Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius (480 – 524)

Römischer Staatsmann und Philosoph. Boethius studierte in Alexandria Philosophie. Mit 30 Jahren wurde er von dem Ostgotenkönig Theoderich zum Konsul des Jahres 510 ernannt. Später wurde er als »magister officiorum« höchster Verwaltungsbeamter am weströmischen Hof. Theoderich war es auch, der ihn wegen einer unaufgeklärten Affäre des Hochverrats bezichtigte und schließlich nach längerer Haft in Pavia hinrichten ließ. Boethius, den man auch als den »letzten Römer und ersten Scholastiker« bezeichnet, wollte die platonisch-aristotelische Tradition zu einer Synthese führen und den jungen Völkern in lateinischer Sprache nahe bringen. Seine theologischen Traktate erweisen ihn als Christen, doch in dem – während seiner Kerkerhaft - verfassten »Trost der Philosophie« spiegelt sich ganz der großartige Geist der Antike wider. In diesem großen Zwiegespräch des Boethius mit der Philosophie, sucht diese ihn allegorisch als Frau in seinem Kerker auf, um ihm in seiner Verzweiflung Trost zu spenden und ihn durch die Hinführung zur Wahrheit zu heilen. Diese Wahrheit gipfelt darin, dass das vollkommen Gute existiert, weil alles Unvollkommne notwendig ein Vollkommenes voraussetze. Gegenwart des vollkommen Guten ist Gott, dessen Allmacht unbegrenzt ist. Ziel aller Dinge ist das Gute.

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Inhaltsverzeichnis
Das Ziel aller Dinge ist das Gute
Göttliche und menschliche Gegenwart


Das Ziel aller Dinge ist das Gute

Alle ersehnen also, sagte sie, das Eine.

Ich stimme bei.

Aber wir haben gezeigt, dass das Eine dasselbe wie das Gute ist.

Jawohl.

Alles erstrebt also das Gute, was du auch so definieren kannst, dass eben das Gute das ist, was von allen ersehnt wird.

Nichts Wahreres, sagte ich, kann erdacht werden; denn entweder bezieht sich alles auf ein Nichts und schwimmt. gleichsam des einen Richtpunktes beraubt, ohne Lenker planlos hin und her, oder, wenn etwas ist, zu dem alles eilt, wird dieses das höchste aller Güter sein.

Und jene sagte: Ich freue mich überaus, mein Sohn: das Kennzeichen des Kernes der Wahrheit hast du deinem Geiste eingeprägt. In dem wurde es dir aber offenbar, was du nach eigener Aussage vor kurzem noch nicht wusstest.

Was? fragte ich.

Welches das Ziel aller Dinge sei; das ist es nämlich in der Tat, was von allen ersehnt wird. Und weil wir geschlossen haben, dass es das Gute ist, müssen wir gestehen, dass das Ziel aller Dinge das Gute ist.

Wer tiefen Sinnes Wahrheit aufzuspürn suchet
und will dabei durch keinen Abweg getäuscht werden,
der gebe frei das Licht des inneren Gesichts einwärts,
die lange Schwingung beugend zwing er zum Kreise
und lehre seinen Geist, was draußen er hart mühet,
daß er‘s besitze in den eignen Schatzkammern:
Was eben noch de schwarze Wolke des Wahns deckte,
wird klarer leuchten als selbst Phöbus‘ Lichtstrahlen.
Nicht alle Helligkeit vertrieb dem Geist nämlich
der Leib, mit sich Vergessen bringende Last schleppend.
Es hängt gewiß der Wahrheit Funke tief drinnen,
der aufgereget wird, wenn Lehre ihn anfacht.
Warum, gefragt, sonst meint ihr aus euch selbst Wahres,
wenn nicht die Glut noch drin ins Herz gesenkt lebte?
Wenn aber Platos Muse keinen Trug kündet:
was jeder lernt, Vergeßnes ruft er dann vor sich.

Da sagte ich: Ich stimme Plato lebhaft bei: denn du erinnerst mich schon zum zweiten Male daran, zuerst, weil ich das Gedächtnis durch die Berührung des Körpers, dann, als ich‘s durch die Last der Trauer bedrückt verloren hatte.

