können von der höchsten Ursache
nur sagen: sie ist, sie wirkt;
aber mit diesem Worte sagen wir alles.
Mit unendlicher Macht, die durch sich die höchste Güte ist, wirkt
sie in jedem Punkt des Raums, in jedem Augenblick der forteilenden Zeit; Raum
und Zeit aber sind nur uns ein
dunkles oder helleres Bild vom Zusammenhange der Wesen nach jener fest bestimmten
ewigen Ordnung, welche die Eigenschaft und Wirkung der unendlichen Wirklichkeit
selbst ist, mithin auf nichts Geringerem als dieser unteilbaren ewigen Unendlichkeit
ruht. Kein edleres Geschäft also kennt unser Geist, als in den uns gegebenen
Symbolen der Wirklichkeit der Ordnung zu folgen, die im Verstande des Ewigen
war, ist und sein wird. Jedes seiner Gesetze ist das Wesen der Dinge selbst,
ihnen nicht willkürlich angehängt, sondern eins mit ihnen. Ihr Wesen
ist sein Gesetz, sein Gesetz ihr Wesen; die Verbindung aller ist eine tätige
Darstellung seiner Wirksamkeiten und Kräfte. Wie kindisch wäre es
nun, wenn, indem ich die Schönheit des Zirkels und seiner mancherlei Verhältnisse
bewundre, ich tiefsinnig den geheimen, besondern Absichten nachspüren wollte,
warum Gott solch einen Zirkel schuf, warum er die genauen, schönen Verhältnisse
in ihm zur Natur des Zirkels und unsrer messenden Vernunft machte! Der Raum
wäre kein Raum, wenn in ihm nicht unter allen möglichen Umrissen auch
der Zirkel stattfinden sollte, und unsre Vernunft wäre keine Vernunft,
wenn sie die schönen Verhältnisse jeder Abteilung in ihm nicht bemerken
könnte.
THEOPHRON. Ich will Ihnen mit andern Beispielen helfen, Philolaus.
Wenn immerhin die Menschen bei der Bewunderung stehen geblieben wären,
- »Dass Sterne sonder
Zahl,
Mit immer gleichem Schritt und ewig hellem Strahl,
Durch ein verdeckt Gesetz vermischt
und nicht verwirret,
In eignen Kreisen gehn und nie ihr Lauf verirret:«
so wäre diese Bewunderung allerdings schon eine Art von Anbetung des Gottes gewesen, von dem es heißt:
- »Sein Will' ist ihre Kraft;
Er teilt Bewegung, Ruh' und jede Eigenschaft
Nach Maß und Absicht aus«,
und man hätte sich dabei viele Absichten, falsche und wahre, würdige und unwürdige erdenken mögen. Der Naturweise aber, der von diesen Absichten vorerst hinwegsah und eben »das verdeckte Gesetz« aufsuchte, durch welches die Sterne
- »vermischt und nicht verwirret,
In eignen Kreisen gehn, und nie ihr Lauf sich irret«,
er tat mehr, als der größte
Absichtendichter tun konnte. Er dachte dem Gedanken Gottes nach und fand ihn,
nicht in einem Traum willkürlicher Konvenienzen,
sondern im Wesen der Dinge selbst, deren Verhältnisse er maß, wog
und zählte. Jetzt erkennen wir das große Gesetz dieses Weltbaues,
und unsre Bewunderung ist vernünftig, da sie sonst ewig und immerhin ein
zwar frommes, aber leeres Staunen gewesen wäre.
PHILOLAUS. Setzen Sie dazu: ein
sehr trügliches Staunen; denn wenn wir a
priori partikulare Absichten Gottes in die Schöpfung bringen
und in der ewigen Ratkammer wollen gehört haben, warum Saturn einen Ring,
unsre Erde einen Mond, Mars und Venus aber keinen haben: auf welche Bahn täuschender
Hypothesen wagen wir uns, die meistens der künftige Tag widerlegt! Über
den Ring des Saturns, über den Mond der Erde und der Venus war aus dem
Register göttlicher Absichten so manches gesagt und geglaubt worden, das
man beschämt zurücknehmen musste, als man fand, Venus habe keinen
Mond, mit der Beleuchtung der Saturnseinwohner aus ihrem Demantringe wie mit
unserm Monde selbst verhalte es sich nach weitern Entdeckungen auch anders,
als man dem ersten Scheine nach annahm. Allen diesen Trüglichkeiten, zu
welchen man den heiligen Namen nicht missbrauchen sollte, entgeht der bescheidne
Naturforscher, der uns zwar nicht partikulare Willensmeinungen aus der Kammer
des göttlichen Rats verkündigt, aber dafür die Beschaffenheit
der Dinge selbst untersucht und auf die ihnen wesentlich eingepflanzten Gesetze
merkt. Er sucht und findet, indem er die Absichten Gottes zu vergessen scheint,
in jedem Gegenstande und Punkt der Schöpfung den ganzen Gott, d.i. in jedem
Dinge eine ihm wesentliche Wahrheit, Harmonie und Schönheit, ohne welche
es nicht wäre und sein könnte, auf welche also seine Existenz mit
innerer, zwar einer vorübergehenden und bedingten, dennoch aber in ihrer
Art ebenso wesentlichen Notwendigkeit gegründet
ist, als auf welcher unbedingtund ewig das Dasein Gottes ruht. Eben die völlige
Abhängigkeit der Dinge von Gott macht ihre Wesen zu notwendigen Denkbildern
seiner Macht, Güte und Schönheit, wie sich diese nur in solchen und
keinen andern Erscheinungen offenbaren konnte. Ich wünschte, dass Spinoza
ein Jahrhundert später geboren wäre, um von den Hypothesen des Descartes
fern, im freieren Licht der Naturlehre und Naturgeschichte zu philosophieren;
wie trefflich würde seine abstrakte Philosophie diese hohen Entdeckungen
gebraucht haben!
THEOPHRON. Und ich wünschte,
dass Andre auf dem Wege tapfer fortgehen mögen, für welchen Spinoza
an seiner Stelle die Bahn brach, nämlich: reine Naturgesetze zu
entwickeln, ohne sich um partikulare Absichten Gottes dabei zu kümmern.
Wer mir die Naturgesetze zeigen könnte, wie nach innerer Notwendigkeit
aus Verbindung wirkender Kräfte in solchen und keinen andern Organen unsre
Erscheinungen der sogenannt toten und lebendigen Schöpfung, Salze, Pflanzen,
Tiere und Menschen, erscheinen, wirken, leben, handeln, hätte die schönste
Bewunderung, Liebe und Verehrung Gottes weit mehr befördert, als der mir
aus der Kammer des göttlichen Rats predigt, dass wir die Füße
zum Gehen, das Auge zum Sehen haben u.s.w.
PHILOLAUS. Mich dünkt, mit
solchen Physiko-Theologien gehe es ziemlich hinunter.
THEOPHRON. Zu ihrer Zeit waren
sie sehr nützlich; sie waren eigentlich nichts als kindlich-populäre
Anwendungen einer neuen festeren Naturlehre. Ihr Grund wird also immer bleiben,
ja die Wahrheit in ihnen wird sich noch ungleich mehr veredeln,
wenn man nicht mehr bei jedem einzelnen kleinen Umstande nach einzelnen kleinen
Absichten hascht, sondern immer mehr einen Blick über das Ganze gewinnt,
das bis auf seine kleinsten Verbindungen nur ein System
ist, in welchem sich nach unveränderlichen innern Regeln die meisten Güte
offenbart. Ein Gebäude der Gottesverehrung, das sowohl metaphysisch über
das Endlose des Raumes und der Zeit geht, als es physisch im Wesen der Dinge
selbst unerschütterlich fest ruht! Jedes gefundene wahre Naturgesetz wäre
damit eine gefundene Regel des ewigen göttlichen Verstandes, der nur Wahrheit
denken, nur Wirklichkeit wirken konnte.
PHILOLAUS. Wie dauert's mich,
dass die Philosophie des Spinoza, die dahin weist,
mit so manchen abschreckenden Härten verwebt ist! denn in dieser Gestalt
wird sie doch immer nur für Wenige bleiben.
THEOPHRON. Eben das ist gut; der
große Haufe muss diese Philosophie nicht lesen; eine Sekte muss sie nie
stiften.
PHILOLAUS. Dafür hat ihr
Urheber seinen Grundsätzen zufolge schon durch den Vortrag gesorgt.38
Indessen leugne ich's nicht, dass ich den schönen Wahrheiten,
die er über Gott, die Welt, über das Wesen und die Natur des Menschen,
über seine Schwachheit und Stärke, über den Zustand seiner Sklaverei
und Freiheit sagt, mehr Ausbreitung und eine tiefere Einwirkung wünschte,
als sie in seinem Buch für die Meisten haben können und haben werden.
So eingenommen ich gegen ihn war, so durchdrungen bin ich jetzt von der innigen
Wahrheitsliebe dieses Mannes und von der Vortrefflichkeit seiner moralischen
sowohl als mehrerer seiner philosophischen Grundsätze. Ich wünschte,
dass ihn
Viele so kennen lernten.
THEOPHRON. Zeit und Wahrheit werden
das schon bewirken. Lesen Sie dies Buch und sehen, was Lessing
über ihn gesagt hat.39 Haben
Sie nichts von dem Lärm gehört, über dem Grabe dieses Gelehrten:
»er sei ein Spinozist gewesen«?
PHILOLAUS. Ich habe es nicht hören
mögen, weil ich, wie Sie wissen, von Spinoza
so übel unterrichtet war und mir den Namen Lessing's
nicht gern durch einen Flecken verunstalten wollte. Jetzt werde ich mit
desto größerer Begierde lesen, was er von ihm sagte, da ich mir Lessing
so wenig als einen Spinozisten denken kann,
als wir beide es sind. Er war nicht geschaffen, ein ...
ist zu sein, welche
Buchstaben man auch dieser Endung voransetzen möge, und die Lücken
in Spinoza's Vortrage wird sein Scharfsinn gewiss
nicht verkannt haben.
THEOPHRON. Lesen Sie! dann wollen
wir weiter reden.
Viertes Gespräch
PHILOLAUS.
Hier haben Sie Ihr Buch mit Dank wieder. Man hört Lessing
reden, wenn er auch nur Silben hervorbringt; über unsre Materie
aber hätte ich ihn doch gern ausführlicher vernommen, ich kann's nicht
leugnen.
THEOPHRON. Ich gleichfalls; wie
gefällt Ihnen indes das Wenige, was er sagt?
PHILOLAUS. Es ist zu wenig, um darüber zu urteilen, auch,
wie es ein Gespräch geben musste, zu abgerissen, ja hie und da nach
Lessing's Manier in Gesprächen vielleicht zu kräftig gesagt.
Ist's Ihnen nicht entgegen, so will ich seine Worte herausheben und darüber
ohne alle Anmaßung meine Meinung sagen.
THEOPHRON. Tun Sie's! Sie werden damit bloß Kommentator
einer Autors, der sich selbst uns nicht mehr erläutern kann. O, dass er
uns hier der dritte, d.i. der erste Mann
wäre!
PHILOLAUS. »Die
orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann
sie nicht genießen.«40
Ich, nachdem mir einige Steine des Anstoßes aus
Spinoza weggeräumt sind, auch nicht. Das müßige Wesen,
das außerhalb der Welt sitzt und sich selbst beschaut, so wie es sich
Ewigkeit hindurch beschaute, ehe es mit dem Plan der Welt fertig ward, ist nicht
für mich, für Sie, Theophron, auch nicht.
THEOPHRON. Ich weiß aber
nicht, Philolaus, warum wir das Phantom dieses
langweiligen trägen Gottes orthodoxe Begriffe nennen. Es hat weder die
Konsistenz eines Begriffes, noch ist's je die Meinung orthodoxer, d.i. der
Philosophen gewesen, die deutlicher Begriffe fähig waren.
Ein solcher Gott mag Orthodoxie der Indier sein, deren Gott Jaganat schon viele
Jahrtausende her mit über den Bauch
geschlungenen, hängenden Armen sitzt und sich wohl befindet. Ein anderer
ihrer Götter liegt seit Äonen im Schlummer, sein Haupt ruht im Schoß
eines seiner Weiber, die ihm den Kopf kratzt, seine Füße im Schoß
einer andern, die ihm die Fußsohlen streichelt. Unaufhörlich fließt
der Zucker- und Milchfee in ihn; er genießt und ruht in träumender
Selbstbeschauung. Echt orthodoxe Götter der Hindus! ich sehe aber nicht,
warum der unsrige ein Jaganat oder Wischnu
sein müsste.
PHILOLAUS. Ich lese weiter. »Hen
kai pan! Eins und Alles! Ich
weiß nichts Anders.«41
- Ich auch nicht; nur wünschte ich aus der Seele Lessing's
zu vernehmen, wie er sich die Verbindung dieser beiden größten Worte,
deren unsere Sprache fähig ist, erklärte. Auch die Welt ist ein Eins;
auch die Gottheit ist ein All.
Lessing fühlte selbst, dass er damit noch
nichts Bestimmtes gesagt habe; er kam sich darüber näher zu erklären;
aber auch diese seine nähere Erklärung reicht nicht so weit, als man
wünschte. Ich sehe seine Hochachtung gegen die Philosophie des Spinoza,
da aber ihn wie uns der Geist des Spinozismus,
»ich meine den«, sagt er,42»der
in Spinoza selbst gefahren war«, eigentlich allein interessiert;
da, wie er sagt,43 »sein
Credo in keinem Buche steht«
und er es nur unter einer Bedingung, die sich eigentlich selbst aufhebt,
44 an sich kommen lässt,
sich nach Jemanden nennen zu wollen, so sind uns diese und andre Winke, ja die
ganze Denkart Lessing's genugsame Bürgen,
dass er gewiss keine phantastisch-rohe sinnliche All-Einheit, dergleichen auch
das System des Spinoza nicht ist, zu seinem System
gemacht haben werde. Eben hier fing meine Begierde an, zu wissen, wie Lessing
»den Geist, der in Spinoza selbst gefahren war«,
zu sich gezaubert und zu dem seinigen gemacht habe; und eben hier, ich
muss es bekennen, war meine Begierde vergebens. Lessing
hört von einer verständigen, persönlichen
Ursache der Welt und freut sich dabei nach seiner Art, dass er jetzt etwas ganz
Neues zu hören bekommen werde.45
Am Verstande Gottes konnte Lessing's Verstand nie
zweifeln; seine Neugierde war also auf die »persönliche«
Ursache der Welt gerichtet; darüber wollte er etwas Neues erfahren.
THEOPHRON. Erfuhr er's?
PHILOLAUS. Der Ausdruck
Person, selbst wenn ihn die Theologen von Gott gebrauchen (die
diese Person aber nicht der Welt entgegensetzen, sondern als Unterschied im
Wesen Gottes annehmen), ist (denn der Theologe
sagt nicht: »Gott ist eine Person«, sondern: »In Gott sind
Personen«).
THEOPHRON. Lassen wir die Sprache
der Theologen und reden vom Wort Person
philosophisch.
PHILOLAUS. Zuerst also doch wohl davon, was das Wort im festgestellten
Gebrauch bedeutet. Person (prosôpon)
hieß - - Larve,
sodann - theatralischer Charakter; dadurch
führte es auf das Eigentümliche eines Charakters überhaupt, wodurch
er sich von einem andern unterscheidet; so ging das Wort in die Sprache des
gemeinen Lebens über. »Dieser«,
sagt man, »spielt seine Person;
er bringt seine Persönlichkeit in
die Sache« u.s.w. So setzte man Person der
Sache entgegen, immer etwas Abstechendes,
auszeichnend Eigentümliches
in ihr bezeichnend. So ging es in die Gerichtssprache,
in die Verschiedenheit der Stände.
Können wir von dieser Prosopopöie etwas
auf Gott anwenden? Er ist weder eine Larve
noch Maske, weder eine Standesperson
noch ein abgezeichneter Charakter,
der mit andern da ist und neben ihnen spielt. Lassen wir diese Personalien,
die immer doch, wo nicht auf etwas Falsches, Angenommenes, Angedichtetes,
so doch auf etwas Eigentümliches an Gestalt, Bildung, Abzeichnung von Andern,
auf Stand, Rang und dergleichen führen, mithin vom reinen Begriff einer
ganz unvergleichbaren Wesenheit und Wahrheit entfernen. So wenig Gott die Person
ansieht, so wenig spielt
er eine Person, so wenig affektiert
er Persönlichkeiten, hat eine persönliche, mit andern abstechende,
kontrastierende Denkart u.s.w. Er ist. Wie er
ist Niemand.
THEOPHRON. Sollte aber nicht
»die höchste Intelligenz« das Wort »Persönlichkeit«
fordern, so dass »Einheit des Selbstbewusstseins«
die Personalität ausmachte?
PHILOLAUS. Ich sehe nicht; vielmehr
bleibt Persönlichkeit diesen Begriffen immer ein fremdes, ausgemaltes Wort.
Dafür sahen es auch Locke und Leibniz
an und suchten es durch bestimmtere Ausdrücke zu erklären;46
dafür sieht's der Sprachgebrauch an, der mit dem Wort Person,
Persönlichkeit als mit einem Scheindinge spielt. Das innigste
Selbstbewusstsein vergisst die Apparenz der Person
(das personnel und das personnage)
so ganz, dass man es mit diesem Gerichtswort des persönlichen Erscheinens
gleichsam aus sich selbst jagt. Dies alles wusste Lessing
besser wie wir. - Ich lese weiter: »Lessing hört
von einer verständigen Ursache
der Welt.«
THEOPHRON. Hat er sich darüber
näher erklärt?
PHILOLAUS. Ihm ward dazu nicht
Zeit, wahrscheinlich war er hierin auch mit Spinoza völlig
eins. Wir sahen, dieser unterschied den Verstand, sofern er zur entsprungenen
Natur gehört, von jener primitiven Denkkraft,
die der Grund der Dinge selbst ist. Der abgeleitete Verstand
kann nur verstehen, was vor oder in ihm liegt, was ihm gegeben ist; der ursprünglichen
Denkkraft ist nichts gegeben als sie selbst; aus ihr folgt alles. In diesem
Sinn erkennt der höchste, d.i. primitive Verstand nur sich selbst und in
sich alles Mögliche als Folge.
THEOPHRON.
Ist dieser Sinn des Wortes aber auch der Sprache
gemäß?
PHILOLAUS. Wenn er es auch nicht wäre!
Er ist's aber in allen Sprachen, in denen man philosophierte. Wenn Locke
seinen Verstand (understanding)
die »Macht zu perzipieren« nennt und
ihn sogar einer dunkeln Kammer, in welcher durch die Sinne Licht fällt,
vergleicht,47 so kann Gott eine
solche dunkle Kammer, in welche Licht durch die Sinne fällt, nicht zugeschrieben
werden. Wenn dem schärfer bestimmenden Leibniz
das Verstehen eine »deutliche
Perzeption
ist, verbunden mit der Fähigkeiten zu reflektieren«,48
wer wird das höchste Wesen zum Schüler machen und ihm dergleichen
»Fähigkeit zu perzipieren und dann zu reflektieren«
zueignen? Die Sprache selbst sträubt sich dagegen, in deren mehreren das
Wort Verstand ein Auffassen und
Auseinanderlesen der Objekte (intellectionem)
ausdrückt, welche fremde, ihm zum Verstehen gegebene Objekte las
und liest Gott aus einander?
THEOPHRON. Ich bitte, lesen Sie weiter!
PHILOLAUS. Lessing
spricht über die Freiheit des Willens. »Ich
begehre«, sagte er, »keinen freien
Willen; ich bleibe ein ehrlicher Lutheraner und behalte den mehr viehischen
als menschlichen Irrtum und Gotteslästerung, dass kein freier Wille sei;
worein der helle reine Kopf Spinoza's sich auch doch zu finden wusste«.49
So scherzt er mit den Worten des Reichstagsschlusses zu Augsburg,
und indem er uns auf den hellen, reinen Kopf Spinoza's
verweist, erklärt er selbst, wie er den unfreien Willen des Menschen
angenommen haben wolle. Mir ist kein Weltmeister bekannt, der die Knechtschaft
des menschlichen Willens gründlicher auseinandergesetzt und die Freiheit
desselben vortrefflicher bestimmt habe als Spinoza.50
Dem Menschen ist kein geringeres Ziel der Freiheit vorgesetzt als die Freiheit
Gottes selbst, durch eine Art innerer Notwendigkeit, d.i. durch vollständige
Begriffe, die uns Erkenntnis und Liebe Gottes allein gewähren können,
über unsre Leidenschaften, ja über das Schicksal selbst Herren zu
werden. Gründlich beweist es Spinoza, dass,
wenn man Freiheit für tolle, blinde Willkür nimmt, der Mensch ebenso
wenig als Gott selbst den edeln Namen der Freiheit verdiene; vielmehr gehöre
es zur Vollkommenheit der Natur Gottes, dass er auf diese Art nicht frei sei,
d.i. dass er eine blinde Willkür nicht kenne, wie es denn auch zur Vollkommenheit
seiner Werke gehört, dass tolle Willkür aus der ganzen Schöpfung
verbannt ist. Sie wäre (um auch mit dem Reichstage
zu Augsburg zu reden) eine gotteslästerliche
Lücke in der Schöpfung und für jedes Geschöpf,
das sie besäße, ein zerstörendes Übel. Glücklich also,
dass sie ein Widerspruch in sich selbst, ein Unbegriff ist. Sie sind doch eben
der Meinung, Theophron?
THEOPHRON. Keiner andern; aber
was sagt Lessing von dem Gedanken Gottes? Das schülerhafte
»Verstehen« ist weggeräumt;
was setzte er dagegen oder darüber?
PHILOLAUS. Hier ist die Stelle.51
»Es gehört zu den menschlichen Vorurteilen,
dass wir den Gedanken als das Erste und Vornehmste betrachten und aus ihm Alles
herleiten wollen, da doch Alles mitsamt den Vorstellungen von höheren Prinzipien
anhängt. Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer höheren
Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erschöpft ist. Sie muss
unendlich vortrefflicher sein als diese oder jene Wirkung; und so kann es auch
eine Art des Genusses für sie geben, der nicht allein alle Begriffe übersteigt,
sondern auch völlig außer dem Begriffe liegt. Dass wir uns nichts
davon denken können, hebt die Möglichkeit nicht auf.« -
Was denken Sie von dieser Stelle, Theophron?
THEOPHRON. Ich wünschte zu
wissen, was Sie davon denken.
PHILOLAUS.
So muss ich bekennen, dass ich mir vergeblich Mühe gebe,
etwas Bestimmtes daraus zu finden. Dass es zu den menschlichen Vorurteilen gehöre,
den Gedanken als das Erste und Vornehmste zu betrachten und aus ihm Alles herleiten
zu wollen, gebe ich zu. Wir kennen nichts Höheres in seiner Art als den
Gedanken; Lessing selbst hat nichts Höheres
namhaft machen können. Alles aus dem Gedanken, d.i. aus Einsicht herleiten
zu können, ist bisher ein vergeblicher Versuch gewesen; denn wie Schwere,
Bewegung und jede andre der tausend wirkenden Kräfte des Weltalls mit dem
Gedanken zusammenhänge, ist immer noch ein Rätsel. Dass der Gedanke
auf viele andre ihm untergeordnete Kräfte wirke, wissen wir, ob wir gleich
die Art der Wirkung nicht einsehen. In welcher höheren Kraft aber Gedanke,
Bewegung und alle Kräfte der Natur gegründet seien, wer ist, der uns
dieses sage? Lessing selbst sagt nur, es könne
eine solche Kraft geben, bekennt aber selbst, dass wir nicht im Stande seien,
etwas von ihr zu gedenken.
THEOPHRON. Wie, wenn ich Ihnen
aus Spinoza selbst zwar nicht eine einzelne höhere
Kraft oder Gattung Kräfte,
aber den reellen Begriff nennte,
in welchem alle Kräfte nicht nur gegründet sind, sondern den sie auch
allesamt nicht erschöpfen? Er hat jede Eigenschaft, die Lessing
von seiner unbekannten Kraft fordert, »er
ist unendlich vortrefflicher als jede einzelne Wirkung einer einzelnen Kraft
und gibt wirklich eine Art des Genusses, der nicht nur alle Begriffe übersteigt,
sondern auch (zwar nicht außer,
aber) über
und vor jedem Begriffe liegt«,
weil jeder Begriff ihn voraussetzt und auf ihm ruht.
PHILOLAUS. Und dieser Begriff
ist -?
THEOPHRON.
Wirklichkeit, Realität, tätiges
Dasein; es ist der Hauptbegriff bei Spinoza,
der Grund und Inbegriff aller Kräfte. Wirklichkeit,
Realität, Dasein ist vortrefflicher als jede seiner Wirkungen; es gibt
einen Genuss, der einzelne Begriffe nicht nur übersteigt, sondern mit ihnen
auch nicht auszumessen ist; denn die Vorstellungskraft ist nur eine
seiner Kräfte, der viele andere Kräfte gehorchen.
So ist's bei Menschen; bei allen eingeschränkten Wesen muss es derselbe
Fall sein; und bei Gott?
PHILOLAUS. Auf die eminenteste Weise. Seine Existenz ist die
Wirklichkeit selbst, Urgrund aller Wirklichkeiten, Inbegriff aller Kräfte,
ein Genuss der über alle Begriffe geht.
THEOPHRON. Der aber auch völlig
außer dem Begriff liegt? Diese Behauptung liegt völlig außer
meinem Begriff; d.i. ich kann mir dabei nichts denken. Die höchste Kraft
muss sich selbst kennen; sonst ist sie eine blinde Macht, die sich selbst weder
genießen noch gebrauchen kann, der die innigste, wahrste Wirklichkeit
fehlt.
PHILOLAUS. »Er,
Spinoza, war aber fern, unsre elende Art, nach Absichten zu handeln, für
die höchste Methode auszugeben und den Gedanken obenan zu setzen.«52
THEOPHRON. Nach dem Dasein, als
dem Grunde aller Kräfte, steht der Gedanke auch bei ihm obenan; nur ist
er weit entfernt, dem Unendlichen eingeschränkte Vorstellungsarten,
Kenntnisse a posteriori, Aufhellungen
seiner selbst durch mühsames Verständnis und Einverständnis mit
Dingen außer ihm, fehlbare Beratschlagungen, willkürliche Absichten,
die er durch künstliche Mittel zu erstreben habe, zu leihen; welches eben
die Vortrefflichkeit seines Systems ausmacht.
PHILOLAUS. Lessing fragt ferner53:
»nach was für Vorstellungen sein Freund eine
persönliche, extramundane
Gottheit annehme, ob etwa nach den Vorstellungen des Leibniz«,
und fürchtete, Dieser sei im Herzen selbst
ein Spinozist gewesen.54
THEOPHRON. Was
Leibniz im Herzen gewesen sei, mag ich nicht wissen; seine »Theodicee«
aber sowie viele seiner Briefe zeigen, dass er, eben um nicht Spinozist
zu sein, sein System ausgedacht hatte. Lieber neigte er sich zu Anthropopathien
[veraltet: menschliche Erfindungen] einer
göttlichen Wahl nach Überlegung, einer Auswahl des Besseren unter
vielem Schlechtern nach Konvenienzen; Alles, um der Spinozischen
Notwendigkeit zu entkommen, die ihm Mechanismus schien, und gegen welche er
den behutsamern Ausbruch einer moralischen Notwendigkeit
wählte. Er wählte die Mitte zwischen Bayle's
Zweifeln und Spinoza's harten Ausdrücken,
zwischen welchen er durchzukommen glaubte. Allerdings geschah es mit vieler
Kunst; aber Bayle und Spinoza
lebten nicht mehr; sie konnten ihm nicht antworten.
PHILOLAUS. »Leibnizen's
Begriffe von der Wahrheit«, sagt Lessing
ferner55, »waren
so beschaffen, dass er nicht vertragen konnte, wenn man ihr zu enge Schranken
setzte. Aus dieser Denkungsart sind viele seiner Behauptungen geflossen, und
es ist bei dem größten Scharfsinn oft sehr schwer, seine eigentliche
Meinung zu entdecken«. Eben darum halt' ich ihn so wert; ich meine
wegen dieser großen Art zu denken
und nicht wegen dieser oder jener Meinung, die er nur zu haben schien oder denn
auch wirklich hatte.
THEOPHRON. Trefflich! Nur ein kleiner Kopf ist's, der sein Dutzend
schön bemalter Wortschächtelchen als Kram nicht nur, sondern als Monopolium
mit sich trägt und nicht begreifen kann, dass andre Krämer andre Schächtelchen
tragen. Dem wahren Philosophen ist an den Behältnissen überhaupt wenig
gelegen; er sieht, was drin sei, und was für ihn diene. Meinen Sie dies
nicht auch, Philolaus?
PHILOLAUS. Spinoza hat mich gelehrt,
dass je vollständiger unsre Begriffe sind, desto mehr schweigen unsre Affekte,
desto williger vereinigen sich in der deutlich erkannten Wahrheit alle menschlichen
Gemüter; denn es gibt nur eine
Vernunft, nur eine Wahrheit. Bei
Leibniz indes kann ich's nicht bergen, dass er
mir oft zu biegsam, zu hypothesenreich
scheine. Es ist seine Art, sich gern allem anzuschmiegen, damit er alles nutze
und für sich gebrauche.
THEOPHRON. Hören Sie, was
darüber Lessing anderswo sagt: »So
eingenommen«, schreibt er56,
»man sich auch Leibnizen für seine Philosophie
denken darf oder will, so kann man doch wahrlich nicht sagen, dass er sie den
herrschenden Lehrsätze aller Parteien anzupassen gesucht habe. Wie wäre
das auch möglich gewesen? Wie hätte es ihm einkommen können (mit
einem alten Sprichworte zu reden), dem Mond ein
Kleid zu machen? Alles, was er zum Besten seines Systems dann und wann tat,
war gerade das Gegenteil: er suchte die herrschenden Lehrsätze aller Parteien
seinem System anzupassen. Beides ist nichts weniger als einerlei.
Leibniz nahm bei seiner Untersuchung der Wahrheit nie Rücksicht auf angenommene
Meinungen; aber in der festen Überzeugung, dass keine Meinung angenommen
sein könne, die nicht von einer gewissen Seite, in einem gewissen Verstande
wahr sei, hatte er wohl oft die Gefälligkeit, diese Meinung so lange zu
wenden und zu drehen, bis es ihm gelang, diese gewisse Seite sichtbar, diesen
gewissen Verstand begreiflich zu machen. Er schlug aus Kiesel Feuer; aber er
verbarg sein Feuer nicht in Kiesel«.
PHILOLAUS. Wer weiß also
auch, welchem Kabbalisten er sich oder sich ihn eben damals anzupassen wollte,
als er, wie Lessing anführt, von Gott sagte,
»derselbe befinde sich in einer immerwährenden Expansion und Kontraktion;
dies sei die Schöpfung und das Bestehen der Welt«. Mich wundert,
dass Lessing an der ungeheuern Verkörperung
Geschmack fand.
THEOPHRON. In Leibniz
ist mir diese Stelle noch fremd. Dass aber Lessing sich
an ihr ergötze, woran, mein Freund, ergötzt man sich nicht manchmal
im Gespräch? Für das System des Spinoza
hielt Lessing dies Bild gewiss nicht. Wer die Schöpfung
und das Bestehen der Dinge durch eine immerwährende Expansion und Kontraktion
Gottes erklären kann, von dem möchte ich mir diese Erklärungsart
auch, wie Lessing sagt57,
»natürlich ausgebeten haben«.
Lassen Sie uns das Lessing'sche Gespräch endigen.
PHILOLAUS. Es ist zu Ende. Wir
haben also diesmal weniger gelernt, als wir wünschten.
THEOPHRON. Und doch ist mir's nicht unlieb, dass auch dies abgebrochene
Gespräch bekannt gemacht ist. Dem Verstorbnen kann es nicht schaden, wofür
ihn der schwache Sektenmacher halte, und uns ist's angenehm zu sehen, dass einem
so ausgezeichneten Denker, wie Lessing war, Spinoza
nicht unbemerkt geblieben sei58,
ja, was er aus ihm hätte machen können, wenn er Spinoza's
System auseinanderzusetzen und in die ihm eigne klare Sprache zu übertragen
sich Zeit und Muße genommen hätte. Im Buch seines Freundes werden
Sie gewiss auch viel Wahres und Schönes, männlich schön gesagt,
gefunden haben.
PHILOLAUS. Gewiss; nur muss ich
ebenso aufrichtig bekennen, Theophron, dass ich
mit seiner »persönlichen, supra- und extramundanen
Gottheit« so wenig fortkomme als Lessing.
Gott ist nicht Welt, und Welt ist nicht Gott, das bleibt gewiss; aber mit dem
extra und supra ist's, dünkt
mich, auch nicht ausgerichtet. Wenn man von Gott redet, muss man alle Idole
des Raums und der Zeit vergessen, oder unsre beste Mühe ist vergeblich.
Zweitens, kann ich's ebenso wenig bergen, dass Jacobi
mit dem Begriff nicht übereinstimmt, den ich jetzt von Spinoza's
System habe, und in welchem wir Beide uns doch Punkt für Punkt verstanden.
Also, kann ich auch in die Konklusionen nicht einstimmen;59
»Spinozismus ist Atheismus. Die Leibniz-Wolffische
Philosophie ist nicht minder fatalistisch als die Spinozistische. Jeder Weg
der Demonstration geht in den Fatalismus aus.« u.s.w.
Denn nach meiner Einsicht ist Spinozismus, wie
ihn sich Spinoza dachte, kein Atheismus; auch ist
in den harten Ausdrücken des Spinoza die Leibniz-Wolffische
Notwendigkeit mit der Spinozische nicht
einerlei;60 und dann muss man
sich von dem Wort Fatalismus, dünkt mich, so wenig schrecken lassen als
von irgend einem Worte. Hören wir darüber Spinoza
selbst:61 »Auf
eine
Weise unterwerfe ich Gott dem Fatum. Dass mit unentweichlicher Notwendigkeit
aus der Natur Gottes alles folge, denke ich mir so, wie sich Jedermann denkt,
dass aus der Natur Gottes es folge, Gott erkenne sich selbst. Dies leugnet Niemand,
und doch denkt sich Niemand dabei, dass Gott durchs Schicksal gezwungen sich
selbst erkenne; er erkennt sich frei, obgleich notwendig. Weder göttliche
noch menschliche Rechte hebt diese Naturnotwendigkeit auf. Die moralischen Vorschriften
selbst (ipsa moralia documenta),
sie mögen die Form des Gesetzes oder Rechts von Gott empfangen oder nicht,
sind dennoch göttlich und heilsam; das Gute, dass aus der Tugend und aus
der Liebe Gottes folgt, ob wir es von Gott als einen Richter empfangen, oder
wenn es aus der Notwendigkeit der Natur Gottes folgt, es wird deshalb weder
mehr noch minder wünschenswert, so wie gegenteils die Übel, die aus
bösen Handlungen und Affekten folgen, deshalb, weil sie aus ihnen notwendig
folgen, nicht weniger furchtbar werden. Bei unsern Handlungen endlich, wir mögen
sie notwendig oder zufällig tun, führt uns dennoch Furcht oder Hoffnung.
Vor Gott werden die Menschen keiner Entschuldigung fähig, weil sie in seiner
Macht sind wie Ton in der Hand des Töpfers, der aus demselben Leim Gefäße
macht, einige zur Ehre, andre zur Unehre« u.s.w.
THEOPHRON. Ohne Zweifel haben
Sie nachgedacht, wodurch sich Spinoza das sonderbare
Schicksal zubereitet hat, auch von seinen Freunden misskannt zu werden.
PHILOLAUS. Ja wohl, und ich bin
immer auf der Ursachen zurückgekommen, auf die Sie mich gleich anfangs
wiesen. Zuerst sind's harte Ausdrücke, die
in einer zum Druck nicht ausgearbeiteten, nach dem Tode des Verfassers erschienenen
Schrift mit andern verglichen und wenigstens milde ausgelegt werden sollte.Wenn
Spinoza z.B. »die menschliche Seele, sofern
wie ich die Dinge nach der Wahrheit vorstellt,
einen Teil des göttlichen
Verstandes nennt und diese deutlichen Begriffe in ihr Begriffe
Gottes nennt, nicht sofern er
unendlich ist, sondern sofern er durch die Natur der menschlichen Seele ausgedrückt
wird und ihr Wesen ausmacht, oder sofern er mit ihr auch andre Begriffe denkt«:
so lag (man dürfte nur diese sofern
auslassen) ein Missverständnis vor der Tür, das sein System
ganz aufhebt. Körper und Seele wurden also als Teile
von ihm gedacht, von ihm, dem
nach Spinoza Unteilbaren.
Man addierte Körper, man summierte menschliche Gedanken und sagte: »Siehe
Spinoza's Gott! Der unendliche Verstand bei ihm ist nichts als das Resultat
aller menschlicher, auch der Diebs- und Narrengedanken.« Hätte
man überlegt, dass Gedanken und Gedankenweisen sich nicht addieren, dass
sie addiert keine Kraft ausmachen, die unteilbar in sich selbst, unteilbar in
jeder sie darstellenden Wirkung sein soll; hätte man überlegt, dass
nach Spinoza es eine
Urkraft und in ihr ein lebendiger
Begriff ist, der die Ordnung und Verknüpfung aller Begriffe und ihrer Folgen,
mithin die Verknüpfung und Ordnung aller Dinge in sich fasst und tätig
ausdrückt: würde man ihm den seinem System widrigsten, jeder Vernunft
anstößigen Unsinn zugeschrieben haben? Ein paar unbequeme Wortformeln
waren daran Schuld, die man in einer ihm ungeläufigen Sprache ihm hätte
verzeihen können. Ebenso schädlich ist's ihm gewesen, dass er manches
seiner prägnantesten Worte nicht erklärte,
auf dessen bestimmten Sinn doch so viel ankam. So z.B. »wenn
jedes der unendlichen Attribute seines Gottes auch in allen seinen
modis und Veränderungen ein unendliches ewiges Wesen
ausdrücken soll«; was bedeutet hier das prägnante
Wort Ausdruck? Sind diese modi
bloße Symbole
oder ausdrückende Charaktere?
sind sie Repräsentanten und
Darstellungen des ewigen Wesens,
das ihr Wesen und Dasein ausmacht? Dem, der verstehen will,
hat Spinoza genug gesagt; denn sein Werk ist
eine Idee von Anfange bis ans Ende. Wer über Worte streiten
wollte, fand desto mehr zu streiten. Endlich seine an sich vortreffliche
synthetische Methode; sie schickte sich nicht hierher, wenigstens
zwang sie ihn zu Voraussetzungen und Formeln, die, durch die Analyse gefunden,
durchaus nicht auffallend gewesen wären, z.B. Substanz, Attribut, Modus
u.s.w. Getrauten sie sich nicht, Theophron, in
analytischer Form das ganze System Spinoza's ganz
unanstößig vorzustellen?
THEOPHRON. Lessing
konnte es gewiss. Was glauben Sie, Philolaus, wenn
Spinoza wieder erschiene, was würde er denen,
die ihn für einen Atheisten, Pantheisten,
Gottesverteiler, Gottessummierer u.s.w. halten, sagen?
PHILOLAUS. Mich dünkt, sehr
bescheiden und sehr entscheidend würde er fragen: »Was
macht ihr aus meinem System, dessen Grund, eine einzige ewige Idee, Ihr zerstört?
Sind Modifikationen ohne innere Realität, ist Ausdruck ohne etwas, das
sich ausdrückt, sind Gedankenweise ohne eine unbeschränkte tätige
Denkkraft denkbar? Wenn ich in einer mir ungeläufigen Sprache alles tat,
was ich tun konnte, um Euch den reinen Begriff und Genuss einer unteilbaren
Kraft vorstellig zu machen, die in sich Alles, durch und aus sich Alles im
innigsten Selbst mächtig fühlt, wirkt und darstellt;
wenn ich Euch dies Wesenhafte analogisch in Euch selbst darstellte, um Euch
dadurch zur höchsten Freude und Seligkeit zu führen: wie? Ihr wolltet
mir andichten, dass ich das Eins zum Nichts, das tätige Wesen zu einem
leeren Säckel und Kollektivnamen von Schatten, die ohne Licht ja auch nicht
Schatten sein könnten, gemacht, dass ich die Sonne ausgelöscht hätte,
um aus allen Funken der Johanneswürmer eine Unsonne zu fabrizieren - ich
bitte Euch, lest andre als meine, zwar nicht im Geist, aber im Ausdruck unvollendete
Schriften!«
THEOPHRON. Genug, Sie sprachen von
dem Schätzbaren, das Sie sonst in diesem kleinen Buch62
fanden.
