Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius (480 – 524)
Römischer
Staatsmann und Philosoph. Boethius studierte
in Alexandria Philosophie. Mit 30 Jahren wurde er von dem Ostgotenkönig
Theoderich zum Konsul des Jahres 510
ernannt. Später wurde er als »magister
officiorum« höchster Verwaltungsbeamter am weströmischen
Hof. Theoderich war es auch, der ihn wegen einer unaufgeklärten Affäre des Hochverrats bezichtigte und schließlich
nach längerer Haft in Pavia hinrichten ließ. Boethius,
den man auch als den »letzten Römer und
ersten Scholastiker« bezeichnet, wollte die platonisch-aristotelische Tradition zu einer Synthese führen und den jungen Völkern in lateinischer
Sprache nahe bringen. Seine theologischen Traktate erweisen ihn als
Christen, doch in dem – während seiner Kerkerhaft - verfassten »Trost der Philosophie« spiegelt
sich ganz der großartige Geist der Antike wider. In diesem großen
Zwiegespräch des Boethius mit der
Philosophie, sucht diese ihn allegorisch als Frau in seinem Kerker auf, um ihm in seiner Verzweiflung Trost zu spenden und ihn durch die Hinführung
zur Wahrheit zu heilen. Diese Wahrheit gipfelt darin, dass das vollkommen
Gute existiert, weil alles Unvollkommne notwendig ein Vollkommenes voraussetze.
Gegenwart des vollkommen Guten ist Gott, dessen Allmacht unbegrenzt ist. Ziel aller Dinge ist das Gute. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Das
Ziel aller Dinge ist das Gute
Göttliche
und menschliche Gegenwart
Das Ziel aller Dinge ist das Gute
Alle ersehnen also, sagte sie, das Eine.
Ich stimme bei.
Aber wir haben gezeigt, dass das Eine dasselbe wie das Gute ist.
Jawohl.
Alles erstrebt also das Gute, was du auch so definieren kannst, dass eben
das Gute das ist, was von allen ersehnt wird.
Nichts Wahreres, sagte ich, kann erdacht werden; denn entweder bezieht sich
alles auf ein Nichts und schwimmt. gleichsam des einen Richtpunktes beraubt,
ohne Lenker planlos hin und her, oder, wenn etwas ist, zu dem alles eilt, wird
dieses das höchste aller Güter sein.
Und jene sagte: Ich freue mich überaus, mein Sohn: das Kennzeichen des
Kernes der Wahrheit hast du deinem Geiste eingeprägt. In dem wurde es dir
aber offenbar, was du nach eigener Aussage vor kurzem noch nicht wusstest.
Was? fragte ich.
Welches das Ziel aller Dinge sei; das ist es nämlich in der Tat, was von
allen ersehnt wird. Und weil wir geschlossen haben, dass es das Gute ist,
müssen wir gestehen, dass das Ziel aller Dinge das Gute ist.
Wer tiefen Sinnes Wahrheit aufzuspürn suchet
und will dabei durch keinen Abweg getäuscht werden,
der gebe frei das Licht des inneren Gesichts einwärts,
die lange Schwingung beugend zwing er zum Kreise
und lehre seinen Geist, was draußen er hart mühet,
daß er‘s besitze in den eignen Schatzkammern:
Was eben noch de schwarze Wolke des Wahns deckte,
wird klarer leuchten als selbst Phöbus‘ Lichtstrahlen.
Nicht alle Helligkeit vertrieb dem Geist nämlich
der Leib, mit sich Vergessen bringende Last schleppend.
Es hängt gewiß der Wahrheit Funke tief drinnen,
der aufgereget wird, wenn Lehre ihn anfacht.
Warum, gefragt, sonst meint ihr aus euch selbst Wahres,
wenn nicht die Glut noch drin ins Herz gesenkt lebte?
Wenn aber Platos Muse keinen Trug kündet:
was jeder lernt, Vergeßnes ruft er dann vor sich.
Da sagte ich: Ich stimme Plato lebhaft
bei: denn du erinnerst mich schon zum zweiten Male daran, zuerst, weil ich das
Gedächtnis durch die Berührung des Körpers, dann, als ich‘s
durch die Last der Trauer bedrückt verloren hatte.