Da sagte jene: wenn du auf die früheren Zugeständnisse blickst, wird auch jenes nicht weit ab sein, dass du dich an das erinnerst, was du vorhin nicht zu wissen bekanntest.

Woran? fragte ich.

Durch welches Ruder die Welt gesteuert wird,
sagte jene.

Ich erinnere mich, sagte ich, dass ich meine Unwissenheit bekannt habe; aber wenn ich auch voraussehe, was du vorbringen wirst, wünsche ich es doch ausführlicher von dir zu hören.

Dass die Welt hier, sagte sie, durch Gott gelenkt wird, glaubtest du vor kurzem, sei nicht zu bezweifeln.

Auch jetzt glaube ich es, sagte ich, und werde es niemals für zweifelhaft halten. Ich will kurz darlegen, aus welchen Gründen ich dazu komme. Diese Welt wäre nicht aus so verschiedenen und gegensätzlichen Teilen in eine einzige Form zusammengekommen, wenn nicht einer wäre, der so Entgegengesetztes verbände. Diese verbundene Mannigfaltigkeit aber der Naturen würde sich uneins entzweien und zerreißen, wenn nicht einer wäre, der zusammenhielte, was er verband. Nicht so klar bestimmt vollends würde die Ordnung der Natur vorwärtsschreiten und das einzelne nicht so geordnete Bewegungen nach Platz, Zeit, Wirkung, Dauer, Eigenschaften entwickeln, wenn nicht einer wäre, der, selbst in Ruhe verharrend, diese Vielfalt der Bewegungen ordnete.

Dieses, was es auch sei, wodurch das Geschaffene bleibt und bewegt wird, nenne ich mit dem allen gebräuchlichen Namen
Gott.

Da sagte jene: Da du dieser Meinung bist, bleibt mir, glaube ich, nur wenig Arbeit übrig, dass du des Glückes mächtig deine Heimat heil wiedersiehst. Aber betrachten wir, was wir uns vorgesetzt! Zählten wir nicht zum Glück das Genügen, und stimmten wir nicht darin überein, dass Gott eben das Glück sei?

So war es.

Auch zur Lenkung der Welt also,
sagte sie, wird er keiner Unterstützung von außen bedürfen; sonst — wenn er etwas braucht - wird er nicht das volle Genügen haben.

Das ist so, sagte ich, ein notwendiger Schluss.

Durch sich selbst also ordnet er alles?

Das lässt sich nicht leugnen, sagte ich.

Aber Gott ist, wie gezeigt, das Gute selbst.

Ich erinnere mich, sagte ich.

Durch das Gute also ordnet er alles, wenn er alles durch sich lenkt, er, der, wie wir uns einigten, das Gute ist. Und er ist gleichsam der Steuergriff und das Ruder, mit dem die Weltmaschine fest und unzerstörbar erhalten wird.

Ich stimme lebhaft bei, sagte ich, und habe kurz vorher, wenn auch nur in schwacher Vermutung, vorausgesehen, dass du es sagen würdest.

Ich glaube es, sagte sie; denn schon wachsamer, meine ich, lenkst du dein Auge auf das Erkennen der Wahrheit; aber was ich jetzt sagen werde, liegt nicht weniger offen zu schauen.

Was? fragte ich.

Da man mit Recht glaubt, sagte sie, dass Gott alles mit dem Steuer der Güte lenkt, und da ebenso alles, wie ich lehrte, aus natürlichem Triebe zum Guten eilt, kann man dann etwa bezweifeln, dass es mit eignem Willen regiert wird und sich von selbst zum Winke des Ordners wendet, gleichsam auf den Lenker abgestimmt und für ihn passend?

Nein, so ist es nötig. sagte ich; es schiene auch kein glückliches Regiment, wenn es ein Joch für Widerstrebende, nicht Heil für Gehorchende wäre.

Es gibt also nichts, weswegen etwas, das seine Natur bewahrt, gegen
Gott anzugehen versuchen sollte?

Nichts, sagte ich.

Wenn es aber den Versuch macht, sprach sie, wird es dann irgend etwas gegen den erreichen, der die größte Gewalt über das Glück hat, wie wir mit Recht zugestanden?

Es würde gar nichts vermögen,
sagte ich.