PHILOLAUS. Das Schätzbarste war mir die Denkart des Verfassers,
der auch im Gespräch mit Lessing vorzüglich
darauf hinausgeht, »Vernünfteln sei nicht das
ganze Wesen, nicht der ganze Bestand menschlicher Denkkraft. Wie Allem, so auch
dem edelsten Kräften unsrer Natur liege Dasein
zum Grunde; dies könne nicht in Vernünftelei aufgelöst oder gar
durch sie hinwegraisonniert werden. Ohne Existenz und eine Reihe von Existenzen
dächte der Mensch nicht, wie er denkt; folglich müsse der Zweck seiner
Gedanken sein, nicht, sich Hirngespinste zu erträumen, mit Scheinbegriffen
und Scheinworten wie mit einer selbstgemachten Wirklichkeit zu spielen, sondern,
wie er's nennt, Dasein zu enthüllen,
solches als etwas Gegebnes aber (nach seinem Ausdruck)
als eine Offenbarung Gottes anzunehmen,
über welche und hinter welche man nicht hinaus kann. Seine Sinne müsse
man durch Erfahrung, seinen innern Sinn durch Wahrheitsliebe, Ordnung und Zusammenhang
im Denken reinigen und schärfen, willkürlichen Verbindungen existenzloser
Scheinbegriffe, d.i. dem trägen, toten Nichts entsagen und dafür,
was da ist, in den Eigenschaften und Beziehungen,
wie es da ist, kennen lernen. Ein solches Erkenntnis mit innigem
Gefühl der Wahrheit verbunden, sei allein wahr, dies allein helle den Geist
auf, bilde das Herz, bringe Ordnung und Regelmäßigkeit in alle Verrichtungen
unseres Lebens; da hingegen jene Grübelei, ohne ein Dasein von außen
und Regeln der Wahrheit von innen vorauszusetzen, den Kopf öde und das
Herz leer mache.«
THEOPHRON. Vortrefflich! Jene
menschliche Erkenntnis ohne und vor aller Erfahrung, jene sinnlichen Anschauungen
ohne und vor aller sinnlichen Empfindung eines Gegenstandes nach eingepflanzten
Formen der Denkkraft, die ihr von Niemanden eingepflanzt worden, sind Undinge,
die Jedem, der seine eigne Existenz wahrnimmt, den Kopf veröden. Auch wir,
Philolaus, haben in unserm Gespräch den heiligen
Namen oft als ein bloßes Symbol brauchen müssen: wie wäre es,
wenn wir den Luftgang unterbrächen? Sie kennen und sprechen die erquickende
Sprache der Töne; wohlan! hier ist ihr Werkzeug.
PHILOLAUS. Ich spreche gern diese
Geistessprache:
Lobt den gewaltigen, den gnäd'gen
Herrn,
Ihr Welten seines Alls!
Ihr Sonnenheere, flammt zu seinem Ruhm,
Ihr Erden singt sein Lob!
Der Widerhall lob' ihn, und die Natur
Ging' ihm ein froh Konzert!
Und Du, der Erden Herr, o Mensch, zerfließ
In Harmonien ganz!
Dich hat er mehr als Alles sonst beglückt;
Er gab dir einen Geist,
Der durch den Bau des Ganzen dringt und forscht
Die Räder der Natur.
Erheb ihn hoch zu Deiner Seligkeit!
Er braucht kein Lob zum Glück.
Die niedern Neigungen und Laster fliehn,
Wenn Du zu ihm Dich schwingst.
Die Sonne steige nie aus roter Flut
Und sinke nie darein,
Dass Du nicht Deine Stimme einigest
Der Stimme der Natur.
Lob ihn in Regen und in dürrer Zeit,
Im Sonnenschein und Sturm,
Wenn's schneit, wenn Frost aus Wasser Brücken baut,
Und wenn die Erde grünt!
In Überschwemmungen, in Krieg und Pest
Trau ihm und sing ihm Lob!
Er sorgt für dich; denn er erschuf zu Glück
Das menschliche Geschlecht.
Und o, wie liebreich sorgt er auch für mich!
An Ruhm und Goldes Statt
Gab er mir Kraft, die Wahrheit einzusehn,
Und Freund' und Saitenspiel.
Erhalte mir, o Herr, was du mir gabst!
Mehr brauch' ich nicht zum Glück.
Mit heil'gem Schau'r will ich, ohnmächtig sonst,
Dich preisen ewiglich.
In finstern Wäldern will ich mich allein
Mit dir beschäftigen
Und seufzen laut und nach dem Himmel sehn,
Der durch die Zweige blickt.
Und irren aus Gestad' des Meeres und Dich
In jeder Woge sehn
Und hören Dich im Sturm, bewundern in
Der Au' Tapeten Dich.
Ich will entzückt auf Felsen klimmen, durch
Zerrissne Wolken sehn
Und suchen Dich den Tag, bis mich die Nacht
In heil'ge Träume wiegt.
THEOPHRON.
Ich danke Ihnen, Philolaus.
Möchte man nicht von der Musik sagen, was Banini von seinem Strohhalm sagte:
»Wäre ich so unglücklich, am Dasein Gottes
zu zweifeln, und hörte Musik, so würde sie mir Demonstration sein«?
PHILOLAUS. Da sind Sie von einer sehr alten Denkart, Theophron;
denn neuerlich hat man es sich klargemacht, dass es eine Demonstration von Gott
weder könne noch gebe.
THEOPHRON. Und ich möchte
behaupten, dass es ohne den Begriff Gottes, d.i. einer selbstständigen
Wahrheit, keine Vernunft, viel weniger eine Demonstration gebe. Denn ohne noch
irgend den Ursprung der Kräfte
in Betracht zu ziehen, die denken, handeln, wirken, und die der über sich
selbst steigende Philosoph doch nie aus unsrer Welt wegleugnen kann, so ist
schon die Verknüpfung dieser Kräfte,
wie alle ihrem Wesen nach wirken und sich in meiner Seele verbinden, mir
Beweises genug von einem wesentlichen Grunde innerer
Wahrheit, Übereinstimmung und Vollkommenheit, die ihr Dasein selbst einschließt.
Dass es etwas Denkbares gibt, dass diese Denkbare nach
innern Regeln verknüpft werden kann und bei unzählbaren
Verknüpfungen dieser Art sich Harmonie und
Ordnung zeigt, schon das ist
mir Demonstration von Gott, und wenn ich ein unglückseliger Egoist wäre,
der sich das einzige denkende Wesen in der Welt zu sein einbildet. Zwischen
jedem Subjekt und Prädikat steht ein Ist
oder Ist nicht;
dies Ist, diese Formel der Gleichung und Übereinstimmung verschiedener
Begriffe, das bloße Zeichen = ist meine Demonstration von Gott. Denn,
nochmals gesagt, es gibt eine Vernunft,
eine Verknüpfung des Denkbaren in der Welt nach unwandelbaren Regeln; mithin
muss es einen wesentlichen Grund dieser Verknüpfung
geben. Die Regel dieser Verknüpfung hat niemand willkürlich
ersonnen, so wenig sie irgend ein mit Raum und Zeit befangenes, denkendes Wesen
willkürlich übt. Sie ist in der Geisterwelt eben das, was die Regel
des Gleichgewichts unter den Körpern ist: sie trägt ihre innere Notwendigkeit
mit sich. Es gibt also eine solche innere Notwendigkeit,
d.i. eine selbstständige Wahrheit.
PHILOLAUS. Und diese selbstständige Wahrheit wohnt -
THEOPHRON. In allem, was da ist, objektiv oder subjektiv betrachtet.
Unsre Kenntnisse sind aus Sinnen und aus der Erfahrung geschöpft wir müssen
wahrnehmen, Ähnlichkeiten zusammenhalten, allgemeinere Begriffe aus individuellen
Verschiedenheiten absondern und läutern; dies Alles ist ein Weg, der Irrtümer
im Wahrnehmen, im Absondern, im Verbinden und Trennen der Begriffe nicht nur
möglich, sondern beinah unvermeidlich macht: ein notwendiges Los der Menschheit.
Die Regel aber in unsrer Seele, nach welcher wir wahrnehmen,
absondern, schließen und verbinden, ist eine göttliche
Regel; auch im Irrtum haben wir nach ihr gehandelt und mussten
nach ihr handeln, selbst wenn alle Gegenstände des Denkens Wahn wären.
Nun betrachten Sie reine Wahrheiten, Wahrheiten z.B. der Geometrie. Für
unsre Sinne gibt es vielleicht keinen vollkommenen Zirkel in der Natur; wenn
es aber auch keinen gäbe, so ist mir der gedachte mathematische Zirkel
mit Allem, was in ihm nach innerer Notwendigkeit gesetzt und bewiesen wird,
Demonstration einer selbstständigen göttlichen Wahrheit. Er beweist
mir nämlich, dass es eine mathematische Vernunft
in der Welt gebe, und da uns unsre Sinne nicht zulassen, sie
allenthalben in der Natur zu erkennen und anzuwenden, so sagt doch seiner Struktur
und Absicht nach jeder Sinn und
ihrem Wesen nach die uns einwohnende Vernunft, dass, wenn es denkende Wesen
gibt, die auch mit feineren Sinne die Welt anschauen, sie
nach eben dieser einzigen notwendigen
Regel denken, dass also auch das Wesen, das die Ursache meiner
und jeder Vernunft ist,
dieselben innern Gesetze der Gedanken auf die eminenteste Weise kennen
müsse, die es seinen Wirkungen zu Grundgesetzen des Daseins
nicht anders als machen konnte. Sie schweigen, Philolaus?
PHILOLAUS. Wie? wenn ein kritischer
Philosoph Ihren Beweis bloß hypothetisch nennte: »wenn es eine Vernunft
gibt, wie aber, wenn es keine gäbe«?
THEOPHRON. So gäbe es keine;
ein Philosoph, der seine Vernunft aufgibt oder Vernunft leugnet, kann freilich
keine Demonstration, wovon es auch sei, haben. W. z. e. Aber Scherz beiseite!
Sobald der Philosoph ein Philosoph wird, d.i. sobald er Vernunft anerkennt und
sich deutlich macht, was sie sei, sobald ist ihm eine wesentliche
Notwendigkeit in Verknüpfung der Wahrheiten im Begriff
der Vernunft selbst gegeben. Ich getraue mich zu sagen, dass dies die einzige
wesentliche Demonstration von Gott sei (mehrere
wesentliche kann es auch nicht geben), die bei allen Beweisen wiederkommt,
die aber nirgends so scharf und rein erscheint als bei den Gesetzen unseres
Verstandes.
Alle Beweise z.B. aus der Natur, wo wir notwendige Gesetze der Bewegung und
Ruhe, des Bestandes der Dinge nach einem Verhältnis ihrer innern Kräfte
u.s.w. wahrnehmen, setzen dieselbe Regel zum Grunde, die wir am Reinsten bei
unsrer Vernunft bemerken, nämlich: »dass jedes
Ding ist, was es ist, das sein Wesen auf Kräften, sein Bestand auf einem
Ebenmaß dieser Kräfte, seine Wirkung auf Verhältnissen derselben
zu anderen Dingen beruhe; und zwar dies slles nicht aus willkürlichen Absichten,
die wir ganz beiseite setzen, sondern aus innern
Gesetzen der Notwendigkeit, aus welchen Bestand und Zerstörung,
Zusammensetzung und Auflösung, Bewegung, Ruhe und Wirkung folgen«.
Jede wahre Physiko-Theologie entwickelt also nichts als
ewige Vernunft und Kraft nach notwendigen Gesetzen, im Bau der
Geschöpfe, in ihrer ganzen Verbindung nach Ort und Zeit. Sie enthält
überall einen und denselben Schluss, eine und die selbe Anschauung in tausend
Beispielen und Gegenständen, vom verschwindenden Kleinsten bis aufs unübersehbare
Größte. Die Musik z.B., mit der Sie mich ergötzt haben, ist
eine Formel notwendiger, ewiger Harmonie, auch
wenn mein Ohr sie nicht hörte, auch wenn, abstrahierend von aller Wollust
derselben, sie bloß ein Verstand berechnete und mäße. Dass
mein Ohr, dass meine Empfindung für die Musik geschaffen ist, dass sie
auf so viele mir gleichgestimmte Wesen einerlei Wirkung tut: das alles macht
zwar den Beweis der in ihr wohnenden Harmonie lebhafter, es setzt aber seinem
demonstrativen Wert nichts hinzu. Denn wenn auch kein Ohr in der Welt und das
Wesen der Musik bloß von einem rechnenden Verstande gedacht wäre,
so wäre der Beweis vollendet.
PHILOLAUS. Ich muss meinen Scherz wiederholen. Wie, wenn durchaus
kein rechnender Verstand wäre?
THEOPHRON. So muss ich auch meine
Antwort wiederholen. Gibt es keinen rechnenden Verstand, so gibt es auch nichts
Berechnetes, mithin auch keine Harmonie und Ordnung, die eine
Berechnung des Verstandes ist. Räumen wir alles Denkende
weg, so ist nichts Denkbares, alles Wirkliche, so ist nichts wirklich. Wo gelangen
wir aber mit solchen Sophistereien hin? und sind sie der Philosophie würdig?
Zertreten Sie die ewigen Grundsätze der Vernunft und lösen solche
in hypothetische Wortgespinste ohne Existenz und
notwendiges Erkenntnis einer inneren Wahrheit auf: freilich
so ist keine Demonstration nicht nur einer, sondern keiner Existenz möglich.
Was haben Sie damit aber getan, als den Grund alles Denkens aufgehoben? und
wie ist nun ohne zusammenhängendes Denken Philosophie möglich? Überzeugen
mich schon meine Sinne vom Dasein nach ihrer Art,
d.i. auf eine dunkle verworrene Weise, wie sollte mich meine Vernunft nicht
vom Dasein nach ihrer Art, d.i.
durch deutlich verknüpfte, vollständige Begriffe überzeugen?
Verlange ich aber von ihr, dass sie mir ihre Begriffe als sinnliche Anschauungen
ohne sinnliche Anschauung gebe oder mir das Dasein sinnlicher Gegenstände,
die in ihr Gebiet nicht gehören, als reine Vernunftwahrheiten demonstriere,
und tadle sie, dass sie das nicht wolle oder vermöge: so hat mein Tadel
nicht mehr Grund, als wenn ich die Farbe hören, das Licht schmecken und
den Schall sehen wollte. Wir wollen uns hüten, Philolaus,
dass wir nie in diese Gegend der »Hyperkritik
des gesunden Verstandes« geraten, wo man ohne Materialien
baut, ohne Existenz ist, ohne Erfahrungen weiß und ohne Kräfte kann.
Die Begriffe dieses Reichs sind wie die Fata Morgana
scheinbare Richtigkeiten zurückgeworfener Bilder ohne Haltung,
ohne Dauer, die schlechtesten Phantasmen, die es in der Welt gibt, spekulative
Phantome, ein Wust der Sprache.
PHILOLAUS. Sie bauen also Ihre
Demonstration nicht auf den Begriff der Ursache und Wirkung?
THEOPHRON. Ich nehme diese Begriffe aus der Erfahrung; ins Gebiet
der Demonstration aber weiß ich sie nicht anders als unter dem Begriff
des Daseins zu verpflanzen, weil ich weder was Ursache, noch was Wirkung sei,
viel weniger das Band zwischen beiden deutlich erkenne. Demonstrieren lässt's
sich bei keiner Erfahrung, dass dies die Wirkung jener Ursache sei, ob wir wohl
sinnlich klar erkennen oder mutmaßen, dass sie es sein müsse, weil
wir beide oft und immer zusammen oder nach einander fanden. Ihnen ist bekannt,
welche Fehlmutmaßungen man hierüber selbst im Lauf der täglichen
Erfahrung bei den gemeinsten Dingen oft gemacht habe; und der Grund davon ist
sichtbar, weil jeder Schluss von Ursache auf Wirkung oder umgekehrt von Wirkung
auf Ursache als Erfahrungssatz nie Demonstration, sondern immer nur eine Mutmaßung
im Reich der Sinnlichkeiten war. Wir wissen nicht was Kraft
ist, noch wie sie wirke; wir sehen ihre Wirkung nur als Zuschauer
und bilden uns daher analogische Urteile. Selbst die allgemeinen Regeln hierüber,
die wir auf's Beste bewährt finden, können wir nie demonstrieren.
Was sollten wir inniger kennen als die Kraft, die in uns denkt und wirkt? Wir
kennen sie indes so wenig als jede andre, die außer uns ist. Selbst die
Gedanken meiner Seele, als Wirkung betrachtet, begreife ich nicht; nur dann
sind sie mir begreiflich, wenn ich sie immanent
als Dasein, d.i. »als ewige Wahrheiten
zum Wesen meiner Vernunft gehörig« unter die Regel einer innern
Notwendigkeit zu bringen vermag. Dahin also habe ich auch in Ansehung Gottes
meinen Beweis eingeschränkt; wer zu viel beweisen will, läuft Gefahr,
dass er nichts beweise.
PHILOLAUS. Also werden Sie Sich auch über die Art der Schöpfung
nicht erklären, ob sie Hervorbringung, Emanation
u. dergl. sei?
THEOPHRON. Wie könnte ich dieses, da ich nicht weiß,
was Schaffen, was Hervorbringen heiße? Die gemeine Vorstellungsart ist,
dass Gott die Welt aus sich herausgedacht habe;
sie scheint die reinste zu sein, weil wir von keiner reinern Wirkung als vom
Gedanken unsrer Seele Begriff haben; auch haben sich Leibniz
und alle helldenkende Köpfe an sie gehalten, weil ihnen die Erfahrung
kein besseres Bild, die Sprache keinen besseren Ausdruck gab. Die Gedanken unsrer
Seele, sagt man, sind an sich unwirksame Bilder; die Gedanken Gottes, mit ihrer
Allmacht begleitet, waren höchst wirksam. Er
dachte, und es ward; er wollte, und es stand da. Ich glaube,
es gibt über eine für uns unerklärliche Sache keine behutsamere
Formel.
Indessen schließt sie uns das Wesen der Wirkung nicht auf; vielmehr muss
man sich auch bei diesem »heraus«
vor bösen Symbolisationen hüten. Die große Vorstellungsart
z.B., dass Gott nach Millionen Ewigkeiten die Welt aus sich »herausgedacht«habe,
wie eine Spinne das Gewebe aus sich zieht, ist unerträglich.
PHILOLAUS.
Die gröbere Emanation wird
es Ihnen also noch mehr sein, und doch gibt man selbst dem
Spinoza Schuld, dass er sein System aus dem Kabbalismus der Juden entlehnt
habe.
THEOPHRON. Wer hat Ihnen das eingebildet, Philolaus?
PHILOLAUS. Es ist eine sehr gemeine
Meinung, die Spinoza selbst veranlasst63
und vor allen Wachter war ein gelehrter
Mann, den ich in jedem andern Betracht, nur nicht als einen Philosophen ehre.
Als ein reisender Jüngling von einigen zwanzig Jahren stritt er gegen einen
Juden und wollte den Spinozismus im Judentum finden;
einige Jahre darauf war der selbst ein Freund der Kabbala
und wollte seiner ersten Idee zufolge die Lehre des Spinoza
mit ihr vereinigen64. Mich
dünkt, die Philosophie des Spinoza ist von
der Kabbala ebenso verschieden, als es vergebliche Mühe ist, diese durch
jene läutern zu wollen. Die Kabbala ist eine
Symbolik guter und schlechter, im ganzen aber schwärmerischer, dunkler
Vorstellungen in ungeheuern Bilder, mit denen der reine heitre philosophische
Sinn Spinoza's sich nicht genügen konnte;
sonst wäre er ein Jude geblieben. In seiner ganzen »Ethik«
finden Sie kein Bild, und seine wenigen Gleichnisse sind ihm fast missraten.
In diesem Betracht ist er ein Antipode der Kabbala,
so natürlich es übrigens wäre, dass er als ein im Judentum Erzogener,
ein Schüler des berühmten Morteira, gleichsam
eine hebräische Ansicht der Dinge in die Cartesische
Philosophie gebracht hätte. Die erste Form des Denkens verlässt
uns nie ganz, und da Spinoza zum
Cartesischen System in einer fremden Sprache gelangte, so war es natürlich,
dass er sich solches nach der seinigen typisierte, daher er auch synthetisch
mit dem wesentlichen Begriff Gottes anhob. Mit der eigentlichen Kabbala
aber, noch weniger mit ihren Emanationen (die
doch von den Juden ebenso wenig erfunden sind, als wenig sie zu ihrer Theologie
gehören) hat das System des Spinoza
nichts zu schaffen. Wo er die Worte »Hervorbringung,
Wirkung« brauchen muss, braucht er sie, ohne die Art der
Hervorhebung zu erklären; am liebsten ist ihm aber, das Wort Ausdruck.
» Die Welt drückt Eigenschaften der Gottheit aus, unendliche
auf unendliche Weisen«; diese Redart ist eher mathematisch
als kabbalistisch. Von Ausflüssen aus Gott redet Spinoza
nie; einem geometrischen Geist sind dergleichen Bilder auch nicht die liebsten.
Leibniz bediente sich einmal, um die Wirkung Gottes
zu erklären, des Ausdrucks »Fulgurationen«
[Ausblitzungen],
wobei er auf das Bild der Sonnenstrahlen anspielte; bei Kästner65
können Sie lesen, wie lächerlich man das Bild in der
Folge gedeutet. Also wenn wir von Gott reden, lieber keine Bilder! Auch in der
Philosophie ist dies unser erstes Gebot wie im Gesetz Moses'.
PHILOLAUS. Vom Unrat der Kabbala
hielt der sich gewiss frei, der über die Bildausdrücke der alten Schriften
seiner Nation selbst so strenge urteilte. Genug indessen, seine Philosophie
ging nicht vom Cartesischen: Ich
denke, darum bin ich, sondern vom heiligen Namen seiner Väter
aus: »Ich bin, der ich bin, und werde sein
der ich sein werde«. Diesen Begriff, der die höchste,
völlig unvergleichbare Existenz in sich sowie alle Emanationen ausschließt,
ihn durfte Spinoza nur entwickeln, und der größte
Teil seines Systems lag vor ihm. Es gibt keinen absolutern, reineren, fruchtbareren
Begriff in der menschlichen Vernunft als ihn; denn über das ewige, durch
sich bestehende, vollkommenste Dasein, durch welches Alles gesetzt, in welchem
Alles gegeben ist, lässt sich nicht steigen. Wie klein ist dagegen das
Bild der Weltseele!
THEOPHRON. Es ist ein menschliches
Bild, und wenn
es vorsichtig gebraucht wird, kann von der innig - einwohnenden Kraft Gottes
manches dadurch anschaulich gesagt werden; wie denn auch Spinoza
diese Analogie gebraucht hat. Indessen bleibt es ein
Bild, das ohne die größte Vorsichtigkeit sogleich
missrät. Lesen Sie z.B. die Stelle wie Lessing
es sich im Scherz dachte.
PHILOLAUS. »Wenn Lessing
sich eine persönliche Gottheit vorstellen wollte; so dachte er sie als
die Seele des Alls«.66
THEOPHRON. Merken Sie, wenn er sich eine persönliche
Gottheit vorstellen wollte; er hatte aber gegen diese Persönlichkeit
vorher selbst protestiert; und wie könnte man auch die Seele im Körper
eine Person nennen?
PHILOLAUS. »Und
das Ganze dachte er sich nach der Analogie eines organischen Körpers. Diese
Seele des Ganzen wäre also, wie es alle andre Seelen nach allen möglichen
Systemen sind, als Seele nur Effekt.«
THEOPHRON. Erwägen Sie: »Gott,
die Seele des Ganzen, ein Effekt! alle andre Seelen, nach allen möglichen
Systemen Effekte!« Effekte wovon? Gott ein Effekt wessen? Des Ganzen?
des organischen Körpers? und das wären
nach allen möglichen Systemen alle Seelen? Effekte?67
PHILOLAUS. »Der
organische Umfang derselben (Seele) könnte
nach der Analogie der organischen Teile dieses Umfanges insofern nicht gedacht
werden, als er sich auf nichts, das außer ihm vorhanden wäre, beziehen,
von ihm nehmen und ihm wiedergeben könnte«.
THEOPHRON. Hier bekommt Gott als
Seele der Welt schon einen organischen Umfang, Teile dieses Umfanges; er muss
sich auf etwas beziehen, das außer ihm vorhanden ist, von dem er nehmen,
was er wiedergeben könne.
PHILOLAUS. »Also,
um sich im leben zu erhalten, muss Gott von Zeit zu Zeit sich in sich gewissermaßen
zurückziehen, Tod und Auferstehung mit dem Leben in sich vereinigen. Man
könnte sich von der Ökonomie eines solchen Wesens mancherlei Vorstellungen
machen« u.s.w. Scherz! nichts als Scherz! wie Lessing's
Freund unmittelbar darauf selbst sagt,68
»dass er die Idee der Weltseele bald
im Scherz, bald im Ernst gewendet habe«.
THEOPHRON. Sie kennen Lessing's
Art, die Sache so zu wenden. »Es regnet. Das tue
ich vielleicht,«69
u.s.w. Offenbar wollte er damit das Bild in seiner schlimmsten Übertreibung
darstellen, d.i. persiflieren.
PHILOLAUS. Indessen, mein Freund, verlangen wir doch nach einer
Vorstellung des Weltganzen. Am Einzelnen mag unsre Seele sich nie begnügen,
und wenn das Ganze, wie ich freilich einsehe, kein Riese sein kann, »der
sich gegen das Nichts sträubt, sich mit schrecklichen Kontorsionen [Verdrehungen,
Verrenkungen] in sich selbst zurückzieht, sich wieder ausdehnt
und also Tod und Leben schafft, damit der Ewiglebende sich nur von Zeit zu Zeit
sich selbst im Leben erhalte«, wenn dies alles freilich nichts
ist, welche Vorstellung soll ich mir denn vom Ganzen der Welt bilden?
THEOPHRON. Keine sinnliche Vorstellung,
Philolaus! Das Endlose gibt kein Bild; das absolut Unendliche, Ewige
noch minder. Merken Sie, wie unser Haller alle Kräfte
seiner Phantasie aufbietet, das Endlose zu schildern; er kann's nicht.
»Unendlichkeit! wer misset Dich?
Bei Dir sind Welten Tag' und Menschen Augenblicke.
Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich,
Und tausend bleiben noch zurücke.
Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht,
Eilt eine Sonn' aus Gottes Kraft bewegt:
Ihr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt,
Du aber bleibst und zählst sie nicht.«
Mit dem letzten Zuge hat der Dichter sein ganzes Gemälde selbst vernichtet. So tut er's mit seinem Bilde der Ewigkeit:
»Die schnellen Schwingen der
Gedanken,
Wogegen Zeit und Schall und Wind
Und selbst des Lichtes Flügel langsam sind,
Ermüden über Dir und hoffen keine Schranken.
Ich häufe ungeheure Zahlen,
Gebirge Millionen auf,
Ich wälze Zeit auf Zeit und Welt auf Welt zu Hauf;
Und wann ich von der grausen Höhe
Mit Schwindeln wieder nach Dir sehe,
Ist alle Macht der Zahl, vermehrt mit tausend Malen,
Noch nicht ein Teil von Dir;
Ich zieh' sie ab, und Du liegst ganz vor mir.«
Lassen Sie uns also selbst von einem
Dichter lernen, auf metaphysische Phantasmen und leere Anschauungen eines endlosen
Raums, einer endlosen Zeit, geschweige des unteilbar-ewigen Daseins in Bildern
Verzicht zu tun. Philosophie ist nicht Phantasterei; nichts als Ungeheuer kann
diese erzeugen, von denen es jeden, nur nicht den Erfinder selbst schaudert.
PHILOLAUS. So möchte ich denn ohn' alle Bilder Naturgesetze
der Haushaltung Gottes, ausdrückende Symbole
der höchsten Wirklichkeit, einer notwendigen Güte und Weisheit kennen
lernen. Denn, Theophron, der Gordische Knoten in
Spinoza's System liegt noch vor mir, das Rätsel:
»Wie entstand, wenn nur eine Substanz diesen Namen verdient, der Wahn
oder die Wahrheit einzelner, vieler zahlloser Substanzen?«
THEOPHRON. Wir wollen die morgige
Abendstunde zur Unterredung wählen. - Ist Ihnen dieser Hymnus bekannt?
er gibt kein Bild von Gott, aber etwas Besseres als Bilder.
Gott.70
Der Einzige, der Allen Alles ist,
Ist unser Gott! Geschöpfe, betet an!
Den Nichterschaffenen, den Einzigen,
Den Ewigen, Geschöpfe, betet an!
Du seine große, weite, schöne Welt
Mit allen Deinen Feuerkugeln dort!
Du warest nicht, Du wurdest und Du bist
In Deiner Pracht. Geschöpfe, betet an!
Zehntausend seiner Sonne traten hin
Und gehen ewig ihren großen Gang.
Zehntausend seiner Erden traten hin
Und gehen ewig ihren großen Gang.
Zehntausend Myriaden Geister stehn
Um seinen Thron. - Um seinen Thron? - Hinweg
Mit seinem Thron! Er sitzt, er stehet nicht,
Er ist kein König, kein Kalif. Er ist
Das Wesen aller Wesen; er ist Gott,
Ist unser Gott! Geschöpfe, betet an!
Wer ist, den er zu seiner Werkstatt rief,
Dahinzutreten und zu sehn, zu sehn -
Wie er es macht? Wie er den Ozean
In so geschmeidigem Gehorsam hält,
Daß seines Wassers nicht ein Tropfe fort
Aus seiner Tiefe will! wie er den Mond
An einen dünnen Faden bindet und
In blauer Luft ihn schweben lässt; wie er
In Zeit von Rosses oder Reiters Hui
Zehntausend Millionen Sonnenfernen misst
Und keines Apfels, keines Staubes fehlt!
Wer ist wie er? Auf seiner Erde wohnt
Kein ihm ergebener, erhab'ner Geist,
Und keiner blickt von seinem Wolkenzug
Uns seinem Morgenrot, der mir es sagt,
Wie er es macht! Kein Seher Gottes ist,
Kein Heiliger, kein Frommer, der es weiß.
Von Dir, Du kleiner Ball, auf welchem wir
Zehntausend Millionen Ballen dort
Nur funkeln sehen, hinauf zum Sonnenball,
Vom Sonnenball hinan zum Sirius,
Der, millionenmal so groß wie Du,
Dem armen Erdenwurm ein Punctum ist;
Von Dir, Du kleiner Käfer, bis zu Dir,
Du stolzer Adler, der den Kaukasus
Auf seinem Flug für einen Kiesel sieht;
Von Dir, Du kleine Schnecke, deren Blut
Die Hüllen stolzer Menschen färben muss,
Zu Dir, Du kluger Affe, welcher sich
Die Wangen färbt, um schön zu sein; und dann
So weiter fort zu einem Geist, der Gott,
Das Wesen aller Wesen, denken will -
Ha, welche Stufen! Welche Stufen
hier
Und dort, in allen Millionen dort!
In allem Toten, allem Lebenden
Und allem Leichten, allem Schweren! - Gott,
Der einzige, der Allen Alles ist,
Ist unser Gott! Geschöpfe, betet an!
Fünftes
Gespräch
THEANO.
Vergönnen Sie mir, meine Freude, dass ich heut Ihre sichtbare Zuhörerin
sein darf, wie ich's bisher unsichtbar gewesen. Vieles von Ihren Gesprächen
habe ich nicht verstanden, und auch heut begehre ich nicht eben alles zu verstehen;
genug für mich wenn ich nur im Ganzen dem Sinn Ihrer Unterredung folge.
Meine Gegenwart soll sie nicht stören; ich werde schweigend meine Arbeit
verrichten und nur mit meinen Gedanken Sie begleiten.
THEOPHRON. Sie sind willkommen unserm
Gespräch, Theano; denn auch Sie haben gewiss
nichts dagegen, Philolaus, dass Theano
zuhöre?
PHILOLAUS. Sehr
viel, wenn sie bloß zuhören wollte. Sie müssen Sich in unser
Gespräch mischen, Theano, und ihm, wenn es
sich in eine leere Scholastik verirrt, wieder auf den Schauplatz der Menschheit
helfen. Versprechen Sie uns dies?
THEANO. Ich
will Sie so wenig unterbrechen, als es sein kann, und Ihren dafür gleich
jetzt zum Gespräch helfen. Sie wünschten gestern, Philolaus,
Regeln der Haushaltung Gottes in der Welt oder,
wie Sie es nannten, ausdrückende Symbole seiner Wirklichkeit, Macht, Weisheit
und Güte kennen zu lernen: wie ist's möglich, dass
Theophron aus dem Ozean, der uns umfließt,
einige Tropfen schöpfe? Fast mit Widerwillen hörte ich Sie gestern
Meinungen anführen, als ob das Dasein Gottes unerweislich sei, und wunderte
mich, Theophron, dass Sie sich in dies Wortgewirr
einließen. Das Dasein eines Wesens kann, wie mich dünkt, nur durch
Dasein und durch die Erfahrung desselben, nicht durch willkürliche Begriffe
und leere Worte erkannt werden, so wenig als es durch diese auch weggeräumt
werden mag. Man hat ein Sprichwort, dass man durch Träume weder reich noch
satt werde; durch Worte wird man's ebenso wenig. Wir sind Menschen, und als
solche, dünkt mich, müssen wir Gott kennen lernen, wie er sich uns
wirklich gegeben und dargestellt
hat. Durch Begriffe empfangen wir ihn als einen Begriff, durch Worte als ein
Wort; durch Anschauung der Natur, durch den Gebrauch unsrer Kräfte, durch
den Genuss unseres Lebens genießen wir ihn als wirkliches Dasein voll
Kraft und Leben. Nennen Sie, abstrakte Herren, dies Schwärmerei, so will
ich gern eine Schwärmerei sein; denn ich mag lieber die wirkliche Rose
sehen und genießen, als von einer erdichteten, gemalten Rose mit ödem
Kopfbrechen träumen.
THEOPHRON. Wohl,
Theano! Sie sehen doch
aber die Rose, die Sie genießen, und werden Sich dieses Genusses wegen
die Augen nicht verbinden. Und was arbeiten Sie da? Sie sticken selbst diese
Blume. Sie ahmen also einer Kunst der Natur nach, die Ihnen nur Ihr bemerkendes
Auge sichtbar machte und jetzt das Auge Ihrer Seele, Ihre lebhafte Erinnerung
der Nadel gleichsam vorzeichnet. Schließen Sie also von keinem Gefühl,
von keinem Genuss der Schöpfung den Gedanken aus; er ist uns zum Innenwerden
Gottes so notwendig als Ihrer
arbeitenden Nadel das Bild der Zeichnung in Ihrer Seele. Der verkennt die Menschheit,
der den Schöpfer nur schmecken und fühlen wollte, ohne ihn zu sehen
und zu erkennen.
THEANO. Den Vorwurf verdiene ich
nicht, Theophron, da ich unsern Philolaus
eben vor einem gleichen Fehler einseitiger Trennung warne. Ich habe die
Philosophie herzlich gern, wenn sie bei Gegenständen, bei wahren Dingen
der Natur bleibt und solche ins Licht setzt. Ich habe mich sehr gefreut, da
Sie Ihren Freund auf die innere Schönheit, Güte und Wahrheit aufmerksam
machten, die allen Gegenständen der Schöpfung nicht als Willkür
aufgeheftet ist, sondern als Wirklichkeit selbst in jedem Wesen liegt und dies
Wesen ausmacht. Seit der Zeit bemühe ich mich, in allem, was um mich ist,
diesen Punkt der reinen Notwendigkeit auszufinden, und bemerke in ihm immer
Wahrheit, Güte, Schönheit. Ich wollte, dass ich mein Leben hindurch
alle meine Geschäfte, meine kleinste Kunst, ja selbst diese armselige Blume
so schaffen und einrichten könnte, dass die webende
Minerva selbst sagen müsste: »Anders als also konnte sie nicht
gemacht werden.« Wie viel Trost, welche süße Anmut liegt in
dem Wort »Notwendigkeit« insonderheit für unser Geschlecht,
dem durch die Ordnung der Natur und durch die Einrichtungen der Menschen so
wenig Willkür erlaubt ist! Ich danke der guten Adrastea,
dass sie uns so wenig erlaubte, da unser Geschlecht eben am meisten nach
Willkür strebt. Jetzt liebe ich diese Tochter der gütigen Weisheit
und hasse alle Launen. Ich überlasse sie den Männern, die sich ja
willkürliche Herren der Erde zu sein dünken.
THEOPHRON. Halten Sie nicht viel von diesen willkürlichen
Herren, liebe Theano! Je weniger Vernunft, desto
mehr hat und liebt man Willkür. Ich wollte den Mann kennen lernen, der,
welche kleine Geschäfte des Lebens es auch sei, solches auf unzählige
Arten gleich gut verrichten könnte und es seiner blinden Wahl überlassen
glaubte, welche von diesen Arten er vorziehen wolle. Der schönste und schwerste
Zweck des männlichen Lebens ist, von Jugend auf Pflicht
zu lernen; solche aber, als ob es nicht Pflicht sei, in jedem
Augenblick des Lebens auf die leichteste, beste Weise zu üben und also
jedesmal den höchsten Punkt der Kunst, das
Gesetz des einzigen Besten, der holden und schönen Notwendigkeit, zu erreichen.
Diese ist nicht Zwang, nicht Notdurft von innen oder von außen, ob sie
gleich einem unerfahrenen, trägen, mutwilligen Menschen also dünkt;
ihr Joch ist sanft, ihre Last ist leicht, wenn man derselben einmal gewohnt.
Wehe dem Mann, der in übeln Gewohnheiten hart ward; wohl aber jedem vernünftigen,
tätigen Wesen, dem seine Pflicht und die schönste Art, sie zu üben,
zur Natur, d.i. zur Notwendigkeit ward! Er hat den Lohn der guten Engel in sich,
von denen die Religion sagt, dass sie, im Guten bestätigt, nicht mehr fallen
können, noch fallen wollen, weil ihre Pflicht ihnen Natur, weil ihre Tugend
ihnen Himmel und Seligkeit ist. Wir wollen uns auch bestreben, meine Freunde,
den innern Lohn dieser seligen Wesen zu genießen; ja warum dürften
wir bei ihnen stehen bleiben, da uns allenthalben in der Natur das Vorbild unseres
Vaters selbst vorleuchtet, der im Kleinsten und Größten
ohn' alle schwache Willkür mit der ganzen Schönheit und Güte
einer selbstständigen Vernunft, Wahrheit und Notwendigkeit handelt.
Wohlan denn, meine Freunde, und die Gottheit selbst wird
uns beistehen, da wir die Natur ihrer Werke als die weiseste, beste Notwendigkeit
zu entwickeln streben! Was konnte sie, indem sie auf eine uns unbegreifliche
Art Wesen darstellte, was konnte sie ihnen Höheres geben, als was in ihr
selbst das Höchste ist? Wirklichkeit, Dasein.
In Gott ist's, nach unsern Begriffen, der Grund alles Genusses,
die Wurzel aller seiner unendlichen Kräfte; in jedem daseienden Dinge nicht
minder. Aller unsrer Abhängigkeit ohngeachtet sind oder dünken auch
wir uns Substanzen und fühlen unser Dasein mit so inniger Gewissheit, mit
so zuversichtlicher Freude, dass wir an die Zerstörung unsrer nicht nur
ungern denken, sondern auch mit aller Gewalt sie uns nicht vorzustellen vermögen.
Es ist das Wesen des denkenden Geistes, dass er vom
Nichts durchaus keinen Begriff hat, so dass eine sonderbare Verödung des
Kopfs dazu gehört, sich nur einzubilden, dass das Nichts ein denkbarer
Begriff sei. Ein Zeichen für dasselbe 0 oder Wurzel -1 kann man sich erdenken,
und indem man zwei Dinge einander widersprechend erkennt, eins durch das andre
wegräumen. Der Verstand vermag deutlich einzusehen, dass, indem er das
eine sich vorstellt, er zu eben der Zeit sich nicht auch das andre als jenes
denken könne; damit aber hat er nichts Wirkliches weggeräumt, hat
auch von nichts weniger als vom absoluten Nichts einen Begriff. Statt des vollen
Raums z.B. kann er sich einen ungeheueren schwarzen leeren Raum einbilden; damit
aber bildete er sich noch kein Nichts ein. Kurz, das Nichts ist Nichts; es ist
also auch jedem Wesen, das da ist, geschweige dem Grunde und Inbegriff aller
Wirklichkeit, Gott, ein leeres Nichts, d.i. undenkbar. Bemerken Sie, Philolaus,
was auf dieser innern Notwendigkeit des Begriffs vom Dasein ruhe?
PHILOLAUS. Die schönste Wahrheit
ruht darauf, nämlich: dass es kein Nichts in der Natur gebe, dass es nie
gewesen sei und nie sein werde, weil es etwas Undenkbares, ein Nichts ist. So
wenig der Ausdruck: »aus Nichts ein Etwas schaffen«, oder die Schilderung
des Dichters:
»Befruchtet mit der Kraft des
wesenreichen Wortes
Gebiert das alte Nichts« -
oder:
»Als mit dem Unding noch das neue Wesen rung« -
oder:
»Als auf die Nacht des alten
Nichts
Sich goss der erste Strom des Lichts«,
einen andern als dichterischen Sinn haben, so wenig hat
unsre Seele einen Begriff davon, was es heißt: »etwas
vernichten, ein Etwas in Nichts
verwandeln«, oder wenn der Dichter singt:
»Wenn ein zweites Nichts wird
diese Welt begaben;
Wenn von dem Alles selbst nichts bleibet als die Stelle«;
denn wenn die Stelle noch da ist von
dieser Welt, mithin eine Stelle zu neuen Welten, so ist noch nichts weniger
als das Nichts da. Wie sehr sind mir jetzt alle diese Scheinausdrücke,
leere Gespenster einer scholastischen Phantasie, zuwider! Wenn manche Metaphysiker
alles Denkbare, die Welt, Gott selbst rein wegräumen und finden ein ungeheures
Nichts als das reinste Objekt ihrer Vernunft sehr denkbar, finden es ganz natürlich,
dass sich aus diesem Nichts mit aller Vernunft kein Etwas, weder Gott noch die
Welt hervordemonstrieren lasse -
THEANO. Ich
bitte, endigen Sie, Philolaus, mit dem grässlichen
Nichts!