Da sagte jene: wenn du auf die früheren Zugeständnisse blickst, wird
auch jenes nicht weit ab sein, dass du dich an das erinnerst, was du vorhin
nicht zu wissen bekanntest.
Woran? fragte ich.
Durch welches Ruder die Welt gesteuert wird, sagte jene.
Ich erinnere mich, sagte ich, dass ich meine Unwissenheit bekannt habe;
aber wenn ich auch voraussehe, was du vorbringen wirst, wünsche ich es
doch ausführlicher von dir zu hören.
Dass die Welt hier, sagte
sie, durch Gott gelenkt wird, glaubtest du vor
kurzem, sei nicht zu bezweifeln.
Auch jetzt glaube ich es, sagte ich, und werde es niemals für zweifelhaft
halten. Ich will kurz darlegen, aus welchen Gründen ich dazu komme. Diese
Welt wäre nicht aus so verschiedenen und gegensätzlichen Teilen in
eine einzige Form zusammengekommen, wenn nicht einer wäre, der so Entgegengesetztes
verbände. Diese verbundene Mannigfaltigkeit aber der Naturen würde
sich uneins entzweien und zerreißen, wenn nicht einer wäre, der zusammenhielte,
was er verband. Nicht so klar bestimmt vollends würde die Ordnung der Natur
vorwärtsschreiten und das einzelne nicht so geordnete Bewegungen nach Platz,
Zeit, Wirkung, Dauer, Eigenschaften entwickeln, wenn nicht einer wäre,
der, selbst in Ruhe verharrend, diese Vielfalt der Bewegungen ordnete.
Dieses, was es auch sei, wodurch das Geschaffene bleibt und bewegt wird, nenne
ich mit dem allen gebräuchlichen Namen
Gott.
Da sagte jene: Da du dieser Meinung bist, bleibt mir, glaube ich, nur wenig
Arbeit übrig, dass du des Glückes mächtig deine Heimat heil
wiedersiehst. Aber betrachten wir, was wir uns vorgesetzt! Zählten wir
nicht zum Glück das Genügen, und stimmten wir nicht darin überein,
dass Gott eben das Glück sei?
So war es.
Auch zur Lenkung der Welt also, sagte sie, wird er keiner Unterstützung
von außen bedürfen; sonst — wenn er etwas braucht - wird er
nicht das volle Genügen haben.
Das ist so, sagte ich, ein notwendiger Schluss.
Durch sich selbst also
ordnet er alles?
Das lässt sich nicht leugnen, sagte ich.
Aber Gott ist, wie gezeigt, das Gute
selbst.
Ich erinnere mich, sagte ich.
Durch das Gute also ordnet er alles, wenn er alles durch sich lenkt, er, der,
wie wir uns einigten, das Gute ist. Und er ist gleichsam der Steuergriff und
das Ruder, mit dem die Weltmaschine fest und unzerstörbar
erhalten wird.
Ich stimme lebhaft bei, sagte ich, und habe kurz vorher, wenn auch nur in schwacher
Vermutung, vorausgesehen, dass du es sagen würdest.
Ich glaube es, sagte sie; denn schon wachsamer, meine ich, lenkst du dein Auge
auf das Erkennen der Wahrheit; aber was ich jetzt sagen werde, liegt nicht weniger
offen zu schauen.
Was? fragte ich.
Da man mit Recht glaubt, sagte sie, dass Gott alles mit dem Steuer der Güte lenkt, und da ebenso alles, wie ich lehrte, aus natürlichem Triebe zum Guten
eilt, kann man dann etwa bezweifeln, dass es mit eignem Willen regiert
wird und sich von selbst zum Winke des Ordners wendet, gleichsam auf den Lenker
abgestimmt und für ihn passend?
Nein, so ist es nötig. sagte ich; es schiene auch kein glückliches
Regiment, wenn es ein Joch für Widerstrebende, nicht Heil für Gehorchende
wäre.
Es gibt also nichts, weswegen etwas, das seine Natur bewahrt, gegen Gott
anzugehen versuchen sollte?
Nichts, sagte ich.
Wenn es aber den Versuch macht, sprach sie, wird es dann irgend etwas gegen
den erreichen, der die größte Gewalt über das Glück hat,
wie wir mit Recht zugestanden?
Es würde gar nichts vermögen, sagte ich.
Es gibt also gar nichts, was diesem höchstem Guten
widerstehen kann oder will?
