Albrecht von Haller (1749 – 1777)

  Schweizer Arzt, Naturforscher und Dichter. Zunächst seit 1729 als praktischer Arzt in Bern tätig, dann ab 1736 Professur der Botanik und Medizin in Göttingen, wo er eine neue medizinische Schule gründete. 1753 kehrte er nach Bern zurück. Der Botanische Garten in Göttingen wurde von ihm gegründet. Er machte den Versuch, die gesamte Schweizer Pflanzenwelt zu erfassen und verfasste grundlegende wissenschaftliche Werke zur Anatomie und Physiologie. Außerdem schrieb er umfangreiche Lehrgedichte, so innerhalb seiner Sammlung »Versuch Schweizerischer Gedichte« das beschreibendphilosophische Gedicht »Die Alpen«. Auf Rousseau vorausweisend, stellt es die kraftvoll-reine Natur- und Menschenwelt des Hochgebirges der verweichlichenden Unnatur der Zivilisation gegenüber. Andere Gedichte behandeln religiöse, ethische und metaphysische Grundfragen (z. B. Über den Ursprung des Übels«). Sein »Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit« hat sowohl Kant als auch Hegel zutiefst beeindruckt.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis
Morgen-Gedanken
Über den Ursprung des Übels
Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit

>>>Christus
Jesus sollte die Welt verbessern

Morgen-Gedanken
O Schöpfer! was ich seh, sind deiner Allmacht Werke,
Du bist die Seele der Natur;
Der Sterne Lauf und Licht, der Sonne Glanz und Stärke
Sind deiner Hand Geschöpf und Spur.

Du steckst die Fackel an, die in dem Mond uns leuchtet,
Du gibst den Winden Flügel zu,
Du leihst der Nacht den Tau, womit sie uns befeuchtet,
Du teilst der Sterne Lauf und Ruh.

Du hast der Berge Stoff aus Ton und Staub gedrehet,
Der Schächte Erz aus Sand geschmelzt,
Du hast das Firmament an seinen Ort erhöhet,
Der Wolken Kleid darum gewälzt.

Den Fisch, der Ströme bläst und mit dem Schwanze stürmt,
Hast du mit Adern ausgehöhlt,
Du hast den Elefant aus Erden aufgetürmt
Und seinen Knochenberg beseelt.

Des weiten Himmel-Raums saphirene Gewölber
Gegründet auf den leeren Ort,
Das ungemeßne All, begrenzt nur durch sich selber,
Hob aus dem Nichts dein einzig Wort.

Doch dreimal großer Gott! es sind erschaffne Seelen
Für deine Taten viel zu klein.
Sie sind unendlich groß, und wer sie will erzählen
Muß, gleich wie du, ohn Ende sein.

O Unbegreiflicher, ich bleib in meinen Schranken.
Du, Sonne, blendst mein schwaches Licht;
Und wem der Himmel selbst sein Wesen hat zu danken,
Braucht eines Wurmes Lobspruch nicht.

Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp (S.340f.)
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen


Über den Ursprung des Übels

Zweites Buch
Im Anfang jener Zeit, die Gott allein beginnet,
Die ewig ohne Quell und unversiegen rinnet,
Gefiel Gott eine Welt, wo, nach der Weisheit Rat,
Die Allmacht und die Huld auf ihren Schauplatz trat.
Verschiedner Welten Riß lag vor Gott ausgebreitet,
Und alle Möglichkeit war ihm zur Wahl bereitet;
Allein die Weisheit sprach für die Vollkommenheit,
Der Welten würdigste gewann die Würklichkeit.
Befruchtet mit der Kraft des Wesen-reichen Wortes
Gebiert das alte Nichts; den Raum des öden Ortes
Erfüllt verschiedner Zeug; die regende Gewalt
Erlieset, trennet, mischt und schränkt ihn in Gestalt.
Das Dichte zog sich an, das Licht und Feuer ronnen,
Es nahmen ihren Platz die neugebornen Sonnen;
Die Welten wälzten sich und zeichneten ihr Gleis,
Stets flüchtig, stets gesenkt, in dem befohlnen Kreis.
Gott sah und fand es gut, allein das stumme Dichte
Hat kein Gefühl von Gott, noch Teil an seinem Lichte;
Ein Wesen fehlte noch, dem Gott sich zeigen kann,
Gott blies, und ein Begriff nahm Kraft und Wesen an.
So ward die Geister-Welt. Verschiedne Macht und Ehre
Verteilt, nach Stufen Art, die unzählbaren Heere,
Die, ungleich satt vom Glanz des mitgeteilten Lichts,
In langer Ordnung stehn von Gott zum öden Nichts.
Nach der verschiednen Reih von fühlenden Gemütern
Verteilte Gott den Trieb nach angemeßnen Gütern;
Der Art Vollkommenheit ward wie zum Ziel gesteckt,
Wohin der Geister Wunsch aus eignem Zuge zweckt.
Doch hielt den Willen nur das zarte Band der Liebe,
So daß zur Abart selbst das Tor geöffnet bliebe
Und nie der Sinn so sehr zum Guten sich bewegt,
Daß nicht sein erster Wink die Waagschal überschlägt.
Dann Gott liebt keinen Zwang, die Welt mit ihren Mängeln
Ist besser als ein Reich von Willen-losen Engeln;
Gott hält vor ungetan, was man gezwungen tut,
Der Tugend Übung selbst wird durch die Wahl erst gut.
Gott sah von Anfang wohl, wohin die Freiheit führet,
Daß ein Geschöpf sich leicht bei eignem Licht verlieret,
Daß der verbundne Leib zu viel vom Geiste heischt,
Daß das Gewühl der Welt den schwachen Sinn beräuscht
Und ein gemeßner Geist nicht stets die Kette findet,
Die den besonderen Satz an den gemeinen bindet.
Zu Gottes Freund ersehn, zu edel für die Zeit,
Vergessen wir zu leicht den Wert der Ewigkeit;
Des Äußern Zauber-Glanz verdeckt die innre Blöße,
Die stärkre Gegenwart erdrückt des Fernern Größe.
Wer ists, der allemal der Neigung Stufe mißt,
Wo nur das Mittel gut, sonst alles Laster ist?
Kein endlich Wesen kennt das Mitsein aller Sachen,
Und die Allwissenheit kann erst unfehlbar machen.
Gott sah dies alles wohl, und doch schuf er die Welt;
Kann etwas weiser sein als das, was Gott gefällt?
Gott, der im Reich der Welt sich selber zeigen wollte,
Sah, daß, wann alles nur aus Vorschrift handeln sollte,
Die Welt ein Uhrwerk wird, von fremdem Trieb beseelt,
Und keine Tugend bleibt, wo Macht zum Laster fehlt.
Gott wollte, daß wir ihn aus Kenntnis sollten lieben
Und nicht aus blinder Kraft von ungewählten Trieben;
Er gönnte dem Geschöpf den unschätzbaren Ruhm,
Aus Wahl ihm hold zu sein und nicht als Eigentum.
Der Taten Unterscheid wird durch den Zwang gehoben:
Wir loben Gott nicht mehr, wann er uns zwingt zu loben;
Gerechtigkeit und Huld, der Gottheit Arme, ruhn,
Sobald Gott alles würkt, und wir nichts selber tun.
Drum überließ auch Gott die Geister ihrem Willen
Und dem Zusammenhang, woraus die Taten quillen.
Doch so, daß seine Hand der Welten Steur behielt,
Und der Natur ihr Rad muß stehn, wann er befiehlt.

Aus: Albrecht von Haller, Die Alpen und andere Gedichte
Auswahl und Nachwort von Adalbert Elschenbroich
Reclams Universalbibliothek Nr. 8963 (S. 59-61)
© 1965 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit
Furchtbares Meer der ernsten Ewigkeit!
Uralter Quell von Welten und von Zeiten!
Unendliches Grab von Welten und von Zeit!
Beständigs Reich der Gegenwärtigkeit!
Die Asche der Vergangenheit
Ist dir ein Keim von Künftigkeiten.
Unendlichkeit! wer misset dich?
Bei dir sind Welten, Tag‘ und Menschen Augenblicke.
Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich,
Und tausend bleiben noch zurücke.
Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht
Eilt eine Sonn, aus Gottes Kraft bewegt:
Ihr Trieb läuft ab, und eine zweite schlägt,
Du aber bleibst und zählst sie nicht.
Der Sterne stille Majestät,
Die uns zum Ziel befestigt steht,
Eilt vor dir weg wie Gras an schwülen Sommertagen;
Wie Rosen, die am Mittag jung
Und welk sind vor der Dämmerung,
Ist gegen dich der Angelstern und Wagen.

Als mit dem Unding noch das neue Wesen rang
Und, kaum noch reif, die Welt sich aus dem Abgrund schwang,
Eh als das Schwere noch den Weg zum Fall gelernet
Und auf die Nacht des alten Nichts,
Sich goß der erste Strom des Lichts,
Warst du, so weit als jetzt, von deinem Quell entfernet.
Und wenn ein zweites Nichts wird diese Welt begraben;
Wenn von dem ganzen All nichts bleibet als die Stelle;
Wenn mancher Himmel noch, von andern Sternen helle,
Wird seinen Lauf vollendet haben;
Wirst du so jung wie jetzt, von deinem Tod gleich weit,
Gleich ewig künftig sein wie heut.

Die schnellen Schwingen der Gedanken,
Wogegen Zeit und Schall und Wind
Und selbst des Lichtes Flügel langsam sind,
Ermüden über dir und hoffen keine Schranken.
Ich häufe ungeheure Zahlen,
Gebirge Millionen auf;
Ich wälze Zeit auf Zeit und Welt auf Welt zu Hauf;
Und wenn ich von der fürchterlichen Höhe
Mit Schwindeln wieder nach dir sehe,
Ist alle Macht der Zahl, vermehrt mit tausend Malen,
Noch nicht ein Teil von dir;
Ich tilge sie, und du liegst ganz vor mir.

O Gott! du bist allein des Alles Grund!
Du Sonne, bist das Maß der ungemeßnen Zeit,
Du bleibst in gleicher Kraft und stetem Mittag stehen,
Du gingest niemals auf und wirst nicht untergehen,
Ein einzig Jetzt in dir ist Ewigkeit.

Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp (S.342f.)
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen


Fortsetzung