PHILOLAUS. Oder
wenn gar das Dasein, das erfreuliche, notwendige, innigste Dasein ihnen grässlich
dünkt. »Die reine Notwendigkeit«,
sagen sie, »sei als der letzte Träger aller
Dinge ein Abgrund
für die Vernunft. Selbst Haller's
Ewigkeit mache lange nicht den schwindlichten Eindruck
auf das Gemüt als das notwendige Dasein Gottes; denn jene messe zwar, aber
sie dürfte nicht tragen. Man könne den Gedanken nicht ertragen, dass
ein Wesen, wenn wir es uns auch als das höchste unter allen möglichen
vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage:
»Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit; außer mir
ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber
woher bin ich denn?«
»Hier,« sagen
sie, »hier sinkt Alles unter uns, und die größte
Vollkommenheit wie die kleinste schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen
Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere
ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen.«
>>Kant
THEANO. Erretten
Sie mich, Theophron, von den öden Vorstellungen,
die Philolaus anführt! Ich bin ein Weib und
werde mir, seitdem ich Ihre letzten Gespräche angehört habe, weder
Haller's Ewigkeit als eine messende noch die weiseste
Notwendigkeit als eine Trägerin noch den Höchsten als einen Spekulanten
denken, der ruhmredig mit sich selbst spricht und sich töricht fragte:
»woher er sei«. Ich weiß auch
nicht, ob bei den Philosophen dergleichen Phantasmen deutliche Begriffe setzen
oder wegräumen, noch ob es ein Triumph der Vernunft sei, die größte
Vollkommenheit wie die kleinste willkürlich »ohne
die mindeste Hindernis vor sich verschwinden zu lassen«;
aber das weiß ich, dass nach meiner Idee es kein höheres, seligeres
Dasein geben kann als Dessen, durch den alles ist, durch den alles genießt
und lebt. Er darf, wenn das Dasein jedes Dinges auf einer innern Notwendigkeit
seiner selbst, einer durch sich bestehenden höchsten Weisheit und Güte
ruht, nichts mühsam tragen; Alles trägt sich selbst, wie die Kugel
auf ihrem Schwerpunkt ruht; denn alles Dasein ist ja in seinem eignen ewigen
Dasein, in seiner Macht, Güte und Weisheit gegründet. Sie haben uns
zwar vor Bildern gewarnt, Theophron; aber
(Wirklichkeit dem Phantom entgegengestellt) ist's unerträglich,
zu denken, daß die Wurzel den Baum trage? Sie wäre keine Wurzel,
wenn sie die schöne Schöpfung des Stammes mit seinen Ästen, Zweigen,
Blüten und Früchten nicht zu tragen hätte und gern trüge.
So die ewige Wurzel vom unermesslichen Baum des Lebens, der, durch das Weltall
verbreitet, mit unzählig in einander verschlungenen Zweigen da ist und
grünt. Er, die unendliche Quelle alles Daseins, des größten
Geschenks, das nur er mitteilen konnte.
THEOPHRON. Und welch ein Pfand, meine
Freunde, haben wir mit diesem Geschenk zur ewigen Fortdauer unsers Lebens! Dasein
ist ein unzerteilbarer Begriff, Wesen. Es kann so wenig in ein Nichts verwandelt
werden, als wenig es ein Nichts ist; oder auch das höchste Dasein, die
Gottheit, könnte sich selbst vernichten. Wir reden hier nicht von Erscheinungen,
von Zusammensetzungen irgend einer Gestalt in dem, was wir Raum und Zeit nennen.
Alles, was erscheint, muss verschwinden; jedes Gewächs der Zeit trägt
den Keim der Verwesung in sich, der da macht, dass es in dieser seiner Erscheinung
nicht ewig daure. Was zusammengesetzt ist, wird aufgelöst; denn eben diese
Zusammensetzung und Auflösung heißt
Weltordnung und ist das immer wirkende Leben des Weltgeistes.
Auch reden wir selbst noch nicht von der Unsterblichkeit einer Menschenseele,
um uns etwa Phantome der Einbildungskraft vorzuzeichnen, wie sie im Raum und
in der Zeit, d.i. in der großen Weltordnung andere Organe annehmen und
ihre Kräfte neu üben werde. Wovon wir reden, ist ein einfacher Begriff,
Wirklichkeit, Dasein, an welchem
das niedrigste mit dem obersten Wesen Teil hat. Nichts kann untergehen, nichts
vernichtet werden, oder Gott müsste sich selbst vernichten. Da nun im unendlichen
Dasein alles liegt, was sein kann und ist, wie endlos wird die Welt! Endlos
nach Raum und Zeit und in sich selbst beständig. Gott hat den Grund seiner
Seligkeit Wesen mitgeteilt, die auch, wie er, das kleinste wie das größte,
Dasein genießen und, damit ich Ihr Gleichnis brauche, Theano,
als Zweige von seiner Wurzel Lebenssaft schöpfen. Mich dünkt, wir
zeichneten uns also, Philolaus, das erste Naturgesetz
der heiligen Notwendigkeit auf.
PHILOLAUS. Mit
Vorbehalt meiner Fragen darüber:
I. Das höchste Dasein hat seinen Geschöpfen
das Höchste gegeben, Wirklichkeit, Dasein.
THEOPHRON. Aber,
meine Freunde, Dasein und Dasein, so einfach der Begriff ist, sind in ihrem
Zustande sehr verschieden, und was meinen Sie, Philolaus,
was die Stufen und Unterschiede desselben bezeichnet?
PHILOLAUS. Nichts
anders als Kräfte. In Gott
selbst fanden wir keinen höheren Begriff, wodurch sich Wirklichkeit offenbart,
als Macht; alle seine Kräfte waren Eins und Dasselbe. Die höchste
Macht konnte nicht anders als die höchste Weisheit und Güte sein,
ewig lebend, ewig wirksam.
THEOPHRON. Das
Höchste also oder vielmehr das All
(denn Gott ist nicht ein Höchstes auf einer Stufenleiter
von Seinesgleichen), wie konnte es sich wirkend offenbaren als im All?
Er selbst das All Aller. In ihm
konnte nichts schlummern, und was er ausdrückte, war er selbst, ein Unteilbares,
Weisheit, Güte, Allmacht. Die Welt Gottes ist also die beste; nicht weil
er sie unter schlechteren wählte, sondern weil ohne ihn weder Gutes noch
Schlechtes da war und er nach der innern Notwendigkeit seines Daseins nichts
Schlechtes wirken konnte. Alles ist also da, was da sein konnte; alle Kräfte
ein Ausdruck seiner Kraft, einer Allweisheit, Allgüte, Allschönheit.
Im Kleinsten und Größten wirkt er; in jedem Punkt des Raumes und
der Zeit, d.i. in jeder Wirklichkeit des Weltalls. Denn Raum und Zeit sind nur
Phantome unser Einbildungskraft, Maßstäbe eines eingeschränkten
Verstandes, der Dinge nach und neben einander sich bekannt machen muss; vor
Gott ist weder Raum noch Zeit, sondern ein All in einer ewigen Verbindung.
Er ist vor Allem, und es besteht Alles in ihm, die
Welt ein Ausdruck, eine Darstellung der Wirklichkeit seiner ewig lebenden, tätigen
Kräfte.
THEANO. Auf
einer wie hohen Stufe stehen wir menschliche Wesen also, in denen, so nichtige
Erscheinungen wir sind, dennoch ein lebender Ausdruck der drei höchsten
Gotteskräfte, Macht, Verstand und Güte,
mit innerem Bewusstsein wohnt! Wir können uns keine andre,
geschweige höhere Eigenschaften gedenken; denn was wir in allen Werken
der Natur Göttliches sehen, führt sich auf diese drei zurück,
deren eine die andre erklärt, deren höchster Inbegriff und Ursprung
uns als Gottheit erscheint. Das
wesentliche Gesetz Gottes wohnt also in uns, unsre obwohl beschränkte Macht
nach reinen Ideen der Wahrheit und Güte zu ordnen, wie solches der Allmächtige
seiner vollkommensten Natur nach selbst tut und allenthalben ausdrückt,
ausübt. Er hat uns darin etwas Wesentliches von sich mitgeteilt und uns
zu Ebenbildern seiner Vollkommenheit gemacht, indem es in der Natur einer göttlichen
Kraft liegt, nicht blind, sondern mit Einsicht, nicht eingeschränkt und
boshaft, sondern mit einer alles Nichts ausschließenden Güte zu wirken.
Jeder willkürliche, vernunft- und gütelose Gebrauch unsrer Kräfte,
der uns von dieser Regel entfernt, macht uns uneinig mit uns selbst, verwirrt,
schwach, ohnmächtig.
THEOPHRON. Mich
dünkt, Philolaus, wir können also den
zweiten Satz einer göttlichen Notwendigkeit setzen:
II. Die
Gottheit, in der nur eine wesentliche Kraft ist, die wir Macht, Weisheit und
Güte nennen, konnte nichts hervorbringen, als was ein lebendiger Abdruck
derselben, mithin selbst Kraft, Weisheit und Güte sei, die ebenso untrennbar
das
Wesen jedes in der Welt erscheinenden Daseins bilden.
PHILOLAUS.
Ich wünschte, dass Sie für
Theano und mich den Satz in Beispielen zeigten. Die Grade der Vollkommenheit
in der Welt sind so zahllos mannigfaltig, dass die niedrigsten derselben uns
Unvollkommenheiten scheinen.
THEOPHRON. Konnte
dies anders sein, Philolaus? Wenn alles Mögliche
da ist und nach dem Prinzipium einer unendlichen göttlichen Kraft da sein
muss, so muss in diesem All die geringste wie die höchste Vollkommenheit
da sein; aber alle sind von der weisesten Güte verbunden, und auch in der
geringsten ist kein Nichts, d.i. nichts wesentlich Böses. Verzeihen Sie,
Theano, dass ich abermals das grässliche Unding
nennen muss, ob es gleich ein Unding ist, das sich selbst aufhebt. Sie wissen,
Philolaus, was Leibniz
von seinen einfachen Substanzen für große Dinge rühmte: »sie
seien Spiegel des Weltalls, mit Vorstellungskräften begabt, das Universum,
jede nach ihrem Standpunkt, darzustellen und abzuschildern. Der Unendliche sehe
im Kleinsten das All« u.s.w. So erhaben diese Idee war, die wir
uns nur in reinen Zahlverhältnissen annähernd begreiflich machen,
und so notwendig sie ist, sobald man die Welt als eine in allen Teilen zusammenhängende
Wirkung der höchsten Vollkommenheit denkt, so falsch ward sie von Manchen
verstanden, und insonderheit wurden die unendlich kleinen einfachen Spiegel
des Weltalls unwürdig gedeutet. Wir lassen das Bild weg und sagen: »Jede
Kraft ist ihrem Wesen nach ein Ausdruck der höchsten Macht, Weisheit und
Güte, wie solche sich an dieser Stelle des Universum, d.i. in Verbindung
mit allen übrigen Kräften darstellen und offenbaren konnte.«
Um dies einzusehn, bemerken wir, wie jede dieser Kräfte in der Welt wirke.
Nicht wahr, Philolaus, sie wirkt organisch?
PHILOLAUS. Mir
ist keine Kraft bekannt, die außer Körpern, d.i. ohne Organe sich
erweise; ob mir wohl ebenso unbekannt ist, wie diese Kräfte und diese Organe
sich zusammengefunden haben.
THEOPHRON. Wohl
durch ihre beiderseitige Natur, Philolaus; im zusammenhangenden
Reich der vollkommensten Macht und Weisheit konnten sie nicht anders. Denn was
nennen wir Körper? was nennen wir Organe? Im menschlichen Körper z.B.
ist nichts unbelebt: von der Spitze des Haars bis zum Äußersten Ihres
Nagels ist Alles von einer erhaltenden,
nährenden Kraft durchdrungen, und sobald diese das kleinste Glied verlässt,
stirbt es ab und trennt sich vom lebenden Leibe. Sodann, dem Gebiet der lebendigen
Kräfte unsrer Menschheit entnommen, ist's im Reich andrer Naturkräfte;
dem entfällt es nie. Das verwelkte Haar, der verworfne Nagel tritt jetzt
in eine andre Region des Zusammenhanges der Welt, in welchem er abermals nicht
anders als seiner jetzigen Naturstellung nach wirkt oder leidet. Gehen Sie die
Wunder durch, die uns die Physiologie des menschlichen oder irgend eines tierischen
Körpers herzählt: Sie sehen nicht als ein
Reich lebendiger Kräfte, deren jede, an ihre Stelle gesetzt,
Zusammenhang, Gestalt, Leben des Ganzen durch Wirkungen hervorbringt, deren
jede aus der Natur ihres und des Wesens folgt, dem sie angehört. So bildete,
so erhält sich der Körper; so löst er sich täglich, so löst
er sich endlich gar auf. Was wir Materie nennen, ist also mehr oder minder selbst
belebt; es ist ein Reich wirkender Kräfte, die nicht nur unsern Sinnen
in der Erscheinung, sondern ihrer Natur und ihrer Verbindung nach
ein Ganzes bilden. Eine Kraft herrscht (sonst
wäre es kein Eins, kein Ganzes); mehrere auf den verschiedensten
Stufen dienen. Alle diese Verschiedenheiten aber, deren jede aufs Vollkommenste
bestimmt ist, haben was gemeinschaftlich Tätiges, in einander Wirkendes;
sonst könnten sie kein Eins, kein Ganzes bilden. Da nun im Reich der vollkommensten
Macht und Weisheit Alles aufs Weiseste zusammenhängt, da in ihm nichts
sich anders als nach inwohnenden notwendigen Gesetzen der Dinge zusammenfügen,
helfen und bilden kann: so sehen wir auch allenthalben in der Natur unzählige
Organisationen, deren jede in ihrer Art nicht nur weise, gut
und schön, sondern ein Vollkommnes, d.i. ein Abdruck der Weisheit, Güte
und Schönheit selbst ist, wie solche sich in diesem Zusammenhange sichtbar
machen konnte. Nirgends in der Welt also, in keinem Blatt eines Baums, in keinem
Sandkorn, in keinem Fäserchen unsers Körpers herrscht Willkür;
Alles ist von Kräften, die in jedem Punkt der Schöpfung nach der vollkommensten
Weisheit und Güte wirken, bestimmt, gesetzt, geordnet. Gehen Sie, mein
Freund, die Geschichte der Missgeburten, der Verwahrlosungen und Ungeheuer durch,
da durch fremde Ursachen die Gesetze dieser einzelnen organischen Natur in Unordnung
gesetzt zu sein scheinen: die Gesetze der allgemeinen Natur kamen nie in Unordnung,
jede Kraft wirkte ihrer Natur getreu, selbst da eine andre sie störte;
denn auch diese Störung selbst konnte nichts Anders bewirken, als dass
die gestörte organische Kraft auf anderm Wege sich zu kompensieren suchte.
Man hat über diese Kompensationen in einem System gestörter Kräfte
eine Reihe Bemerkungen gemacht, von denen wir uns zu einer andern Zeit unterhalten
können; allenthalben aber, auch im scheinbar verworrenen Chaos waltet die
beständige Natur nach unwandelbaren Regeln einer in jeder
Kraft wirkenden Notwendigkeit, Güte, Weisheit.
PHILOLAUS. Mit
Freude, Theophron, sehe ich den dunkeln Begriff
der Materie sich mir aufhellen und ordnen; denn ob ich gleich dem System des
Leibniz gern beitrat, dass sie nichts als eine
Erscheinung unsrer Sinne, ein Aggregat substanzieller Einheiten sei, so blieb
mir doch in diesem System die sogenannte »idealische
Verbindung dieser Substanzen zu solcher und keiner andern Erscheinung eines
Ganzen« ein Rätsel. Leibniz verglich
die Materie mit einer Wolke, die aus Regentropfen besteht und uns Wolke scheint,
mit einem Garten voll Pflanzen und Bäume, mit einem Teich voll Fische u.
dergl.; dadurch aber konnte ich mir das Bestehen dieser Erscheinung, den Zusammenhang
dieser Kräfte in ihr nicht erklären. Die Regentropfen in der Wolke,
die Pflanzen im Garten, die Fische im Wasser haben ein Medium der Verbindung;
und welches könnte bei diesen die Materie ausmachenden Kräften ein
solches Medium sein als die Kräfte der sogenannten Substanzen selbst, mit
denen sie auf einander wirken? Dadurch also bilden sich Organe; denn auch das
Organ ist ein System von Kräften, die in inniger Verbindung
einer herrschenden dienen. Jetzt wird mir die Materie nicht
bloß eine Erscheinung in meiner Idee, d.i.
ein durch Ideen vorstellender Geschöpfe allein verbundenes Ganzes; sie
ist's durch ihre Natur und Wahrheit, durch den innigen Zusammenhang wirkender
Kräfte. Nichts steht in der Natur allein; nichts ist ohne Ursache, nichts
ohne Wirkung; und da Alles in Verbindung und alles Mögliche da ist, so
ist auch nichts in der Natur ohne Organisation, jede Kraft steht in Verbindung
mit andern ihr dienenden oder über sie herrschenden Kräften. Wenn
meine Seele also eine substanzielle Kraft ist und ihr jetziges Reich der Wirkung
zerstört wird, so kann es ihr in einer Schöpfung, in welcher keine
Lücke, kein Sprung, keine Insel stattfindet, an einem neuem Organ nie fehlen.
Neue dienende Kräfte werden ihr beistehen und in ihrem neuen Zusammenhange
mit einer Welt, in welcher Alles zusammenhängt, ihren Wirkungskreis bilden.
THEOPHRON. Um so mehr, Philolaus,
ist's unsre Pflicht, zu schaffen, dass sie in ihrem Innern, im System ihrer
Kräfte selbst wohlgeordnet von dannen gehe; denn nur, wie sie ist, kann
sie wirken; nur nach der Gestalt ihrer innern Kräfte kann ihre äußere
Gestalt erscheinen. Unser Körper ist nicht etwa nur ein Werkzeug, er ist
ein Spiegel der Seele, jede Organisation ein äußerer Abdruck inniger
Bestrebungen, die ihrer Erscheinung Bestand geben.
PHILOLAUS. Ich
erinnere mich hierbei mancher schönen Bemerkungen des Spinoza,
die er über die Verbindungen des Leibes und der Seele gemacht hat. Denn
ob er beide gleich, dem Cartesischen System zufolge,
unabhängig von einander, wie den Gedanken und die Ausdehnung betrachten
musste, so konnte es doch nicht fehlen, dass ein scharfsinniger Geist wie er
über das Cartesische System auch hier hinausdachte. Indem er den Begriff
vom Leibe zur wesentlichen Form der menschlichen
Seele macht, schließt er daraus auf die Beschaffenheit,
auf die Veränderungen, die Vollkommenheit und Unvollkommenheit dieses Begriffs
vortrefflich. Es ließe sich aus seinen Grundsätzen eine Physiognomik
entwerfen, die das gewöhnliche Chaos unsrer physiognomischen Träume
sehr ordnete und auf eine bestimmte Wahrheit zurückführte. Insonderheit
war es mir angenehm, dass er auf die Lebensweise,
d.i. auf die Veränderungen in der Beschaffenheit des Körpers so viel
hält und die Gedankenweise,
d.i. die Form des Begriffs der Seele mit ihr ganz homogen betrachtet. Aus dem
Umriss eines Beins oder Knochens leitet er nicht die wandelbarsten, feinsten
Triebfedern der Seele, ihrer Fähigkeiten und ihres Charakters her, ob es
wohl Niemand leugnen wird, dass auch jeder kleine Umriss des Körpers zur
Analogie des Ganzen gehöre. - Sie schweigen, Theano?
THEANO.
Ihr Gespräch ist mir sehr lieb, meine Freunde; weil Sie mich doch aber
einmal dazu bestellt haben, Sie, wenn Sie Sich verirren, wieder an den Weg zu
erinnern, so wollte ich, Sie ließen die Physiognomik und kehrt zu Ihrer
allgemeine Betrachtung zurück. Mir, die ich immer nur mit dem Wenigsten
zufrieden bin, ist's genug, dass jede Organisation die Erscheinung eines Systems
innerer, lebendiger Kräfte sei, die nach Gesetzen der Weisheit und Güte
eine Art kleiner Welt, ein Ganzes bilden. Ich wünschte, dass ich den Geist
der Rose zu meiner Arbeit zaubern könnte, dass er mir sagte, wie er ihre
schöne Gestalt gebildet habe, oder da auch sie nur eine Tochter des Rosenbusches
ist, dass mir die Dryade desselben es erklärte, wie sie von der Wurzel
aus bis zum kleinstem Zweige ihr Bäumchen belebe. Als Kind schon bin ich
oft vor einem Baum, einer Blume stille gestanden und habe die sonderbare Harmonie
angestaunt, die sich in jedem lebendigen Geschöpf von unten zu bis oben
aus zeigt; ich verglich mehrere derselben und habe mit Vergleichung und Musterung
der Blätter, der Zweige, der Blüten, der Stämme, des ganzen Wuchses
der Bäume und Pflanzen manche müßige Stunden verträumt.
Die Begierde, solche eigentümliche schöne Gestalten lebendig nachzuzeichnen,
schärfte meine Aufmerksamkeit, und oft kam ich in ein so vertrauliches
Gespräch mit der Blume, dem Baum, der Pflanze, dass ich glaubte, ihr ergriffenes
Wesen müßte in meine kleine Schöpfung wandern. Aber vergebens;
diese blieb ein totes
Nachbild, und jenes schöne vergängliche Geschöpfstand da mit
aller Fülle stiller Selbstgenügsamkeit und eines gleichsam in
und für sich selbst vollendeten Daseins. Über diese
Materie reden Sie mehr und helfen meiner stammelnden Natursprache!
THEOPHRON. Liebe
Theano, die wird nun wohl immer eine Stammlerin
bleiben. Ins innere Wesen der Dinge hineinzuschauen, haben wir keine Sinne;
wir stehen von außen und bemerken. Mit je scharfsinnigerem, stillerem
Blick wir dies tun, desto mehr offenbart sich uns die lebendige Harmonie der
Natur, in der jede Organisation das vollkommenste Eins und doch Jedes mit Jedem
in ihr so vielfach und mannigfaltig verwebt ist. Die Kunst schleicht dieser
Beobachtung de Natur nach; die neuere aufmerksamere Naturlehre ist ihre Schwester.
Sie beobachtet in jedem Dinge, was es sei, wie es sich gestalte, wie es leide
und wirke, und hat über Pflanzen, Bäume, Mineralien, Tiere u.s.w.,
über ihre Entstehung, ihr Wachstum, ihre Verwandlung, über Krankheiten,
Tod und Leben derselben Schätze von Erfahrungen gesammelt, die uns bei
jedem einzelnen Gegenstande eine Welt von selbstbestehender Harmonie, Güte
und Weisheit zeigen. Hievon ist aber jetzt nicht zu reden; man wird dies alles
in schönen Frühlings- und Sommermorgen lieber sehen wollen, als jetzt
im dunkeln Abendgespräch davon hören. Worauf ich Sie aufmerksam machen
möchte, sind die einfachen Gesetze, nach
welchen alle lebendigen Kräfte der Natur ihre tausendfältige Organisationen
bewirken; denn Alles, was die höchste Weisheit tut, muss
höchst einfach sein. Die Gesetze nämlich scheinen mir in drei Worten
zu liegen, die im Grunde alle wieder nur ein lebendiger Begriff sind
1. Beharrung,
d.i. innerer Bestand jeglichen Wesens.
2. Vereinigung mit Gleichartigem
und vom Entgegengesetzten Scheidungen.
3. Verähnlichung
mit sich und Abdruck seines Wesens in einem andern.
Wollen Sie mich darüber (damit
ich Ihnen Ausdruck brauche, Theano) auch stammeln hören, so steht
Ihnen meine Rede zu Dienst. Wir wenigstens, Philolaus,
setzen unsern Gesprächen über Spinoza damit
den Kranz auf; denn Sie wissen, dass er selbst, obwohl in seiner eigentümlichen
Sprache, die Moral auf ähnliche Begriffe baut.
Zuerst also. Jedes Wesen ist, was es ist,
und hat vom Nichts weder einen Begriff noch zu ihm Sehnsucht. Alle Vollkommenheit
eines Dinges ist seine Wirklichkeit; das
Gefühl dieser Wirklichkeit ist der einwohnende Lohn seines Daseins, seine
innige Freude. In der sogenannten moralischen
Welt, die auch eine Naturwelt ist, hat Spinoza
alle Leidenschaften und Bestrebungen der Menschen auf diese innere Liebe zum
Dasein und zur Beharrung in demselben zurückzuführen gesucht; in der
physischen Welt hat man den Erscheinungen, die aus diesem Naturgesetz folgen,
mancherlei zum Teil unwürdige Namen gegeben. Bald heißt es die
Kraft der Tätigkeit, da jedes Ding bleibt, was es ist,
und ohne Ursache sich nicht verändert; bald heißt es, wiewohl in
einem andern Betracht, die Kraft der Schwere,
nach welchem jedes Ding seinen Schwerpunkt hat, worauf es ruht. Trägheit
und Schwere sind
ebensowohl als ihre Gegnerin, die Bewegung, nur Erscheinungen, da Raum und Körper
selbst nur Erscheinungen sind; das Wahre, Wesentliche in ihnen ist Beharrung,
Fortsetzung seines Daseins, aus welchem es sich selbst nicht
stören kann noch mag. Dass jedes Ding nun nach einem Zustande der Beharrung
strebe, zeigt selbst seine Gestalt an, und Sie werden, liebe Theano,
als eine Naturzeichnerin sich in der Form der Dinge Manches erklären können,
wenn Sie darauf merken. Wir wollen das leichteste Beispiel aus dem System
der Dinge nehmen, die mit der größten Gleichartigkeit
die leichteste Beweglichkeit verknüpfen und sich also gleichsam eine Gestalt
wählen können. Wir nennen dies flüssige
Dinge. Wohlan! alle flüssigen Dinge, deren Teile gleichartig
zu einander ohne Hindernis wirken, welche Gestalt nehmen sie an?
PHILOLAUS. Die Gestalt eines Tropfens.
THEOPHRON. Warum eines Tropfens?
Sollen wir etwa ein Tropfen bildendes Prinzipium in der Natur annehmen, das
diese Gestalt willkürlich liebe? und die Regel festsetzen: »Alles
in der Natur ballt sich durch
eine verborgne Qualität«?
PHILOLAUS. Mit
nichten! Der Tropfen ist eine Kugel; in einer Kugel treten um
einen Mittelpunkt alle Teile gleichartig in Harmonie und Ordnung.
Die Kugel ruht auf sich selbst; ihr Schwerpunkt ist in der Mitte; ihre Gestalt
ist also der einfachste Beharrungszustand gleichartiger Wesen, die um diesen
Mittelpunkt in Verbindung treten und mit gleichen Kräften einander das
Gegengewicht leisten. Nach notwendigen Gesetzen der Harmonie und Ordnung wird
also eine Welt im Tropfen.
THEOPHRON. Mithin,
lieber Philolaus, haben Sie in dem Gesetz, darnach
sich der Tropfen bildet, zugleich die Regel, nach welcher sich unsre Erde, die
Sonne und alle Himmelssysteme bildeten. Denn auch unsre Erde ging einst als
Tropfen hervor oder sammelte sich zum Tropfen. So die Sonne und jenes ganze
System, in dem sie mit anziehender Gewalt herrscht. Alles senkt sich in Radien
herab und wird nur durch andre Kräfte im Umlauf erhalten; so bilden sich
Planeten und Planetenbahnen, Sonnen und Sonnenbahnen, Systeme von Sonnen, Milchstraßen,
Nebelsterne. Allesamt lichte Tropfen aus dem Meer der Kräfte, die nach
einwohnenden ewigen Gesetzen der Harmonie und Ordnung in ihrer Gestalt und in
ihrem Lauf ihren Beharrungszustand suchten
und fanden. Nicht anders als in ihrer Gestalt, in ihrer Bahn, dem Produkt entgegenstrebender
Kräfte (sei diese Kreis oder Ellipse, Parabel oder
Epizykloide), konnten sie ihn finden; nicht aus Willkür, sondern
nach innern gleichartig wirkenden Gesetzen selbst, die sich in der Kugelgestalt
wie in der Ellipse, in der Sphäroidenbewegung wie in der Parabel offenbaren.
Die kleine Träne, Theano, die Sie des Morgens
im Kelch einer Rose finden, zeigt Ihnen das Gesetz, nach welchem sich Erde,
Sonnen und alle Sonnen, ja alle Weltsysteme bildeten und bestehend erhalten.
Denn wenn wir unsere Phantasie den ungeheuern Flug verstatten, sich das Weltall
zu denken, so wird kein Riese daraus, der sich streckt und sträubt, sondern
mit allen Epizykloiden aller Sonnensysteme eine Kugel, die auf sich selbst ruht.
THEANO. Eine
unermessliche Aussicht! Kommen Sie zu unsrer Erde oder wenigstens zu unserm
Sonnensystem zurück; ich ermatte im Fluge. Sie sprachen von einem zweiten
Naturgesetz, dass sich alles Gleichartige vereine
und das Entgegengesetzte scheide; wollen Sie nicht davon Beispiele
geben?
THEOPHRON.
Ich dächte, wir bleiben bei unserm flüssigen Tropfen. Sie kennen,
Theano, den Stein des Hasses und der Liebe in der
Naturwelt?
THEANO. Den Magnet, meinen Sie.
THEOPHRON. Ihn selbst, und seine
zwei Pole und deren freundliche oder feindliche Wirkung.
THEANO. Auch dass es einen Punkt
der größten Liebe und einen Punkt der völligen Gleichgültigkeit
auf seiner Achse gebe, ist mir bekannt.
THEOPHRON. Sehen Sie also diesen
Stein als einen Tropfen an, in den sich die magnetische Kraft so gleichartig
und regelmäßig verteilt hat, dass ihre entgegenstehenden Enden den
Nord- und Südpol machten. Einer kann ohne den andern nicht sein. -
THEANO. Und wenn man sie verändert,
verändert man beide.
THEOPHRON. Sie haben also am Magnet
ein Bild von dem, was Hass und Liebe in der Schöpfung sei; bei jedem System
von Wirksamkeit muss sich das Nämliche finden.
PHILOLAUS.
Und dies Nämliche ist -?
THEOPHRON. Dass, wo ein System
von vielartigen Kräften eine Achse gewinnt, sie sich um dieselbe und um
ihren Mittelpunkt so lagern, dass jedes Gleichartige zum gleichartigen Pol fließt
und sich von demselben durch alle Grade der Zunahme bis zur Kulmination, sodann
durch den Punkt der Gleichgültigkeit bis zum entgegengesetzten Pol nach
festen Gesetzen ordne. Jede Kugel würde auf diese Weise eine Zusammensetzung
zweier Hälften mit entgegengesetzten Polen; so jede Ellipse mit ihren Brennpunkten
u.s.w.: die Gesetze dieser Konstruktion lägen nach festen Regeln in den
Wirkungskräften des Systems selbst, das sich also bildete. So wenig es
bei einer Kugel einen Nordpol ohne einen Südpol geben kann, so wenig kann
es bei jedem System von Kräften, das sich regelmäßig bildet,
eine Gestalt geben, in der sich nicht ebensowohl das Freundschaftliche und Feindschaftliche
trennt, mithin eben durch das Gegengewicht, das beide einander nach ab- und
zunehmenden Graden des Zusammenhanges leisten, ein Ganzes bildet. Wahrscheinlich
gäbe es kein System elektrischer
Kräfte, wenn es nicht zwei einander entgegengesetzte Elektrizitäten
gäbe; ein gleiches ist's mit der Wärme und Kälte, ein Gleiches
mit dem Zyklus der Farben und jedem System von Erscheinungen, die nur durch
das Mannigfaltige Einheit und durch das Entgegengesetzte Zusammenhang erhalten
können. Die bemerkende Naturlehre, die nicht eben alt ist, wird in diesem
Allen gewiss einmal so weit reichen, dass durch eine Reihe von Analogien jede
blinde Willkür aus der physischen Welt verbannt sein wird, bei welcher
Willkür Alles auseinanderfiele und im Grunde alle Gesetzte der Natur aufhörten.
Denn, meine Freunde, wirkt der Magnet, die elektrische Kraft, das Licht, die
Wärme und Kälte, die Anziehung, die Schwere u.s.w. willkürlich;
ist das Dreieck willkürlich ein Dreieck, der Zirkel willkürlich ein
Zirkel: so mögen wir nur alle Bemerkungen der Physik und Mathematik für
Unsinn erklären und auf Offenbarungen dieser getroffenen Willkür warten.
Ist's aber gewiss, dass wir schon bei so vielen Kräften mathematisch genaue
Naturgesetze gefunden haben, wer wollte die Grenze setzen, wo sie nicht mehr
zu finden seien, wo ein blinder Wille anhübe? In der Schöpfung ist
alles Zusammenhang, alles Ordnung; findet also irgendwo
nur ein Naturgesetz in ihr statt, so müssen allenthalben
Naturgesetze walten, oder die Schöpfung wird ein Chaos und stäubt
aus einander.
THEANO. Sie entfernen Sich vom Gesetz des Hasses
und der Liebe, Theophron, wo nach Ihnen System
Eins ohne das Andre nicht sein kann.
THEOPHRON. Weil Alles
in der Welt da ist, was da sein
muss, d.i. was zu ihrem System gehört, so muss auch das
Entgegengesetzte da sein, und ein Gesetz der höchsten Weisheit muss eben
aus diesen Entgegengesetzten, aus dem Nord- und Südpol allenthalben das
System bilden. In jedem Kreise der Natur ist die Tafel der zweiunddreißig
Winde, in jedem Sonnenstrahl der ganze Farbenumkreis; es kommt nur darauf an,
welcher Wind jetzt und dann wehe, welche Farbe hier oder da erscheine. Sobald
aus dem Flüssigen das Feste hervortritt, kristallisiert und bildet es sich
nach den innern Gesetzen, die in diesem System organisierender Kräfte lagen.
Alles zieht an oder stößt zurück oder bleibt gleichgültig
gegen einander; die Achse dieser wirkenden Tätigkeiten geht zusammenhängend
durch alle Grade. Der Chemiker veranstaltet nichts als Verbindungen und Trennungen;
die Natur zeigt allenthalben Verwandtschaften, Freundschaften, Feindschaften
auf die reichste, innigste Weise. In ihr sucht und findet sich, was sich einander
liebt; daher die Naturlehre selbst nicht umhin gekonnt hat, eine Wahlanziehung
bei den Verbindungen der Körper anzunehmen; was einander entgegengesetzt
ist, entfernt sich von einander und kommt nur durch den Punkt der Gleichgültigkeit
zusammen. Oft wechseln die Kräfte rasch, ganze Systeme verhalten sich wie
die einzelnen Kräfte des Systems zu einander: Hass kann Liebe, Liebe kann
Hass werden; Alles aus einem und demselben Grunde, da jedes System nämlich
in sich selbst Beharrung sucht und
darnach seine Kräfte ordnet. Die Kräfte dieser Systeme
können sehr verschieden von einander sein und doch nach einerlei Gesetzen
wirken, weil in der Natur zuletzt Alles zusammenhängt und nur ein Hauptgesetz
sein kann, nach welchem sich auch das Verschiedenste ordnet.
THEANO. Nach
unsrer Vorstellungsart kommt, dünkt mich das Gesetz
der Beharrung, des Hasses und der Liebe diesem Hauptgesetz nah;
denn ohngeachtet aller zahllosen Verschiedenheiten und entgegengesetzten Erscheinungen
in der Natur erscheint allenthalben. Ich möchte einige Augenblicke ein
höherer Geist sein, um diese große Werkstätte in ihrem Innern
zu betrachten.
THEOPHRON. Warum
ein höherer Geist, Theano? Hat es der Zuschauer
von außen nicht angenehmer als ein Zuschauer von innen, der doch auch
nie das Ganze übersehen konnte? Steht der Zuschauer vor dem Schauplatz
nicht bequemer, als der in der Kulisse lauscht? Nach Wahrheit forschen, reizt;
Wahrheit haben, macht vielleicht satt und träge. Der Natur nachzugehen,
ihre hohen Gesetze zu ahnen, zu bemerken, zu prüfen, sich darüber
zu vergewissern, jetzt sie tausendfach bestätigt zu finden und neu anzuwenden,
allenthalben endlich dieselbe weise
Regel, dieselbe heilige Notwendigkeit
wahrzunehmen, lieb zu gewinnen, sich selbst anzubilden;
das macht den Wert eines Menschenlebens. Denn, Theano,
sind wir bloß Zuschauer? sind wir nicht selbst Schauspieler, Mitwirker
der Natur und ihre Nachahmer? Herrschen im Reich der Menschen nicht auch Hass
und Liebe? und sind beide zu Bildung des Ganzen nicht gleich notwendig? Wer
nicht hassen kann, kann auch nicht lieben; nur er muss recht hassen und recht
lieben lernen. Es gibt auch einen Punkt der Gleichgültigkeit unter den
Menschen; dies ist gottlob aber in der ganzen magnetischen Achse nur
ein Punkt.
PHILOLAUS. Jetzt muss ich
Sie erinnern, Theophron, dass Sie uns noch Ihr
drittes Stück des großen Naturgesetzes schuldig sind, nämlich,
»wie sich die Wesen einander verähnlichen
und in Abdrücken ihrer Art eine fortwährende Reihe bilden«.
THEOPHRON. Das heiligste und gewiss göttliche Gesetz. Alles
was sich liebt, verähnlicht sich einander; wie zwei Farben zusammenstrahlen,
dass eine mittlere dritte werde, so werden auf eine wunderbare Weise schon durch
das teilnehmende Beisammensein menschliche Gemüter, ja sogar Gebärden
und Gesichtszüge, die feinsten Übergänge der Denkart und Handlungsweise
einander ähnlich. Schwärmerei, Wahnsinn, Furcht, alle Affekte sind
ansteckende Übel; nicht durch das, was in ihnen Übel oder ein Nichts
ist, sind sie so mächtig, sondern durch die Stärke ihrer wirkenden
Kräfte; wie dann sollte sich nicht die Wirkung regelmäßiger
Kräfte, d.i. Ordnung, Harmonie, Schönheit mit viel wesentlicherer
Macht auf Andere erstrecken und sich ihnen mitteilen? Nur dadurch sahen wir
Organisationen werden, dass stärkere Kräfte die schwächern in
ihr Reich ziehen und nach eingepflanzten Regeln einer in sich notwendigen Güte
und Wahrheit sie zu einer Gestalt
bilden. Alles Gute teilt sich mit; es hat die Natur Gottes, der sich nicht anders
als mitteilen konnte; es hat auch seine unfehlbare Wirkung. Die Regeln der Schönheit
z.B. drängen sich uns auf, sie strahlen uns an; unvermerkt gehen sie in
uns über; eben dies ist das Geheimnis der überall zusammenhängend
wirkenden, in sich selbst bestehenden Schöpfung. Das freundschaftliche
Beisammensein menschlicher Gemüter verähnlicht sie einander ohne Gewalt,
ohne Worte. Jener ideale Einfluss, den Leibniz bei
seinen Monaden annahm, ist das ebenso mächtige als geheime Band der Schöpfung,
das wir bei allen empfindenden, denkenden, handelnden Wesen unwidertreiblich
und unzerstörbar bemerken. Verzweifle niemand an der Wirkung seines Daseins;
je mehr Ordnung in demselben ist, je gleichförmiger den Gesetzen der Natur
er handelt, desto unfehlbarer ist seine Wirkung. Er wirkt wie Gott, in Gott;
er kann nicht anders als ein Chaos um sich her ordnen, Finsternis vertreiben,
damit Licht werde; feiner schönen Gestalt verähnlicht er alles, was
mit ihm ist, selbst mehr oder minder was streitend ihm entgegenfährt, sobald
er durch Güte und Wahrheit überwindet.
THEANO. Erquickende Wahrheit,
Theophron! Schon dadurch zeigt sie ihr himmlisches
Siegel, dass sie unserm Herzen zuspricht und tausend Erfahrungen meines Lebens
in mir aufruft. Es liegt eine unnennbare Kraft im
Dasein eines Menschen, ich meine, wie sein handelndes Beispiel
wirkt. Das innigste, stillste Gute in mir ist auf diese Weise
mein worden; ohne Geräusch der Worte ging es in mich über.
Auch deswegen ist mir Ihre Gedankenweise lieb, Theophron,
da sie mir allenthalben dies Dasein, diese Wirklichkeit und in ihr den Allwirksamen
gegenwärtig macht, der durch das Dasein seiner Geschöpfe selbst in
wesentlichen Regeln der Harmonie und Schönheit fortgehend, still und tief
auf uns wirkt. Jetzt sehe ich's, wie Alles Gott ähnlich werden soll, ja,
wenn ich so sagen darf, ihm ähnlich werden muss, was in seinem Reich lebt.
Seine Gesetze, seine Gedanken und Wirkungen drängen sich uns auch wider
unsern Willen in tausend und abermal tausend Erweisen seiner Ordnung, Güte
und Schönheit als unwandelbare Regeln auf; wer nicht folgen will, muss
folgen; denn Alles zieht ihn, er kann der allgewaltigen Kette nicht entweichen.