Ich glaube nicht, sagte ich.
Das höchste Gute ist es also, sagte sie, was alles stark lenkt und sanft
ordnet.
Da sagte ich: Wie sehr entzückt mich nicht nur das Resultat der Überlegungen,
das geschlossen wurde, sondern noch viel mehr diese Worte selbst, die du gebrauchst,
so daß sich endlich einmal die Torheit, die Großes zerreißt,
ihrer selbst schämen möge!
Du hast, sagte sie, in Sagen von den Giganten vernommen, die den Himmel nicht
in Ruh ließen. Aber auch jene hat dann wie billig die gütige Kraft
dabei gelenkt? ... Aber willst du, dass wir die Beweise selbst aufeinanderprallen
lassen? Vielleicht entspringt aus solchem Streit ein schöner Funke der
Wahrheit hervor.
Wie du denkst, sagte ich.
Niemand, sagte sie, dürfte zweifeln, dass Gott
allmächtig ist.
Wenigstens, sagte ich, wer fest ist im Geiste, dürfte daran überhaupt
nicht zweifeln.
Wer aber allmächtig ist, für den gibt es nichts, was er nicht vermöchte.
Nichts, sagte ich.
Kann nun Gott Böses
tun?
Keineswegs, sagte ich.
Das Böse ist also, sagte sie, nichts, da jener es nicht tun kann, der nichts
nicht vermag.
Verspottest du mich, sagte ich, indem du mit deinen Gründen ein unentwirrbares
Labyrinth flichtst, da du bald hineingehst, wo du herauskommen solltest, und
es bald verlässt, wo du hineingegangen bist? Oder biegst du einen
wunderbaren Kreis von göttlicher Einfalt zusammen? Denn
kurz vorher, mit dem Glück beginnend, sagtest du, es sei das höchste
Gut. Das wohne in Gott, dem Höchsten, wie du ausführtest. Gott selbst,
so lief deine Erörterung, sei das höchste Gut und das volle Glück.
Daraus gabst du mir gleichsam als Geschenk den Satz, daß niemand glücklich
sein werde, außer der ebenfalls Gott sei. Wiederum sagtest du, daß
die Gestalt des Guten selbst das Wesen Gottes und des Glückes sei, und
lehrtest, daß gerade das Eine eben das Gute wäre, was von der ganzen
Natur erstrebt werde. Du führtest auch aus, daß Gott das All mit
dem Steuer der Güte lenke, daß freiwillig alles gehorche und kein
Wesen des Bösen gäbe. Und dies entwickeltest du, ohne etwas
von außen zu nehmen, sondern indem das eine aus dem anderen seine Glaubwürdigkeit
zog, durch eingeborene und innere Beweise.
Da sagte jene: Ich spotte keineswegs, und die allergrößte Sache haben
wir durch Gottes Geschenk um dessen Gnade wir eben flehten, vollbracht. Derart
ist nämlich die Gestalt des göttlichen Wesens, dass sie weder
ins Äußere zerfließt noch etwas Äußeres in sich
aufnimmt, sondern, wie Parmenides
über sie sagt:
Überall
gleich der Masse der wohlgerundeten Kugel,
rollt sie den beweglichen Kreis der Dinge, während sie sich
selbst unbeweglich hält. Wenn wir aber nun Überlegungen anstellten,
die gleichfalls nicht von außen geholt waren, sondern innerhalb des Umkreises
der Sache lagen, die wir behandelten, so brauchst du dich nicht zu wundern,
da du nach Platos heiliger Feststellungen gelernt
hast, dass die Worte den Sachen, über die sie aussagen, verwandt sein
müssen.
Glücklich, dem es zu schaun gelang
hellerstrahlend des Guten Quell!
Glücklich der, dem zu lösen Kraft
schwerbedrückender Erde Band!
Göttliche
und menschliche Gegenwart
Dass Gott ewig ist, ist das gemeine Urteil aller mit Vernunft Lebenden. Überlegen wir
also, was Ewigkeit
ist. Denn sie wird uns zugleich Gottes Wesen und Erkenntnis offenlegen.
Ewigkeit ist der ganze zugleich und vollkommene Besitz eines unbegrenzbaren
Lebens, was aus dem Vergleich mit dem Zeitlichen noch klarer wird. Denn was
in der Zeit lebt, das geht gegenwärtig vom Vergangenen in die Zukunft vorwärts.