Es gibt also gar nichts, was diesem höchstem Guten widerstehen kann oder will?

Ich glaube nicht, sagte ich.

Das höchste Gute ist es also, sagte sie, was alles stark lenkt und sanft ordnet.

Da sagte ich: Wie sehr entzückt mich nicht nur das Resultat der Überlegungen, das geschlossen wurde, sondern noch viel mehr diese Worte selbst, die du gebrauchst, so daß sich endlich einmal die Torheit, die Großes zerreißt, ihrer selbst schämen möge!

Du hast, sagte sie, in Sagen von den Giganten vernommen, die den Himmel nicht in Ruh ließen. Aber auch jene hat dann wie billig die gütige Kraft dabei gelenkt? ... Aber willst du, dass wir die Beweise selbst aufeinanderprallen lassen? Vielleicht entspringt aus solchem Streit ein schöner Funke der Wahrheit hervor.

Wie du denkst, sagte ich.


Niemand, sagte sie, dürfte zweifeln, dass
Gott allmächtig ist.

Wenigstens, sagte ich, wer fest ist im Geiste, dürfte daran überhaupt nicht zweifeln.

Wer aber allmächtig ist, für den gibt es nichts, was er nicht vermöchte.

Nichts, sagte ich.

Kann nun Gott Böses tun?

Keineswegs, sagte ich.

Das Böse ist also, sagte sie, nichts, da jener es nicht tun kann, der nichts nicht vermag.

Verspottest du mich, sagte ich, indem du mit deinen Gründen ein unentwirrbares Labyrinth flichtst, da du bald hineingehst, wo du herauskommen solltest, und es bald verlässt, wo du hineingegangen bist? Oder biegst du einen wunderbaren Kreis von göttlicher Einfalt zusammen?
Denn kurz vorher, mit dem Glück beginnend, sagtest du, es sei das höchste Gut. Das wohne in Gott, dem Höchsten, wie du ausführtest. Gott selbst, so lief deine Erörterung, sei das höchste Gut und das volle Glück. Daraus gabst du mir gleichsam als Geschenk den Satz, daß niemand glücklich sein werde, außer der ebenfalls Gott sei. Wiederum sagtest du, daß die Gestalt des Guten selbst das Wesen Gottes und des Glückes sei, und lehrtest, daß gerade das Eine eben das Gute wäre, was von der ganzen Natur erstrebt werde. Du führtest auch aus, daß Gott das All mit dem Steuer der Güte lenke, daß freiwillig alles gehorche und kein Wesen des Bösen gäbe. Und dies entwickeltest du, ohne etwas von außen zu nehmen, sondern indem das eine aus dem anderen seine Glaubwürdigkeit zog, durch eingeborene und innere Beweise.

Da sagte jene: Ich spotte keineswegs, und die allergrößte Sache haben wir durch Gottes Geschenk um dessen Gnade wir eben flehten, vollbracht. Derart ist nämlich die Gestalt des göttlichen Wesens, dass sie weder ins Äußere zerfließt noch etwas Äußeres in sich aufnimmt, sondern, wie Parmenides über sie sagt:

Überall gleich der Masse der wohlgerundeten Kugel,

rollt sie den beweglichen Kreis der Dinge, während sie sich selbst unbeweglich hält. Wenn wir aber nun Überlegungen anstellten, die gleichfalls nicht von außen geholt waren, sondern innerhalb des Umkreises der Sache lagen, die wir behandelten, so brauchst du dich nicht zu wundern, da du nach Platos heiliger Feststellungen gelernt hast, dass die Worte den Sachen, über die sie aussagen, verwandt sein müssen.

Glücklich, dem es zu schaun gelang
hellerstrahlend des Guten Quell!
Glücklich der, dem zu lösen Kraft
schwerbedrückender Erde Band!

Göttliche und menschliche Gegenwart
Dass Gott ewig ist, ist das gemeine Urteil aller mit Vernunft Lebenden. Überlegen wir also, was Ewigkeit ist. Denn sie wird uns zugleich Gottes Wesen und Erkenntnis offenlegen.