Wohl dem, der willig folgt: er hat den süßen täuschenden Lohn
in sich, dass er sich selbst bildete, obwohl ihn Gott unablässig bildet.
Indem er mit Vernunft gehorcht und mit Liebe dient, so prägt sich ihm aus
allen Geschöpfen und Begebenheiten das Gepräge der Gottheit auf: er
wird vernünftig, gütig, geordnet, glücklich; er wird Gott ähnlich.
- Aber lassen Sie uns zur Haushaltung der Natur zurückkehren! Ist nicht
ein Zwang darin, dass eine Kraft die andere überwältigt, sie an sich
zieht, zu sich zwingt und mit sich einigt? Wenn ich bemerke, dass alles Leben
der Geschöpfe auf der Zerstörung andrer Gattungen ruht, dass der Mensch
von Tieren, Tiere von einander oder auch nur von Pflanzen und Früchten
leben, so sehe ich freilich Organisationen, die sich bilden aber die zugleich
andre zerstören, d.i. Mord und Tod in der Schöpfung. Ist nicht ein
Gräschen, eine Blume, eine Frucht des Baumes, endlich ein Tier, das dem
andern zur Speise wird, eine so schöne Organisation, als die Organisation
Dessen ist, der es zerstörend in sich verwandelt? Verjagen Sie diese Wolke,
Theophron; sie zieht sich mir wie ein Schleier vors Angesicht der Sonne,
die mir aus jedem Geschöpf strahlte.
THEOPHRON. Sie wird fliehen, Theano,
wenn Sie bemerken, dass ohne diesen scheinbaren Tod in der Schöpfung Alles
wahrer Tod, d.i. eine träge
Ruhe, ein ödes Schattenreich wäre in welchem alles wirksame Dasein
erstürbe. Eben jetzt sprachen Sie wie eine Schülerin des
Plato; haben Sie in Ihrem Lehrer nicht gefunden, dass in dem Veränderlichen
Alles Veränderung, dass
auf dem Flügel der Zeit Alles Fortgang,
Eile, Wanderung sei? Hemmen Sie ein Rad in der Schöpfung, und alle Räder
stehen stille; lassen Sie einen
Punkt dessen, was wir Materie nennen, träge und tot sein, so ist Tod allenthalben.
PHILOLAUS. Ich erinnere mich hiebei
so manches unphilosophischen Wahnes, dass es z.B. Atome, absolut harte Körper
und dergleichen in der Natur gebe. Gibt es solche, so wird an ihnen alle Bewegung
zu Schanden; ein unendlich kleiner Atom hemmte die Räder der ganzen Schöpfung.
THEOPHRON. Wohlan als, wenn es
keine absolute Ruhe, keine völlige Undurchdringlichkeit, Härte, Träge
geben kann, die ein alles entkräftendes Nichts, mithin ein Widerspruch
wäre, so müssen wir uns schon, meine Freunde, mit unsern Gedanken
auf den Strom des Plato wagen, wo alles Veränderliche
eine Welle, wo alles Zeitliche ein Traumist. Erschrecken Sie nicht, Theano;
fürchten Sie nicht: es ist sie Welle eines Stromes, der selbst ganz Dasein
ist, der Traum einer selbstständigen, wesentlichen Wahrheit.
Der Ewige, der in Erscheinungen der Zeit, der Unteilbare, der in Gestalten des
Raumes sichtbar werden wollte, konnte nicht anders als jeder Gestalt das kürzeste
und zugleich das längste Dasein geben, das nach dem Bilde des Raums und
der Zeit ihre Erscheinung fordert. Alles, was erscheint, muss verschwinden;
es verschwindet, sobald es kann, es bleibt aber auch, so lange es kann; hier
wie allenthalben fallen die beiden Extreme zusammen und sind eigentlich eins
und dasselbe. Jedes beschränkte Wesen bringt als Erscheinung den Keim der
Zerstörung schon mit sich: mit unaufhaltbarem Schritt eilt es zur größten
Höhe hinauf, damit es hinuntereile und unsern Sinnen verschwinde. Bemerken
Sie die Linie, die ich hier zeichne!
THEANO. Traurige Bemerkung!
THEOPHRON. Sehen Sie die Blume an, wie sie zu ihrer Blüte
eilt! Sie zieht den Saft, die Luft, das Licht, alle Elemente an sich und arbeitet
sie aus, damit sie wachse, Lebenssaft bereite und eine Blüte zeige; die
Blüte ist da, und sie verschwindet. Sie hat alle ihre Kraft, ihre Liebe
und ihr Leben daran gewandt, damit sie Mutter werde, damit sie Bilder ihrer
selbst zurücklasse und ihr kräftiges Dasein vermehrend fortpflanze.
Nun ist auch ihre Erscheinung hin: sie hat solche im rastlosen Dienst der Natur
verzehrt, und man kann sagen, dass sie vom Anfange ihres Lebens an auf ihre
Zerstörung gearbeitet habe. Was aber ist ihr zerstört als eine Erscheinung,
die sich nicht länger halten konnte? die, da sie dem höchsten Punkt
unsrer Linie erreicht hatte, in welchem das Maximum ihrer Bestimmung, die Gestalt
und das Maß ihrer Schönheit lag, wieder hinabwärts eilte? Dies
tat sie nicht etwa (welches ein trauriges Bild wäre),
jüngern lebendigen Erscheinungen als eine jetzt tote Platz zu machen; als
eine lebendige vielmehr brachte sie mit aller Freude des Daseins das Dasein
derselben hervor und überließ es in dauernden Keimen dem fortblühenden
Garten der Zeit, in welchem auch sie blühte. Denn sie selbst ist mit dieser
Erscheinung nicht gestorben, so lange die Kraft ihre Wurzel fortdauert; aus
ihrem Winterschlaf wird sie wieder erwachen und aufstehen in neuer Frühlings-
und Jugendschöne, die Töchter ihres Daseins, jetzt ihre Freundinnen
und Schwestern, an ihrer jungfräulichen Seite. Es ist also kein Tod in
der Schöpfung; er ist ein Hinwegeilen dessen,
was nicht bleiben kann, die Wirkung einer ewig jungen, rastlosen, dauernden
Kraft, die ihrer Natur nach keinen Augenblick müßig
sein, stille stehen, untätig bleiben konnte. Immer und immer arbeitet sie
auf die reichste, schönste Weise zu ihrem und zu so viel Anderer Dasein,
als sie Dasein hervorzubringen, mitzuteilen vermochte. In einer Welt, wo sich
alles verwandelt, ist jede Kraft in ewiger Wirkung, mithin in fortgesetzter
Verwandlung ihrer Organe; diese Verwandlung selbst ist eben der Ausdruck ihrer
unzerstörbaren Wirksamkeit voll Weisheit, Güte und Schönheit.
So lange die Blume lebte, arbeitete sie zu ihrem eigenen Flor wie zur Vervielfältigung
ihres Daseins; sie ward (das Höchste, was ein Geschöpf
werden kann) eine Schöpferin durch eigne organische Kräfte.
Als sie starb, entzog sich der Welt eine verlebte Erscheinung; die innere lebendige
Kraft, die sie hervorbrachte, zieht sich in sich selbst zurück, um sich
abermals in junger Schönheit der Welt zu zeigen. Können Sie Sich ein
schöneres Gesetz wesentlicher Weisheit und Güte in dem, was Veränderung
heißt, gedenken Theano, als
dass sich Alles zum neuen Leben,
zu neuer Jugendkraft und Schönheit im raschesten Lauf drängt und daher
jeden Augenblick verwandelt?
THEANO. Ich sehe einen schönen
Schimmer, Theophron; aber die Morgenröte sehe
ich noch nicht.
THEOPHRON. Gedenken Sie Sich nun
alle Naturkräfte in dieser rastlosen Arbeit, in Eile zur Verwandlung auf
dem Flügel der Zeit. Was scheint uns geringer als ein Blatt? Und kein Teilchen
eines Blattes darf einen Augenblick müßig sein: es zieht an, es stößt
hinweg (dazu hat es seine zwei so verschieden gebildeten
Seiten); immer und immer wechseln die Teile seines organischen Kleides,
bis es fällt und auflöst. Leben ist also Bewegung, Wirkung, Wirkung
einer innigen Kraft mit dem Genuss und Bestreben
einer Beharrung verbunden. Und da im Reich der Veränderung
nichts unverändert bleiben kann, und doch Alles sein Dasein erhalten will
und muss, so ist alles in einer ewigen Palingenesie [Erneuerung,
Wiedergeburt], damit es immer daure und immer jung erscheine.
THEANO. Ob diese Verwandlung aber auch Fortrückung wäre?
THEOPHRON. Gesetzt, sie wäre
dies nicht, sie wäre aber das einzige Mittel, dem Tode und einem ewigen
Tode zu entgehen, d.i. sie erhielte unsre lebendige Kraft im fortdauernden Wirken,
in innig gefühltem Dasein, so wäre sie schon eine so wünschenswerte
Wohltat, als ein ewiges Leben vor einem ewigen Tode wünschenswert ist.
Nun aber, Theano, können Sie Sich wohl ein
fortgesetztes Leben, eine immerhin fortwirkende Kraft ohne Fortwirkung, d.i.
einen Fortgang ohne Fortgang denken?
THEANO. Es scheint ein Widerspruch.
THEOPHRON. Und ist einer. Zwar
muss jede Kraft, die im Raum und in der Zeit Erscheinungen annimmt, die Schranken
behalten, die ihr Raum und Zeit geben; mit jedem Wirken aber macht sie ihr folgendes
Wirken leichter, und da sie dies nicht anders als nach eingepflanzten innern
Regeln der Harmonie, Weisheit und Güte tun kann, die sich jedem Geschöpf
liebreich aufdringt, einprägt und ihm bei jeder seiner Wirkungen beisteht,
so sehen Sie allenthalben ein Fortrücken
aus dem Chaos zur Ordnung, d.i.
eine innige Vermehrung und Verschönerung der Kräfte
in neu erweiterten Schranken nach immer mehr beobachteten Regeln der Harmonie
und Ordnung. Jeder blinden Kraft dringt sich Licht, jeder regellosen Macht Vernunft
und Güte auf; keine ihrer Übungen, keine Wirkung in der Schöpfung
war vergebens. Es muss also Fortgang sein im Reiche
Gottes, da in ihm kein Stillstand, noch weniger ein Rückgang sein kann.
THEANO. Aber die Gestalt des Todes!
THEOPHRON. Ist kein Tod in der
Schöpfung, so gibt es auch keine Todesgestalt. Heiße diese, wie sie
wolle, sie ist Übergang zur neuen Organisation, das Einspinnen der abgelebten
Raupe, damit sie als ein neues Geschöpf erscheine. Sind Sie befriedigt,
Theano?
THEANO. Ich bin's und verlasse
mich auf die weise Güte, die mich hierher brachte, mir ohne mein Verdienst
so viele Kräfte, gewiss nicht umsonst, gab und mich mit tausend Kräften
voll Liebe und Güte umringt, meinen Verstand, mein Herz, meine Handlungen
nach einer ewigen Regel notwendiger, in sich selbst gegründeter Weisheit
und Güte zu ordnen. Sie schweigen, Philolaus?
PHILOLAUS. Ich
will nachholen und sogleich eine Reihe Folgen hinzusetzen, die aus Theophron's
System einer in sich selbst notwendigen Wahrheit und Güte zu folgen scheinen.
Beim zweiten Satz bleiben wir; also:
III. Alle
Kräfte der Natur wirken organisch. Jede Organisation ist ein System lebendiger
Kräfte, die nach ewigen Regeln der Weisheit, Güte und Schönheit
einer Hauptkraft dienen.
IV. Die
Gesetze, nach denen diese herrscht, jene dienen, sind:
innerer Bestand eines jeglichen Wesens, Vereinigung mit Gleichartigem und vom
Entgegengesetzten Scheidung, endlich Verähnlichung
mit sich selbst und Abdruck seines
Wesens in einem andern. Sie sind Wirkungen, dadurch sich die
Gottheit selbst offenbart hat; und keine andern, keine höheren sind denkbar.
V. Kein Tod
ist in der Schöpfung, sondern Verwandlung;
Verwandlung nach dem Gesetz der Notwendigkeit, nach welchem
jede Kraft im Reich der Veränderung sich immer neu, immer wirkend erhalten
will und also durch Anziehen und Abstoßen, durch Freundschaft und Feindschaft
ihr organisches Gewand unaufhörlich ändert.
VI. Keine
Ruhe ist in der Schöpfung; denn eine
müßige Ruhe wäre Tod. Jede lebendige Kraft wirkt und wirkt fort;
mit jeder Fortwirkung also schreitet sie weiter und arbeitet sich aus, nach
innen ewigen Regeln der Weisheit und Güte, die auf sie dringen, die in
ihr liegen.
VII. Je
mehr sie sich ausarbeitet, desto mehr wirkt sie auch auf Andre;
indem sie ihre eignen Schranken erweitert, organisiert sie und prägt auf
Andre das Bild der Güte und Schönheit, das in ihr wohnt. In der ganzen
Natur also herrscht ein notwendiges Gesetz, dass
aus dem Chaos Ordnung, aus schlafenden Fähigkeiten tätige Kräfte
werden. Die Wirkung dieses Gesetzes ist unaufhaltbar.
VIII. Im
Reich Gottes existiert also nichts Böses, das Wirklichkeit wäre.
Alles Böse ist ein Nichts; wir nennen aber Übel,
was Schranke oder
Gegensatz oder
Übergang ist,
und keins von dreien verdient diesen Namen.
IX. So wie
aber Schranken zum Maß jeder Existenz im Raum und in der Zeit gehören
und im Reich Gottes, wo Alles da ist, auch das Entgegengesetzte da sein muss,
so gehört es mit zur höchsten Güte dieses Reichs, dass
das Entgegengesetzte selbst sich einander helfe und fördre;
denn nur durch die Vereinigung beider wird eine Welt in jeder Substanz d.i.
ein bestehendes Ganzes, vollständig an Güte sowie an Schönheit.
X. Auch die Fehler
der Menschen sind einem verständigen Geist gut; denn
sie müssen sich ihm, je verständiger er ist, desto eher als Fehler
zeigen und helfen ihm also wie Kontraste zu mehrerem Licht, zu reinerer Güte
und Wahrheit. Und auch dies alles nicht als Willkür, sondern nach Gesetzen
der Vernunft, Ordnung und Güte. - Sind Sie mit meinen Folgerungen zufrieden,
Theophron?
THEOPHRON. Sehr.
Ihr scharfsinniger Geist eilt voran, Philolaus,
wie ein edles Ross, dem man nur die Rennbahn öffnen darf und es fliegt
zum Ziele. Ich danke dem Schatten des Spinoza,
dass er uns so angenehme Stunden des Gesprächs mit einander verschafft
hat; mir kommt die Gelegenheit, über Materien dieser Art zu reden, selten.
Und doch erheben sie den Geist so einzig und bilden ihn zur hellen, scharfen,
notwendigen Wahrheit. Noch gewähren mir diese Gespräche mit Ihnen
ein zweites Vergnügen, dass sie mir nämlich Ideen der Jugend
zurückbringen, mit denen ich an Leibniz', Shaftesbury's
und Platon's Seite manche süße
Stunde gewiss mehr als verträumte.
THEANO. Um so lieber wäre
es mir, Theophron, wenn Sie etwas Zusammenhängendes
hierüber aufzeichneten. Ein Gespräch verfliegt, und einem geschriebenen
Gespräch über Materien dieser Art scheint immer etwas zu fehlen. Man
wird fortgezogen und ist am Ende, ehe man's dachte; man fühlt aber einen
Trieb, zurückzukehren.
THEOPHRON. So kehre man zurück,
Theano, bis das Gespräch uns gleichsam selbst
aus der Seele fließt. Bei manchen seiner Nachteile hat es doch das
Gute, dass es uns vor dem Auswendiglernen bewahrt, und wahre Philosophie muss
nie auswendig gelernt werden.
THEANO. Die Regel möchte
ich meinem Bruder wünschen. Er ist seit einiger
Zeit mit einem Wortkram befangen, der ihm den Kopf verwirrt, sobald er davon
redet. Er spricht nie mit seinen eignen, natürlichen, sondern mit fremden
Worten, als ob er in fremden Zungen oder als ob ein Dämon aus ihm spräche.
Er hat sich, wie er sagt, in ein System hineinstudiert. Ich wünsche, Theophron,
dass Sie den Spinoza, Descartes, Leibniz,
und wer es sonst sei, wegließen und bloß Ihre Gedanken aufschrieben.
THEOPHRON. Ich halte mich gern
an Fußtapfen, die vor mir sind, Theano; es
fehlt mir auch noch viel, ein Werk entwerfen zu können, auf welches die
notwendige, ewige Wahrheit selbst ihr Siegel drückte.
PHILOLAUS. Darf ich jetzt mit
meinem Vorbehalt erscheinen, Theophron? Ihr erster
Grundsatz hieß: »Das höchste
Dasein hat seinen Hervorbringungen das Höchste gegeben, Wirklichkeit, Dasein«.
Gerade dies, sagt man, mangelt dem System unsers Philosophen: nach ihm gibt
sich kein Dasein, es ist nur eine
Substanz; wir sind bloß Modifikationen.
THEOPHRON. Modifikationen wessen?
Des Daseins im höchsten Verstande.
Die eine Partei zürnt, dass Spinoza uns zu
viel, die andre, dass er uns zu wenig einräumt; beide können sich
vielleicht in keinem schicklichern Ausdruck als dem seinigen vereinen. Weisen
der Existenz sind wir; diese nennen wir Individualitäten.
Jeder hat und ist eine eigne Weise,
d.i. eine eigne Individualität. Wissen Sie einen besseren Ausdruck?
PHILOLAUS. Man glaubt gerade das
Gegenteil: »Spinoza
habe uns unsre Individualität genommen, aus diesem Standpunkt lasse sich
sein System am Bündigsten anfechten und zerstören«. -
THEOPHRON. Wie man denn auch glaubt,
er habe dem höchsten Dasein sein Dasein, sein Selbstbewusstsein geraubt.
»Tot ist Osiris; seine
zerteilten Glieder flattern hie und dort als Modifikationen umher. Modifikationen
ohne Wesen, Radien ohne Mittelpunkt; wiederum der wirksamste Mittelpunkt ohne
Radien, das wirklichste Wesen ohne Darstellungen seiner Wirklichkeit«
- denken Sie den sich selbst widersprechenden Unsinn! Theano
soll uns zurechthelfen; was ist bei Ihnen selbstständig,
wirksam-bleibend und
bleibend-wirksam, was sind Sie selbst, Theano?
THEANO. Meine Gestalt
gehört mir an; aber ich bin nicht meine Gestalt. Das sagt
mir das Gemälde meiner Kindheit, das sagt mir in Leid und Freude, in Gesundheit
und Krankheit mein Spiegel.
THEOPHRON. Und doch waren und
sind Sie in diesem Wechsel von Zuständen immer dieselbe,
dasselbe Individuum.
THEANO. Mit meiner Phantasie
nicht; die änderte sich mit den Jahren. Mit dem, was wir
Geschmack, Liebhaberei, Affektionen nennen,
nicht; auch sie sind Kleider, die wir unvermerkt ändern. Dass endlich unser
Gedächtnis ermatte, unsre
Erinnerung welke - lassen Sie mich an diese trübe Jahreszeit
des menschlichen Lebens nicht gedenken. Uns allen komme sie spät!
THEOPHRON. Wenn also im Reich der Sinnlichkeit, der Phantasie,
des Geschmacks, der Begierden der Mittelpunkt der Selbstbestandheit nicht liegt,
wo liegt er?
THEANO. In meinem Selbst;
weder als Begriff noch als Empfindung lässt sich, wie mich
dünkt, das Wort weiter zergliedern. Ich war Kind und erwuchs, war krank
und ward gesund, schlief und wachte; bei allen Veränderungen, die mit mir
vorgingen, von innen und außen, nannte man mich nicht nur, sondern ich
empfand und nannte mich dieselbe.
THEOPHRON. Dies Prinzipium der Selbstheit hing also nicht von
Ihnen ab, als ob es, aus Raisonnement entstanden,
durch Reflexion unterhalten werden
müsse, als ob es auf dieser beruhe und ohne sie verschwände.
THEANO. Wie könnte dies sein?
Dass trotz aller Veränderungen mein Körper und Geist zwar nicht dieselbe,
aber ich dieselbe, ein Selbst
bleibe, hängt von meinem Raisonnement nicht ab. Wachend
raisonniere ich nicht zu viel, schlafend gar nicht, und in den Zaubergegenden
des Traums war ich oft eine Andre. Reflektiere ich wachend über mich selbst,
so finde ich mein kleines Selbst geteilt; ich teile es selbst künstlich.
THEOPHRON. Also
liegt die Überzeugung von unserm Selbst, das Prinzipium unsrer Individuation
tiefer, als wohin unser Verstand, unsre Vernunft, unsre Phantasie reicht. Sie
haben es getroffen, Theano; als Begriff und als
Empfindung
liegt es in dem Worte Selbst selbst.
Selbstbewusstsein,
Selbstwirksamkeit, sie machen unsre Wirklichkeit, unser Dasein; auf ihnen ruht
die Leiter aller unserer ausgebildeten und unausgebildetetn Vermögen, Triebe
und Tätigkeiten, die von der Erde gen Himmel reicht. Glauben Sie nun wohl,
Theano, dass die Prinzipium
der Individuation (wir mögen es
Selbstgefühl,
Selbstbewusstsein oder anders nennen) bei allem, was
da ist, in gleichem Grad wirksam
und tätig sei?
THEANO. Gewiss nicht. Eine lebendige
und diese gestickte Rose, der Rosenbusch und die Nachtigall, die auf ihm singt,
der Schmetterling, der an der Rose hängt, können weder dieselbe Art
noch denselben Grad des Selbstgefühls, des Selbstbewusstseins, mithin des
Daseins haben; und wir Menschen?
THEOPHRON. Also sind sie und wir
verschiedne »Weisen der Existenz«,
mit verschiednen Arten und Graden des Selbstbewusstseins, Modifikationen
der Wirklichkeit tiefer und tiefer hinab, höher und höher
hinan: und wir Menschen! Glauben Sie wohl, dass alle unseres
Geschlechts ein gleich tiefes Selbstgefühl,
ein gleich wirksames Selbstbewusstsein, mithin
ein gleich inniges Dasein haben?
THEANO. Am Wenigsten. Manche menschliche
Organisation möchte man im Innern kaum der Individualität der Blume,
des Vogels, ja manches wilden Tiers vergleichen.
THEOPHRON. Vergleichen, immer jedoch im Kreise menschlicher
Gefühle; denn die Basis seines
Geschlechts kann kein Individuum verleugnen. Welche,
meinen Sie nun, wäre die höchste, reinste, schönste
Individuation?
THEANO. Kein Zweifel! Die Form aller Formen. Sie, die alles
umfasst, deren Wirksamkeit sich durch alles verbreitet. Je mehr sie umfassen
kann, je mehr sie mitzuteilen vermag,
desto mehr muss sie haben, d.i. sein.
PHILOLAUS. Nicht mehr, meine Freunde;
jedes fernere Wort wäre zu viel. Das einzige
und ewige Prinzipium der Individuation sehe ich im System unsers
Philosophen an einen Faden entwickelt, der und in unser innerstes Selbst leitet.
Je mehr Leben und Wirklichkeit, d.i. je eine verständigere, mächtigere,
vollkommnere Energie ein Wesen zur Erhaltung eines Ganzen hat, das sich angehörig
fühlt, dem es sich innig und ganz mitteilt, desto mehr ist es
Individuum, Selbst. Hiernach bestimmte Spinoza
die Vorzüglichkeit des menschlichen Körpers, die Fähigkeiten
der menschlichen Seele und führte alles auf Den zurück, durch den
alles lebt, in dem wir leben und sagen dürfen: »Wir
sind seines Geschlechts durch Bewusstsein durch die uns eigensten, mächtigsten
Kräfte.«
THEOPHRON. Statt also mit Worten
in der Luft zu fechten, lasset uns unser wahres Selbst aufwecken und das Prinzipium
der Individuation in uns stärken! Je mehr Geist und Wahrheit, d.i.
je mehr tätige Wirklichkeit, Erkenntnis und Liebe des Alls
zum All in uns ist, desto mehr haben und genießen wir
Gott, als wirksame Individuen, unsterblich, unzerteilbar. Nur
Der, in dem Alles ist, der Alles hält und trägt, darf sagen: »Ich
bin das Selbst, außer mir
ist Keiner.«
Nachschrift
So weit die Unterredung, die wie es das Wort Gespräch
ohnedies andeutet, jedem Lesenden sein Urteil lassen, indem
sie nur unter sich, nicht für Andre definieren.
Von je her hat es zwei Gattungen Philosophen gegeben, Philosophen aus Überzeugung
und aus Überredung, Sach- und Wortphilosophen. Von der ersten, nicht von
der zweiten Art war Spinoza. Er sagt: »Niemand,
der eine wahre Idee hat, ist darüber unwissend, dass eine wahre Idee auch
die größte Gewissheit einschließe; denn eine wahre Idee haben,
heißt nichts anderes als die Sache recht und vollkommen erkennen. An einer
solchen Sache kann gewiss nur der zweifeln, der die Idee für ein stummes
Gemälde an der Wand hält, nicht für eine Weise zu denken, nämlich
für das Verstehen
selbst; denn, ich bitte, wer kann wissen,
dass er eine Sache verstehe, ohne
dass er sie verstehe? d.i. wer kann wissen, dass er einer Sache gewiss sei,
ohne dass er ihrer gewiss sei? Sodann, gibt es etwas Klareres und Gewisseres
zur Richtschnur der Wahrheit als eine wahre
Idee? Gewiss wie das Licht sich selbst
und die Finsternisse offenbart, so ist die Wahrheit Richtschnur
ihrer selbst und Unterscheidung vom Falschen.73
- Ich maße mir nicht an, die beste Philosophie erfunden
zu haben; aber dass ich die wahre Philosophie einsehe, das weiß ich. Fragst
Du, wie ich das wisse, so antworte ich: wie dass die drei Winkel eines Triangels
zweien rechten Winkeln gleich sind. Dass dies hinreiche, wird kein gesundes
Hirn leugnen; denn was wahr ist, zeigt sich und
zugleich das Falsche.«74
Ein Philosoph solcher Art hat mit Dialektikern nichts gemein, denen
die Wahrheit zu setzen und wegzuräumen gleichgültig ist, weil sie
ihnen nur ein Wort kostet.
Um nichts gab sich also Spinoza so viel Mühe,
als Einsicht und Einbildung, Begreifen und Dichten strenge zu sondern. Wie hart
er mit den Fiktionen der Einbildungskraft umgeht, zeigt sein Theologisch-politischer
Traktat; mehrere Scholien seiner Ethik,
mehrere seiner Briefe zeigen,
wie genau er Wissen vom Träumen und auch in jenem die verschiednen Stufen
des Wissens, Erkennens und Einsehens unterscheide.75
Am Klarsten zeigt es sein Traktat von Verbesserung
des Verstandes,76 für dessen
Vollendung man manches geben würde. Ein Philosoph der Art konnte mit Blendwerken
nichts zu tun haben, die auch in der Spekulation als Schemate umhergaukeln sollen,
den begreifenden, fassenden, verstehenden Verstand
aus sich selbst in Irren umherzuführen. »Zu
wissen, dass ich wisse, muss ich notwendig zuerst wissen;
die Weise, wie wir das formelle Wesen empfinden,
ist die Gewissheit selbst. Zur Gewissheit des Wahren bedarf es keines andern
Zeichens, als dass man eine wahre Idee habe; und was die höchste Gewissheit
sei, kann nur der wissen, der die vollständige Idee einer Sache hat; Gewissheit
und das objektive Wesen eines Dinges sind eins. Es ist also nicht die wahre
Methode, ein Zeichen der Wahrheit zu suchen, nachdem man Ideen erlangt hat;
die wahre Methode ist vielmehr der Weg, die Wahrheit selbst, d.i. die objektiven
Wesen der Dinge oder die Ideen (alle drei Namen bedeuten
Eins und Dasselbe) in gehöriger Ordnung zu erlangen. Notwendig muss
also die Methode vom Verständnis (intellectione)
reden; nicht, dass sie selbst das Vernunftschließen zum Verständnis
der Ursachen der Dinge sei, viel weniger ist das Verstehen dieser Ursachen selbst;
sie ist das Verstehen, was eine wahre Idee sei,
indem sie diese von andern Vorstellungen unterscheidet und ihre Natur erforscht,
so dass wir daher unsre Macht zu verstehen
kennen lernen und unsern Verstand so innehalten, dass er nach dieser
Norm alles Verstehbare verstehe; wozu sie ihm als Hilfsmittel
gewisse Regeln gibt und macht dass er sich nicht mit nutzloser Arbeit ermüde.
Methode ist also nichts als ein reflexives Erkenntnis, d.i. die
Idee der Idee; und weil es keine Idee geben kann, es sei denn
vorher eine Idee da, so kann es auch keine Methode geben, wenn nicht vorher
die Idee da ist. Eine gute Methode wird also die sein die zeigt, wie nach
der Norm einer gegebnen wahren Idee der Verstand zu leiten sei.
Und da das Verhältnis zwischen zwei Ideen mit dem Verhältnis zwischen
den formellen Wesen dieser Ideen einerlei ist, so folgt, dass die reflexive
Erkenntnis der Idee des vollkommensten Wesens
vor der reflexiven Erkenntnis aller übrigen Ideen vorzüglicher
sein muss; mithin wird die vollkommenste Methode die sein, die nach Norm der
gegebnen Idee des vollkommensten Wesens zeigt, wie der Verstand zu leiten. Hieraus
erhellt auch, wie, je mehr der Verstand versteht, er dadurch zugleich Werkzeuge
gewinne, leichter und mehr zu verstehen; denn (wie aus
dem Gesagten klar ist) vor allem Andern muss in uns eine
wahre Idee als ein angebornes
Werkzeug existieren, durch deren Verständnis zugleich der
Unterschied begriffen wird, der sich zwischen einer solchen und jeder andern
Vorstellung findet. Und da es durch sich klar ist, dass der Verstand auch sich
selbst um so besser verstehe, je mehrere Dinge der Natur er versteht, so sieht
man, dass dieser Teil der Methode um so vollkommener sein werde, je mehrere
Dinge der Verstand einsieht, und dass die Methode dann die vollkommenste sein
müsse, wenn der Verstand nach dem Erkenntnis des vollkommensten Wesens
aufmerkt oder reflektiert. Je mehrere Dinge er kennt, desto besser versteht
er seine eignen Kräfte und der Natur Ordnung; je besser er seine Kräfte
versteht, desto leichter kann er sich selbst ordnen und sich Regeln vorschreiben;
je besser er die Ordnung der Natur versteht, desto leichter kann er sich vom
Unnützen zurückhalten; worin, wie wir gesagt haben, die ganze Methode
besteht. Dass unser Verstand ein reines Abbild
der Natur sei, muss er alle deine Ideen aus der Idee hervorbringen, die den
Ursprung und Urquell der ganzen Natur darstellt, damit sie auch Quell aller
andern Ideen werde.«77
So dachte Spinoza, und alle Geister, die wahrer
Ideen, d.i. des Verstehens fähig
und in dem Maße, als sie dessen fähig waren, dachten wie er. Sie
entsagten der dichtenden Imagination und schieden sich von Blendwerken und Wortlarven.
Verstandne Begriffe sind dem Spinoza
das Wesenhafte, Lebendige, Wahre; Bildworte gelten ihm nichts; er gebraucht
sie als algebraische Zeichen.
Was das Äußere seiner Methode anlangt, so weiß jeder, der die
strenge synthetische Methode versucht hat, ihre Schwierigkeiten. Oft haben einzelne
Glieder ihre Kette eine besondere Analyse und Deduktion nötig, die man,
wenn uns ein dergleichen Glied als aus dem Vorhergehenden nicht-folgend auffällt,
geduldig anstellen, nicht aber, weil man sie nicht anzustellen vermag, leugnen
oder verwerfen muss. Aus einem,
dem reichsten und vollständigsten Begriff leitet
Spinoza alles her; in ihm hat und genießt er alles.
Wiefern unter allen Nationen, in den verschiedensten Ausdrücken und Vorstellungsarten
Andre, die Einfalt und Wahrheit liebten, d.i. denen die Idee des Einen,
Wahren als Norm aller Erkenntnis und
Methode lebendig eingeprägt war, an dieser großen
und einfachen Denkart Teil nahmen: dies zu zeigen, wäre ein lehrreicher,
aber zu weit führender Lustweg. Juden und Christen, Griechen und Inder,
Spekulanten mit Kopf und Herz, Scholastiker und Mystiker nahmen daran Teil;
denn Spinoza's Philosophie war lange vor ihm und
wird lange nach ihm bleiben. Oft waren die, die am Schärfsten gegen ihn,
d.i. gegen seine missverstandnen oder übel gewählten Ausdrücke
stritten, wenn sie sich selbst erklären wollten oder mussten, in seinen
oder ihren eignen, jetzt besser, jetzt schlechter gewählten Ausdrücken
seines Glaubens, des innern Glaubens
nämlich an eine einzige, lebendig empfundene, allem zum Grunde liegende
Idee des Wahren, Guten und Schönen, ohne
welche alle unser Sprechen und Schreiben Tand bleibt. Statt dieser zahlreichen
Mitzeugnisse, die einem andern Ort aufgespart werden, stehe eine postume Stelle
Lessing's hier (die wenigstens zeigen mag, dass
ihm Spinoza's System kein Scherz war) und,
von Shaftesbury versifiziert, ein Naturhymnus.
Lessing
Über
die Wirklichkeit der Dinge außer Gott
Ich mag
mir die Wirklichkeit der Dinge außer Gott erklären, wie ich will,
so muss ich bekennen, dass ich mir keinen Begriff davon machen kann.
Man nenne sie das Komplement der Möglichkeit,
so frage ich: »Ist von diesem Komplemente der Möglichkeit in Gott
ein Begriff oder keiner?« »Wer wird das Letzte behaupten wollen?«
Ist aber ein Begriff davon in ihm, so ist die Sache selbst in ihm, so sind alle
Dinge in ihm selbst wirklich.
Aber, wird man sagen, der Begriff, welchen Gott von der
Wirklichkeit eines Dinges hat, hebt die Wirklichkeit dieses Dinges außer
ihm nicht auf. Nicht? So muss die Wirklichkeit außer ihm etwas haben,
was sie von der Wirklichkeit in seinem Begriffe unterscheidet. Das ist: in der
Wirklichkeit außer ihm muss etwas sein, wovon Gott keinen Begriff hat.
Eine Ungereimtheit! Ist aber nichts dergleichen, ist in dem Begriffe,
den Gott von der Wirklichkeit eines Dinges hat, Alles zu finden, was in dessen
Wirklichkeit außer ihm anzutreffen, so sind beide Wirklichkeiten Eins,
und Alles, was außer Gott existieren soll, existiert in Gott.
Oder man sage: die Wirklichkeit
eines Dinges sei der Inbegriff aller möglichen Bestimmungen, die ihm zukommen
können. Muss nicht dieser Inbegriff auch in der Idee Gottes
sein? Welche Bestimmung hat das Wirkliche außer ihm, wenn nicht auch das
Urbild in Gott zu finden wäre? Folglich ist dieses Urbild das Ding selbst,
und sagen, dass das Ding auch außer diesem Urbild existiere, heißt
dessen Urbild auf eine ebenso unnötige als ungereimte Weise verdoppeln.
Ich glaube zwar, die Philosophen sagen, von einem Dinge
die Wirklichkeit außer Gott bejahen, heiße weiter nichts, als dieses
Ding bloß von Gott unterscheiden und dessen Wirklichkeit von einer andern
Art zu sein erklären, als die notwendige Wirklichkeit Gottes ist.
Wenn sie aber bloß dieses wollen, warum sollen nicht
die Begriffe, die Gott von den Dingen hat, diese wirklichen Dinge selbst sein?
Sie sind von Gott noch immer genugsam unterschieden, und ihre Wirklichkeit wird
darum noch nichts weniger als notwendig, weil sie in ihm wirklich sind. Denn
müsste nicht der Zufälligkeit, die sie außer ihm haben sollten,
auch in seiner Idee ein Bild entsprechen? Und dieses Bild ist nur ihre Zufälligkeit
selbst. Was außer Gott zufällig ist, wird auch in Gott zufällig
sein, oder Gott müsste von dem Zufälligen außer
ihm keinen Begriff haben. Ich brauche dieses außer ihm,
so wie man es gemeiniglich zu brauchen pflegt, um aus der Anwendung zu zeigen,
dass man es nicht brauchen sollte.
Aber, wird man schreien, Zufälligkeiten in dem unveränderlichen
Wesen Gottes annehmen! - Nun, bin ich es allein, der dieses tut? Ihr selbst,
die Ihr Gott Begriffe von zufälligen Dingen beilegen müsst, ist Euch
nie beigefallen, dass Begriffe von zufälligen Dingen zufällige Begriffe
sind?
Lessing's Leben und Nachlaß,
Th. 2. S. 164.
Naturhymnus
von Shaftesbury.78
Erster Gesang
Empfangt mich, Fluren! Heilige Wälder,
nehmt,
Dem Stadtgeräusch entronnen, den Wandrer auf,
Der hier in Euren Schatten Ruhe
Sucht und Erquickung! Gewährt sie hold ihm!
Heil Euch, Ihr grünen frohen Gefilde! Heil,
Des stillen Segens Wohnungen, Euch! Und Euch
Ihr reiz- und schmuckbekränzten Fernen,
Heil Euch und Allem, was in Dir lebet,
Du Aufenthalt glückseliger Menschen, die,
Entfernt dem Neide, ferne der Torheit, hier
Unschuldig, still und froh und munter
Leben und, große Natur, Dich anschauen!
Natur! der Schönen Schönste, Du Gütige!
Allliebend, wert, von Allen geliebt zu sein,
Ganz göttlich, weisheitvoll, voll Anmut,
Alles Erhabenen hoher Inhalt,
Der Gottheit Freundin, weise Statthalterin
Der Vorsicht, oder - Schöpferin, Schöpfer selbst? -
O Schöpfer, sieh, ich knie und bete,
Bete Dich an in der heil'gen Halle
Des hohen Tempels. Dein, o Erhabner, ist
Dies Schweigen; Dein ist diese Begeisterung,
Die mich, obwohl in unharmonisch
Lautenden Tönen zu singen antreibt.
Der Wesen Einklang, Ordnung und Harmonie
Des Weltalls, die sich, o Unerforschlicher,
Du alles Schönen Quell und Ausguss,
Meer des Vollkommnen, in Dich sich auflöst,
In dessen Fülle alle Gedanken ruhn,
In dem die Schwingen jeglicher Phantasie
Ermatten, sonder End' und Ufer,
Überall Mittelpunkt, nirgend Umkreis.
So oft ich ausflog, kehrt' ich zurück in mich,
Von meinem Nichts, von Deiner Unendlichkeit
Durchdrungen; und ich wag' es dennoch,
Dich zu ergründen, Gedankenabgrund?
Dich zu erkennen, ewige Schönheit,
Dich
Beherzt zu lieben, sehnend zu
nahen Dir,
Dazu erschufst Du mich und gabst mir
Regung und Willen; o, gib mir Kräfte!
Sei Du mein Beistand! Wenn ich im Labyrinth
Der Schöpfung forsche, leite den Forscher Du,
Der mich mit Geist und Lieb' erfüllte,
Führe den Liebenden zu Dir selbst hin!
Zweiter Gesang
Allbelebender Geist, o Du Begeisterer,
Kraft der Kräfte, Du Quell jeder Veredelung,
Quell auch meiner Gedanken,
Inhalt meiner Gedankenkraft,
Unermüdet und stets unwiderstehbar regst
Du zum neuen Genuss Alles im Reich der Macht;
Unter heil'gen Gesetzen
Wechseln Leben und leben neu.
Froh gerufen zum Licht, schauen sie und vergehn
Fröhlich schauend, damit Anderes auch den Strahl
Dieser Sonne genieße
Und am Leben sich Alles freu'.
Unerschöpflicher Quell, Allem mitteilend sich,
Unversiegbar; es stört nichts die geschäft'ge Hand,
Die kein Pünktchen verabsäumt,
Nichts verlässet mit ihrer Huld
Der Verwesung selbst grause Naturgestalt
(Schaudernd zittern von ihr Blick und Gedanken weg)
Ist die Pforte zum Leben,
Neuer Jugend Erschafferin,
Schauplatz ewiger Kunst! Alles ist Weg und Ziel,
Zweck und Mittel. Es gehn Welten in Welten auf
Unsern Sinnen; Unendlich
Kleines wird uns unendlich groß!
Welt der Wunder! In ihr strebet ein Wesen fort
(Ist's ein Wesen?), das, sich immer mitteilend, nie
Stirbt; es strebet in tiefster
Ruh'; wir nennen Bewegung es.
Dort ein ander Gespenst, unserm Begriff zu klein
Und zu groß: es entschlüpft jetzt wie ein Augenblick,
Schwillt jetzt, unserer Schranken
Spottend, auf bis zur Ewigkeit.
Wir begreifen es nicht; aber wir nennen's Zeit,
Uns was endlos umher Alles umfasset, Raum.
Und - o tiefes Geheimnis,
Unser Denken, Empfinden Du!
Uns das eigenste Selbst, und das gewisseste
Aller Wesen (es sei Alles ein Schattentraum,
Mein Empfinden ist Wahrheit;
Mein Gedanke, Vernunft besteht),
In ihm fühl' ich das Sein höherer, ewiger
Wesen; in ihm das Sein Deiner,
o Urbild Du
Deiner Werke, Du wohnest
Höchstwahrhaftig in mir, in mir!
Dritter Gesang
Du Sternenhimmel, funkelnder Sonnen
Raum!
Wer zählt die Sonnen? wer, die noch Niemand sah?
Und misst von Welten dort zu Welten,
Misset von allen den Raum zu uns dann?
O Unermessner! Jede der Sonnen regt
Ein Heer von Erden. Jede der Sonnen wallt
In Straßen, deren kleiner Schimmer
Uns ein Gewölk ist, in sich ein Weltall.
Dort unsre Sonne! Heiliger Tagesbrunn,
Lichtquell und Quell des wärmenden Lebens! Sanft
Und stark wirksame Flamm', ergossen
Ringsum und in sich gedrängt, ein Lichtball.
Allmächtig Wesen, Bild des Allmächtigen,
Des Weltenhalters, Grund der belebten Welt!
An Anmut unvergänglich ewig -
Ewig ein Jüngling und schön und lieblich.
Kaum bist Du sterblich, hohes Geschöpf. Wer tränkt,
Die immer ausgießt, labende Ströme stets
Vergeudend, die stets unerschöpfbar
Segnet von oben, wer tränkt und stärkt Dich?
Erfreut zu werden, schweben in lebender
Bewegung viele Erden um sie. Zu ihr
Gezogen als zu ihrer Mutter,
Drängen sie sich, und ein anderer Zwang hält
Sie still umkreisend. Mächtiger Hausherr, welch
Ein Geist belebt sie! Gossest Du Seel' in sie?
Wie oder fügtest Du dem Aether
Mächtig sie ein und dem Hauch der Winde,
Der Winde, Deiner Diener? Wer hält den Bau
Jedweder Welt zusammen? und dreht den Ball
Der Erd' um ihren Punkt, indes ihr,
Ihr und der Sonne getreu, der Mond folgt?
Was bist Du, Erde, zu dem Gewalt'gen dort?
Zur Sonne? was zum Heere der Sonnen? was
Zum Unermesslichen? Und dennoch
Bist Du so groß zu dem Nichts, dem Menschen!
Dem Menschen, der, von himmlischem Geist belebt,
Von Dir sich aufwärts, auf zu dem Vater
schwingt,
Zum Mittelpunkt der Seelen, sicher,
Wie sich der Körper zu seinem
Punkt drängt.
O, drängten alle Geister zu ihrem Ziel
Sich so beständig! Doch der das Chaos schied
Und sang die Welt in Harmonien,
Wird auch die Geister in Ordnung singen.
Vierter Gesang
Unglückseliges Volk, Menschen!
Warum entfloht
Ihr der lieblichen Flur lohnender Mühe? Stolz -
Oder hieß Euch ein Dämon
Ruh' verachten und elend sein?
Da kam Übel und Not über die Sterblichen!
Kranker, matter Begier ekelte, was die Erd'
Heimisch reichte; sie streiften
Plündernd über das Meer hinaus.
Von den Schätzen der Welt über der
Erde Schoß
Ungesättiget, grub mühend die Torenzunft,
Grub hinein in der Mutter
Eingeweide nach Reichtum hin.
Da auch, göttliche Kunst, herrschetest bildend Du,
In Verwandlungen hier, dort in untrennbaren
Ewig festen Gestalten,
Undurchdringlich dem Forschenden;
Aber giftiger Dampf, der die Geheimnisse
Deiner Werke, Natur, birget, umhüllte schnell
In der grausigen Werkstatt
Die Verwegnen mit Todesdampf.
*
Reine, liebliche Luft! freundliches
Tagelicht!
Dich zu schauen auf Dich, Erde, zu treten froh,
Deine Schätze betrachtend -
Welche reinere, süße Luft!
Von der Sonne gewärmt, von dem belebenden
Hauch der Winde gekühlt, wenn sie die Pflanzen hier
Sanft erquicken und läutern
Dort der dampfenden Erde Dunst.
Regen strömen hinab, neue Befruchtungen;
Denn mit Kräften belebt, Erde,
Du Nährerin
Deiner Kinder, die Luft
Dich
Frisch, als bildete Gott Dich heut.
*
Und Du schwerere Luft, Wasser,
o schön bist Du!
Hell durchscheinend und klar, aber auch harten Sinns,
Wenn Tyrannen Dich pressen;
Sanft geleitet, wie folgst Du gern!
Rinnst, ein spiegelnder Strom, lösest die lockere
Erd' auf, schwemmest der Flur stärkende Nahrung zu,
Die in heilsamer Zwietracht
Blüten zeuget und Frucht gebiert.
Und zusammengedrängt tief in den Ozean,
Wanderst, leichtes Geschöpf, wieder gen Himmel Du,
Aufgezogen von Lüften;
Schwebst in Wolkengestalt umher,
Und kommst wieder herab, wieder zur lechzenden
Erd' erquickend und füllst Quellen und Ströme neu:
Ringsum lachen die Felder;
Alles Lebende lebt durch Dich.
*
Und Ihr Quellen des Lichts, Meere
der leuchtenden
Feuerflammen, wer forscht, und wer umufert Euch?
Ausgegossen ins weite
Weltall, tief in der Erde Schoß
Eingeschlossen. Die Luft dienet Euch willig, trägt
Euch auf Fittichen. Trinkt selber die Sonne nicht,
Trinkt nicht alle das Sternheer
Eure Strahlen und glänzt von Euch?
Lichtquell, heiliger Brunn! Nenn' ich Dich Aether?
Dich,
Den Durchdringenden, der Alles erhitzt und wärmt,
Unsern frostigen Erdball
Liebend wärmet bis in sein Herz.
Durch Dich bildeten sich alle Gestalten; Du
Gibst der Pflanze Gedeihn, fachst in der Atmenden
Brust die himmlische Flamm' auf,
Die empfindet und
Leben heißt;
Baust, ernährest und sparst jegliches Werkzeug Dir,
Hältst in glücklicher Ruh', glücklich in Harmonie
Alle Wesen; sie freun sich
Deiner wärmenden Mutterhuld.
Aber brichst Du hervor wütend in Flammen, brichst
Überwältigend Du jede Gestalt und Form,
O, so löset sich Alles
Auf und kehret zurück - in Dich.
Fünfter Gesang
Wie matt und träge blicket die
Sonne dort
Nach jener schiefen Ferne des Erdenballs!
Lang ist die Winternacht, die dort liegt,
Wenig erfreuend der holde Morgen.
Da rasen Stürme, nimmer ermattend; da
Liegt in kristallnen Wellen das brausende
Unzähmbar-stolze Meer gefangen;
Täler und Höhen bedeckt die Alpe
Das eis'gen Schneees. Unter ihm liegt der Strom
Erstarrt, erstarret Baum und Gesträuch und Land;
Hineingedrängt in finstre Höhlen,
Zittern die Menschen vor Frost, umheulet
Von hungernd-wilden Bestien. Doch (so groß
Ist Menschenmut!) sie zittern und zagen nicht
Vor ihnen; Kunst und Klugheit hebt sie
Über Gefahren und Nacht und Mangel.
Denn endlich kommt die mächtige Sonne, schmelzt
Hinweg den Schnee und löst die Gefangenen,
Die dann auf einen künft'gen Kerker
Wieder sich rüsten und froh versorgen.
O Kunst und Klugheit! Göttliche Gabe! reich
Geschenk des Himmels! Waffe für jede Not!
Eisberge schwimmen dort; die Sonne
Riss von einander die mächt'gen Berge,
Und zwischen ihnen drängen sich Ungeheu'r
Der Tiefe; seht! sie schwimmen wie Inseln, groß
Und stark und unbezwinglich Allem,
Göttliche Menschenvernunft, nur Dir nicht.
*
Hinweg, o Winter!
Wende, mein Auge, Dich
Zu jenen holden Gegenden, die die Sonn'
Inbrünstig anblickt: wie verändert
Wirket sie dort! einen ew'gen Sommer.
Das Aug' erträgt nicht diesen erglüh'nden Strahl;
Die Luft erkühlt nicht diese gehobne Brust,
Die nach der Ruhe lechzt im Schatten
Kühler, erfrischender Abendwinde.
Der Schöpfer weigert Menschen und Tieren nicht
Die lang erseufzte stärkende Ruh' Ein Dach
Von Wolken steigt empor; erquicket
Atmen die Pflanzen, sie atmen Dank auf.
*
Du Land der Wunder! Edelgesteineland,
Von Würzen duftend! Aber wer schreitet dort
Um schönen Fluss? Ein Berg, belebet,
Reich an Empfindungen und Mut und Weisheit,
Dem Menschen dienend, selber in Schlachten ihm
Mehr Bundsgenoss als Sklave - der Elefant!
O Prachtgeschöpf! Und Prachtinsekten,
Schöne Bewohner der schönsten Pflanzen,
Vom kleinen Moose bis zum erhabenen Palm!
Und dort vor allen jenes Insekt, das sich
Begräbt und spinnt den Menschen ihre
Seidnen Gewande, den Schmuck des Stolzes.
Mein Blick zieht weiter. Siehe, wie Balsam dort
Von Bäumen fließet! Dort das geduldige
Kamel; es hebt den Hals und senket
Nieder den Rücken, ein Schiff der Wüste.
Schau dort den Nilstrom! Bild
der belebenden
Vielbrüst'gen Mutter, steckt er die Arm' umher,
Damit von seinen segensschwangern
Fruchtenden Wellen sich Alles labe.
Aus dürrer Wüste eilen die Tier' herbei,
Den Durst zu löschen, fröhlich zu paaren sich;
Die Inbrunst wirret die Geschlechter,
Neue Gestalten erzeugt die Sonne.
Tyrann des Stromes, schreckendes Ungeheu'r
Der Ufer, lauschend hinter dem Schilfe, dann
Den Schlafenden erhaschend (falsche
Tränen entrinnen dem frommen Mörder),
Verhasstes Bild der trügenden Heuchelei
Des Aberglaubens, weinender Krokodil,
Der Pest, die Menschen gegen Menschen
Reizte, mit Wut sich um Gottes willen
Zu würgen. Unhold, bleib in der Wüste dort,
Die Dich geboren! Halte den Gifthauch fern,
Der, um den Himmel zu bevölkern,
Länder verheert und entmenscht die Menschheit.
*
Hinauf zu jenen Höhen, wo Berge dort
Den Himmel tragen! Fels über Fels getürmt
Erklimmen wir; die Ströme drunten
Tosen und brüllen im jähen Abgrund.
Verwittert hangt der drohende Fels auf uns!
Geborsten steht die Trümmer der ew'gen Höh'
Des Erdbaus. Prächtige Verwüstung!
Alter und Jugend der Welt enthüllst Du.
Uranfang suchen unsre Gedanken hier
Uns suchen in der Tiefe des Abgrunds dann
Der Wesen Ende. Nicht am Gipfel,
Lass uns in Mitte des Berges weilen!
Hier unter immergrünenden Fichten, hier
Im Zedernschatten! Selber des Mittags Strahl
Wird Dämm'rung hier; die tiefe Stille
Schweigend, sie spricht und enthüllt Gedanken.
Gedanken von wie mächtiger neuer Kraft!
Geheimnisreiche Stimmen ertönen! Hier,
Hier ist der Gottheit Tempel! Heilig -
Heiliges Wesen, mit Nacht umschleiert!
Fußnoten
1 Oeuvres de Bayle, T. IV. p. 169. 170.
2 Tractatus Theologico - Politicus, continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur, libertatem philosophandi non tantum salva pietate et reipublicae pace posse concendi, sed eamdem nisi cum pacereipublicae ipsaque pietate tolli non posse. Hamburg. (Amstelod.) 1670.
3 Er ist seitdem übersetzt erschienen (Gera 1787), aber ohne die Anmerkungen, die hier gewünscht werden. Seine »Ethik« ist mit Anmerkungen begleitet.
4 Leben des Spinoza von Joh. Colerus. Frankf. 1733.
5 In
Heidenreich's »Natur und Gott« (B. I. Leipzig 1789) ist der erste
Teil des Aufsatzes La vie et l'esprit de Mr. Benoit de Spinoza übersetzt.
Obgleich
enthusiastisch geschrieben, stimmt dies Elogium eines Freunde und Bekannten
dennoch mit Coler's Lebensbeschreibung zusammen und ist merkwürdig.
6 S. Uriel. Acostae Exemplar humanae vitae, hinter Limborch's Amica collatione cum Judaeo, Basil. 1740.
7 Ein Vorgänger eben des Colerus, der sein Leben geschrieben.
8 B. d. S. Opera posthuma (Hagae Com.) 1677.
9 Tractatus de intellectus emendatione in Opp. posthum. Spinozae, p. 356.
10 Die Vorrede der Herausgeber sagt dies und bittet um Verzeihung, »wenn in dem Aufsatz Manches dunkel und roh erscheine; der Aufsatz sei nicht vollendet.« A. d. H.
11
Descartes, Opp. Philosoph. Amstel. 1685. Regii Philos. natural. Amstel. 1654.
Raaei Clav. philos. nat. Lugd. 1654. Clauberg's Phys., Metaphys. etc.
»In Cartesio displicet, sagt Leibniz, audacia et fastus nimius conjunctus
cum styli obscuritate, confusione, maledicentia. Longe magis mihi probatur Claubergius,
discipulus ejus, planus, perspicuus, brevis, methodicus.« Leibnit. Otium
Hannoveran., ed. Fellero.,p. 181.
12 Amstel. 1663. »Quem ego cuidam juveni, quem meas opiniones aperte docere nolebam, antehac dictaveram«, sagt Spinoza in seinem neunten Briefe, S. 423.
13 Opp. posth., p. 395 seq.
14 Da diese Ode seitdem in Kosegarten's »Poesien« (B. I. S. 35) wohlklingend übersetzt ist, so stehe sie hier, diese Übersetzung:
15 Divisus, a didere pro dividere.
16 Mensor s. mensura.
17 V. Ethic., p. 49. Schol. et epist., 21, 39, 40, 49, etc. »Jedermann muss ja einräumen, dass nichts ohne Gott weder sein noch gedacht werden könne; denn Alle gestehen, dass Gott aller Dinge, sowol ihrem Wesen als ihrem Dasein nach, einzige Ursache sei. Inzwischen sagen doch auch die Meisten, zum Wesen eines Dinges gehöre das, ohne welches das Ding weder sein noch gedacht werden kann. Sie müssen also glauben, entweder dass die Natur Gottes zum Wesen der erschaffenen Dinge gehöre, oder dass die erschaffenen Dinge ohne Gott sein und gedacht werden können, oder - welches wol das Gewisseste ist - sie wissen nicht, was sie meinen. Die Ursache hievon,halte ich, lag in der fehlerhaften Ordnung ihres Philosophierens. Die göttliche Natur, die sie vor allem Andern betrachten sollten, weil sie sowol ihrer Natur als unsrer Erkenntnis nach das Erste ist, setzten sie zuletzt; die Objekte der Sinne (wie sie es nennen) stell-ten sie Allem voran. Wenn sie diese betrachteten, dachten sie an nichts weniger als die Gottheit; wenn sie nachher zu dieser übergingen, konnten sie an nichts weniger als an ihre vorigen Figmente denken, denen sie die Kenntnis natürlicher Dinge übergebaut hatten, und die ihnen zum Verstande der göttlichen Natur nichts helfen konnten« u.s.w.
18 Prop.
18 verglichen mit Ep. 21. »In Gott, sage ich mit Paulus, vielleicht auch
mit allen alten Philosophen (obgleich auf andere Weise), und ich möchte
sagen, auch mit allen alten Ebräern (so viel sich aus einigen, obwol sehr
verstümmelten Traditionen mutmaßen lässt), in Gott webt und
ist Alles. Glauben aber Einige, dies gehe darauf hinaus, dass Gott und die Natur
(unter der sie sich eine gewisse Masse oder körperliche Materie denken)
Eins und Dasselbe sei, so verfehlen sie ganz des Weges.« Opp. posth.,
p. 449.
19 V. Epist. 29: »Maß, Zahl und Zeit sind nichts als Denk- oder vielmehr Imaginationsweisen. Daher alle, die durch ähnliche, überdem übelverstandene Notionen den Fortschritt der Natur haben verstehen wollen,sich so wunderbar verwirrt haben. Denn da es viele Begriffe gibt, die wir nicht durch Imagination, sondern durch den Verstand allein erreichen, z.B. Substanz, Ewigkeit u.s.w., so täte Der, der diese Begriffe durch jene Hilfsmittel der Imagination erklären wollte, nichts weiter, als dass er sich Mühe gäbe, mit seiner Imagination zu rasen.« Opp. posth., p. 468.
20
»Kein Attribut der Substanz kann wahrhaft gedacht werden, aus welchem
folge: die Substanz sei teilbar.« Ethic. Prop. XII. »Die absolut-unendliche
Substanz ist unteilbar.« Prop. XIII.
21 Im zweiten Teil der Ethik de mente.
22 Ep. 69, 70, 71,72. Ausdrücklich sagt er in diesen Briefen, »dass von Descartes die Materie durch Ausdehnung übel definiert worden, dass aus der Ausdehnung die Varietät der Körper nicht zu erklären sei«, und geht so weit, dass er die Cartesischen Naturprinzipien nicht nur unnütz, sondern ungereimt nennt. Opp. posth., p. 596. seq.
23 Boscowich, Philosophiae naturalis theoria redacta ad unicam legem virium in natura existentium. Viennae 1760.
24 Aus August Henning's Philosophischen Versuchen, Kopenhagen 1780.
25 S. seinen merkwürdigen 29. Brief, Opp. posth., p. 465.
26 In schedis gallicis de systemate harmoniae praestabilitae agentibus snimam tantum, ut substantiam, non ut simul corporis Entelechiam consideravi, quia hoc ad rem, quam tunc agebam, ad explicandum nimirum conaensum inter corpus et mentem non pertinetbat; neque aliud a Cartesianis desiderabatur. Opp. Leibnit., T. II. P. I. p. 269.
27
»Nach Spinoza«, sagt Lessing, »ist die
Seele nichts als der sich denkende Körper, der Körper nichts als die
sich ausdehnende Seele«. S. Lessing's
Leben und Nachlaß, Th. 2. S. 170. Genau und wahr. »Durch Spinoza
ist Leibniz nur auf die Spur der vorherbestimmten Harmonie gekommen.«
S. 167.
Aber durch welchen andern Cartesianer oder ältern Philosophen konnte er
nicht darauf gekommen sein? Und warum durch einen ältern Philosophen? Drückt
seine Hypothese, von Willkürlichkeiten gesondert, etwas Anders aus als
ein Gesetz der Erfahrung?
28 Die hieher
gehörigen astronomischen Abhandlungen von Lagrange und Laplace stehen in
den Denkschriften der Berliner und Pariser Akademie. Des
Newton's unsrer Zeit, Pierre Simon Laplace, Exposition du Système du
monde, die seitdem (1796) erschienen, ist eine Himmelskarte dieser weisen ewigen
Gesetze des Weltalls.
29 »Der
wirkende Verstand (intellectus actu), sei er endlich oder unendlich, muß
wie Wille, Liebe, Begierde zur abgeleiteten, nicht zur hervorbringenden
Natur gezählt werden.« Prop. 31. »Die Natur hat keinen vorgesetzten
Endzweck; alle Endursachen sind Dichtungen der Menschen.« Prop. 36, append.
u.s.w.
30 S. Br. 24, 25 u.s.w.
31 S. im Register seiner Opp. den Namen Spinoza.
32 »Je
mehr Realität oder Wirklichkeit ein Ding besitzt, desto mehr Attribute
kommen ihm zu.«(P. I. Prop. 9.) »Gott, das selbstständige Wesen,
bestehend
in unendlichen Attributen, deren jedes sein unendliches ewiges Wesen ausdrückt,
existiert notwendig.« (Prop. 11.) »Aus der Notwendigkeit der göttlichen
Natur muss Unendliches auf unendliche Weisen, d.i. Alles, dessen ein unendlicher
Verstand fähig ist (quaesub intellectum infinitum cadere possunt), folgen.«
(Prop. 16.) »Gottes Verstand ist die Ursache der Dinge, sowol ihrer Existenz
als ihrem Wesen nach; er ist also vom Verstande aller Dinge wesentlich unterschieden.«
(Prop. 18. Schol.) »Gottes Existenz und Wesen ist Eins und Dasselbe.«
(Prop. 20.) »Auf keineandre Weise, in keiner andern Ordnung haben die
Dinge hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht sind; mithin
in der größten Vollkommenheit,weil sie aus der vollkommensten Natur
notwendig folgen. Niemand kann uns überreden, zu glauben, dass .Gott nicht
Alles, was in seinem Verstande ist, in der
Vollkommenheit, wie er es erkennt, schaffen wolle.« (Prop. 33. Schol.
2.) »Gedanke ist ein Attribut Gottes, eins seiner unendlichen Attribute,
das sein ewigesunendliches Wesen ausdrückt.« (P. II. Prop. 1.) »In
Gott ist notwendig eine Idee, sowohl seines Wesens als Alles dessen, was aus
seinem Wesen notwendig folgt. Der Pöbel versteht unter Gottes Macht eine
freie Willkür, wir haben aber gezeigt, dass Gott mit derselben Notwendigkeit
handle, mit der er sich selbst erkennt (se ipsum intelligit), d.i. wie es aus
derNotwendigkeit der göttlichen Natur folgt, dass Gott sich selbst erkenne,
so folgt auch aus ihr, dass Gott Unendliches auf unendliche Weisen wirke.«
(Prop. 3. Schol.) »Die Idee Gottes, aus welcher Unendliches auf unendliche
Weisen folgt, kann nur eine sein; denn ein unendlicher Verstand begreift nichts
in sich als Gottes Attribute und Affektionen.« (Prop. 4.) »Die Ordnung
und Verbindung seiner Ideen ist die Ordnung und Verbindung der Sachen selbst.«
(Prop. 7) »Was irgend vom unendlichen Verstande gedacht werden kann, als
konstituierend des Selbstbestehenden Wesen, das Alles gehört zum einzigen
Selbstständi-gen.« u.s.w. (Prop. 7. Schol.)
33 Zeuge dessen ist Spinoza's ganze »Ethik«.
34 Uz' lyrische Gedichte, Theodicee.
35 »Da in dem Ewigen es weder ein Wann noch ein Vorher und Nachher giebt, so folgt aus der bloßen Vollkommenheit Gottes, dass er ein Andres beschließen, als er beschlossen hat, weder könnte noch gekonnt habe. Vor seinen Beschlüssen war es nicht, noch ohne dieselbe. Änderte er diese, so würde er seinen Verstand und Willen ändern, d.i. ein andrer Gott sein.« (Prop. 33 Schol. 2.)
36
Oeuvres Philosophiques de Leibnitz, publ. p. Raspe. Amst. 1765, beinah die lehrreichste
unter Leibnizens Schriften, von dem übrigens jede Zeile
lehrreich ist.
37 »Keinesweges unterwerfe
ich Gott einem Fatum, sondern ich denke mir, dass aus der Natur Gottes Alles
so notwendig folge, wie Jeder es sich aus der Natur Gottes folgend denkt, daß
Gott sich selbst erkennt. Beim Letzten leugnet Niemand, dass es aus der göttlichen
Natur notwendig folge, und doch denkt sich dabei Niemand, daß Gott von
einem Schicksal gezwungen sich selbst erkenne; er erkennt sich frei und doch
notwendig.« Ep. 23. Opp. post., p. 453.
38
»Wer begierig ist, Andern mit Rat und Tat dahin zu helfen, dass sie insgesamt
des höchsten Gutes genießen, der wird sich befleißigen, sich
ihre
Liebe zu erwerben, nicht aber sie in eine Bewunderung seiner zu ziehen, dass
eine Wissenschaft von ihm den Namen erhalte«. Eth., P. IV. Opp., Cap.
25.
39 Ueber die Lehre des Spinoza, Breslau 1786. Neue vermehrte Ausgabe. Breslau 1789.
40 Ueber die Lehre des Spinoza, S. 12. Die Zitationen, nach der ersten Ausgabe bemerkt, sind geblieben, und in der zweiten leicht zu verfolgen.
41 S. 12.
42
S. 14.
43 S. 17.
44 »Wenn ich mich nach Jemand nennen soll, so weißich keinen Andern.« S. 12. (Wenn! soll! weiß ich!) »Freilich! Und doch! Wissen Sie etwas Besseres?«
45 S. 17.
46 Person,
as I take it, is the make of this Self. Wherever a Man finds what he calls Himself,
there I think another may say is the same Person. It is a forensick term, appropriated
Actions and their Merit, and so be-longs only to intelligent Agents capable
of a Law and Happiness and Misery. Locke, Essay on human understanding, Vol.
I B. 2. 27.Le soi fait l'identité réelle et physique; et l'apparencedu
soi, accompagnée de la vérité, y joint l'identité
personnelle. Si Dieu changeait extraordinairement l'identité réelle,
la personnelle demeurerait, pourvu que l'homme conservât les apparences
d'identité, tantles internes (c'est-à-dire de la conscience) que
les externes, comme celles qui consistent dans ce qui parait aux autres. Ainsi
la conscience n'est pas le seul moyende constituer l'identité personnelle;
le rapport d'autrui ou même d'autres marques y peuvent suppléer.
Leibnitz, Ouvres philosoph., p. 195. 196.
Über den Sprachgebrauch der Worte Person, Persönlichkeit u.s.w. schlage
man Wörterbücher auf, welche man will, latein, deutsch, französisch,
italienisch, spanisch, englisch; alle sagen in ihren gesammelten Stellen, daß
diese Worte ein Eigentümliches oder Besondres unter einer gewissen Apparenz
bezeichnen; welcher Nebenbegriff dem Unendlichen im Gegensatz der Welt gar nicht
zukommt, vielmehr den Begriff des Einzigen, nicht Figurirenden verdunkelt.
47 Locke, Essay on unterstand., B. 2. Ch. 21. §. 5; Ch. 11. §. 17.
48 Leibniz, Oeuvres philosoph. p. Raspe, p. 132.
49 S. 19.
50 Ethic. L. IV. V.
51 S. 19 f.
52 S. 20.
53 S. 21.
54
»Dass Lessing sich nicht anmaßte, zu behaupten, Leibniz sei in dem
Verstande ein Spinozist gewesen, dass er sich selbst dafür erkannt hätte,
beweist die Folge des Gesprächs. Innere wesentliche Ähnlichkeit, Identität
des Systems; das nur hatte Lessing eigentlich im Auge«. Über die
Lehre des Spinoza.
Zweite Ausg. 1789. S. 414.
55 S. 22.
56 Lessing's sämtliche Schriften, Th. 7. S. 23. f.
57 S. 34.
58 Noch befriedigender sieht man dies aus ein paar Aufsätzen in Lessing's hinterlassenen Schriften. (Lessing's Leben und Nachlaß, Th. 2. S. 164 f.) Unwidersprechlich zeigen sie den hellen und reinen Begriff, den Lessing von Spinoza's System hatte, und stellen die Scherze seines Gesprächs an den Ort, der ihnen gehört.
59 S. 170. 172.
60 Man
sehe hierüber Wolff's Widerlegung des Spinozismus, Th. 2 seiner »Natürlichen
Gottesgelahrtheit«, §. 671. u.s.w., die der deutschen Übersetzung
von Spinoza's Sittenlehre (1744) beigedruckt ist.
61
Epist. 23, Opp. posth., 453.
62 Ueber die Lehre des Spinoza.
Breslau 1786.
63 »Omnia in Deo esse et in Deo moveri cum Paulo affirmo, auderem etiam dicere cum antiquis omnibus Hebraeis, quantum ex quibusdam traditionibus, tametsi multis modis adulteratis, conjicere licet.« Epist.21, Opp. posth., p. 499.
64
Die erste Schrift hieß: »Der Spinozismus im Judentum, oder die von
dem heutigen Judentum und dessen geheimen Kabbala vergötterte Welt. An
Mose
Germano befunden und widerlegt von J. G. Wachter«. Amsterd. 1699. Die
zweite: Elucidarius Cabbalisticus s. reconditae Hebraeorum philosophiae recensio,
epitomatore J. G. Wachtero. Rom. 1706. Er findet zwanzig Ähnlichkeiten
zwischen Spinoza's System und dem Kabbalismus.
65 Kästner's vermischte Schriften, Th. 2. S. 11 ff.
66 Ueber die Lehre des Spinoza, S. 34.
67 Eine Erläuterung dieses Ausdrucks, f. in der zweiten Ausgabe des Buchs über die Lehre des Spinoza, S. 46 f.
68
S. 35.
69 S. 35.
70 S. Gleim's »Halladat«, III.
71 Kant's Kritik der reinen Vernunft, Zweite Ausg. S.641. »Wenn Ihr sagt: Gott ist nicht, so ist weder die Allmacht noch irgend ein anderes seiner Prädikate gegeben; denn sie sind alle zusammt dem Subjekt aufgehoben, und es zeigt sich in diesem Gedanken nicht der mindeste Widerspruch.« Ebendas., S. 623.
72 S.
über diese allgemeinen Naturgesetze, insonderheit über die Affinität
und Verähnlichung der Wesen vortreffliche Anmerkungen in den Betrachtungen
über das Universum, Erfurt 1777.
73 Ethic., P. II. Prop. 43, Schol. P. 80.
74 Epist. 74. P. 612.
75 Z.B. Schol. zu Prop. 40, 43, 44, 49 u.s.w.
76 P. 366-392.
77 De emend. intellect., p. 367 f.
78 Moralists,
P. III. Sect. I.
Aus: Johann Gottfried Herder: Gott. Einige
Gespräche über Spinoza's System nebst Shaftesbury's Naturhymnus, Vorlage:
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche.
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin
Drei Gespräche über die Seelenwanderung
ERSTES GESPRÄCH
Charikles: Sie kommen mir recht erwünscht, Theages, und werden sich wundern, dass Sie mich in einer so gelehrten Werkstätte antreffen.
Theages: Welche Bücher! Griechisch, latein, englisch, gar hebräisch; und wovon handeln sie alle? ... Von der Seelenwandrung. Darüber lässt sich nun freilich viel sprechen und schreiben.
Charikles: Lassen Sie uns also sprechen!
Theages: Ich bins zufrieden, denn ich bin müßig. Eine Hypothese, die so reich ist, die so fern von uns liegt, für die und wider die sich also so viel, viel sagen lässt, verdient ja wohl einige Worte für und gegen. Aber wir müssen uns erst erklären, was die Seelenwandrung sei. Es gibt eine von unten herauf, eine andre von oben hinab rückwärts, eine dritte geht in die Runde umher. Verstehen wir uns?
Charikles: Vollkommen. Die von unten hinauf ist, wenn etwa niedrigere Keime von Leben zu höhern verfeinert werden, wenn z. B. die Seele der Pflanze Tier, die Seele des Tiers Mensch würde u. s. f. Von oben hinab rückwärts, ist die Braminen-Hypothese*: dass gute Menschen zur Belohnung Kühe, Schafe und weiße Elefanten, die Bösen zur Strafe Tiger und Schweine werden. Die dritte in die Runde umher ist — die in die Runde. Von welcher wollen wir zuerst reden?
*Lehre der Brahmanen, der obersten Brüderschaft der indischen Hindu-Religion, die das Brahma, die Urkraft, die Weltseele, verehrte und die Seelenwanderung lehrte.
Theages: Von welcher es Ihnen gefällt. Die erste hinaufwärts ist sehr wahrscheinlich, und wenn sies ist, so zerstört sie die zweite und dritte. Ist der Weg hinaufwärts bei allem Lebenden Gesetz der Natur, nun, so kann nichts zurück- oder ewig im Kreise umhergehn, so muss auch der Mensch vorwärts. Bei ihm, als dem obersten Gliede der Kette, die wir kennen, kann die Schnur nicht abreißen; er ist ein Wesen wie alle Wesen und muss, wenn alles fortgeht, nach dem allgemeinen Gesetz der Natur mit fortgehen.
Charikles: Da nehmen wir aber schon dies Gesetz der Natur bewiesen an?
Theages: So wollen wirs nicht annehmen und von der ersten Art der Seelenwandrung, ob z. E. der Mensch erst Tier, vorher Pflanze gewesen und auf seinen jetzigen Platz fortgerückt sei, noch gar nichts wissen. Wir reden also nur von der zweiten und dritten Reise, rückwärts oder in die Runde, und fragen, ob dazu Data [Tatsachen] in der Natur, Erfahrungen aus dem Menschengeschlecht, Ahndungen in unsrer Seele, Begriffe in Gott, sofern wir ihn kennen, oder im gesamten Weltlauf liegen. Getrauen Sie Sich, zu antworten?
Charikles: Beinahe. Und ich fange vom Klarsten, von den Erfahrungen aus dem Menschengeschlecht, an. Kennen Sie keine großen, seltnen Leute, die, was sie sind, unmöglich auf einmal, in einer Menschenexistenz geworden sein können, die schon oft dagewesen sein müssen, um zu der Reinheit von Gefühl, zu dem instinktmäßigen Triebe für alles Wahre, Gute und Schöne, kurz, zu der Eminenz und natürlichen Oberherrschaft über alles, was um sie ist, gelangt zu sein? Kennen Sie solche Menschen nicht?
Theages: Ich wüsste keinen.
Charikles: Haben Sie also auch von keinen solchen seltnen, großen, eminenten Menschen gelesen?
Theages: O Freund, was soll das Spiel, große Männer nach Uniformen zu rangieren? Ich kenne große Männer im Leben und in der Geschichte, aber keinen, der, um der Mann zu sein, der er ist, notwendig etlichemal im Menschenmutterleibe gewesen sein müsste. Die größten Männer, fand ich immer, waren die bescheidensten und aufrichtigsten. Sie verschwiegen nie, was sie in ihren Augen sind, was sie waren, was und wie sies wurden. Sie stürzten sich nicht in den Ätna*, um Götter zu werden, weil die Eisenpantoffeln doch immer zu rechter Zeit ans Tageslicht kommen. Vielmehr gaben sie Konfessionen für Welt und Nachwelt heraus und beichteten —
*Der griechische Philosoph Empedokles soll das der Sage nach getan haben.
Charikles: Und was beichteten sie? Erinnern Sie Sich nicht des Pythagoras, der Euphorbus gewesen war, des Apollonius von Tyana?
Theages: Lassen wir die fabelhaften Schatten und kommen lieber auf Personen, die uns im Licht stehn. Petrarchs, Cardanus, Montaignes, Luthers, Rousseaus Konfessionen, sagen sie wohl eine Silbe davon, dass diese gewiss großen, wenigstens sonderbaren Männer sonst schon in der Welt waren, dass sie fühlten, sie hätten ohne das nicht die werden können, die sie sich zu sein bestrebten? Bekennen sie nicht gegenteils aufrichtig, wie sie sich emporarbeitet, mit Mühe aus dem Nichts gezogen, alle Fehler und Schwachheiten noch in sich gefühlt, ja, von solchen hingerissen, unzweifelhaft auch schlechte Menschen hätten werden können, wenn sie ihnen den Zügel schießen ließen? Erinnern Sie sich des Sokrates vor jenem Gesichtsdeuter; und Sokrates war doch auch pythagoräischer Träume sehr fähig.
Charikles: Vielleicht auch dieses pythagoräischen Traums; überhaupt aber wissen wir von Sokrates aus seinem eignen Munde zu wenig; er spricht nur durch den Mund andrer*.
*
Wir wissen von Sokrates vor allem aus seines Schülers Xenophon »Erinnerungen« und aus Platons Dialogen, in denen er als Gesprächspartner auftritt.
Lassen Sie also die Exempel und sagen: glauben Sie nicht, dass der recht großen Leute nur wenig in der Welt gewesen?
Theages: Sie hießen nicht groß, wenn ihrer nicht wenige wären.
Charikles: Meinen Sie, dass diese in allen Jahrhunderten seltnen großen Leute durch Fleiß, durch eine Mühe, zu der jeder Handwerksgeist fähig ist, oder durch Natur, durch eine Art angebornen Sinnes, durch eine Inspiration, die sie sich nicht gegeben hatten, die sie nie verließ, die niemand ihnen nachmachen konnte, und jedermann unglücklich nachahmte, allein dadurch das waren, was sie waren und in aller Zeit sein werden? Sie erschienen wie Genien, sie verschwanden wie Genien, und man konnte nur sagen: »Da war er, da stand er und ist nicht mehr; wo ist wie er ein andrer?« Meinen Sie das nicht?
Theages: Ich darfs nicht meinen: denn es bestätigts die ganze Geschichte; aber was tut dies zur Seelenwandrung?
Charikles: Hören Sie weiter. Erschienen nicht meistens diese großen Leute auf einmal? Wie eine Wolke himmlischer Geister ließen sie sich nieder, wie Auferstandne und Wiedergeborne, die nach einer langen Nacht des Schlafs eine alte Zeit wiederbrachten und als Jünglinge dastanden in neuer Himmelsschönheit. Ists nicht, als ob das Rad der Zeiten umlaufen müsste, um das menschliche Geschlecht wiederzugebären, den Verstand aufzuwecken und die Tugend zu erneuern? Wie, wenn solche Revolutionen in der sichtbaren Welt gerade das wären, was der Name sagt, Revolutionen auch in der unsichtbaren, der Geisterwelt, ein Wiederkommen alter edler Geister- und Menschengeschlechter?
Theages: Das klingt artig. Lassen Sie uns sehen, was an dem glänzenden Traum sei. Dass große Geister selten sind, leugne ich nicht; auch das gebe ich zu, dass sie das, was sie waren, durch Natur und nicht durch den improbus labor [übertriebeneArbeit] allein sein konnten. Aber zur Seelenwandrung tut dies nichts. Auch unter den Tieren gibts in jedem Geschlecht große Stufen und Unterschiede von Fähigkeiten, die nur diejenigen näher bemerken, die mit einem solchen Geschlecht gleichsam vertraulich leben; sind deshalb diese Tiere auch gewandert? Hat der gescheitere Hund oftmals Hund sein müssen, um, was er Ist, zu werden? Oder kommt nicht offenbar alles auf glücklichere Organisation, fröhlichere Erzeugung, edlern Stamm, gute Umstände des Landes, des Klimas, der Geburt, Erziehung und des hundertarmigen Zufalls an, der sich so schlimm in allen seinen Gelenken herzählen und modeln lässt? Nun vergleichen Sie Tiere und Menschen, ein Hackbrett von zwei Saiten, mit der Laute, der Orgel! Welche unendliche Verschiedenheit muss im Menschengeschlecht herrschen, eben weil der Umfang seiner Kräfte so groß, seine Bildung so zart, seine Fähigkeiten so vielfach, das Klima, in dem er lebt, die Welt von Umständen, die auf ihn wirken, so ungeheuer mancherlei, kurz, die Glieder seiner Kette so kormmensurabel (vergleichbar) und so inkommensurabel (unvergleichbar) sind, wie Sie sichs nur. denken wollen. Was kann aus einem Menschen werden! Wer hat noch je das Ziel gesetzt, wie viel und nicht mehr aus einem derselben werden könnte? Und aus so vielen, im Strome der immer fortfließenden Welt- und Menschenbildung? Wäre es da nicht ein größeres Wunder, wenn lauter Plattköpfe geboren würden, als jetzt, da sich noch manchmal gescheite Leute zeigen? Wollten Sie denn, dass der elektrische Funke nie rein und hell schlage, dass die reine Menschenform nicht unter einem Heer von Larven wenigstens hie und da zum Vorschein komme? Was brauchen wir Poltergeister und Revenants [wiederkehrende Gespenster], da ja diese edlere Form wahre, eigentümliche Menschenform ist, von der wir eben nur durch Abartungen, die sich leider so natürlich erklären lassen, unglücklicherweise abgekommen sind und uns vielleicht immer mehr entfernen? Mit ebenso vielem Recht könnten Sie sagen, dass Engel sich in solche höhere Menschen verkörpern, oder dass, wenn ihr Genie instinktmäßig wirkt, Tiere mit Kunsttrieben in ihnen wiedergeboren würden. Ich sehe nicht, warum wir eben die Toten stören und den Propheten Samuel im Schlafrock hervorbringen müssten, nur damit wir ausrufen könnten: »Ich sehe Götter aufsteigen aus der Erde!« Sehen Sie die Menschheit menschlich an, und sie wird Ihnen menschlich erscheinen. Betrachten Sie die einzelnen großen Leute in ihrer Organisation, nach ihrer Geburt, Erziehung, Ort und Stelle, sie werden nicht übers Meer fahren dürfen, um Schatten herbeizuholen.
Charikles: Aber dass diese seltnen Leute meistens zu einer Zeit leben?
Theages: Ist das Ihr Beweis, guter Seelenwandrer? Als ob der Haufe Seelen, wie in Dantes »Hölle«, durch einen Windstoß herbeigetrieben, oder ein Trupp Riesen, wie in Bodmers »Noah«, auf einem Luftschiff herangesegelt käme und nun hier abzusteigen beliebte? Schlagen Sie in der Geschichte nach, Sie werden immer finden, dass äußere Ursachen die Leute weckten, dass Umstände, Erfordernisse, Not, Belohnung sie aufforderten, Nacheifrung sie anreizte, dass eine Reihe Fehler sich erschöpft hatte, dass eine Nacht von Zeiten vorbei war und endlich doch wieder einmal Morgen anbrechen musste. Meistens hatte man so viel vorgearbeitet, dass diese glücklichen Leute nur die Fehler und Bemühungen ihrer Vorfahren nutzen durften, um Ruhm zu erlangen. Nach Dissonanzen trafen sie auf konsone [harmonische] Punkte der Saite — und das ist alles, was durch Vergleichung der Zeiträume und Menschen unser Auge erreicht. Weiterhin ins Unsichtbare dem Finger der Gottheit nachtappen wollen, wenn und wie er Menschen geboren werden lässt, halte ich über unsrer Sphäre. Ich kann, wenn es aufs Dichten ankommt, sie sodann ebenso wohl aus dem Monde bei gewissen glücklichen Vierteln, als aus der Vorwelt durch eine Palingenesie [Wiederkehr] herleiten, die nicht ebenso regelmäßig wie der Mond wechselt.
Charikles: Das letzte tut nichts. Wir sind noch viel zu jung in der Geschichte, wir haben noch viel zu wenig dergleichen periodische Revolutionen erlebet, als dass wir sie wie den Mondswechsel berechnen könnten.
Theages: So sind wir auch viel zu jung, Fiktionen zu hegen, die wir nicht beweisen können, zu denen wir aus aller Geschichte keine festen Data haben. Jung oder alt — das Wiederkommen des menschlichen Geschlechts müsste merklich geworden, die Ebbe und Flut der Geister müsste, wenn auch nur mutmaßend, bemerkt sein. Ja, wenn mit dem Wiederkommen der menschliche Verstand und der moralisch-feine Sinn, die innere Tätigkeit und Elastizität des Menschen gar wüchse, Himmel, wie vortreffliche Menschen müssten wir haben an denen, die schon zehnmal dagewesen wären! Und wo sind diese? Wo, mein Freund, sind sie? Die weisern, bessern, stärkern Menschen, haben sie in der neuen Zeit oder im Altertum gelebt? Und wie oft sind denn die Homere, Sokrates, Pythagoras, Epaminondas, Scipionen wieder erschienen, geschweige, dass sie von Jahr- zu Jahrhunderten gewachsen wären! Immer waren die menschlichen Phönixe selten und werdens bleiben. Wir dürfen nicht besorgen, dass mit dem Jahr 1800 plötzlich Götter auf der Erde statt der Menschen wandeln werden, weil das Kreisrad nun den nassen Lehm getrocknet und die Figuren zur Form gebracht habe. Lassen wir also diese Wahrsagungen an Ort und Stelle und begnügen uns, Menschen zu sein, wie unsre Vorfahren gewesen, einmal gebackne Menschen, noch nicht zum zweiten Mal in Jupiters Hüfte genäht. Oder wissen Sie etwa, lieber Wandrer, ein Geschichtchen aus Ihrer Urwelt, dessen ich mich auch erinnere, so bringen Sie es vor!
Charikles: Sie sollen es haben, nur bitte ich Sie, aufrichtig zu sein und die Gedanken und Zurückerinnerungen Ihrer Jugend, insonderheit Ihrer ersten unbefangenen Kindheit, nicht zu verleugnen. Haben Sie nicht oft Erinnerungen eines vorigen Zustandes gehabt, den Sie in dieses Leben nirgends hinzusetzen wussten? In den schönen Zeiten, da unsre Seele noch eine halbgeschlossene Knospe ist, haben Sie nicht Personen gesehen, sind an Örter gekommen, wo sie hätten schwören mögen, Sie seien schon dagewesen, Sie haben die Personen schon gesehen? Und doch wars in diesem Leben nie, wie Sie sich beim Überdenken völlig vergewissern können; woher sind also diese Erinnerungen? Woher können sie sein, als aus einem vorigen Zustande? Daher sind sie auch so süß, so erhebend! Die seligsten Augenblicke, die größesten Gedanken eines Menschen rühren daher; in gemeinem Stunden staunen wir uns selbst an und begreifen uns nicht. Und das sind wir, wir, die aus hundert Ursachen so tief hinabgesunken und in die Materie verkleibt sind, dass uns wenige Erinnerungen so reiner Art übrig bleiben. Die höheren Menschen, die, von Wein und Blut gesondert, ganz in Einfalt, in Mäßigkeit, in der Ordnung der Natur lebten, brachtens ohne Zweifel höher, wie das Beispiel Pythagoras, Jarchas [indischer Brahmane], Apollonius und andrer lehrt, die sich deutlich erinnerten, was und wie vielmal sie in der Welt gewesen waren. Wenn wir blind sind oder kaum zwei Schritte vor uns sehen, dürfen wir deshalb leugnen, dass andre hundert und tausend weiter, ja bis auf den Boden der Zeit hinab, in den tiefen, dunkeln Brunnen der Vorwelt sehen können und daselbst alles rein, deutlich, hell und klar gewahr werden?
Theages: Sie sind ein wahrer Pythagoräer, mein Freund, und würdig, dass Sie bis zum tiefsten Brunnen der Vorzeit, ja bis zum Urquell der Wahrheit kämen, wenn Menschen dahin kommen können. Ich gestehe Ihnen frei, auch mir sind dergleichen süße Träume der Rückerinnerung aus meiner Kindheit und Jugend bekannt. Ich kam in Örter und Umstände, wo ich hätte schwören mögen, schon gewesen zu sein, ich sah Personen, wo es mich dünkte, mit ihnen gelebt zu haben, gegen die ich gleichsam auf alte Bekanntschaft fußte. Sollte es aber davon keine anderen Ursachen geben?
Charikles: Ich wüsste keine als die Rückerinnerung eines vorigen Zustandes.
Theages: Allerdings eines vorigen Zustandes, nur nicht außer unsrer Lebenszeit und in einem andern Körper. Wäre die Erfahrung in diesem geschehen, so wäre die Erinnerung körperlicher Gegenstände auch wahrlich in einer Welle des Stroms Lethe geblieben und käme uns jetzt nicht in einem andern Körper wieder. Haben Sie aber nicht auf sich achtgegeben, wie sich die Seele immer ingeheim beschäftigt, wie sie insonderheit in der Kindheit und Jugend Plane macht, Gedanken vereinigt, Brücken baut, Romane aussinnet und im Traum alles mit Zauberfarben des Traums wiederholet? Sehen Sie jenes Kind stille spielen und sich mit sich unterhalten! Es spricht mit sich selbst, es ist in einem Traum lebhafter Bilder. Diese Bilder und Gedanken werden ihm einst wiederkommen, zu einer Zeit, wenn es sie nicht vermutet und nicht mehr weiß, woher sie sind; sie werden ihm mit der Dekoration der ganzen Szene erscheinen, in der es sie dachte oder die ihm gar ein jugendlicher Traum anschuf. Die Situation wird die Seele angenehm täuschen, wie jede leichte und Ideen bringende Zurückerinnerung täuscht; man wird sie für eine Eingebung ansehen, weil sie wirklich wie Eingebung aus einer andern Welt, d. i. reich an Bildern und ohne Mühe, kommt. Ein einziger Zug des jetzigen Gemäldes bringt sie, ein einziger Klang, der jetzt die Seele berührt, erweckt alle schlafende Töne aus ältern Zeiten. Das sind also Augenblicke der süßesten Schwärmerei, insonderheit bei schönen, wilden Lustörtern, bei angenehmen Augenblicken des Umgangs mit Personen, die wir unvermutet und sanft getäuscht in uns oder uns in ihnen gleichsam aus einer frühern Bekanntschaft fühlen; Erinnerungen aus dem Paradiese, aber nicht eines schon einmal genossenen Menschenlebens, sondern aus dem Paradiese der Jugend, der Kindheit, angenehmer Träume, die wir schlafend oder wachend träumten und die ja eigentlich das wahre Paradies sind. Die Palingenesie ist also richtig, nur nicht so wunderbar, wie Sie meinten, sondern sehr natürlich.
Charikles: Ihre Erklärung ist reizend, aber —
Theages: Ich meine, sie könne auch überzeugend werden, wenn wir auf uns selbst merken. Glauben Sie nicht, dass ein Mensch die höchste Freude, ja eine Art von Entzücken spüre, wenn er einen Traum, den sich die Seele aus ihren liebsten Bildern schuf, nun unerwartet und plötzlich, wenn auch nur stückweise, realisiert sieht? Muss sie einem solchen Traum nicht zujauchzen und ihn umarmen, wie Adam die Eva umarmte, da sie in ihm das Gebilde ihrer selbst, das Geschöpf ihrer süßesten Augenblicke, die Frucht ihrer geheimen Liebe gewahr wird? Sehen Sie, mein Freund, daher kommen die Anstauungen, die plötzlichen und oft so angenehmen, so tief ahndenden, so gewaltigen Sympathien, daher kommt das weissagende Göttliche des ersten Eindrucks. Kein zweiter Eindruck kann es uns geben, er schwächt nur die Wollust des ersten und dekomponiert das Gemälde. So lange die Seele sich den ersten Traum wahr macht, schwebt sie gleichsam im Elysium der Kindheit, ist der Traum aufgelöst, so sind leider die Götter Menschen worden; sie baut den Acker und nährt sich mit Kummer und Schweiß des Angesichts. Merken Sie insonderheit, dass bei wohlorganisierten Menschen dergleichen Erinnerungen meistens schön, aber wild, romantisch, oft überspannt sind — gerade wie die Eindrücke und Gefühle der Jugend. Kranke Leute behalten Ideen des Schmerzes, schwache Leute Gefühle der Mühe und der Lästigkeit aus frühen Gefühlen der Art, die sich ihnen eindrückten. Vielleicht wurden manche begeisterte Helden und Schwärmer durch ein hitziges Fieber dazu in der Kindheit gebildet, davon ihnen Ideen blieben. Diese kommen zu gewissen Zeiten in Stunden der Schwachheit, des plötzlichen Überfalls, wenn die Seele nicht auf ihrer Hut ist und ihre Gedanken gleichviel womit kombiniert, wieder; sie kommen oft wieder und werden herrschende Gefühle. Ich könnte Ihnen frappante Exempel davon erzählen, mit denen wir aber zu weit abkämen. Bemerken Sie Verliebte und Wahnsinnige, insonderheit traurig Verliebte und sanft Wahnsinnige, Sie werden die Macht erster Eindrücke, die ganze Jugend ihrer Seele in allen Zügen ihrer Gemälde sehn, in allen Klagen ihrer Verirrung hören. Ja, bemerken Sie nur Ihre eigne Seele in Träumen! Da sind wir alle dergleichen Verirrte. Nach gewissen Jahren dekorieren wir alle unsre Träume nur mit Szenen aus der Jugend; selbst die Personen, die in ihnen spielen, wenn es uns die nächsten und liebsten wären, nehmen andre, gleichsam süßere, romantische Gestalten an. Bei allen Phantasien der Liebe ist der erste Eindruck der süßeste und unauslöschlich, kurz, wir buchstabieren, wo wir können, ein Alphabet aus der Jugend wieder, dessen Züge uns die angenehmsten, eindrücklichsten, geläufigsten sind. Habe ich Ihnen mit meiner Auflösung ein Genüge geleistet?
Charikles: Noch nicht völlig. Einige Erinnerungen sind doch so sonderbar, so fremde und gleichsam — um in Ihrer Sprache zu reden — so gar nicht zu buchstabieren mit den Eindrücken der Kindheit und Jugend dieses Lebens, dass—
Theages: Dass man zu ihnen notwendig eine andre Welt, ein früheres Leben brauchte? Nun denn, warum bleiben Sie nicht Ihrer Hypothese ganz treu und nehmen wirklich eine andre Welt, ein früheres Zusammensein im Reiche der Geister und Seelen an, wie es Plato dichtete, wie die alten Rabbinen und viele Völker der Welt es sich dachten? Mich dünkt, wenn geträumt sein muss, so träumt man lieber den freiesten der Träume. Denken Sie Sich z. B., wie Sie einst mit Ihren Geliebten im Lande der Geister so
»Klein wie Teilchen des Lichts ungesehn schwärmeten,
Wie sie auf ein Orangeblatt
Sich zum Scherzen versammleten,
Im wollüstigen Schoß junger Aurikelchen
Oft die zaudernde Zeit schwatzend beflügelten.«
Aus: J. A. Schlegels »Choriambischer Ode« an Klopstock
Warum müssen Sie sich die Szene so eng machen und die Seele in unserer dürftigen Menschheit geistige Almosen oft und mühsam betteln lassen, da sie sie doch wohlfeiler und alle auf einmal haben kann, wenn Sie sie ins Reich der Geister senden und ihrer körperlichen Klausur ganz entladen. Haben Sie keine »Briefe der Verstorbnen an die Lebendigen« [wie sie Wieland 1753 verfasst hat] gelesen?
Charikles: Viele.
Theages: Nun, so wissen Sie, wie frei und zwanglos es im Reiche der Geister zugeht. Darum liebt auch die Kindheit Träume der Art sehr, weil sie sich mit ihren Träumen mischen und dieselben wie durch Urkunden aus einer andern Welt zu bekräftigen scheinen. Für mich, der ich in Gedichten so was gelten lasse und es früher gerne las, in den Jahren, wo ich jetzt bin, begnüge ich mich, die Träume der Vorexistenz aufzugeben und meine Seele in ihren jetzigen Banden, in ihrer armen Wirklichkeit zu studieren.
Charikles: Und was studieren Sie an ihr aus?
Theages: Aus? Das weiß ich nicht. Aber an ihr zu studieren, dünkt mich, nutzet viel; und ich wollte, dass wirs auch zu diesem Zweck an unsern Kindern täten.
Charikles: Zu diesem? Zu welchem Zweck?
Theages: Dazu, dass wir auf ihre ersten Eindrücke, auf die Art und Wirkung derselben in ihren Seelen, auf die geheimen Ideen und Bilder merken, mit denen sie sich in der Stille tragen, die sie wie ein feines, unsichtbares Gewebe spinnen und fortspinnen nach eignet Lust und Liebe. Haben Sies bemerkt, Charikles, dass Kinder plötzlich Ideen äußern, über die man sich wundert, wie sie zu ihnen gekommen sein. Die eine lange Reihe andrer Ideen und geheimer Unterhaltungen voraussetzen, die wie ein voller Strom aus der Erde brechen, zum untrüglichen Wahrzeichen, dass er nicht erst den Augenblick aus ein paar Regentropfen zusammengeflossen, sondern lange, lange schon als Strom verdeckt unter der Erde geflossen sei, vielleicht manche Höhlen durchbrochen, manche Klippen mit sich gerissen, manchen Unrat an sich gesetzt habe?
Charikles: Und wenn wir das bemerken, wer kann wider die Natur? Können wir den Lauf dieser Ströme hemmen oder ans Licht graben oder gar den Bau der Erde und der Menschenseelen nach unserm Gefallen ändern?
Theages: Wir könnens und könnens auch nicht. Wir könnens nämlich, so weit wirs sollen, und sollens, so weit wirs können. Wenn wir die Seelen unserer Kinder lieb haben und von der Macht erster Eindrücke so überzeugt sind, wie ich davon überzeugt bin, sollten wir nicht diese ersten Eindrücke, sofern sie in unsrer Gewalt sind, unvermerkt lenken und wählen? Unvermerkt, sage ich, denn sonst ist alles vergebens. Die Seele will bei ihren geheimsten Operationen keinen Zwang, keine mechanische Vorschrift, sie wirkt frei aus sich heraus, und in diesen ersten Arbeiten liegt das Emblem der Wirkungen ihres ganzen Lebens. Sie also belauschen, sie, wenn sie in holden Wüsten, in anmutigen Labyrinthen irrt und sich zu weit verirret, in der Gestalt eines hellen Sterns oder, wie Minerva bei Homer, in der Gestalt eines fremden Wandrers — nicht Lehrers, nicht Zuchtmeisters — zurechtweisen, kurz, wie jener Philosoph sich täglich wünschte, ihnen fröhliche Morgen- und Jugendbilder gewähren, damit sie einst am Abend und im Alter fröhliche Zurückerinnerungen aus dem platonischen Reiche der Geister* haben mögen und keiner erniedrigenden, entsetzlichen Ideen der Seelenwandrung bedürfen — das, meine ich, können und sollen wir, doch freilich unter den Händen des Schicksals.
*Das platonische Reich der Geister ist bei den griechischen Philosophen die Welt der allen Escheinungen zugrundeliegenden Ideen.
Charikles: Ja wohl, unter den Händen des Schicksals!
Theages: Denn da wir über alle Ideen und Eindrücke unsrer selbst nicht Herren sind, viel weniger sind wirs über die Eindrücke unsrer Freunde und Kinder. Wir haben unsre Seelen nicht selbst hierher gesetzt; noch weniger sind wirs, die ihre Kräfte gegen das von allen Seiten auf sie zuströmende Weltall ausgerüstet haben. Es gibt also wirklich Personen, die zu Leiden, zum Unglück gesetzt sind, denen frühe Eindrücke und Ideen, Bekümmernisse und Krankheiten die Lust Leben ziemlich gemindert und geraubt haben. Der Trank, den sie trinken sollen, ist ihnen bitter oder trübe und unschmackhaft gemacht; denn es gibt Übel, die für dieses Leben nicht mehr ganz ausgetan werden können. Auch diese Personen müssen sich indessen begnügen, die Bürde, die ihnen aufgelegt ist, eine von ihnen unabtrennliche Lebensbürde, mit Fröhlichkeit, wenigstens mit gelassenem Mute zu tragen und auf ein andres, freieres, besseres Dasein zu hoffen.
Charikles: Sehen Sie, wie Sie auf meine Seelenwandrung kommen! Wer weiß, was diese Leute in ihrem vorigen Zustande verübten, dass sie jetzt durch die Hand des Schicksals und nicht durch eigne Schuld so elend sind. — Aber Sie bereiten sich zum Weggehn.
Theages: Es ist spät, und ein andermal wollen wir anfangen, wo wirs ließen, eben wie es bei der Seelenwandrung zu gehen pflegt. Schlafen Sie wohl, Charikles, und träumen vom ursprünglichen Reich der Liebe, nicht, dass Sie voraus einmal Sejan oder Ravaillac gewesen!
Charikles: Gut, dass ichs sodann nicht mehr bin und mein böses Schicksal schon weg habe. Schlafen Sie wohl!
ZWEITES GESPRÄCH
Charikles: Ich hoffe, mein Freund, Sie heut billiger über unsern Gegenstand sprechen zu hören; gestern waren Sie ziemlich warm.
Theages: Nachdem Sie das Wort Wärme und Billigkeit nehmen. Ists Gleichmut, zu prüfen, so hatte ich sie, dünkt mich, auch gestern; solls aber jene schlaffe Kälte sein, der alles gleichgültig ist —
Charikles: Nicht eben gleichgültig. Wer könnte gleichgültig darüber sein, wenn das arme geplagte Menschengeschlecht wenigstens durch einen schönen Traum der Hoffnung Ersatz für seine gegenwärtigen drückenden Übel fände, wenn es einige Aufschlüsse über Gott, die Welt, den Lauf des Schicksals bekäme? Wo Senecas Gründe aufhören, selbst wo die Religion nicht auflöst, sondern neue Knoten schlägt, da —
Theages: Charikles, lassen Sie uns die Religion, dazu auf eine so zurücksetzende Art, hier nicht ins Spiel mischen! Die weiß wahrlich von der Seelenwandrung nichts und ist mit allen Verheißungen, Drohungen, Befehlen, Beispielen, die sie gibt, auf einem andern Wege. Das Rad Ixions, der Stein des Sisyphus, das Schöpfen der Danaiden*— so etwas mag der ewige Kreisgang des Menschenschicksals sein, nicht eine tröstende, himmlische Belohnung.
*Wegen seiner Liebe zur Göttermutter Hera wurde Ixion in der Unterwelt an ein ewig rollendes Rad gefesselt, Sysiphus musste in der Unterwelt einen stets zurückrollenden Stein bergauf wälzen, die Danaiden mussten Wasser in ein leckes Fass schöpfen, weil sie ihre Männer ermordet hatten.
In Dantes »Hölle« gehen die Heuchler in bleiernen Mänteln mit verkehrtem, zurückgebognen Gesicht im Kreise einher; sie gehn ewig und kommen nicht von der Stelle und sehn immer rückwärts mit ihrem verrenkten Halse.
Charikles: Aber, mein Freund, sehen doch auch Sie nur einige Augenblicke mit Gelassenheit rückwärts! Wie viel Unglückliche sind hinter Ihnen, die es nicht verschuldet haben, so tief zu sein, die also in diesem Leben erst höher hinan müssen, um uns nur einigermaßen mit der Gerechtigkeit und Milde Gottes zu versöhnen.
Theages: Zu versöhnen? Sie wären also ein Feind Gottes, wenn keine Seelenwandrung im Kreislauf der Menschheit wäre? Sie müssten seine Gerechtigkeit und Vatermilde leugnen, wenn er Sie nicht auf dieser Erde einige Male wiedergeboren werden ließe? Für mich gestehe ich, ich habe herzlich genug, einmal auf der Erde als Mensch gewesen zu sein und mein Leben durchlebt zu haben; denn wenns köstlich gewesen ist, sagt einer der ältesten Weisen, wars Mühe und Arbeit (Psalm 90, 10), und das ist sein ewiger Zirkel. Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fället ab, fleucht wie ein Schatten und bleibet nicht (Hiob 14, 1). Das ist sein Schicksal.
Charikles: Trauriges Schicksal!
Theages: Traurig und tröstlich, genug, es ist sein Schicksal. Sehen Sie das menschliche Leben in seiner ganzen Zusammenordnung an, ists nicht, als ob Ihnen alles in ihm zuriefe: »Gottlob, ich muss nur einmal gelebt werden«? Der Morgen unsrer Tage, die Knospe unsers Erdedaseins, wie bald verwelkt die Knospe, wie bald ist der Morgen vorüber! Nun wird der Tag schwül, es folgt die Zeit der Mühe des Lebens, allmählich naht der Abend, und die Sonne neigt sich. Der Mensch blüht ab, wie er aufblühte, er vergisst seine eignen Gedanken, er verzagt an seinen eignen Kräften, er stirbt, eh er stirbt, und freut sich, dass er sein Grab findet. Dies ist der unwandelbare Kreis der Tages-, der Jahreszeiten, der Lebens- und Menschenalter auf unsrer Erde. Und Sie wollten den Unglücklichen tausendmal den Kreisgang gehen lassen, wenn er sich freuet, ihn nur einmal durchgekommen zu sein? Sie wollten die Natur ewig wie Penelope ihr Gewebe weben und neu weben lassen, damit sies nur wieder zerstöre? Unglückliche Menschheit mit allen ihren Anlagen, Hoffnungen und Kräften! Schwachsinnige Penelope, um deren Verstand ich wenigstens nicht buhlen möchte!
Charikles: Aber, mein Freund, der Baum, die Blume, der Tag, hat nicht alles einerlei, und zwar ein wiederkommendes Schicksal? Es scheint Gesetz der Natur zu sein; warum wollte ihm allein der schwache und stolze Mensch widerstreben?
Theages: Freilich wäre er schwach und stolz, wenn er ihm als Baum, als Blume, als Tag widerstrebte, aber er ist keins von dreien, und auch diese drei kommen nicht wieder. Der Baum steht eingewurzelt in der Erde, und hat er, wie ich nicht zweifle, ein Leben, so ists doch immer nur der erste Keim eines niedrigen Lebens. Dies muss er lange auswirken und lange auf seinem Ort stehn. Jedes Jahr ist ihm nur ein Tag, der Frühling sein Morgen, sein Schlaf der Winter. Er muss ausdauren, viele Blätter, Blüten und Früchte zeugen, die der Luft, den Tieren, dem Menschen, der ganzen höhern Schöpfung dienen. Nun wird er allmählich alt und stirbt; was jetzt um ihn hervorgrünt, ist nicht er selbst, sondern seine Kinder. Wo seine Lebenskraft und sein Lebenshauch in Duft, Blüten, Blättern, Früchten hin sei, wissen wir, oder wir wissen es nicht; ins Reich verarbeitender Kräfte kann und soll unser Blick nicht reichen. Der Baum gehört also nicht in Ihre Palingenesie, er wandert nicht, sondern verlebt sich, als eine Welt wandelbarer, nie wiederkommender Blätter, Blüten und Früchte. Die Blume eben also und das Gleichnis des Tages, der ja nie wiederkehret, war Ihnen ohne Zweifel nur Gleichnis. Sie sind also im Lauf der Natur ganz ohne Exempel; und denken Sie, der Mensch, der Mensch allein sollte dies Exempel eines ixionisch-tantalischen Danaidenschicksals sein? Ein Exempel ohne Exempel, ja beinah ohne Absicht.
Charikles: Ohne Absicht doch eben nicht. Er lernte die Wissenschaft des Lebens, wie sie sich allein lernen lässt, durch die vielseitigste Ansicht und lebendigste Erfahrung. Er würde also immer geprüft, geläutert, verfeint, befestigt, der Faden seines Ich ginge fort, und er rückte weiter, so sehr er im Kreise zu gehen schiene.
Theages: Ein langsames Fortrücken, auf dem uns das Schicksal als Phrygier behandelte, die immer nur hintennach klug werden und nicht eher wissen, wie es dem Knaben zumut sei, der die Schläge empfängt, bis sie sie selbst empfangen haben. Und solche Schläge zeitlebens!
Charikles: Ohne Not wird sie uns das Schicksal nicht geben, und da es doch einmal gewiss ist und bleibet, dass wir nur das recht und wahr und einzig wissen, was wir selbst versucht und erfahren haben —
Theages: Mich dünkt, Lieber, Sie missbrauchen den wahresten Satz, wenn Sie ihn also anwenden. Alles in der Welt brauche ich nicht zu erfahren, oder wehe der armen Menschheit! Welcher Kluge wird sich die Pest wollen einimpfen lassen, damit er doch auch wisse, wie es mit ihr stehe? Welcher Mensch wird Vater- und Muttermörder sein wollen, um zu fühlen, wie es dem Nero oder einem andern Ungeheuer gewesen? Und was für ein Schicksal wäre es, das eine Freude daran hätte, mich alle abscheulichen Rollen spielen zu lassen, um mir nur das Gefühl zu geben, dass ich sie gespielt habe! Sie sehen, was es für ein System sei, das zu allen Frechheiten Anlass geben kann, indem es die Lüste, die der Bösewicht in sich fühlt, zu seiner jetzigen Bestimmung macht und ihm, wenn er zuletzt am Galgen stirbt, den süßen Trost gibt, er habe nun eine seiner Schulden gebüßet, es sei seine Bestimmung gewesen, jetzt solchen Weg zu gehen; was er noch nicht gelernt und erfahren habe, das habe er Zeit, auf andern Stationen zu lernen.
Charikles: Von solchen Missbräuchen wollen wir nicht reden; das Beste kann vom dummen Bösewicht aufs Ärgste gemissbraucht werden. Ich komme zu meiner Frage zurück: wie wollen Sie Sich mit dem Gott versöhnen, der das Schicksal der Menschen so ungleich machte? Entweder müssen ihm die Ideen von böse und gut, vollkommen oder unvollkommen, glücklich oder unglücklich sehr gleichgültig sein oder—
Theages: Oder wir sollen ihn nur nicht nach unserm kleinen, engen, armseligen Maßstabe messen. Wer ist glücklich, wer ist unglücklich? Ists der Polizierte [höfisch Geglättete] mehr als der Wilde, der Sklav in goldnen minder als der in eisernen Ketten? Wo wohnt die Vollkommenheit auf unsrer Erde, und wo hat sie sich ein Haus erbauet? Hat sie uns über sich zu Richtern gesetzt, uns, die wir selbst nur von den Almosen ihrer Milde und Huld leben? Gott schuf uns nicht, das menschliche Geschlecht zu richten, sondern in ihm zu leben, uns unserer Stelle zu freun und es selig zu machen, wo und wie weit wir können. Er selbst tat nicht mehr, als er nach seiner Weisheit tun konnte und nach seiner Güte tun musste. Mit beiden ging er zu Rat, und so schuf er unser Geschlecht. Wer kann fragen, warum nicht höher, warum nicht tiefer? Genug, es ist da, und jeder mag sich freun, dass auch er da sei, seines Lebens genießen und dem, der ihn hierher gebracht hat, zutrauen, dass er ihn auch hinaus und weiter zu führen wissen werde.
Charikles: Die Ungleichheiten der Menschen auf unsrer Erde finden also bei Ihnen keine Erläuterung?
Theages: Keine als die: sie lagen im Plan der Schöpfung. Unser Planet, wie er jetzt einmal ist, sollte tragen, was er tragen, hervorbringen, was er hervorbringen konnte. Dazu ist er eine Kugel mit allen Abwechslungen des Klima, der Länder, der Pflanzen-, Tier- und Menschenarten; die Leiter steht auf seinen beiden Hemisphären, ihre Sprossen sind unzählbar, und wo reichen sie hin? Durch hundert Tore dringt alles ins Reich Gottes und durch hunderttausend auf allen Stufen wieder hinaus, aufwärts, vorwärts. Wo nun Gott die armen verkauften Neger beseligen wolle, ob in einem Paradiese zwischen den Bergen oder unter einer faulen Bischofsmütze, weil sie sich einmal müde geraspelt haben — das entscheide, wers entscheiden kann. So verschieden diese Weit ist, so verschieden wird auch die zukünftige sein; und wenn sies nicht wäre, wenn alles an einfachere Ende und bestimmtere Größen, wie es sehr wahrscheinlich ist, zusammenginge, desto besser! Genug, ich finde hier Glückseligkeit, wo ich sie oft nicht gesucht, Schönheit unter einer Hülle, die zu ihr die fremdeste schien, Weisheit und Tugend meistens in rauen, verachteten und unkenntlichen Gestalten. Gerade wo Schminke und Putz anfängt, hört Wahrheit, Rechtschaffenheit, Glückseligkeit auf, und nach diesen vergoldeten Pagoden wollten wir unsre armen Reisenden wandern lassen, um das Wahre zu verlieren, das sie haben, und für innern Wert und Reichtum schlechten äußern Tand zu erbeuten? Je mehr ich die Menschheit anders als nach dem Mantel kennen lerne, desto mehr finde ich Ursache, die Vorsehung auch auf diesem Schauplatz kniend zu verehren. Wo wir das meiste Unglück vermuten, wohnt oft das größte Glück. Einfalt ist nicht Dummheit, und Schlauigkeit weder Glückseligkeit noch Weisheit. Ich halte es also immer mit dem Dichter:
Das Schicksal teilt die Gaben weislich aus,
Für jeden gibt es Brot und Deck und Haus,
Den Armen Kraft, den Schwachen Ehrenplätze.
(Vers des deutschen Dichters Withof 1725-1789)
Charikles: Aber, mein Lieber, Sie wissen doch das Gesetz der Sparsamkeit sowohl in Ansehung der Kraft als des Raumes? Es herrschet in der ganzen Natur; ists denn nicht sehr wahrscheinlich, dass die Gottheit auch bei Verpflanzung und Fortrückung menschlicher Seelen darnach handle? Wer in einer Form der Menschheit noch nicht reif geworden ist, wird noch einmal in den Ofen getan und muss endlich ausgebrannt werden.
Theages: Und wenn er darüber verbrannt würde? Die Form der Menschheit ist so enge, der Platz, ob man hie oder da, in Purpur oder in Lumpen stehe, tut so wenig zur Sache, und wer in der einen Tracht nicht rechtschaffen werden will, wirds in der andern schwerlich werden. Wenigstens muss ers nicht werden dürfen, sonst ist alle Moralität freier Handlungen hin, und der Mensch wird geworfen wie ein Stein, gestoßen wie ein Erdkloß. Sehen Sie, wohin abermals die Hypothese führe? Zu einer fatalen Notwendigkeit, die alles Streben und Ringen nach Glückseligkeit, Schönheit, Tugend in jeder Gestalt, unter jeglicher Larve ermattet und uns in Ketten des blinden Gehorsams an den Wandelgang des Schicksals bindet. — Aber wir haben im engen Zimmer genug geschwatzt, und deswegen hat unser Gespräch auch so enge und metaphysisch [hier: übersinnlich] werden müssen. Sehen Sie die schönbestirnte Nacht! Und dort geht der Mond auf. Mich dünkt, wir wandern mit Seel und Körper aus der metaphysischen Luft in die freie Natur hinaus. —
Sie gingen hinaus, und in kurzem veränderte sich der Ton des Gesprächs. Die heilige Stille, die die Nacht um sie verbreitete, die hellen Himmelslichter, die als Lampen über ihnen aufgehängt schienen, auf der einen Seite einige zurückgebliebne Schimmer der Abendröte und auf der andern der hinter den Schatten des Waldes sich sanft erhebende Mond — wie erhebt dieser prächtige Tempel, wie erweitert und vergrößert er die Seele! Man fühlt in diesen Augenblicken so ganz die Schönheit und das Nichts der Erde. Welche Erholung uns Gott auf einem Stern bereitet hat, auf dem uns Mond und Sonne, die beiden schönen Himmelslichter, abwechselnd durchs Leben leiten, und wie niedrig, klein und verschwindend der Punkt unsers Erdentals sei, gegen die unermessliche Pracht und Herrlichkeit aller Sterne, Sonnen und Welten!
»Was denken Sie«, sagte Theages, »anjetzo von Ihrem principio minimi [Prinzip der kleinsten Wirkung], nach welchem Sie sich immer auf der Erde umhertummeln wollen und an dies Staubkorn geheftet sind? Sehen Sie gen Himmel, Gottes Sternenschrift, die Urkunde unsrer Unsterblichkeit, die glänzende Karte unsrer weitern Wallfahrt! Wo endet das Weltall? Und warum kommen von dorther, vom fernsten Stern zu uns Strahlen hinunter? Warum sind dem Menschen die Blicke und der flammende Flug unsterblicher Hoffnungen gegeben? Warum deckt uns Gott, wenn wir tagüber vom Strahl der Sonne ermattet und an unsern Staubklump gefesselt waren, nachts dieses hohe Gefilde unendlicher ewigen Aussichten auf? Verloren stehen wir im Heer der Welten Gottes, im Abgrund seiner Unendlichkeit ringsum verloren!
Und was sollte meinen Geist an dies träge Staubkorn fesseln, sobald mein Leib, diese Hülle, herabsinkt? Alle Gesetze, die mich hier festhalten, gehen offenbar nur meinen Leib an; er ist aus dieser Erde gebildet, und er muss wieder zu dieser Erde werden. Gesetze der Bewegung, Druck der Atmosphäre, alles fesselt ihn, nur ihn hienieden. Der Geist, einmal entronnen, einmal der zarten und so festen Bande los, die ihn durch Sinne, Triebe, Neigungen, Pflicht und Gewohnheit an diesen kleinen Kreis der Sichtbarkeit knüpften, welche irdische Macht könnte ihn festhalten, welch ein Naturgesetz ist entdeckt, das Seelen in dieser engen Rennbahn sich umherzudrehen Zwänge? Sogar über die Schranken der Zeit ist unser Geist weg, er verachtet Raum und die träge Erdenbewegung; entkörpert, ist er sogleich an seinem Ort, in seinem Kreise, in dem neuen Staat, dazu er gehöret. Vielleicht ist dieser um uns, und wir kennen ihn nicht, vielleicht ist er uns nahe, und wir wissen nichts von ihm, außer etwa in einigen Augenblicken seliger Ahndung, da ihn die Seele oder er die Seele gleichsam herbeizieht. Vielleicht sind uns auch Ruheörter, Gegenden der Zubereitung, andre Welten bestimmt, auf denen wir wie auf einer goldenen Himmelsleiter immer leichter, tätiger, glückseliger zum Quell alles Lichts emporklimmen und den Mittelpunkt der Wallfahrt, den Schoß der Gottheit, immer suchen und nie erreichen; denn wir sind und bleiben eingeschränkte, unvollkommne, endliche Wesen. Wo ich indessen sei und durch welche Welten ich geführt werde, bin und bleibe ich immer an der Hand des Vaters, der mich hierher brachte und weiter rufet, immer also in Gottes unendlichem Schoße.«
»Es tut mir leid«, sprach Charikles, »dass ich Sie in Betrachtungen unterbrechen muss, die Sie so weit von unsrer Erde entfernen, aber lassen Sie mich nicht zurück! Überall, wo Sie frei, weise und tätig leben, ist Himmel, und warum scheuen und fliehen Sie denn die Erde? Wenn Sie in einer andern Menschengestalt freier, weiser, glücklicher leben können und so immer weiter im innern Zustande hinaufgehn, was kümmert Sie Ort und Szene? Seis dort oder hier, Welt Gottes ist Gottes Welt, Schauplatz ist Schauplatz. Auch unsre Erde ist ja ein Stern unter Sternen.«
Theages: Wohl, mein Freund, aber wie weit lässt sich denn in unsrer Menschheit hinaufklimmen? Ist nicht ihre Sphäre so enge begrenzt, so kotig und staubig wie dieser Stern selbst ist? Auch das beste Herz ist und bleibt immer ein Menschenherz, Körper bleibt Körper und Erdenleben ein Erdenleben. Die Armseligkeiten der Geschäfte, der so unnützen und doch so nötigen Lebensmühe, kommen wieder. Die Lebensalter mit ihren wechselnden Unvollkommenheiten kommen wieder. Auch in guten Eigenschaften bleibt der Menschenstamm hienieden immer in seine beiden Geschlechter verteilt, die einander gegenüber auf einer Wurzel stehn, sich einander umschlingen und kränzen, nie aber ein und dieselbe Vollkommenheit werden können im Menschenleben. Was das eine hat, fehlt dem andern, was ein Mensch hat, fehlt dem andern. Geburt, Stand, Klima, Erziehung, Amt, Lebensweise hindern und schränken unaufhörlich ein. Nur wenige Jahre wächst ein Mensch, dann steht er still oder nimmt ab und geht rückwärts; will er im Alter Jüngling sein und andre nachahmen, so wird er lächerlich, so wird er kindisch. Kurz, es ist eine enge Sphäre, dies Erdenleben, und wir mögens machen, wie wir wollen, solange wir hier sind, ist ohne größern Schaden und den völligen Verlust unsrer selbst der Enge nicht zu entweichen. Aber einst, wenn der Tod den Kerker bricht, wenn uns Gott wie Blumen in ganz andre Gefilde pflanzt, mit ganz neuen Situationen umgibt — haben Sie nie, mein Freund, erfahren, was eine neue Situation der Seele für neue Schwungkraft gibt, die sie oft in ihrem alten Winkel, im erstickenden Dampf ihrer Gegenstände und Geschäfte sich nie zugetraut, sich nie derselben fähig gehalten hätte?
Charikles: Wer wollte das nicht erfahren haben? Eben daher schöpfte ich ja den erquickenden Trank des Stroms Lethe, mit dem mich auch schon auf dieser Erde meine Palingenesie wieder verjüngte. Ich fühle wie Sie, dass trotz alles Strebens und Bemühens der Kreis der Menschheit unübersteiglich und ihre Natur in feste Grenzen geschlossen bleibe. Hier auf der Erde wächst kein Baum in den Himmel, gewisse Flecken, die man einmal angenommen, lassen sich mit allen Strömen der Welt nicht mehr abwaschen, manche Schwächen und Unvollkommenheiten in gewissen Jahren kaum mehr kennen, geschweige denn ablegen. Oft verwechselt man nur die gröbern mit den gefährlichen feinem, das ist alles wahr. Auch sehe ichs sehr wohl ein, dass in dem engen, sich immer wiederholenden Rundlauf des Erdelebens so gar viel eben nicht herauskommt, es ist so viel unnütze Mühe und aus der erneuerten Mühe so wenig neue Beute. Die Schranken, die Sie eröffnen, sind allerdings größer, das Feld, zu dem Sie einladen, ist unendlich — die Schar aller Welten, die auf meinem ewigen Wege zur Gottheit liegen. Aber, mein Freund, wer gibt mir dahin Flügel? Es ist immer, als wenn mich etwas zurückwürfe auf meine Erde. Mir ist, als ob ich sie noch nicht ausgebraucht, mich noch nicht leicht genug gemacht hätte, höher hinaufzustreben; wer gibt mir Flügel?
Theages: Wollen Sie sie nicht aus heiliger Hand annehmen, die ganz und gar dahin verweiset, so nehmen Sie wenigstens einige Fittige dazu aus freundschaftlichen, aus — Ihres Freunds Newtons Händen.
Charikles: Aus Newtons Händen?
Theages: Nicht anders. Das System, das er aus Sternen und Sonnen baute, sei Ihnen ein Gebäude Ihrer Unsterblichkeit, eines immerwährenden Fortganges und Aufflugs. Nicht wahr, alle Planeten unsers Sonnensystems sind durch Kräfte der Anziehung miteinander und mit ihrem Mittelpunkt oder Brennpunkt, der Sonne, verbunden?
Charikles: Allerdings.
Theages: Sie machen also ein so festes, unzerstörliches Ganze aus, dass nichts verrückt, nichts geändert werden kann, oder das Ganze litte und ginge mit seiner großen Harmonie unter?
Charikles: Nicht anders. Alles bezieht sich auf die Sonne und die Sonne mit ihren Kräften, ihrer Masse, ihrem Licht, ihrer Wärme und Entfernung auf die Planeten.
Theages: Und doch sind die Planeten nur Gerüst des Schauspiels, Wohnplätze der Geschöpfe, die auf ihnen sich um die unendlich schönere Sonne der ewigen Güte und Wahrheit in mancherlei Entfernungen, mit manchen Eklipsen, Perihelien und Aphelien bewegen. Wären die Szenen so genau, so unzertrennlich verbunden, und der Inhalt der Szenen, das Spiel selbst, sollte es nicht sein? Die Planeten wären so genau auf sich und auf die Sonne geordnet, und das Schicksal derer, die darauf leben, auf die sie eigentlich nur zubereitet sind, sollte nicht ebenso genau und um so genauer als ja das Wesen mehr als die Einkleidung, Sache mehr als Ort, Leben und Inhalt mehr als Theater und Schaubühne ist? In der Natur ist alles verbunden, Moral und Physik wie Geist und Körper. Moral ist nur eine höhere Physik des Geistes sowie unsere künftige Bestimmung ein neues Glied der Kette unsers Daseins, das sich aufs Genaueste, in der subtilsten Progression an das jetzige Glied unsres Daseins anschließt, wie etwa unsre Erde an die Sonne, wie der Mond an unsre Erde.
Charikles: Ich ahnde Sie, Bester, aber —
Theages: Hier, mein Freund, lässt sich auch nur mutmaßen, nur ahnden. Unterm stillen Blick der Sterne, vorm Angesicht des vertraulichen Mondes sind auch Ahndungen in jene für uns unübersehbare Ferne so groß, so erhebend! Denken Sie einen Augenblick, dass unser Sternengebäude dem moralischen Zustande seiner Bewohner nach so zusammen verbunden wäre, wie es seinem physischen Zustande nach unstreitig zusammen verbunden und nur ein schwesterlicher Chor ist, der in verschiedenen Tönen und Proportionen, aber in der Harmonie einer Kraft seinen Schöpfer lobet, denken Sie, dass vom letzten Planeten bis zur Sonne hinauf es Gradationen der Geschöpfe wie des Lichts, der Entfernung, der Massen, der Kräfte gebe — und nichts ist wahrscheinlicher als dieses —‚ setzen Sie die Sonne nun als den großen Versammlungsort aller Wesen des Systems, das sie beherrschet, so wie sie ja auch die Königin alles Lichts und aller Wärme, aller Schönheit und Wahrheit ist, die sie überall den Geschöpfen gradweise mitteilet, sehen Sie die große Leiter, die alles hinaufklimmt, und den weiten Weg, den wir noch zu machen haben, ehe wir zum Mittelpunkt und Vaterlande dessen kommen, was wir nur in unserm Sternensystem Wahrheit, Licht, Liebe nennen!
Charikles: Also, je entfernter von unsrer Sonne, desto dunkler, desto gröber, je näher, desto heller, leichter, wärmer, geschwinder? Die Geschöpfe des Merkur, der immer in den Strahlen der Sonne verborgen ist, müssen freilich von andrer Art sein als jene trägen Saturnusbewohner, die dunkeln patagonischen Riesen, die in 30 Jahren kaum einmal um die Sonne kommen und denen Monde kaum noch ihre Nacht erhellen. Unsre Erde stünde denn so in der Mitte —
Theages: Und vielleicht sind wir eben deswegen auch solche Mittelgeschöpfe zwischen der dunkeln Saturnusart und dem leichten Sonnenlichte, dem Quell aller Wahrheit und Schönheit. Unsre Vernunft ist hier wirklich nur noch im ersten Anbruch, und mit unsrer Willensfreiheit und moralischen Energie ists auch nicht weit her; gut also, dass wir nicht ewig auf dem Erdplaneten zu weilen haben, wo wahrscheinlich nicht viel aus uns würde.
Charikles: Also meinen Sie, wir müssten durch alle Planeten reisen?
Theages: Das weiß ich nicht. Jeder Planet kann seine Einwohner, die alle in verschiednen Graden zu einer Sonne streben, auf dem Wege, der ihm der kürzeste ist, auf den Stufen und Gradationen, die ihm der Schöpfer notwendig erkennet, dahin senden. Wie, wenn unser Mond z. E. — mich dünkt, auch Milton schildert ihn so, und mehrere morgenländische Sekten haben ihn dafür gehalten — das Paradies der Erholung wäre, wo die matten Wandrer, dem Nebel dieses Erdetals entkommen, in einer reineren Atmosphäre, auf Auen des Friedens und der Geselligkeit lebten und sich zu dem Anschaun des höhern Lichts bereiteten, zu dem auch die Einwohner andrer Planeten hinaufwallen? Mich dünkt, das Angesicht des Mondes spräche uns dieses mit seinem ruhigen, tröstenden Licht zu. Es ist, als ob es auch dazu schiene, um uns den Glanz einer andern Welt zu zeigen und uns von amarantnen Lauben der Ruhe und einer unauflöslichen seligen Freundschaft Träume voll sanften Taues einflößen zu wollen.
Charikles: Sie träumen angenehm, mein Freund, vorm Angesicht des Mondes, und ich träume gern mit Ihnen. Mir wars oft so, dass, insonderheit wenn Trauer, sanfte Schwermut oder das Andenken an verstorbne inniggeliebte Toten mich erfüllte, mir beinahe der Mondesstrahl ihre Sprache zu sein schien, und es mich dünkte, es fehle nicht viel, ihren glänzenden Schatten vor mir zu sehn oder den Kuss ihrer reinen Lippe auf meine Seele in einem Strahl hinabfließend zu fühlen. Aber genug davon, wir werden ja hier beide beinah Schwärmer! Erzählen Sie weiter.
Theages: Ich mag nicht, denn auch mir fehlen die blauen smaragdenen Goldschwingen, Sie von Stern zu Stern zu tragen, Ihnen zu zeigen, wie auch unsre Sonne um eine größere Sonne eilet, wie in der Schöpfung alles in einer Harmonie jauchzet, zu welcher Sonnen und Erden wie ein Klang gemessen, gezählt, gewogen sind, und es also gewiss auch das Schicksal, das Leben ihrer Bewohner in weit höherm Grad sein muss. O wie groß ist das Haus, in dem mich mein Schöpfer erschuf, und o wie schön ists, schön zu Nacht und zu Tage, dort und hier Sonne-, Mond-, Sternenaussicht! Mein Gang ist die Bahn des Weltalls, dazu leuchtet mir auch jener letzte Stern, dazu klingt mir — in geistigen Begriffen und Verhältnissen — die Harmonie aller Sterne. Aber ach, mein Freund, alles ist nur Dämmerung, Wahn und Vermutung gegen das ungleich reinere und höhere Licht der Religion unsers Geistes und Herzens! Auf dieser Erde ist alles mit Bedürfnis umringt, und wir sehnen uns mit aller Kreatur, davon frei zu werden. Wir haben Begriffe der Freundschaft, der Liebe, der Wahrheit, der Schönheit in uns, die wir hier auf der Erde in lauter Schatten und Traumgestalten so unvollkommen, so oft gestört, getäuscht, betrogen und immer unvollendet erblicken. Wir dürsten nach einem Strom reinerer Freuden, und mich dünkt, die Hoffnung, das Verlangen selbst sei eine sichere Vorahndung des Genusses. Nehmen Sie die reinsten Verhältnisse auf dieser Welt, die Vater-, die Mutterfreuden, mit welchen Sorgen sind sie vermischt, von welchen Schmerzen und Unbequemlichkeiten werden sie unterbrochen, und wie dienen sie doch im Ganzen nur immer dem Bedürfnis, einem fremden höheren Verhältnis! In jener Welt, sagt die Schrift, wird man weder freien, noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel Gottes im Himmel. Da ist Liebe befreit von gröbern Trieben, reinere Freundschaft ohne die Abtrennungen und Bürden dieser Erde, wirksamere Tätigkeit mit glücklicher, schöner Eintracht und einem wahrern und ewigen Endzweck, kurz überall mehr Wahrheit, Güte, Schönheit, als uns diese Erde auch bei hundertmaligem Wiederkommen geben könnte.
Den, Parmeno, den nenne ich
Den Glücklichsten, der, wenn er ohne Leid
Die hohen Dinge sah, die wir nun sehn,
Die Sonne, diese Sterne, Wolken, Mond
Und Feuer, wieder geht, woher er kam.
Denn lebtest du auch hundert, oder lebst
Du wenig Jahre nur, du siehest sie;
Und Schöneres als sie sah keiner je.
Halt diese Lebenszeit, von der ich rede,
Für einen Marktort, eine Wanderschaft,
Wo es Gedränge, Diebe, Spiel und Müh
Die Menge gibt! Je früher du weggehst,
Je früher findest du die bessre Herberg,
Wenn du den Reisepfennig Wahrheit hast
Und lässest keinen Feind. Wer lange weilt,
Geht matt von dannen, und ereilet ihn
Das böse Alter, ach, da hat er Mangel
Und Plage, findet Feinde hie und da!
Der stirbt nicht glücklich, der zu lange lebt.
Aus einem Dramenfragment des griech. Dichters Menander (342-290 v. Chr.)
Und wie denn der, der ewig hier weilen und immer wiederkommen wollte auf diesen Marktplatz? —
Wars, dass die Stille der Nacht und die hohe Harmonie der Sterne das System beider Freunde versöhnt hatte, oder hatte Charikles zu viel zu antworten, sie umarmten sich und gingen schweigend auseinander. Theages schien verloren im unendlichen Blau des Himmels, auf der glänzenden Sternenleiter, die so manche Völker, wilde und weise, den Weg der Seelen nannten, freilich eine höhere Laufbahn, eine reichere und dchönere Palingenesie, als uns hier auch in den glücklichsten Gestalten die dürftige, enge Erde gewähren könnte!
O pater, anne aliquas ad coelum hinc ire putandum est Sublimes animas? iterumque ad tarda reverti Corpora? quae lucis miseris tam dira cupido? |
Vater, wie ist doch glaublich, dass freischwebende Seelen |
DRITTES GESPRÄCH
Als ob sie einander das Wort gegeben hätten, trafen Theages und Charikles des Morgens auf einem Spaziergange zusammen, den beide liebten und auf welchem sie oft in den Strahlen der aufgehenden Sonne ihre Seele rein zu waschen sich bestrebten. Noch waren beide in die Stille verhüllt, die die Dämmerung und das Erwachen vom Schlaf mit sich führet, eine heilige Stille, aus der die Morgenröte nur sanft und allmählich wecket. Sie störten sich einander nicht. Die Morgenröte vor ihnen und um sie her das fröhliche Chor aller erwachenden Wesen, saßen sie eine Zeitlang stumm da, bis endlich nach Aufgang der Sonne, da die Szene gewühlvoller wurde, Charikles einen Spaziergang in den nahen Wald vorschlug, auf dem sie sich durch einen kleinen Umweg nach Hause finden könnten; und nun bog er im Gange sein Gespräch auf den gestrigen Gegenstand unvermerkt über.
Charikles: Wovon haben Sie diese Nacht geträumt, Theages? Sie müssen angenehm geträumt haben, denn Sie waren gestern im Raum der Sterne und Welten wie verloren.
Theages: Wenn die Sonne am Himmel steht, muss man keine Träume erzählen, Charikles, sie haben ihre Szene und Dekoration verloren; alles hat seine Zeit und Stunde. Sehen Sie nicht, wie die Sonne mit ihrem Glanz das ganze Heer unsrer gestrigen Welten uns verdeckt hat, und wie traurig steht dort der Mond am Himmel — ein blasses Wölkchen! Wahrscheinlich würde unser Gespräch auch ein solches werden, wenn es unsre gestrigen Ahndungen wiederholte. Also, Charikles, löschen Sie die Nachtlampe aus und bringen etwas Jugendlicheres vor, wodurch wir uns zur Munterkeit auf den Tag hin stärken!
Charikles: Mich dünkt, wir können in unserm gestrigen Gespräch fortgehn und doch diesen Zweck erreichen. Denn, mein Freund, ich fühle es jetzt augenscheinlich, nicht die Nacht, sondern der Morgen ist zu Gesprächen gut, die uns in die Kindheit des Menschengeschlechts, in den frühen Morgen menschlicher Begriffe und Bilder zurückführen. Unsre studierte Nachtweisheit hat uns verblendet, wo wir mutmaßen sollten, behaupten wir, wo wir menschlich denken sollen, wollen wir göttlich denken.
Theages: Gilt das mir?
Charikles: Nicht so ganz ohne, denn auch Sie, fürchte ich, hat Philosophie und Theologie, Newton und Christentum zu hoch gespannt. Sie wollen zu den Sternen empor, und unser Weg ist vorderhand doch auf Erden. Sie schämen sich Ihrer Stiefbrüder, der Tiere, und klimmen zu Geschöpfen hinauf, die Sie nicht gesehen haben und vielleicht auch nicht sehen werden, zu Einwohnern Merkurs, der Sonne und des Mondes.
Theages: Ich, mein Freund, schäme mich meiner Halbbrüder, der Tiere, nicht, vielmehr bin ich in Absicht ihrer ein großer Seelenwandrer. Ich glaube gewiss, dass sie zur Stufe höherer Wesen hinaufklimmen, und kann gar nicht begreifen, wie man dieser Hypothese, die den Zusammenhang der ganzen Schöpfung für sich zu haben scheint, noch etwas in den Weg legt.
Charikles: Nun sind Sie auf rechtem Wege.
Theages: Ich bin, was diesen Punkt betrifft, immer darauf gewesen; erinnern Sie sich, dass Sie gestern selbst davon ablenkten. Können Sie die äsopische Fabel leiden, Charikles?
Charikles: Sehr, aber wie kommt die hierher?
Theages: Weil ich sie wie den Kompass ansehe, der uns zeigt, wie wir zu den Tieren stehen. Sämtlich und sonders spielen die Tiere noch ihre Fabel, und Äsop, der größte Philosoph und Sittendichter, hat uns ihr Spiel nur vernehmlich, ihre Charaktere nur sprechend für uns gemacht; denn für sich sprechen und handeln sie unaufhörlich. Und wissen Sie, was den Mensch bei dieser fortgehenden Tierfabel ist? Nichts als der allgemeine Satz, die Moral der Fabel, die Zunge in der Waage [=Pointe]. Er nutzt die Schöpfung und also auch alle Charaktere der Tiere. Sie handeln vor ihm, er lässt sie handeln und — denket. Sein »die Fabel lehrt« muss er alle Augenblicke wiederholen.
Charikles: Und dies täte etwas zur Seelenwandrung der Tiere?
Theages: Mich dünkt, viel. Der Tierfabel fehlt zur Menschenfabel nichts als die Sentenz, der allgemeine Satz, die Lehre. Der so bestimmte, sichere, lehr- und kunstreiche Tiercharakter bekommt das Fünklein Licht, das wir Vernunft nennen, und der Mensch ist da. Er ist da, um aus seinem vorigen Tiercharakter sich nun Lehre, Unterricht, Kunst zu sammlen, sich seine vorige Lebensweise mehr oder minder zur Anschauung zu bringen und, wenn er will, daraus klug zu werden. Er soll als Mensch das weise und gut ordnen lernen, was er als Tier kann, mag und will. Mich dünkt, das ist die Anthropogenesie und Palingenesie (Menschwerdung und Wiedergeburt) der Tiere zu Menschen.
Charikles: Das Bild ist artig, aber die Sache? Sollte es so gewiss sein, Theages, dass jeder Mensch einen Tiercharakter habe?
Theages: Zweifeln Sie daran, so sehen Sie Menschen, zumal Menschen in Leidenschaft oder mit starker Leidenschaft, ins Antlitz, betrachten Sie, wenn diese nicht bemerkt werden, ihre Lebensweise und die scharf unterscheidenden Striche ihres Charakters; es wäre sonderbar, wenn Sie nicht schon der Bildung, der Miene, den Gebärden nach, noch mehr in der fortgehenden Handlung ihres Lebens den Fuchs, den Wolf, die Katze, den Tiger, den Hund, den Hamster, den Geier, den Papagei und wie das ehrliche Gefolg aus der Arche Noah weiter heißt, bemerkten.
Charikles: Sie scherzen. Bisher habe ich die ganze Hypothese nur als ein Spiel beim Nachtisch angesehen, da man sich mit der Serviette bis exclusive zur Nase
(hier: die Nase ausgenommen) den Mund verhüllet und frägt: »Wer war ich, was für ein Tier bin ich gewesen?«
Theages: Wie das Spiel getrieben wird, ists Spiel und muss es bleiben. Wer kennt sich selbst bis auf den Grund seines Charakters? Und wie sollte uns ein andrer auf einen Blick kennen, sobald wir den Mund unter die Serviette hüllen? Was käme auch heraus, wenn der Mensch sich seinen Lebensalmanach mit den Bildern der Tiere schmückte, mit denen er jeden Tag umzugehen hat, und sich gegen sie wieder in seinem Tiercharakter betrüge? Menschen sollen wir sein, nicht Tiere. Die Zunge an der Waage soll uns leiten, nicht ein blindes Gewicht von Charakter und Tierinstinkten, das auf die Waagschale gelegt ist. Das tierische Menschengesicht ist menschlich und aufgeklärt, die Züge sind auseinandergesetzt, insonderheit die am meisten charakteristischen Züge, Stirn, Nase, Augen und Wange, sind beim Menschen gegen die Tiere unendlich erhoben, veredelt und verschönet.
Charikles: Also wäre die Tierbildung nur eine Grundlage des menschlichen Charakters, der vom Lichte der Vernunft erhellet und von der sittlichen Empfindung des Menschenherzens geordnet, verschönt und erhoben werden soll. Der Grund unsrer sinnlichen Kräfte und Charakterzüge, unsre etwaigen Reste von bloß sinnlichen Geschicklichkeiten, Neigungen und Trieben wären tierisch, die nachher von unsrer Vernunft nur überglänzt, nur geregelt werden müssten.
Theages: Studieren Sie die Menschen, und Sie werden häufige Proben davon finden; denn in Urteilen über Züge und Charaktere, sobald wir nur das stolze Moralische absondern, sind wir alle ziemlich einig. In der Natur und der äsopischen Fabel nennen wir einen Fuchs Fuchs und nicht Löwen. Im menschlichen Leben verwirrt sich das Urteil, wie aus hundert Ursachen, so auch daher, weil es wirklich Absicht der Menschenbildung und Menschenbestimmung ist, den Tiercharakter und die Tiersitten bis zu einem gewissen Grad auszulöschen und Menschen oder, wenn Sie wollen, Engel in der Menschheit aus uns zu bilden. Das will nun jeder schon geworden sein. Der Neid und die hämische Schadenfreude wollen am andern so gern noch das ganze rohe Tier und keine Spur vom Menschen oder Engel finden. Daher kommts denn, dass man diese Hypothese so missbraucht und sie zuletzt verachtet, entweder weil man sie missversteht oder weil man sie fürchtet. Ohne sie aber wüsste ich nicht, was aus dem zahlreichen Heer der Geschöpfe unter uns, unsern so charakteristischen und fein empfindenden Halbbrüdern im Feld und Walde, werden sollte.
Charikles: Werden sollte? Nichts anderes, als was sie sind. Sie wandern in neue Formen ihrer Gattung, sie werden feinere Rehe, feinere Vögel.
Theages: Feinere Tiger, feinere Affen und Wölfe, und am jüngsten Tage stehen diese mit auf, uns zu begleiten? Es ist doch nicht Ihr Ernst, mein Freund, sich die innerste Schöpfung, die immer fortgehende neue Schöpfung, nach des seligen Ritter Linné Klassenbüchern (Einteilung der Geschöpfe) zu denken?
Charikles: Mein Ernst nicht, aber unser Freund Harmodius ließe sich für diese Meinung töten.
Theages: Nun, da stürbe er sehr unschuldig; denn mit unsern Klassifikationen reicht es so gar weit nicht. Sie sind für unsre Sinne, für unsre Kräfte, nicht aber Musterrollen, nach denen die Natur ordnet, Klausuren (hier: Grenzen), die sie sich selbst gesetzt hätte, um jedes Geschöpf fein in ebner Bahn zu erhalten. Ei, wie verlieren sich die Klassen aller Geschöpfe ineinander! Wie steigen und erhöhen sich die Organisationen aus allen Punkten, auf allen Seiten, und wie sind sie sich einander wiederum so ähnlich! Gerade, als ob auf unsrer ganzen Erde die formenreiche Mutter nur einen Typus (Muster), ein Protoplasma (hier: ursprüngliches Vorbild) vor sich gehabt hätte, nach dem und zu dem sie alles bildete. Wissen Sie, was dies für eine Form ist? Die nämliche, die auch der Mensch an sich trägt.
Charikles: Es ist wahr, auch in dem unvollkommensten Tier ist noch einige Ähnlichkeit mit dieser Hauptform der Organisationen unverkennbar.
Theages: Im Innern ist sie es noch mehr als von außen. Selbst bei Insekten hat man ein Analogon des menschlichen Gliederbaues gefunden, nur freilich, gegen uns betrachtet, eingehüllt und in scheinbarem Missverhältnis. Die Glieder, mithin auch die ihnen einwirkenden Kräfte, sind noch unentwickelt, noch nicht organisiert zu unserer Menge von Leben. Mich dünkt, in der ganzen Schöpfung sei dieser Fingerzeig der Natur ein Faden der Ariadne* durchs Labyrinth der Tiergestalten hinauf und hinunter. —
*Ariadne, die Tochter des kretischen Königs Minos gab Theseus ein Fadenknäuel, damit er wieder aus dem Labyrinth herausfinde.
Aber, mein Freund, wir haben uns müde gegangen und müde geschwatzt; wie, wenn wir uns unter diese angenehmen Bäume niederließen und dem Schwan zusähen, der sich dort in der hellen Fläche bespiegelt und auf ihr rudert? —
Sie setzten sich und ruhten eine Weile — das Rauschen der Wellen und das Lispeln der Bäume betäubt[e] angenehm die Gedanken —‚ bis endlich Charikles den Faden des Gesprächs aufnahm.
Charikles: Sie kamen, Theages, durch die Hypothese, dass das Tier ewig Tier bleibe, um die Schranken der Natur nicht zu durchbrechen, von der freieren, seelerhebenden Meinung ab, dass in ihr alles ein Zusammenhang sei und in der größten Vielfachheit, in einer unzählbaren Veränderung von Formen das Reich der Seelen und Kräfte unaufhaltsam weiter strebe. Sagen Sie mir, Geliebter, etwas von Ihren Tagesträumen hierüber, wie Sie mir gestern von Ihren Nachtträumen sagten. Im Anblick dieses schönen Stroms, in der erhabnen Stille dieses Haines lassen sich, dünkt mich, Phantasien denken wie unter dem bestirnten Dache des Himmels; hier sind wir wenigstens selbst mit im Chor.
Theages: Und waren wirs dort nicht auch? Oder sind wir hier nicht auch mitten im Strom eines Himmels, in einem Chor irdischer Sterne? Alles Leben der Natur, alle Arten und Gattungen der beseelten Schöpfung, was sind sie als Funken der Gottheit, eine Aussaat von verkörperten Sternen, unter denen die beiden Menschengeschlechter wie Sonne und Mond dastehn! Wir überglänzen, wir verdunkeln die andern Gestalten, führen sie aber in einem für uns selbst unübersehbaren Chor gewiss weiter. O Freund, würde uns ein Auge gegeben, den glänzenden Gang dieser Gottesfunken zu sehen, wie Leben zu Leben fließt und, immer geläutert, in allen Adern der Schöpfung umhergetrieben, zu höherm, reinerm Leben hinaufquillt — welch eine neue Stadt Gottes, welche Schöpfung in der Schöpfung würden wir gewahr werden! Von dem ersten Atom, dem unfruchtbarsten Staube, der kaum noch dem Nichts entrann, durch alle Arten der Organisation hinauf bis zum kleinen Universum von allerlei Leben, dem Menschen, welch ein glänzendes Labyrinth! Aber der menschliche Verstand erblickts nicht, er siehet nur die Dinge von außen, er siehet Gestalten, nicht wandernde, sich emporarbeitende Seelen. Das innere Triebwerk der Natur, ihre lebendigen Räder und atmenden Kräfte — für zu großem Glanze ist es ihm Unsichtbares, das Reich der Nacht, die verschleierte Hülle ungeborner, ewig sich fortgebärender Leben.
Alas! our sight‘s so ill,
That things which swiftest move, seem to stand still.
Aus dem »Brutus« des englischen Dichters Abr. Cowley (1618 - 1667)
Weh uns, dass wir so schwach und übel sehn,
Der schnellste Flug, uns
scheint er still zu stehn.
Herders Übersetzung
Ich darf mich also nicht verhüllen vor dir, großer Pan, ewige Quelle des Lebens; du hast mich in mich selbst verhüllet. Kenne ich doch die Welt vom Leben nicht, die ich meinen Körper nenne. Ohne Zweifel würde meine zu schwache Seele, wenn sie das unzählbare Heer sähe, das ihr in allen Graden und Klassen der Belebung dienet, — sie würde ihren Herrscherstab fallen lassen und ihrem Thron entsinken. In meinen Adern, in den feinsten mir zugeteilten Gefäßen wallen diese zu höherm Leben hinauf, wie sie, durch so mancherlei Gänge und Zubereitungen getrieben, aus der ganzen Schöpfung in mich wallten; ich bereite sie weiter, wie alles sie zu mir bereitete. Keine Zerstörung, kein Tod ist in der Schöpfung, sondern Auflösung, Entbindung, Läuterung. So arbeitet der Baum mit seinen Ästen und Gliedern den Saft der Erde und der Luft, das Feuer des Bodens und des Himmels zu seiner Natur, zum edlem Safte sein selbst und seiner Kinder. Seine Blätter saugen und machen fruchtbar. Jedes Blatt ist ein Baum, formiert auf einer grünen Fläche, in einem dünnen Gewebe, weil die Schöpfung nicht Raum hatte, sie alle als völlige Bäume hervorzubringen; aus jeder Knospe, an jedem Zweige dränget sie also Baumesgeister hervor. Die vielgebärende Mutter Erde bekleidet sich mit grünem Leben, jede Blume, die sich aufschließt, ist eine Braut, jeder blühende Baum eine große Familie von Leben. Das Reich der Tiere, unsrer stummen Mitbewohner, zerstört tausend Formen niedrigerer Art, um seine höhern Formen zu beseelen; der Mensch endlich, der größte Ausarbeiter und Zerstörer der Schöpfung, er gibt und nimmt Leben, er ist, ohne dass ers weiß, das Ziel seiner niedrigen Mitbrüder, nach dem sie vielleicht alle unvermerkt geführt werden. Schöner rudernder Schwan, in welch glänzendes Element hat dich dein Schöpfer gesetzt, dich selbst zu lieben und zu bewundern! Mit deinem schöngebognen Halse, in der reinen frischen Unschuldsweiße schwimmst du wie eine Königin daher, eine sanfte Prachtgestalt auf der klaren Fläche der Wogen! Deine Welt ist ein Spiegel, dein Leben ein Schmuck-, ein Künstlerleben; was wird dein Geschäft sein, wenn du einmal in Menschengestalt Schönheitslinien entwirfst und Reize an dir oder in der Natur studierest?
Charikles: Apropos, mein Freund, haben Sie den Roman des Bischofs Berkeley »Gaudentio von Lucca« gelesen?
Theages: Ich kenne ihn nicht.
Charikles: Er hat ein hübsche Idee der Seelenwandrung, die er seinen Mezzoraniern beilegt. Er lässt sie glauben, dass die Seelen der Tiere nach den Wohnungen menschlicher Körper geizen und sich auf alle Weise dahinein zu stehlen suchen. Es gelinge ihnen, sobald der Mensch die Fackel seiner Vernunft tauen lässt und also die Übermacht verliert, sich selbst zu leiten. Nun werde er rachsüchtig, grausam, wollüstig, geizig, nachdem dieses oder jenes Tier ihn verfolgte und den Platz seiner vernünftigen Seele einnahm. Mich dünkt, die Allegorie ist artig.
Theages: Wie Berkeley überhaupt ein seltner, feiner Mann war. Dergleichen Einkleidungen umkränzen eine Wahrheit niedlich!
Charikles: Und was halten Sie von der Seelenwandrung der Juden, die die Rabbinen Ibbur nennen? Sie sagen, dass sich einem Menschen mehrere, auch Menschenseelen gesellen können, die ihm insonderheit zu gewissen Zeiten — wenn nämlich ein freundschaftlicher Geist siehet, dass ers bedarf, und Gott es ihm erlaubet — beistehen, ihn stärken, begeistern, mit und in ihm wohnen. Sie verlassen ihn aber, wenn das Geschäft zu Ende ist, dazu sie ihm helfen sollten, es sei denn, dass Gott einen Menschen mit diesem Beistande eines fremden Geistes bis an sein Ende begünstige.
Theages: Die Dichtung ist lieblich. Sie bemerkt, wie ein Mensch oft so ungleich handelt, wie er insonderheit in spätern Jahren bisweilen so sehr unter sich sinket. Der fremde, hilfreiche Geist hat ihn verlassen, und er sitzt mit dem seinen nackt da. Auch ehrt die Einkleidung außerordentliche Menschen auf eine schöne Weise; denn welch ein Lob ists, dass einen Weisen die Seele eines alten Weisen oder gar mehrere derselben auf einmal beleben! Sie halten doch aber die schöne poetische Einkleidung nicht für physisch-historische Wahrheit?
Charikles: Wer weiß? Die Revolution menschlicher Seelen ist bei vielen Völkern allgemein geglaubt worden. Sie haben doch die Frage an Johannes gelesen: »Bist du Elias, bist du ein Prophet?« Sie wissen, wers sogar bestätigte und gerad heraus sagte: »Er ist Elias.«
Theages: Und Sie haben doch den jüngern Helmont »De revolutione animarum« (Über die Verwandlung der Seelen) gelesen? Er hat in 200 Problemen alle Sprüche und Gründe angebracht, die sich je auf das Wiederkommen der Seelen in menschliche Leiber nach jüdischen Begriffen deuten ließen.
Charikles: Ich muss Ihnen sagen, dass mir die jüdische Revolution der Seelen immer gefallen hat. Kennen Sie sie genau?
Theages: Ziemlich. Sie behauptet, dass die Seele zwei- oder dreimal, bei außerordentlichen Fällen mehrmal ins Leben wiederkehre und das vollende, was sie noch nicht vollendet hatte. Sie setzt, dass Gott die Perioden der Welt nach diesen Revolutionen der Seelen eingerichtet, dass er die Grade des Lichts und der Dämmerung, des Unglücks und der Freuden, ja endlich das Schicksal und die ganze Dauer der Welt darnach bestimmt habe. Die erste Auferstehung sei eine Revolution solcher vollendeten, ins Leben wiederkehrenden Seelen.
Charikles: Was sagen Sie dagegen?
Theages: Nichts, als dass ich nichts dafür sagen kann, weil dies entweder poetische Fiktion ist oder im Rate Gottes ruhet. Die Sprüche wenigstens, die man dafür anführt, beweisen alle nichts.
Charikles: Und auch die Vernunftgründe nichts, die man dafür anführt? Dass Gott z. E., der ohne Ansehen der Person ist, bei einem Dasein der Seelen auf der Welt so viel Ansehn der Person beweise, dass der Langmütige, Gerechte jedem Zeit und Raum zur Buße gebe, dass manchem Menschen ja unschuldigerweise der Genuss des Lebens so bitter gemacht. so abgekürzt werde. Sie gingen, mein Freund, über diese Gründe so hinweg, weil Sie, wie ich wohl sagen darf, widrig dagegen eingenommen waren. Denken Sie sich aber die Sache menschlich, nehmen Sie das Schicksal der Missgebornen, der Ungestalten, der Armen, der Dummen, der Krüppel, der entsetzlich Zurückgesetzten und Beleidigten, der jungen Kinder, die das Licht kaum sahen und fort mussten, nehmen Sie dies alles zu Herzen — und entweder müssen Sie von ihrer Fortrückung in jene Welt schwache Begriffe haben, oder diesen Personen müssen hier erst Fittige gemacht werden, damit sie andern nur von fern nachschweben lernen, damit sie einigermaßen nur Ersatz für fatale oder fatal verkürzte Zeiträume in dieser Welt erlangen können. An Fortrückung zu einem höhern als dem menschlichen Dasein ist bei ihnen schwerlich zu gedenken.
Theages: Warum nicht? Niemand gibt, wie Gott gibt, und niemand kann wie Gott ersetzen und vergelten. Allen Geschöpfen gab er das Dasein aus freier Liebe; wenn einige zurückgesetzt scheinen, hat er nicht Örter, Einrichtungen, Welten genug, wo er durch eine Verpflanzung tausendfach ersetzt und belohnet? Ein zu früh gestorbnes Kind, ein Jüngling. der für dies raue Erdenklima gleichsam zu zart war — die Nationen habens gefühlt, dass ihn die Götter geliebet und die wertgeachtete Pflanze in einen schönern Garten versetzt haben. Oder hat Gott etwa kein anderes Räumchen als diese Erde? Muss er ausjäten, um Platz zu gewinnen, und die ausgerissne Pflanze so lange im Reich der Vorratskammer ungeborner Seelen welken und warten lassen, bis er wieder eine Stelle erjage? Wie viele Menschen sind in jener Welt gewiss dadurch glücklich, dass sie hier unglücklich waren. Kennen Sie, mein Freund, die Kleistische Fabel vom gelähmten Kranich?
Charikles: Ich kenne sie nicht.
Theages: Sie ist eine der schönsten, die je gemacht ward. Wollen Sie sie lesen?
Theages gab ihm das Buch, und Charikles las:
Der Herbst entlaubte schon den bunten Hain
Und streut aus kalter Luft Reif auf die Flur.
Als am Gestad ein Heer von Kranichen
Zusammenkam, um in ein wirtbar Land
Jenseits des Meeres zu ziehn. Ein Kranich, den
Des Jägers Pfeil am Fuß getroffen, saß
Allein, betrübt und stumm und mehrte nicht
Das wilde Lustgeschrei der Schwärmenden
Und war der laute Spott der frohen Schar.
»Ich bin durch meine Schuld nicht lahm«, dacht er
In sich gekehrt, »ich half so viel als ihr
Zum Wohl von unserm Staat. Mich trifft mit Recht
Spott und Verachtung nicht. Nur ach, wie wirds
Mir auf der Reis ergehn, mir, dem der Schmerz
Mut und Vermögen raubt zum weiten Flug!
Ich Unglückseliger, das Wasser wird
Bald mein gewisses Grab. Warum erschoss
Der Grausame mich nicht?« Indessen weht
Gewogner Wind vom Land ins Meer. Die Schar
Beginnt, geordnet, jetzt die Reis und eilt
Mit schnellen Flügeln fort und schreit vor Lust.
Der Kranke nur blieb weit zurück und ruht
Auf Lotosblättern oft, womit die See
Bestreuet war, und seufzt vor Gram und Schmerz
Nach vielem Ruhm sah er das bessre Land,
Den gütgern Himmel, der ihn plötzlich heilt.
Die Vorsicht leitet ihn beglückt dahin,
Und vielen Spöttern ward die Flut zum Grab.
Ihr, die die schwere Hand des Unglücks drückt.
Ihr Redlichen, die ihr, mit Harm erfüllt,
Das Leben oft verwünscht, verzaget nicht
Und wagt die Reise durch das Leben nur!
Jenseit des Ufers gibts ein besser Land;
Gefilde voller Lust erwarten Euch.
Von Ewald von Kleist 1715 - 1759
Charikles: Eine schöne Fabel auch für meine Meinung! Wir wollen aufstehen, mein Freund, und im Gehen müssen Sie mir noch einige Fragen erlauben. Wie kommts, dass im Altertum die weisesten und so weit voneinander entlegenen Nationen an der Lehre der Seelenwandrung, und zwar an der schlechtesten Lehre des Rückganges der Wesen, dass der Mensch wieder Tier werde, so lange gehangen haben?
Theages: Sie haben sich selbst schon die Frage beantwortet, Charikles, es war die Kindheit der Welt und ihrer Weisheit her das Menschenschicksal. Bei einigen, z. B. den Ägyptern, Braminen, vielleicht auch bei Pythagoras selbst, war die Seelenwandrung Kirchenbuße in einer anschaulichen moralischen Dichtung.
Charikles: Sonderbare Kirchenbuße in einer Dichtung.
Theages: Gewissermaßen konnten beide damals nicht ohne einander bestehen. Sie wissen, die Weisheit der ältesten Nationen war bei den Priestern. Wenn diese dem rohen Volk hne rechten Ideen von der zukünftigen Welt geben konnten oder selbst keine hatten, wars nicht gut, dass sie sie auch über Zukunft nach diesem Leben mit sinnlichen Strafen schreckten? »Du Grausamer wirst zum Tiger, so wie du auch schon eine Tigerseele äußerst, du Unreiner zur Sau, du Hoffärtige zum Pfauen; da musst du lange büßen, bis du deiner entweiheten Menschheit wieder würdig geachtet werdest.« Solche Anschaulichkeiten, mit allem Ansehn der Religion gesagt, wirken ohne Zweifel mehr als metaphysische Subtilitäten. Jeder sah die Natur des Tieres und das Schicksal desselben vor sich, der Lasterhafte fühlte den Tiercharakter in sich, und nichts natürlicher, als dass er nun auch das Schicksal des Tieres, das ist, den reellen Übergang in dasselbe, befürchtete. Wenn diese Lehre also einmal festgestellet war, so konnte sie vielleicht von manchen Lastern abziehen, zu manchen Tugenden gewöhnen. Wer wollte nicht lieber ein weißer Elefant als eine Sau sein, zumal wenn man die Natur und das Schicksal der Tiere mit Augen der Indier und Ägypter, mit jener stillen Vertraulichkeit ansieht, in der die Kindheit der Welt mit den Tieren lebte. Sie glauben doch aber wohl nicht, Charikles, dass uns noch diese Lehre nötig oder angemessen sein sollte?
Charikles: Manchmal wäre der Glaube an sie vielleicht nicht übel. Wenn der Grausame, der einen armen Hirsch zu Tode quält, in dem Augenblick von einer lymphatischen (hier: etwas blass, weichlich) Ahndung ergriffen, dächte: »So wirds dir gehen! Deine Seele soll in den Hirsch fahren und auch so zu Tode gequält werden!« vielleicht erstickte er die freudenlose Brutalität in sich.
Theages: Ich zweifle, mein Freund, da der unmittelbare Anblick des leidenden Geschöpfs sie nicht zu ersticken vermag. Für uns, dünkt mich, hat diese ganze Seelenwandrung ihren Stachel verloren. Wenn ich als Mensch nicht gut bin, werde ichs als Tiger werden, da es sodann meine Natur ist zu sein, worin ich verwandelt wurde? Bin ich verdammt, Gras zu fressen wie ein unvernünftiger Ochs, wie werde ich in diesem Zustande anfangen, meine Vernunft besser zu gebrauchen, als ich sie, da ich ein Mensch war, gebrauchte? Gott hat mir selbst die Augen verbunden und das Licht des Verstandes genommen, und ich soll besser sehen lernen? Soll meine Degradation (Zurückversetzung in eine niedrigere Position) Büßung sein in den Augen des grausamen willkürlichen Richters, so sei sie es! Besserung aber, vernünftig-moralische Besserung in mir wird sie nie, weil mir ja bei solcher Degradation das entnommen ist, was mich allein bessern könnte. Wird man nicht eher gegen den Gott erbittert, der, weil man die Augen nicht recht gebraucht hat, sie uns nun raubet, und weil man sein Herz nicht zu rechten Empfindungen gewöhnt hat, es in der Gestalt des Unglücklichen und Lasterhaften verhärtet?
Charikles: Auch dagegen ließe sich noch manches sagen; aber Einkleidung fürs Volk wenigstens mag die Dichtung gegolten haben.
Theages: Auch als Einkleidung fürs Volk ist das Märchen nicht für unsere Zeiten. Der Mensch soll sich, wie mich dünkt, der obersten Stufe ansehn lernen und sein jetziges Dasein peremtorisch (ein für allemal, entscheidend) brauchen. Keine Schleichwege und Schlupfwinkel soll er wissen, in denen er noch etwa nachholen kann, was er versäumt hat; wenigstens hat ihn die Gottheit gar nicht darauf verwiesen. Aut Caesar aut nihil; aut nunc aut nunquam! (Entweder Kaiser oder nichts; entweder jetzt oder niemals). Auch im Altertum haben alle wirkende edle Nationen, die nicht von der Fabelweisheit und den dummen Büßungen ihrer Priester betört wurden, sich edlere Zustände nach dem Tode zum Ziel ihrer Nacheiferung gesetzet. Die Versammlung der Väter bei den Morgenländern, das Elysium (Inseln der Seligen) der Griechen, die Walhalla (Götterburg, in die nach germanischen Glauben die bewährten Helden nach ihrem Tode versetzt wurden) der Nordländer sind doch schönere Gedanken im Tode als der Ochs und die Kuh, die auf den Sterbenden, der den Kuhschwanz in der Hand hält, wartet — oder der Leib einer fremden Mutter, in den er schlüpfen muss, um wieder als Kind zu wimmern.
Charikles: Allerdings sind es niedrige Ideen, die rings um diese Hypothese liegen; wie aber, dass dennoch der weise Pythagoras sie nach Europa zu bringen wert hielt?
Theages: Was bringt man nicht aus der Fremde? Nicht nur hold und Schätze, sondern auch Affen und Seltenheiten. Überdem ists unwahrscheinlich, dass Pythagoras von dieser Lehre den Gebrauch gemacht, den die späten unechten Pythagoäer machten. Auch er redete von einem Tartarus und Elysium, wie andere Weisen und Dichter der Griechen; und überhaupt weiß man von dem wahrhaftig großen Mann zu wenig, als dass man insonderheit über seine Einkleidungen und Symbole urteilen könnte, man sieht ihn nur durch das Gewand der Fabel.
Und ach, Freund, Pythagoras oder nicht Pythagoras, was brauchte es so vieler Widerlegungen und Gründe, mit denen auch wir die Zeit verschwendet haben? Fragen Sie Ihr Herz und die Wahrheit, die in ihm wohnet! Wenn Sie vor die Statue eines hochherzigen Apollo treten, fühlen Sie nicht, was Ihnen zu der Gestalt fehlet? Können Sie sie je hier erlangen, und kann sich Ihr Herz in derselben freuen, wenn Sie auch zehnmal wiederkämen? Und das war nur die Idee eines Künstlers, der glückliche Traum eines Sterblichen, den unsre enge Brust auch umschloss! Wie, der allmächtige Vater sollte keine edleren Gestalten für uns haben, als in welchen hier unser Herz wallet und ächzet? Unsre Sprache, alle Mitteilung unsrer Gedanken, was ists mit ihr für ein Flickwerk! Auf der Spitze unsrer Zunge, zwischen Gaum und Lippen, in einigen buchstabierlichen Tönen soll unser Herz, unsere innigste Seele schweben und sich einem andern von da her so mitteilen, dass er uns fasse, dass er den Grund unsers Innersten fühle? Leeres Streben, armselige Pantomime in einigen Luftschwingungen und Gebärden! Die Seele liegt wie ein siebenfach Gefesselter im Kerker und kann nur durch ein festes Gitter, durch ein paar Licht- und Luftlöcher hinaussehen, hinausatmen. Und immer sieht sie die Welt nur von einer Seite, da Millionen andre da sein müssen, die, sobald wir mehrere und andre Sinne hätten, sobald die enge Hütte unsers Körpers mit einer freiem Aussicht wechselte, auch vor uns, auch in uns lägen. Und wir wollten ewig zufrieden sein mit diesem Winkel, mit diesem Kerker? Welcher Unglückliche, ders schon zeitlebens hier sein muss, schränkte seine Wünsche dahin ein, nur seiner Bürde loszuwerden, ohne Gefühl und Hoffnung eines Ersatzes dafür, dass er hier so zurückgehalten und getäuscht worden? Wenn wir, selbst an den seligsten Quellen der Freundschaft und Liebe, hier oft so durstig und krank lechzen, suchen Vereinigung und finden sie nie, betteln Almosen von allen Gegenständen der Erde und sind immer arm, immer unbefriedigt, finden endlich, dass alle Erdenzwecke und Erdenplane nichts sind — eitel, eitel! — fühlen das und fühlens täglich, welche edle, freie Menschenseele hebt sich nicht empor und verachtet ewige Hütten und Wanderplätze im Kreise der Wüsten hinieden!
The soul longs from his prison to come, And we would seal and sow up, if we could. the womb! We seek to dose and plaister up by art The cracks and breaches of th‘ extended shell, And in that narrow cell Would rudely force to dwell The noble vigorous bird, already wing‘d to part. Schluss von Abr. Cowleys Gedicht »Leben« |
Die Seele begehrt aus ihrem Gefängnis zu fliehen, Und wir möchten verschließen den Mutterschoß! Wir suchen mit viel Kunst zu beseitigen Die Risse und Sprünge unsres gebrechlichen Gehäuses; Und in jener engen Zelle (Körper) Sollten wir grausam zu wohnen zwingen Den edlen kraftvollen Vogel (Seele), der schon die Schwingen zum Abschied bereitet! |
Unvermerkt hatten sie unter diesen Gesprächen den Wald zurückgelegt. Am letzten Baume stand Charikles still. »Ehe wir diesen Wald verlassen, Theages«, sprach er, »muss ich Ihnen das Resultat unsrer Gespräche sagen. In allen Gestalten und Ständen der Menschheit, dünkt mich, kommt es freiIich weniger auf Ausbildung unsers Witzes oder Scharfsinnes oder anderer Sprossen menschlicher Seelenkräfte als auf Erziehung des Herzens an, und dies ist bei allen Menschen ein Menschenherz. Es kann auch in allen Formen und Situationen der Menschheit bis auf einen gewissen Grad gebildet werden. Wie weit es nun in dieser Situation ausgebildet worden und wie die Vorsehung den Verunglückten und Leidenden nachhilft, das überlasse ich ihr und wage es nicht, ihre geheimen Wege zur Rennbahn oder zur geschlagnen Landstraße einer Hypothese zu machen, auf der entweder der Mensch erschreckt würde oder der Faule und Freche seine Lehren bereit fände. Mir ist der Ausspruch des Evangeliums heilig: ‚Selig sind die Armen, denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.‘ Reinigung des Herzens, Veredlung der Seele mit allen ihren Leben und Begierden, das, dünkt mich, ist die wahre Palingenesie dieses Lebens, nach der uns gewiss eine fröhliche, höhere, aber uns unbekannte Metempsychose bevorsteht. Hiermit bin ich zufrieden und danke Ihnen, dass Sie mir meine Gedanken entwickelt haben.«
Sie umarmten sich und schieden auseinander. S. 43-86
Aus Herders Werke in fünf Bänden, Fünfter Band, Über die Seelenwanderung, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1969
Aus der philosophischen
Lyrik
St.
Johanns Nachtstraum.
Schönste Sommernacht
Ich schwimm' in Rosen und blühnden Bohnen
und Blumen und Hecken und Nachtviolen,
in tausend Düften! - O Mutter Natur,
wo kenn' ich deine Kinder alle,
die Bräute alle,
die jetzt sich schmücken und lieben und paaren
und Freude duften in der schönsten Brautnacht!
Schöne Nacht!
Wie die Schöpfung flammet und wallt
und girret Liebe! Der allbelebende Sonnenvater
umarmt mit welcher Jugendinbrunst jetzt
die Mutter Erd'! Und der Himmel flammt,
die Mitternacht ist Abendrot
und 'über wird Morgenrot
kühler, dämmernder Tautag!
Schöne Nacht!
Und hundert Wesen schwirren empor!
In Luft und Meer und See und Sand
summen empor, lieben! Wie steigt
der häßliche Raupenwurm aus Grabegespinsten
in hundert Farben und Gestalten empor,
ein fliegender Engel!
Unendlich, ach!
Unerschöpflich bist du schön!
Mutter Natur!
Hundertgestaltige, deine Kinder
in Leben und Wesen und Lieb' und Freuden,
wer kann sie zählen? wer kann sie fühlen? Nur du,
in allen Gestalten und Leben und Wesen
und Lieb' und Freuden, fühlend dich
Mutter Natur! --- wie nenn' ich dich?
Wer bin ich unter den Millionen,
die jetzt genießen? Wer
unter den unendlichern Millionen,
die ich genießen nicht seh. . . .
Da fliegt der leuchtende Funke Gottes,
der Sommerwurm! Kleiner Wurm,
Funke Gottes! Komm! glänze mir!
Wer warst du, dass die schaffende Hand
dich so hat angeglüht
mit Sonnenglanz! mit Sonnenglut!
Wer bist du? . . .
Ich kenne dich nicht!
Und kenne mich? Meinen Funken
eben so klein, fliegend und wallend
aus Sonnenbrand getroffen - wer war's,
der ihn in meinen Staub gab,
dass er zwostrahlicht mir
vom Auge leucht'! im Herzen, ach, oft
wie ermattend walle! walle kurz -
und - lodert er fort dann?
Fleuchst Funke du fort,
wenn mein Wurmkörper auch hin ist,
bist auch bestimmt, aus Grabesnacht
ein Würmchen zum Engel zu erlösen? -
All meine Sinnen sind verschlossen!
Um meine Sinn' ist Sommernacht!
Bin nicht zu denken hier! zu sein! zu fühlen!
Zu leben! mich zu freun!
Der leuchtende Wurm ist nicht allein,
wird, was er wird,
einst nicht allein sein!
Und mich freun? - Allein?
Niemand zu sagen, wie schön im Sommerliebesbrande
Mutter Natur du seist!
Schöne Mutter Natur!
Niemand zu haben, der mit mir
schwirren die Schöpfung höre! gehn
die leisen Räder und sehn den Engel fliegen
und denken Unsterblichkeit!
Vereint sie denken und fühlen
das Erdeleben vereint! uns drücken
an Freundesherz! o schöne Mutter Natur,
dein edelster Funke!
Freundschaft! Edelster Funke! bin ich's wert?
Wie wenige sind's? o Mutter Natur,
in der heiligsten Zauber-Mitternacht
bet' ich, wünsche dich an!
Mach mich's wert! des edelsten Funken
in aller deiner Flammennatur -
Wenn kommt mein leuchtender Engel
den Wurm zu erlösen?
Zauberlaube,
wo seh ich dich?
Rosen und Mondstrahl um dich schwimmend
und liebender Wachtelschlag.
Zauberlaube,
wo seh ich dich?
Um mich gegossen
mein sanftes Weib.
Mein edles Weib! den Knaben
am Mutterarm! an Mutterbrust
das sanftere Mädchen!
ihr gleich!
Zauberlaube,
Wo seh ich dich?
Und der wilde, trotzige Knabe lernt
im Staunen der Sommernacht
hören Gott, fühlen sanft
die Schöpfung, und das Mädchen trinkt
sie sanfter schon
an der Mutterbrust.
Und ich umschlungen
mit Vaterarm mein süßes Weib,
mein süßes Drei - o Zaubertraum,
wie bin ich allein! S. 248
Aus: Herders Religionsphilosophie, Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft VII, Verlag von Felix Meiner in Leipzig
Die
Schöpfung.
. . . die Schöpfung, itzt
am Ziel
harret, schweigt noch! --. Ihr Gefühl
wandelt in sich, und vermißt
was Geschöpf und Schöpfer ist;
Suchet einen, der mit Geist
schmeckt und was er ist, geneußt,
suchet, der mit Gottesblick
alle Schöpfung strahlt zurück! -
In sich, von sich. Und selbst sich
in sich strahl' und väterlich
von sich strahl' und walte frei
und wie Gott ein Schöpfer sei! -
Sieh den suchet, jetzt am Ziel
Gottes Schöpfung, wirft Gefühl
in sich des, was sie vermißt,
und der Mensch - der Gott - er ist!
Neu Geschöpf, wie nenn ich dich?
-
Gott der Schöpfung, lehre mich! -
Doch ich bin, ich bin es ja,
dem dies Gottesbild geschah! –
Ich wie Gott! Da tritt in mich
Plan der Schöpfung, weitet sich,
drängt zusammen und wird Macht!
endet froh und jauchzt: vollbracht! -
Ich wie Gottl Da tritt in sich
meine Seel' und denket mich!
schafft sich um und handelt frei,
fühlt, wie frei Jehovah sei.
Ich wie Gott! Da schlägt mein Herz
Königsmut und Bruderschmerz.
Alles Leben hier vereint,
fühlt der Mensch sich aller Freund!
Fühlt sich Sinn voll Mitgefühl
bis zur Pflanze, bis zum Ziel
aller Menschengöttlichkeit,
feint sich liebend weit und breit,
Immer tiefer, höher. Ich
bin's, in dem die Schöpfung sich
punktet, der in alles quillt
und der alles in sich füllt! -
Bis zur letzten Schöpfung hin
fühlet, tastet, reicht mein Sinn!
Aller Wesen Harmonie
mit mir – ja ich selbst bin sie!
Bin der eine Gottesklang,
der aus allem Lustgesang'
aller Schöpfung tönt' empor
und trat ein in Gottes Ohr,
Und ward Bild, Gedank' und Tat
und ward Mensch. Der Schöpfung Rat,
Mensch, ist in dir! Fühle dich
und die Schöpfung fühlet sich! -
Fühle dich, so fühlst
du Gott
in dir. In dir fühlt sich Gott,
wie ihn Sonn' und Tier nicht fühlt,
wie er - sich - in sich - erzielt! . .
S. 250
Aus: Herders Religionsphilosophie, Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft VII, Verlag von Felix Meiner in Leipzig
Die
Harmonie der Welt.
Siehet das Auge? Höret das
Ohr? Dein innerer Sinn sieht,
Er nur höret und weiß, was er von außen vernahm,
Und du zweifeltest, Freund, am hohen inneren Weltsinn?
Hörst du die Harfe nicht? Willst du auch sehen den Ton? S.
252
Aus: Herders Religionsphilosophie, Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft VII, Verlag von Felix Meiner in Leipzig
Das
Gesetz der Welten im Menschen.
Schönes Sternengefild, ihr
weiten unendlichen Auen,
Aus mir selber entzückt, bang ich mit Blicken an euch,
Schaue die goldene Herde der himmlischen Schafe da weiden,
Suche den Hirten in ihr, der mit dem Stabe sie führt.
»Suchst du den Hirten der Herde, die droben sich badet im Äther?
Suchst das hohe Gesetz, welches die Welten bewegt?
Sterblicher, blick in dich selbst, da hast du die höhere, Regel,
Die nicht die Welten allein, die auch sich selber regiert.« S.
252
Aus: Herders Religionsphilosophie, Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft VII, Verlag von Felix Meiner in Leipzig
Das
Ich.
Willst du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund,
Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit.
Sie täuschet dich mit Nebelträumen, engt
Dir Geist und Herz, und quält mit Sorgen dich,
Vergiftet dir das Blut, und raubet dir
Den freien Atem, daß du, in dir selbst
Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.
Sag' an: was ist in dir Persönlichkeit?
Als in der Mutter Schoß von zweien du
Das Leben nahmst, und, unbewußt dir selbst
An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst,
Zum Tier gediehest, und ein Menschenkind
(So saget man) die Welt erblicktest; du
Erblicktest sie noch nicht, sie sahe dich,
Von deiner Mutter lange noch ein Teil,
Der ihren Atem, ihre Küsse trank,
Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust
Empfindung lernete. Sie trennte dich
Allmählich von der Mutter, eignete
In tausend der Gestalten dir sich zu,
In tausend der Gefühle dich ihr zu,
Den immer Neuen, immer Wechselnden.
Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß
und Hand,
Und Ohr und Auge spähend immer neu
Zu formen sich. Und so gediehest du
Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis.
Im Jünglinge, was war vom Kinde noch?
Was war im Knaben schon vom Greis und Mann?
Mit jedem Alter tauschtest du dich um;
Kein Teil des Körpers war derselbe mehr.
Du täuschtest dich mit dir; dein Spiegel selbst
Enthüllte dir ein andres, neues Bild.
Verlangtest du, ein Jüngling,
nach der Brust
Der Mutter? Als die Liebe dich ergriff,
Sahst du die Braut wie deine Schwester an? . . .
... Und die innre Welt
Der Regungen, der lichten Phantasei,
Des Anblicks aller Dinge, ist sie noch
Dieselbe dir, wie sie dem Knaben war?
Ermanne dich! Das Leben ist ein Strom
Von wechselnden Gestalten. Welle treibt
Die Welle, die sie hebet und begräbt –¬
Derselbe Strom, und keinen Augenblick.
An keinem Ort, in keinem Tropfen mehr
Derselbe, von der Quelle bis zum Meer!
Und solch ein Trugbild soll dir Grundgebäu
Von deiner Pflicht und Hoffnung, deinem Glück
Und Unglück sein? Auf einen Schatten willst
Du stützen dich? und einer Wahngestalt
Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?
Ermanne dich! Nein, du gehörst
nicht dir:
Dem großen, guten All gehörest du.
Du hast von ihm empfangen und empfängst;
Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,
Dich selbst, dich selbst: denn sieh du liegst, ein Kind,
Ein ewig Kind, an dieser Mutter Brust,
Und hangst an ihrem Herzen. Abgetrennt
Von allem Lebenden, was dich umgab,
Und noch umgibt, dich nähret und erquickt,
Was wärest du? Kein Ich. Ein jeder Tropf
In deinem Lebenssaft, in deinem Blut
Ein jedes Kügelchen, in deinem Geist
Und Herzen jeder regende Gedank',
Und Fertigkeit, Gewöhnung, Schluß und Tat
(Ein Triebwerk, das du übend selbst nicht kennst),
Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug
Des Angesichtes ist ein fremdes Gut,
Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch.
So, immer wechselnd, stets verändert schleicht
Der Eigner fremden Gutes durch die Welt. . . .
Was ist von deinen zehen tausenden
Gedanken dein? Das Reich der Genien,
Ein großer unteilbarer Ozean,
Als Strom und Tropfe floß er auch in dich
Und bildete dein Eigenstes. Was ist
Von deinen zehen-zehen tausenden
Empfindungen das Deine? Lieb und Not,
Nachahmung und Gewohnheit, Zeit und Raum
Verdruß und Langeweile habe dir
Es angeformt und angegossen, daß
In deinem Leim du neu es formen sollst
Fürs große, gute, ja fürs beßre All. –
Dahin strebt jegliche Begier; dahin
Jedweder Trieb der lebenden Natur,
Verlangen, Wunsch und Sehnen, Tätigkeit,
Und Neugier, und Bewunderung, und Braut¬-
Und Mutterliebe, daß vom innern Keim
Die Knospe sich zur Blum' entf'alt' und einst
Die Blum' in tausend Früchten wiederblüh.
Den großen Wandelgang des ewgen Alls
Befördert Luft und Sonne, Nacht und Tag.
Das Ich erstirbt damit das Ganze sei. - -
Was ist’s, das du mit deinem
armen Ich
Der Nachwelt hinterlässest? Deinen Namen?
Und hieß er Rafael - an Rafaels
Gemälden selbst vergeß' ich gern den Mann,
Und ruf' entzückt: ein Engel hat's gemalt : . .
Nur wenn uneingedenk des engen Ichs
Dein Geist in allen Seelen lebt, dein Herz
In tausend Herzen schläget, dann bist du
Ein Ewiger, Allwirkender, ein Gott,
Und auch, wie Gott, unsichtbar-namenlos.
Persönlichkeit, die man den Werken
eindrückt,
Die kleinliche, vertilgt im besten Werk
Den allgemeinen ewgen Genius,
Das große Leben der Unsterblichkeit.
So lasset dann im Wirken und Gemüt
Das Ich uns mildern, daß das beßre Du,
Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft
Auslöschen, und uns von der bösen Unart
Des harten Ich unmerklich-sanft befrein.
In allen Pflichten sei uns erste Pflicht
Vergessenheit sein selber! So gerät
Uns unser Werk, und süß ist jede Tat,
Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei
Und groß und ewig und allwirkend macht.
Verschlungen in ein weites Labyrinth
Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton
Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz
Ein lebend Rad im Werke der Natur.
Wenn einst mein Genius die Fackel
senkt,
So bitt' ich ihn vielleicht um manches, nur
Nicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?
Das Kind? den Jüngling? oder gar den Greis?
Verblühet sind sie, und ich trinke froh
Die Schale Lethens. Mein Elysium
Soll kein vergangner Traum von Mißgeschick
Und kleinem, krüpplichten Verdienst entweihu.
Den Göttern weih' ich mich wie D e c i u s
Mit tiefem Dank und unermeßlichem
Vertrauen auf die reich belohnende,
Vielkeimige, verjüngende Natur.
Ich hab' ihr wahrlich etwas Kleineres
Zu geben nicht, als was sie selbst mir gab,
Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich. S.
252
Aus: Herders Religionsphilosophie, Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft VII, Verlag von Felix Meiner in Leipzig
Selbst.
Vergiß dein Ich; dich selbst verliere nie.
Nichts Größres konnt' aus ihrem Herzen dir
Die reiche Gottheit geben, als dich selbst.
Was an der Mutter Brust, was an der
Brust
Der großen Mutter, der belebenden
Natur, von Elementen in dich floß,
Luft, Äther, Speis' und Trank, und Regung, Bild,
Gedank' und Phantasei, bist du nicht selbst.
Du selbst bist, was aus allem du dir schufst
Und bildetest und wardst und jetzo bist,
Dir bist, dein Schöpfer selbst und dein Geschöpf.
Nicht was du siehest (auch das Tier
bemerkt),
Nicht was du hörest (auch das Tier vernimmt),
Nicht was du lernest (auch der Rabe lernt) –
Was du verstehest und begreifst; die Macht,
Die in dir wirkt; die innre Seherin,
Die aus der Vorwelt sich die Nachwelt schafft;
Die Ordnerin, die aus Verwirrungen
Entwirrend webt den Knäuel der Natur
Zum schönen Teppich in und außer dir:
Das bist du selbst; die Gottheit ist's, wie du. . .
. . . In deinem innersten
Bewußtsein lebt ein sprechender Beweis
Vom höchsten Allbewußtsein. – Sei ein Tier,
Verliere dich, und wunderst dich, o Tor,
Daß du die Gottheit mit dir selbst verlorst?
»Der Wesen Harmonie!« -
Ein leeres Wort
Ohn' einen Hörer. Höre du sie tief
In deinem Herzen, und es nennt dein Herz
In tiefster Stille mit dem vollen Chor
Der Welten ihn, das höchste Selbst, den Sinn
Und Geist, das Wesen aller Wesen, Gott.
Wohlauf! In deinem Innern baue dann
Der Gottheit einen Tempel, wo sie gern
Mitteilend wohnt. In ihm erschallet laut
Und leise jener Wahrheit Stimme, die
Der Wesen Selbst ist. Auf! Erkenne sie,
Sei Priester dieser Wahrheit, diene dir
Am heiligsten Altar, und ehre dich,
Und pfleg' in dir dein göttlich Selbst, Vernunft!.. .
Ambrosia, Frucht der Unsterblichkeit,
Ihr amaranthnen Lauben, ewig blühend
Der Freundschaft und dem daurenden Verdienst,
Euch fand ein unbezwingliches Gemüt,
Das nicht zum Moder sprach: »Du: bist mein Vater!«
Zu Würmern, zur Verwesung nicht: »Ihr seid
Mir Brüder, Schwestern, Mutter!« – Ruhig sah's
Den Abgrund vor, den Himmel über sich
Und sprach: »Was an mir stirbt, bin ich nicht selbst!
Was in mir lebet, mein Lebendigstes,
Mein Ewges kennet keinen Untergang«. S.
256
Aus: Herders Religionsphilosophie, Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft VII, Verlag von Felix Meiner in Leipzig
Inmitten
der Ewigkeit
Aus »Amor und Psyche auf einem Grabmal«
Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wegen schweben
und schwinden wir.
Und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen's nicht) in Mitte
der Ewigkeit. S. 36
Aus: Johann Gottfried Herder, Das ewige Beginnen. Gedichte, Ruetten&Loening
Verlag Potsdam
Die
Raupe und der Schmetterling
Freund, der Unterschied der Erdendinge
Scheinet groß und ist oft so geringe;
Alter und Gestalt und Raum und Zeit
Sind ein Traumbild nur der Wirklichkeit.
Träg und matt auf abgezehrten
Sträuchen
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen,
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Dass er Raupe selbst gewesen sei.
Traurig schlich die Alternde sich zum
Grabe:
»Ach, dass ich umsonst gelebet habe!
Sterbe kinderlos und wie gering!
Und da fliegt der schöne Schmetterling.«
Ängstig spann sie sich in ihre
Hülle,
Schlief, und als der Mutter Lebensfülle
Sie erweckte, wähnte sie sich neu,
Wusste nicht, was sie gewesen sei.
Freund, ein Traumreich ist das
Reich auf Erden.
Was wir waren, was wir einst noch werden,
Niemand weiß es; glücklich sind wir blind;
Lass uns eins nur wissen: was wir sind. S.
19
Aus: Johann Gottfried Herder, Das ewige Beginnen. Gedichte, Ruetten&Loening
Verlag Potsdam
Eine Theodizee
Erwache, sprach ein Gott, und sieh - ich sah
und weite Nacht war um mich da
und über mir ein Heer gesäter Sterne
erhob mein Aug! - wie der dem Orkus nah
in Zimmers Kluft nur Höllenstimmen ferne
herrauschen hört, nur ewges Schwarze sah
und schnell ins Meer des Lichts entzückt
weitäugig starrt, - halb sieht - nur Zauber erblickt
schon sehen lernt - und sieht! sieht alles Pracht
Er fühlts, nennt, stammlet: schön! und lacht
So stand ich, staunte, griff nach Sternen, staunte mehr
und Wirbelwind ward um mich her.
Schnell bin ich hoch - tief unten mir die Erde
bei mir ein Gott - Mensch an Gebärde
vor mir der Sonnenkreis!
Ich seh Unendliches - ich fühl und seh und höre
die Harmonie der ganzen Sphäre,
was Newton zählt - der Seraph weiß
und Gott erschuf. - Gott, du bist hier,
der Seraph singt dir; Newton forscht dort Sterne!
die ich von ihm einst, meinem Seraph lerne,
und ich - hier knie ich Dir.
O du, von dem einst Funken - Sonnen troffen,
der von dem Chaos Klöße riss -
Noch fühlen sie den Wurf, sie laufen dort! sie brennen ,
bis sie dein Wink ins Chaos stieß.
Noch steht im Mittelthron die Sonn, dein Bild,
die um sich Welten ewig ohne Ruh
an goldnen Säulen lenkt. Die stelltest du!
Wer, wo? bist du - konnt ich dich ach nur sehn, nicht nennen
wen? - dich! ins Nachts und Sonnen Hell verhüllt
du schufst das Was und Wenn und Wo!
und bist du - - - - ?
Ach Erde, Mutter, der ich bin,
was bist du? mir schon! was dem Erdengeist,
der von dem höchsten irdischen Gedanken, - hin
in deine Tiefe blickt - und Engel wird?
und was denn Gott? - o Gott, mein Auge irrt
über und unter mir umher - mir wird
das All zum Nichts - das Nichts zum Allen!
Du bist im Nichts das All - - wer reißt
mich los von Erd und Sonne? dort sind Sonnen
wo Sonnen, wo ist die, um die ihr Erden seid,
wo ist des Allen Kraft - wo hat das Was begonnen. S. 321-322
Nach: Johann Gottfried Herder, Schriften, Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Goldmanns Gelbe Taschenbücher GG 668-669 (207) Aus Herders Werke, Gedichte
Die Stimme zur Mitternacht
Wachet! wachet! ruft die Stimme
Der Wächter auf des Tempels Zinne
Wach auf, du Stadt Jerusalem!
Mitternacht heißt diese Stunde,
Sie rufen uns mit hellem Munde:
Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Steht auf, der Bräutigam kommt,
Auf, eure Lampen nehmt,
Hosianna!
Macht euch bereit
Zur Freudenzeit,
Ihr müsset ihm entgegen gehn!
Ach, wir schlummern all und schlafen!
Der Hirte schlummert mit den Schafen,
Die Lamp ist da! wo ist das Licht?
Wie es war in Noah Tagen,
Sie aßen, tranken, fern von Plagen,
Von Strafen fern, und dachtens nicht;
Wir frein und lassen frein,
Die Sorge wiegt uns ein,
Wurmessorge! –
Erwacht! Erwacht!
In Mitternacht,
Ein Blitz soll seine Ankunft sein! –
Falsche Christus, und Verräter,
Vernunft-Verführer, Wundertäter
Der Lüge, sind das Licht der Welt.
Meinst du, dass der Richter werde
Noch Glauben finden auf der Erde,
Wenn Wollust sie in Fesseln hält?
Ihr Hügel fallet, fallt!
Der Menschen Herz ist kalt,
Kalt die Liebe!
Voll Heuchelei,
Abgötterei,
Sieh, ob nicht Alles Alles sei?
Schlangen sind der Völker Kronen,
Und Nationen Nationen
Zur Geißel, statt der Bruderhand;
Mütter, Töchter, Söhne, Väter
In Einem Hause sind Verräter,
Zerreißen Blut- und Herzensband!
Wo meinet Freund und Freund
Sich bieder? wo vereint
Pflicht die Herzen?
Pflicht und Gebet
An heilger Stätt,
Das ewiglich bei Gott besteht.
Ach, wir schlummern all und schlafen,
Der Hirte schlummert mit den Schafen,
Die Lamp ist da, wo ist das Licht?
Mit den Trunknen schläfrigtrunken,
In Nacht und Wahn und Graus versunken,
Ach, sehen wir und hören nicht!
Wer trägt nicht Tieres Bild?
Wer, dem das Herz nicht füllt
Erdensorge?
Ist Mitternacht!
Erwacht! erwacht!
Ein Dieb wird sein des Menschen Sohn.
Meinst du, wenn der Hausherr wüsste,
Zu welcher Stund er wachen müsste,
Er pflegen würde träger Ruh?
Sieh und alle Frommen zagen,
Verschmachten unter stillen Plagen -
Und alles sehn wir trunken zu?
Im Feigenbaume steigt
Der Saft schon! Knospe zeigt
Frühlingszeiten!
Hebt euer Haupt!
Umlaubt! Umlaubt!
Mit Frühling ist, wer an ihn glaubt.
Trunkne Knechte, sieh! sie schlagen
Die Brüder Mitknecht, höhnen, plagen,
statt Labung sie mit Drang und Spott,
Meinst du, dass der König werde
Noch Knechte finden auf der Erde?
Wer ist sich selbst nicht Herr und Gott?
»Er kommt noch lange nicht!
Vielleicht kommt gar er nicht!
Er kommt gar nicht!
Was Alle tun,
Will ich auch tun,
Und träumen, prassen, plagen, ruhn!«
Herr, wer wird vor dir bestehen!
Wer, vor dein Angesicht zu gehen,
Erkühnen, wenn die Erd entlieht!
Ach, ein Strohhalm in die Flammen
Ist all mein Tagewerk zusammen,
Wenns Liebe aus der Glut nicht zieht!
Erlöser stehe bei!
Erneuer, mach uns neu,
Betend, brünstig
In Mitternacht,
Wenn nichts mehr wacht,
Wir schlummern - unser Herze wacht! S. 322-324
Nach: Johann Gottfried Herder, Schriften, Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Goldmanns Gelbe Taschenbücher GG 668-669 (208) Aus Herders Werke, Gedichte
Magnalia Dei
Ich singe Gott! Jehovens Rat und Tat!
Euch Himmeln! Erde! dir erzähl ich Gottes Ehre.
Singt Sphären! singt mir vor! du hörtest, höchste Sphäre
doch nur von fern des Ewgen Rat!
und singst - Und Erde! steh! und ruh - und höre,
was Gott für dich beschloss und tat. -
Er singt - sie schweigt - noch brausen Höllenmeere
Verstummt vor Gott - erzittre Höll und bebend höre,
was wider dich Jehova sprach und tat.
Es wird still! - Ich singe! - ich?
Bin ich Engel, der von Gottes Rat
den tiefsten Widerhall nur rauschen hörte - ich?
Halb nichts, halb Staubkorn - ja, ich singe - und ganz Erde?
Ja Erde ganz - doch dein Geschöpf, dein Christ, dein Kind
mit Feuer aus der Höhe taufe mich!
Gott Schöpfer, Vater, Mittler! mich - dann werde
ich hoch zu dir entzückt, und singe Dich!
Gott war! fleuch mein Gesang empor! -
Gott war! um ihn unendlich Nichts! -
Allgegenwärtig nichts! - wer kann es malen?
wer blickt in diesen Tod des Lichts - -
wer herrscht? Gott herrscht auch übers All des Nichts -
Er spricht! -- sein Schöpfers-Hauch bebt durch die Wüsten
des Undings - ruft das Sein hervor!
Des Chaos Nacht blinzt schon von seinen Strahlen -
sie blinzt und sieht zum Licht! -
noch schafft sie Licht! - doch einst - Jehovah spricht -
sie blinzt - es zittern ihre feinsten Strahlen -
und sterben! - Sie ist Nacht - Gott ruft das Sein ins Nichts!
und Gottes Allmachtshauch bebt noch durch ewge Wüsten
des neugeschaffnen Nichts!
für mich! - ein denkend Nichts! - schufst du des Segens Reich!
Der Schöpfung Plan - wer kann ihn übersehn!
ein Punkt des Ganzen! auch der Mittelpunkt! o nein!
sieht auch der Punkt sich selbst - das All zu übersehn
muss ich kein Teil des Alls - selbst Schöpfer sein!
Es sah dein Gottesblick, wie Myriaden
der Wesen, die nicht Zeit, nicht Maß, nicht Kraft ausmisst
vom halben Nichts zu dem, der voll vorn Anschaun ist,
in deinem Glanz sich, Lichtmeer, baden!
durch dich sich fühlen, und von diesen Empfindungen hell
dir Dank aufblicken, jauchzen, dass Gott sei!
Das siehst du - göttlich fühlst du dich als Quell!
des Daseins aller Myriaden - -
und alles jauchzt, wenn du dich fühlst!
Der Seraph nennt dich neu; und fühlt dich neu!
Der Christ wird Engel - und der Mensch ein Christ,
der Engel Seraph: und ich - du Gott bist,
auch Ich fühl, dass ich göttlich sei!
Ich göttlich? Gottes Bild?
noch schwarz voll Blut, das widern Jova flog,
durchbohrt den Pfeil, den Gott zurück auf Mörder bog.
Es glüht den Gottesfeind an Stirn und Busen;
Dem Dämon gleich ich, ist gleich des Menschen Heer!
Noch dacht ich nicht: schon fühlt ich wider Gott.
Kaum lallte ich; da glüht' mein Auge schon
von Rache wider ihn - der Geifer flog umher;
da ich des Schöpfers Luft kaum saugen lernte,
da nervenlos die Hand kaum greifen lernte,
da türmten Riesengedanken schon
auf Sünde, Sünde - Ossa auf den Pelion -
und stürmten zu der Gottheit Thron.
Und Gott? blitzt? donnert er? mich unter Berg' und Klüfte
zur Hölle, die er neunmal tiefer gräbt? - -
Die Feindeshand, da sie dir widerstrebt,
da hieltest du sie noch - und legtest mich
als Kind sanft nieder, sprachst: Nun siehe dich! - -
du Wurm im Blut! und ewig lieb ich dich! -
Ja ewig, ewig! Über allen Kreis der Zeit,
hoch durch den Zeitstrom aller Sonnenmeere
schwing dich, mein Geist - zur Ewigkeit!
zum Richterthron, zum Friedensrat -
hin über alle Zeit! -
Gott saß und sah mit hohem Blick durch der Äonen Heere
im großen Weltriss - tief zu unserm Erdenball,
wie er als Eden blüht, des Lebens Atmosphäre
Lichtströmend ihn umfleußt, wie aller Segen Heere
sanft auf ihm ruhn, und Tugend blüht,
und jeder Sonnenstrahl von Wonne glüht,
und Götter auf ihm wohnen! -
Gott sahs und fühlts und wollts - er ward der Erdenball,
Doch wie verblüht? wie schnell? da Todesatmosphäre
ihn pestischschwarz umfleußt, und Plagenheere
vielklauigt auf ihm ruhn, und Bosheit blüht,
und jeder Sonnenstrahl Verderben glüht,
und Satans auf ihm wohnen! - -
Gott sahs, ward Richter - richtete und schwieg –
sein Blick sprach Zorn und sieben Donner hallten
zurück: da hoben alle Engelsthronen
sich auf und sanken - alles sah und schwieg! –
Da sprach der Sohn, des Richters Sohn: ich. bin
wie du Gott! Mensch wie sie!
will Richter und Versöhner sein - und schwieg!
Des Herren Wink sprach ja! einsilbicht lallten
die Zornesdonner nach das ja! -
Da fühlten sich die Thronen
so endlich, als sie wurden, und sanken hin.
Die Donner legen sich - die Engel sinken hin
ganz Staunen und Anbetung und Gefühl flehn sie da! –
und ich - bin Mensch, auf dem der Donner hing,
vor dem sein Nachtgewand vorüberging
und ich - ich steh und bete nicht an! -
Herr, Herr Gott, barmherzig Gnade! - -
so sprach - - als heilige Nacht um Gottes Moses hing
und Gott unsichtbar - sichtbar ihm vorüberging -
so sprach Jehovahs Wort - - und Moses betet' an,
ich lall Jehovah nach und bete an! -
Du in der Schöpfung höchsten Höhen Herr,
in ihren tiefsten Tiefen schrecklicher,
bist um mich Gott barmherzig, Langmut, Gnade,
von oben leuchtet Majestät,
von unten flammet Majestät,
und um und in mir lächelt Gnade! -
Seht Gott im Gott Messias! seht -
von oben schilt Gericht und sieben Wetter ballen
sich seinem Scheitel, kommen, fallen
und drücken ihn mit Allmachtswut.
Um ihn tobt Welt und Welt, und Höllenstürme knallen
auf ihn - auf ihm liegt Todesnacht
sein Auge stirbt - und sterbend spricht es Liebe.
Ihn presset alles und - da fließt sein Blut - - es schafft,
es färbt verjüngt die Welt mit Schöpferskraft.
Sie ringt sich wieder aus des Chaos Nichts! -
Bei Unkraut keimt schon Glück - bei Satans wohnen
Erlöste - mit der Nacht kämpft schon ein Strahl des Morgenlichts
wir ringen zur Geburt - noch zwischen Sein und Nichts. -
Das Auge irrt in Nacht - der Fuß in Labyrinthen,
die Hand in Schatten und der Wunsch im Glück.
Doch Er das Licht, das unsere Nacht erschuf - und hält,
verdammet und verjagt schafft vor uns Planen - -
dem Wunsche Glück - dem Fuße Bahnen,
den Händen Wesen - Licht dem Blick -
und unser Tappen - das war Gottes Rat! -
soll siebenfach die Ruhe lohnen.
Ihm braust das Sonnenmeer! wenn seine Feuerwellen
sich luftan türmen zehen Pikos hoch,
hebt er den Finger, seines Fingers Winken
presst Stürme Luft auf sie - so sinken
die Flammenberge, brausen und ruhn! -
Das kann der Machthauch seines Schattens tun.
So als der Schwefelhölle Feuerwellen
sich hydernmäßig türmten erdenhoch,
und über unserm Haupt die Feuerwellen fluteten,
da Erde heultest du - ringsum von Höllen
umufert - doch
ein Strahl von Gott - und Satans Jubel schnellen
und sausen heulend herab. Das ist Jehovah!
Der Himmel jubelt: ist Jehovah
die Erde mit: Er ists! -
Das ist der Finger deiner Macht! du bists!
Das deine Hand, die Gras und Volk und Welten sät,
dein Hauch, der Gras und Volk und Welt verweht,
den Krieg verbläst und alles erfrischt,
dein Finger, der den Schöpfers Tropf verwischt,
dein Fußtritt, wenn die Sphären beben,
und deines Schattens Winken,
denn - wie die Erde bebt, und Inseln sich erheben,
und Ätna Felsenwellen speit,
die Meerestiefe schlingt, und Strudel dräut -
dann Herr bewegt dein Schattenwink sich kaum! -
Nacht ist die Sonne, und dein Kleid ist Licht -
und wer sah deiner Güte Angesicht! -
Der Regenbogen ist von deines Kleides Saum
der tiefste Abglanz, jedes Frühlingsleben
der fernste tausendfach gebrochne Strahl
des Lichts, das dunkel unser Aug umkränzt
im Engel glüht und im Mesias-Blick
wie Sonnensonnen glänzt - -
Wie glänzt Messias uns den Herrn zurück - -
- - - - -
- - - - und ich - wenn in dädalschen Labyrinthen
mir Mark und .... erbebt, und Minotaurus Wut
fern ....... und Tiger schon mein Blut
von ferne lecker.: und mein Aug nicht Ausgang finden,
mein Flehn nicht rühren kann: - Triumph, Jehovens Rat
wird mir dann Leitband! vor den Drachen Gift
und Lorbeer mir und Heldentat! -
Triumph des größten Göttergottes Rat
ist höher als der Blitz, der Zedern trifft,
als Wolkenschemel, die zu seinen Füßen
weit über Berg und Turm vorüberfließen,
und höher wie sein Thronenhimmel,
und was Eloa denkt, ist ihm Gewimmel,
und Weltenanschlag nichts! -
Wohl! steh ich einst im Kreis der Wetter,
..... fliehn, und Erden in die Sonnen fallen
und Sonnen in die Mittelsonne zerknallen.
Ein .... des Allen Grab: ich steh im Kreis der Wetter,
denn um mich hält ein Kreis der Götter,
und auf mich Gottes Rat
Du ..... - ich setzte dich
ins Dunkel ... wärst mein Leiter, führte dich! -
Nun Licht! flieht Himmel, komm und siehe mich! –
Triumph! wir folgen, wir kommen, Triumph
mit Palmen, nicht Zypressen umwunden,
sing: Leier: du siehst, du hast ihn gefunden
Jehovahs Rat und Tat! - - -
Was ich bin Geist! ich Geist! - so bin ich Gott!
Ich denk', ich will, ich bins! wie Gott, durch den ich bin,
einst Geister rief aus dem Geisternichts
und Körper rief aus dem Körpernichts
ruf ich Gedanken aus dem Gedankennichts!
ich wills! - es schafft sich Wirkung aus dem Nichts!
O Gott, was gabst du mir! - all deine Welt
schaff ich dir in mir nach! - S. 325-330
Nach: Johann Gottfried Herder, Schriften, Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Goldmanns Gelbe Taschenbücher GG 668-669 (210) Aus Herders Werke, Gedichte