Und es gibt nichts in die Zeit Gestelltes, was den ganzen Raum seines Lebens
in gleicher Weise umfassen könnte, sondern den morgigen hat es noch nicht
erfaßt, den gestrigen aber schon verloren; auch im Heute lebt ihr nicht
mehr als in jenem beweglichen und vorübergehenden Augenblick. Was also
die Bedingung der Zeit erleidet, mag es auch, wie Aristoteles vom Weltall urteilte, niemals begonnen haben zu sein noch aufhören und
mag sich sein Leben mit der Unendlichkeit
der Zeit erstrecken, ist dennoch nicht so beschaffen, dass man es mit
Recht für ewig ansehen dürfte. Denn es umgreift
und umfaßt nicht den ganzen Raum des unendlichen Lebens zugleich, sondern
hat das Zukünftige noch nicht, das Geschehene nicht mehr. Was also die
ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens in gleicher Weise umgreift und besitzt,
wem nichts Zukünftiges fern ist und nichts Vergangenes verflossen, das
kann mit Recht ewig geheißen werden, und dies muß notwendig seiner
mächtig, immer gegenwärtig bei sich sein und die Unendlichkeit der
beweglichen Zeit gegenwärtig haben.
Daher haben gewisse Leute nicht recht, die der Meinung sind, wenn sie hören, Plato sei der Ansicht gewesen, das Weltall habe
keinen zeitlichen Anfang gehabt und werde kein Ende nehmen, auf diese Weise
werde das geschaffene Weltall gleich wie der Schöpfer ewig. Etwas anderes
ist es nämlich, durch ein unbegrenzbares Leben sich hindurchziehen —
das weise Plato der Welt zu —, etwas anderes, die ganze Gegenwart eines
unbegrenzbaren Lebens gleichmäßig umfaßt zu halten, was offensichtlich
dem göttlichen Geiste eigentümlich ist.
Und Gott darf nicht der Länge der Zeit wegen
älter scheinen als die geschaffene Welt, sondern vielmehr durch die Eigentümlichkeit
seiner einfachen Natur. Diesen gegenwarthaften Zustand unbeweglichen Lebens
ahmt nämlich jene unendliche Bewegung der zeitlichen Dinge nach; und da
sie ihn nicht darstellen und ihm nicht gleichkommen kann, fällt sie aus
der Unbeweglichkeit in die Bewegung, aus der Einfachheit der Gegenwart heraus
wächst sie zu einer unendlichen Erstreckung der Zukunft und der Vergangenheit
und, da sie die ganze Fülle ihres Lebens nicht in gleicher Weise besitzen
kann, scheint sie gerade dadurch, daß sie auf irgendeine Weise niemals
zu sein aufhört, jenem, was sie nicht erfüllen und ausdrücken
kann, bis zu einem gewissen Grade nachzueifern, indem sie sich an die wie immer
beschaffene Gegenwart dieses kleinen und flüchtigen Augenblicks bindet,
die, da sie eine Art Abbild jener bleibenden Gegenwart darstellt, wem sie zuteil
wird, das verleiht, dass es zu sein scheint. Da sie ja aber nicht dauern
konnte, ergriff sie den unendlichen Weg der Zeit, und so geschah es, dass
sie durch Weiterschreiten das Leben fortsetzte, dessen Fülle sie im Bleiben
nicht umfassen konnte. Wenn wir deshalb den Dingen treffende Namen beilegen
wollen, so wollen wir in der Nachfolge Platos sagen, dass Gott ewig, die Welt aber dauernd ist.
Da nun ein jedes Urteil seiner Natur gemäß begreift, was ihm unterliegt,
Gott aber immer in einem zeitlosen und gegenwärtigen Zustand ist, übersteigt
auch sein Wissen eine jede Bewegung der Zeit, bleibt in der Einfalt seiner Gegenwart,
und die unendlichen Räume des Vergangenen und Zukünftigen umfassend,
erwägt er alles in seiner einfachen Erkenntnis, als wenn es nun geschehe.
Wenn du deshalb sein Voraussehen würdigen willst, mit dem er alles unterscheidet,
wirst du dir richtiger vorstellen, dass es kein Vorauswissen gleichsam
der Zukunft ist, sondern das Wissen einer niemals erlöschenden Gegenwart.