Ewigkeit ist der ganze zugleich und vollkommene Besitz eines unbegrenzbaren Lebens, was aus dem Vergleich mit dem Zeitlichen noch klarer wird. Denn was in der Zeit lebt, das geht gegenwärtig vom Vergangenen in die Zukunft vorwärts. Und es gibt nichts in die Zeit Gestelltes, was den ganzen Raum seines Lebens in gleicher Weise umfassen könnte, sondern den morgigen hat es noch nicht erfaßt, den gestrigen aber schon verloren; auch im Heute lebt ihr nicht mehr als in jenem beweglichen und vorübergehenden Augenblick. Was also die Bedingung der Zeit erleidet, mag es auch, wie Aristoteles vom Weltall urteilte, niemals begonnen haben zu sein noch aufhören und mag sich sein Leben mit der Unendlichkeit der Zeit erstrecken, ist dennoch nicht so beschaffen, dass man es mit Recht für ewig ansehen dürfte
. Denn es umgreift und umfaßt nicht den ganzen Raum des unendlichen Lebens zugleich, sondern hat das Zukünftige noch nicht, das Geschehene nicht mehr. Was also die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens in gleicher Weise umgreift und besitzt, wem nichts Zukünftiges fern ist und nichts Vergangenes verflossen, das kann mit Recht ewig geheißen werden, und dies muß notwendig seiner mächtig, immer gegenwärtig bei sich sein und die Unendlichkeit der beweglichen Zeit gegenwärtig haben.

Daher haben gewisse Leute nicht recht, die der Meinung sind, wenn sie hören, Plato sei der Ansicht gewesen, das Weltall habe keinen zeitlichen Anfang gehabt und werde kein Ende nehmen, auf diese Weise werde das geschaffene Weltall gleich wie der Schöpfer ewig. Etwas anderes ist es nämlich, durch ein unbegrenzbares Leben sich hindurchziehen — das weise Plato der Welt zu —, etwas anderes, die ganze Gegenwart eines unbegrenzbaren Lebens gleichmäßig umfaßt zu halten, was offensichtlich dem göttlichen Geiste eigentümlich ist.

Und Gott darf nicht der Länge der Zeit wegen älter scheinen als die geschaffene Welt, sondern vielmehr durch die Eigentümlichkeit seiner einfachen Natur. Diesen gegenwarthaften Zustand unbeweglichen Lebens ahmt nämlich jene unendliche Bewegung der zeitlichen Dinge nach; und da sie ihn nicht darstellen und ihm nicht gleichkommen kann, fällt sie aus der Unbeweglichkeit in die Bewegung, aus der Einfachheit der Gegenwart heraus wächst sie zu einer unendlichen Erstreckung der Zukunft und der Vergangenheit und, da sie die ganze Fülle ihres Lebens nicht in gleicher Weise besitzen kann, scheint sie gerade dadurch, daß sie auf irgendeine Weise niemals zu sein aufhört, jenem, was sie nicht erfüllen und ausdrücken kann, bis zu einem gewissen Grade nachzueifern, indem sie sich an die wie immer beschaffene Gegenwart dieses kleinen und flüchtigen Augenblicks bindet, die, da sie eine Art Abbild jener bleibenden Gegenwart darstellt, wem sie zuteil wird, das verleiht, dass es zu sein scheint. Da sie ja aber nicht dauern konnte, ergriff sie den unendlichen Weg der Zeit, und so geschah es, dass sie durch Weiterschreiten das Leben fortsetzte, dessen Fülle sie im Bleiben nicht umfassen konnte. Wenn wir deshalb den Dingen treffende Namen beilegen wollen, so wollen wir in der Nachfolge
Platos sagen, da
ss Gott ewig, die Welt aber dauernd ist.

Da nun ein jedes Urteil seiner Natur gemäß begreift, was ihm unterliegt, Gott aber immer in einem zeitlosen und gegenwärtigen Zustand ist, übersteigt auch sein Wissen eine jede Bewegung der Zeit, bleibt in der Einfalt seiner Gegenwart, und die unendlichen Räume des Vergangenen und Zukünftigen umfassend, erwägt er alles in seiner einfachen Erkenntnis, als wenn es nun geschehe. Wenn du deshalb sein Voraussehen würdigen willst, mit dem er alles unterscheidet, wirst du dir richtiger vorstellen, dass es kein Vorauswissen gleichsam der Zukunft ist, sondern das Wissen einer niemals erlöschenden Gegenwart. Deshalb sagt man lieber nicht Voraussehen, sondern Vorsehung, weil sie, den niederen Dingen ferngerückt, gleichsam vom erhabenen Gipfel der Dinge aus alles vor sich sieht.

Was forderst du also, dass notwendig geschehe, was vom
göttlichen Lichte geschaut wird, da auch die Menschen nicht bewirken, daß notwendig ist, was sie sehen? Denn fügt dein Blick etwa dem, was du gegenwärtig siehst, irgendeine Notwendigkeit hinzu?

Keineswegs.

Jedoch: wenn man göttliche und menschliche Gegenwart vergleichen darf, so sieht jener, wie ihr in eurer zeitlichen Gegenwart manches seht, alles in seiner ewigen. Deshalb ändert diese göttliche Vorkenntnis nicht die Natur der Dinge und ihre Eigentümlichkeit, und so beschaffen sieht sie bei sich Gegenwärtiges, wie es in der Zeit einmal zukünftig geschehen wird. Und sie verwirrt nicht die Urteile über die Dinge und unterscheidet mit einem Blick ihres Geistes sowohl, was notwendig, als auch, was nicht notwendig kommen wird; wie ihr, wenn ihr zugleich einen Menschen auf der Erde wandeln und die Sonne am Himmel aufgehen seht, wenn auch beide Anblicke zugleich, so sie doch unterscheidet und urteilt, dies sei freiwillig, jenes notwendig. So verwirrt also der alles klärende Blick Gottes keineswegs die Beschaffenheit der Dinge, die bei ihm gegenwärtig sind, unter der Bedingung der Zeit aber zukünftig. Daraus folgt, dass dies nicht bloße Meinung, sondern vielmehr auf Wahrheit gestützte Erkenntnis ist, wenn er erkennt, dass irgend etwas geschehen wird, was zugleich, wie er wohl weiß, frei ist von der Notwendigkeit des Geschehens.

Wenn du hier sagen wolltest, was Gott als zukünftig geschehend sieht, das müsse auf jeden Fall eintreten, was aber auf jeden Fall eintreten müsse, das geschehe aus Notwendigkeit, und mich auf dieses Wort Notwendigkeit festlegst, so will ich gestehen, daß es sich zwar um eine Sache sicherster Wahrheit handle, an die aber kaum einer außer dem, der das Göttliche schaut, herangekommen ist. Ich werde nämlich antworten, dass dasselbe Zukünftige, wenn man es zu der göttlichen Erkenntnis in Beziehung setzt, notwendig, wenn es aber in seinem eigenen Wesen erwogen wird, gänzlich frei und unabhängig scheint. Es gibt nämlich zwei Notwendigkeiten,
eine einfache, wie z. B. da
ss notwendig alle Menschen sterblich sein müssen, eine zweite unter Bedingung, wie z. B. wenn du jemand gehen weißt, dieser notwendig geht. Was nämlich jemand kennt, das kann nicht anders sein, als es bekannt ist, aber diese Bedingung hat keineswegs mit sich jene einfache im Gefolge. Nicht die eigne Natur bewirkt diese Notwendigkeit, sondern die Beifügung der Bedingung; denn keine Notwendigkeit zwingt einen, der mit Willen dahinschreitet, einherzuschreiten, mag es auch dann, wenn er schreitet, notwendig sein, daß er einherschreitet. Auf dieselbe Weise ist also, wenn die Vorsehung irgend etwas gegenwärtig sieht, dies notwendig, obwohl es seinem Wesen nach keine Notwendigkeit besitzt. Gott aber schaut das Zukünftige, was aus Willensfreiheit geschieht, als Gegenwärtiges; dies also, in Beziehung gesetzt zum göttlichen Blick, wird notwendig unter der Bedingung der göttlichen Erkenntnis, für sich betrachtet verliert es nicht die vollkommene Freiheit seines Wesens. Es wird also ohne Zweifel alles geschehen, was Gott als zukünftig im voraus erkennt, aber manches davon kommt aus dem freien Willen, was, auch wenn es eintrifft, doch durch sein Eintreffen nicht die eigentümliche Natur verliert, dank der es, bevor es geschah, auch hätte nicht geschehen können.