Deshalb sagt man lieber nicht Voraussehen, sondern Vorsehung, weil sie, den
niederen Dingen ferngerückt, gleichsam vom erhabenen Gipfel der Dinge aus
alles vor sich sieht.
Was forderst du also, dass notwendig geschehe, was vom göttlichen
Lichte geschaut wird, da auch die Menschen nicht bewirken, daß
notwendig ist, was sie sehen? Denn fügt dein Blick etwa dem, was du gegenwärtig
siehst, irgendeine Notwendigkeit hinzu?
Keineswegs.
Jedoch: wenn man göttliche und menschliche Gegenwart vergleichen darf,
so sieht jener, wie ihr in eurer zeitlichen Gegenwart manches seht, alles in
seiner ewigen. Deshalb ändert diese göttliche Vorkenntnis nicht die
Natur der Dinge und ihre Eigentümlichkeit, und so beschaffen sieht sie
bei sich Gegenwärtiges, wie es in der Zeit einmal zukünftig geschehen
wird. Und sie verwirrt nicht die Urteile über die Dinge und unterscheidet
mit einem Blick ihres Geistes sowohl, was notwendig, als auch, was nicht notwendig
kommen wird; wie ihr, wenn ihr zugleich einen Menschen auf der Erde wandeln
und die Sonne am Himmel aufgehen seht, wenn auch beide Anblicke zugleich, so
sie doch unterscheidet und urteilt, dies sei freiwillig, jenes notwendig. So
verwirrt also der alles klärende Blick Gottes keineswegs die Beschaffenheit
der Dinge, die bei ihm gegenwärtig sind, unter der Bedingung der Zeit aber
zukünftig. Daraus folgt, dass dies nicht bloße Meinung, sondern
vielmehr auf Wahrheit gestützte Erkenntnis ist, wenn er erkennt, dass
irgend etwas geschehen wird, was zugleich, wie er wohl weiß, frei ist
von der Notwendigkeit des Geschehens.
Wenn du hier sagen wolltest, was Gott als zukünftig geschehend sieht, das
müsse auf jeden Fall eintreten, was aber auf jeden Fall eintreten müsse,
das geschehe aus Notwendigkeit, und mich auf dieses Wort Notwendigkeit festlegst,
so will ich gestehen, daß es sich zwar um eine Sache sicherster Wahrheit
handle, an die aber kaum einer außer dem, der das Göttliche schaut,
herangekommen ist. Ich werde nämlich antworten, dass dasselbe Zukünftige,
wenn man es zu der göttlichen Erkenntnis in Beziehung setzt, notwendig,
wenn es aber in seinem eigenen Wesen erwogen wird, gänzlich frei und unabhängig
scheint. Es gibt nämlich zwei Notwendigkeiten, eine
einfache, wie z. B. dass notwendig alle Menschen sterblich sein müssen,
eine zweite unter Bedingung, wie z. B. wenn du jemand gehen weißt, dieser
notwendig geht. Was nämlich jemand kennt, das kann nicht anders sein, als
es bekannt ist, aber diese Bedingung hat keineswegs mit sich jene einfache im
Gefolge. Nicht die eigne Natur bewirkt diese Notwendigkeit, sondern die Beifügung
der Bedingung; denn keine Notwendigkeit zwingt einen, der mit Willen dahinschreitet,
einherzuschreiten, mag es auch dann, wenn er schreitet, notwendig sein, daß
er einherschreitet. Auf dieselbe Weise ist also, wenn die Vorsehung irgend etwas
gegenwärtig sieht, dies notwendig, obwohl es seinem Wesen nach keine Notwendigkeit
besitzt. Gott aber schaut das Zukünftige, was aus Willensfreiheit geschieht,
als Gegenwärtiges; dies also, in Beziehung gesetzt zum göttlichen
Blick, wird notwendig unter der Bedingung der göttlichen Erkenntnis, für
sich betrachtet verliert es nicht die vollkommene Freiheit
seines Wesens. Es wird also ohne Zweifel alles geschehen, was Gott als zukünftig
im voraus erkennt, aber manches davon kommt aus dem freien Willen, was, auch
wenn es eintrifft, doch durch sein Eintreffen nicht die eigentümliche Natur
verliert, dank der es, bevor es geschah, auch hätte nicht geschehen können.
Was macht es also aus, daß es nicht notwendig ist, wenn es wegen der Bedingung
des göttlichen Wissens auf jeden Fall wie notwendig geschehen wird? Nun,
genau dasselbe, wie dass — was ich kurz vorher als Beispiel gegeben
habe — die aufgehende Sonne und der schreitende Mensch, während sie
geschehen, auf jeden Fall geschehen müssen, das eine von ihnen jedoch auch,
bevor es geschah, notwendig geschehen musste, das andere aber keineswegs.
So wird auch ohne Zweifel geschehen, was Gott gegenwärtig hat; dies aber
entspringt der Notwendigkeit der Dinge, jenes der Gewalt der Handelnden. Nicht
mit Unrecht also sagten wir, dies sei, wenn man es zum göttlichen Wissen
in Beziehung setzt, notwendig, wenn es an sich betrachtet wird, frei von den
Banden der Notwendigkeit; wie alles, was den Sinnen offensteht, setzt du es
zum Denken in Beziehung, allgemein ist, betrachtest du es an sich, einmalig.
Wenn es aber, wirst du sagen, in meiner Gewalt liegt, den Vorsatz zu ändern,
werde ich die Vorsehung entleeren, indem ich zufällig ändere, was
jene im voraus kennt. Darauf werde ich antworten: Du kannst zwar deinen Vorsatz
abbiegen, aber da die gegenwärtige Wahrheit der Vorsehung doch schaut,
dass du es kannst und ob du es tust oder wohin du ihn wendest, kannst du
dem göttlichen Vorauswissen nicht entgehen, wie du auch nicht dem Blick
des gegenwärtigen Auges entfliehen kannst, obwohl du dich mit freiem Willen
zu den verschiedenen Handlungen wenden kannst.
Wie denn? wirst du sagen. Wird sich das Wissen Gottes nach meiner Verfügung
ändern, so dass jenes, wenn ich bald das eine, bald das andere will,
ebenfalls Wechsel im Erkennen eintreten lassen muss? Keineswegs.
Die göttliche Schau eilt allem Zukünftigen voraus, zwingt und
ruft es zur Gegenwart des eigenen Erkennens zurück und ändert nicht,
wie du glaubst, bald das eine, bald das andere im Wechsel des Vorauserkennens,
sondern mit einem Blick kommt sie bleibend allen deinen Änderungen zuvor
und umfasst sie. Diese Gegenwärtigkeit des Allesbegreifens und Sehens hat Gott nicht aus dem Ausgang der zukünftigen Dinge, sondern
aus seiner eigenen Einfachheit erlangt. Dadurch löst sich auch jenes, was
du kurz vorher annahmst: es sei unwürdig, wenn man sage, unsere Zukunft
gebe die Ursache von Gottes Wissen ab. Denn die Macht dieses Wissens, die in
gegenwärtigem Erkennen alles umfaßt, hat allen Dingen selbst das
Maß festgesetzt, dem Späteren gar schuldet es nichts.
Da das so ist, bleibt den Sterblichen die Freiheit des
Willens unangetastet, und nicht ungerecht setzen Gesetze Belohnungen und Strafen
aus, da der Wille von jeder Notwendigkeit frei ist. Es bleibt auch der
Zuschauer droben, der alles voraus weiß, Gott, und die immer gegenwärtige
Ewigkeit seiner Schau trifft zusammen mit der künftigen Beschaffenheit
unserer Handlungen, den Guten Belohnungen, den Schlechten Strafen austeilend.
Und nicht vergebens sind die Hoffnungen, die man auf Gott setzt und die Gebete.
Wenn sie richtig sind, müssen sie wirksam sein. Wendet euch also von Lastern,
pflegt die Tugenden, erhebt den Geist zu richtigem Hoffen, richtet demütige Gebete zur Höhe. Eine gewaltige Notwendigkeit zur Rechtschaffenheit ist
euch, wenn ihr euch nicht verleugnen wollt, angezeigt, da ihr vor den Augen
des allessehenden Richters lebt.
Aus: Boethius, Trost der Philosophie
Übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, mit einer Einführung
von Friedrich Klingner
Reclams Universalbibliothek Nr. 3154 (S.110-115, 164-169) © 1971 Philipp
Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher
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