Was macht es also aus, daß es nicht notwendig ist, wenn es wegen der Bedingung des göttlichen Wissens auf jeden Fall wie notwendig geschehen wird? Nun, genau dasselbe, wie dass — was ich kurz vorher als Beispiel gegeben habe — die aufgehende Sonne und der schreitende Mensch, während sie geschehen, auf jeden Fall geschehen müssen, das eine von ihnen jedoch auch, bevor es geschah, notwendig geschehen musste, das andere aber keineswegs. So wird auch ohne Zweifel geschehen, was Gott gegenwärtig hat; dies aber entspringt der Notwendigkeit der Dinge, jenes der Gewalt der Handelnden. Nicht mit Unrecht also sagten wir, dies sei, wenn man es zum göttlichen Wissen in Beziehung setzt, notwendig, wenn es an sich betrachtet wird, frei von den Banden der Notwendigkeit; wie alles, was den Sinnen offensteht, setzt du es zum Denken in Beziehung, allgemein ist, betrachtest du es an sich, einmalig.

Wenn es aber, wirst du sagen, in meiner Gewalt liegt, den Vorsatz zu ändern, werde ich die Vorsehung entleeren, indem ich zufällig ändere, was jene im voraus kennt. Darauf werde ich antworten: Du kannst zwar deinen Vorsatz abbiegen, aber da die gegenwärtige Wahrheit der Vorsehung doch schaut, dass du es kannst und ob du es tust oder wohin du ihn wendest, kannst du dem göttlichen Vorauswissen nicht entgehen, wie du auch nicht dem Blick des gegenwärtigen Auges entfliehen kannst, obwohl du dich mit freiem Willen zu den verschiedenen Handlungen wenden kannst.

Wie denn? wirst du sagen. Wird sich das Wissen Gottes nach meiner Verfügung ändern, so dass jenes, wenn ich bald das eine, bald das andere will, ebenfalls Wechsel im Erkennen eintreten lassen muss? Keineswegs
. Die göttliche Schau eilt allem Zukünftigen voraus, zwingt und ruft es zur Gegenwart des eigenen Erkennens zurück und ändert nicht, wie du glaubst, bald das eine, bald das andere im Wechsel des Vorauserkennens, sondern mit einem Blick kommt sie bleibend allen deinen Änderungen zuvor und umfasst sie. Diese Gegenwärtigkeit des Allesbegreifens und Sehens hat Gott nicht aus dem Ausgang der zukünftigen Dinge, sondern aus seiner eigenen Einfachheit erlangt. Dadurch löst sich auch jenes, was du kurz vorher annahmst: es sei unwürdig, wenn man sage, unsere Zukunft gebe die Ursache von Gottes Wissen ab. Denn die Macht dieses Wissens, die in gegenwärtigem Erkennen alles umfaßt, hat allen Dingen selbst das Maß festgesetzt, dem Späteren gar schuldet es nichts.

Da das so ist, bleibt den Sterblichen die Freiheit des Willens unangetastet, und nicht ungerecht setzen Gesetze Belohnungen und Strafen aus, da der Wille von jeder Notwendigkeit frei ist. Es bleibt auch der Zuschauer droben, der alles voraus weiß, Gott, und die immer gegenwärtige Ewigkeit seiner Schau trifft zusammen mit der künftigen Beschaffenheit unserer Handlungen, den Guten Belohnungen, den Schlechten Strafen austeilend. Und nicht vergebens sind die Hoffnungen, die man auf Gott setzt und die Gebete. Wenn sie richtig sind, müssen sie wirksam sein. Wendet euch also von Lastern, pflegt die Tugenden, erhebt den Geist zu richtigem Hoffen, richtet demütige Gebete zur Höhe. Eine gewaltige Notwendigkeit zur Rechtschaffenheit ist euch, wenn ihr euch nicht verleugnen wollt, angezeigt, da ihr vor den Augen des allessehenden Richters lebt.

Aus: Boethius, Trost der Philosophie
Übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, mit einer Einführung von Friedrich Klingner
Reclams Universalbibliothek Nr. 3154 (S.110-115, 164-169) © 1971 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages