Xenophon (430 - 355 v.Chr.)

  Griechischer Philosoph, der in seinem praktischen Leben ein erfolgreicher Söldnerführer und Gutsherr war. Nach verlorener Schlacht soll er durch einen geordneten Rückzug 6000 Soldaten das Leben gerettet haben. Von historischer Bedeutung sind seine Erinnerungen an Sokrates, der selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat. Sie sind ein wichtige Ergänzung zu den völlig anders gearteten Ausführungen Platons. Xenophon ist mehr ein wichtiger Zeitzeuge, weniger aber ein gewichtiger Denker.

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Inhaltsverzeichnis
Die richtige Erkenntnis über die Götter
Zum Tode des Sokrates


Die richtige Erkenntnis über die Götter

Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates, Viertes Buch, Drittes Kapitel
Sokrates belehrt den Euthydemos, dass die Götter für die Menschen, denen sie ja, was sie brauchen, gegeben haben, wahrhafte Fürsorge hegen. Alle übrigen Geschöpfe seien nur zum Nutzen der Menschen da, und dieser habe vor jenen Vernunft und Sprache voraus. Außerdem kann er von den Göttern erfahren, was ihm heilsam ist, wenn er sie nur fürchtet, ehrt und ihnen vertraut.

Xenophon:
Dass seine Freunde redefertig, brauchbar für das tätige Leben und gewandt würden, damit hatte Sokrates keine Eile. Er glaubte vielmehr, dass er ihnen zuvor noch eine vernünftige Erkenntnis einflößen müsse. Denn wer diese Fähigkeiten, meinte er, ohne Vernunft besitze, dem können sie nur dazu dienen, ihn in Ungerechtigkeiten zu stärken und ihn in der Ausführung seiner schlechten Handlungen zu unterstützen. Zuerst nun suchte er seinen Freunden eine richtige Erkenntnis der Götter beizubringen. Andere, die bei der Unterredung zugegen waren, wo er in der Weise zu einer solchen richtigen Erkenntnis hinleitete, haben dieselben bekannt gemacht. Ich war bei folgender Unterredung, die er mit Euthydemos hielt, zugegen.

Sokrates: Sage mir, Euthydemos, ist dir schon einmal eingefallen, darüber nachzudenken, mit welcher Fürsorge die Götter alles, was die Menschen benötigen, eingerichtet haben?

Euthydemos: Nein, in der Tat bis jetzt noch nicht.

Sokrates: Weißt du nicht, dass wir zuerst des Lichts bedürfen, welches uns die Götter gewähren?

Euthydemos: Freilich, denn wenn wir dies nicht hätten, wären wir ja wie die Blinden, trotz unserer Augen.

Sokrates:
Aber da wir auch der Ruhe bedürfen, so geben sie uns die Nacht, die schönste Zeit der Ruhe.

Euthydemos: Auch dieses ist sehr dankenswert.

Sokrates: Und noch mehr: die Sonne lässt uns durch ihr Licht die Tageszeiten und alles Übrige erkennen, während die Nacht dunkel und ohne bestimmte Merkmale ist. Deshalb lassen die Götter in der Nacht die Gestirne leuchten, welche uns die Nachtzeiten anzeigen, und vermöge dessen können wir das, was wir nötig haben, verrichten.

Euthydemos:
So ist es.

Sokrates: Aber noch mehr: Der Mond macht uns nicht nur die Teile der Nacht, sondern auch die des Monats kenntlich.

Euthydemos:
Allerdings.

Sokrates:
Da wir ferner der Nahrung bedürfen, so lassen dieselbe aus der Erde herauswachsen und schenken uns passende Jahreszeiten dazu, die uns nicht nur für unser Bedürfnis, sondern auch zu einem angenehmen Genusse vieles und mannigfaltiges geben – wie siehst du das an?

Euthydemos:
Auch dies ist sehr menschenfreundlich gehandelt.

Sokrates: Ferner schenken sie uns auch das Wasser, das von so unschätzbarem Werte ist, das im Verein mit der Erde und den Jahreszeiten alles uns nützliche hervorbringt und entwickelt, uns selbst ernähren hilft und alle unsere Nahrung durch sein Hinzukommen verdaulicher, gesunder und schmackhafter macht, und sie geben es uns in reichlichem Maße, weil auch das Bedürfnis deshalb so groß ist – wie siehst du das an?

Euthydemos: Auch das ist ein Zeichen der Fürsorge.

Sokrates: Und wie denkst du darüber, dass sie uns auch das Feuer gaben, ein Schutzmittel gegen die Kälte, ein Gegenmittel gegen die Finsternis, ein Mitarbeiter bei jeder Kunst und bei allem, was die Menschen zu ihrem Nutzen verfertigen? Denn mit einem Worte, ohne Feuer bringen die Menschen sonst nichts von dem, was zum Leben notwendig ist, zu Stande.

Euthydemos: Auch hierin erkenne ich ihre übermäßige Menschenliebe.

Sokrates: Und dass die Sonne, nachdem sie im Winter sich gewendet hat, sich uns nähert und einiges zur Reife bringt, anderes, wenn seine Zeit vorüber ist, dörrt, und wenn sie dies zu Stande gebracht, nicht näher rückt, sondern umkehrt, damit sie uns nicht durch ihre allzu große Hitze schadet, und wenn sie wieder so weit sich entfernt hat, dass wir selbst merken, wir müssten vor Kälte erstarren, wenn sie noch weiter sich entfernte, dass sie dann sich wieder wendet und näher kommt und in der Gegend des Himmels ihren Kreislauf vollzieht, wo sie uns am meisten uns nützen kann?

Euthydemos: Beim Zeus, auch dies sieht ganz so aus, wie wenn es um der Menschen willen vor sich gehe.

Sokrates: Und dass sie endlich, da wir offenbar weder die Kälte noch die Hitze ertragen könnten, wenn sie plötzlich hereinbräche, dass die Sonne deswegen erst ganz allmählich sich nähert und ganz allmählich sich wieder entfernt, dass wir, ohne es zu merken, in beiden den höchsten Grad erreichen – wie siehst du das an?

Euthydemos: Ich erwäge schon das, ob überhaupt die Götter etwas Anderes tun, als für die Menschen zu sorgen; nur das eine verursacht mir noch Bedenklichkeiten, dass auch die andern lebenden Wesen an diesen Wohltaten Teil nehmen.

Sokrates: Ist es denn nicht klar, dass auch diese der Menschen wegen geschaffen und groß gezogen werden? Denn welches andere Geschöpf hat von den Ziegen, Schafen, Rindern, Eseln und den übrigen Tieren so viele Vorteile zu genießen, als der Mensch? Denn wie ich glaube, nützen sie mehr als die Pflanzen; wenigstens nährt und bereichert er sich von jenen so gut wie von diesen. Viele Menschen gebrauchen die Gewächse der Erde gar nicht als Nahrung, sondern leben, indem sie sich von der Milch ihrer Herden, von Butter und Fleisch nähren. Darin stimmen aber alle Völker überein, dass sie die nützlichen Tiere zähmen und bändigen und sich zum Kriege und zu vielen anderen Verrichtungen ihrer Hilfe bedienen.

Euthydemos: Auch hierin stimme ich dir bei, denn ich sehe, dass selbst solche Tiere, die uns an Stärke weit überlegen sind, dem Menschen so gehorsam werden, dass er sie gebrauchen kann, wozu er nur will.

Sokrates: Denke aber auch ferner daran, dass sie für das viele Schöne und Nützliche, weil es so verschieden unter einander ist, für jedes uns die geeigneten Sinneswerkzeuge gegeben haben, vermittelst deren wir alle Güter genießen; dass sie uns die Vernunft eingepflanzt haben, vermöge welcher wir, indem wir die sinnlichen Wahrnehmungen zu Gegenständen des Denkens und der Erinnerung machen, allerlei Mittel erfinden, das Gute zu genießen und das Böse von uns fern zu halten; endlich, dass sie uns auch die Fähigkeit, uns einander verständlich zu machen, gegeben haben, mittelst welcher wir alles Gute durch Belehrung einander mitteilen und gemeinsam genießen, uns über Gesetze einigen und in Staaten leben.

Euthydemos: Ja, ja, Sokrates, die Götter müssen sehr für die Menschen besorgt sein.

Sokrates: Auch bedenke noch, dass sie, da wir nicht im Stande sind, auch für die Zukunft das für uns Zuträgliche zu sorgen, selbst uns Hilfe leisten, indem sie denen, welche sie um Auskunft bitten, mittelst der Weissagekunst den Ausgang der Unternehmungen verkündigen und sie über die besten Maßregeln belehren.

Euthydemos:
Dir aber, Sokrates, scheinen sie noch weit mehr als andern hold zu sein, wenn sie, ohne von dir befragt zu sein, dir bedeuten, was du tun sollst und was nicht.

Sokrates: Dass ich aber die Wahrheit sage, wirst du dann erst erfahren, Euthydemos, wenn du nicht erst wartest, bis du die Götter in sichtbarer Gestalt siehst, sondern damit zufrieden bist, ihre Werke zu sehen, um sie und zu verehren. Bedenke, dass auch die Götter selbst darauf hindeuten; denn auch die übrigen von ihnen kommen bei Erteilung ihrer Güter ebenso wenig für uns zum Vorschein, wie diejenige Gottheit, welche das ganze Weltall, den Inbegriff alles Schönen und Guten ordnet und zusammenhält, die alles, obwohl es immerfort gebraucht wird, unversehrt, gesund und nie alternd erhält und es befähigt, schneller als ein Gedanke fehlerlos ihren Willen auszuführen – diese, sage ich, vollbringt zwar vor unseren Augen die größten aller Werke, sie selbst aber, die Ordnerin von allem diesen, bleibt unseren Blicken verborgen. Bedenke ferner, dass selbst die Sonne, die doch für jedermann sichtbar zu sein scheint, den Menschen nicht erlaubt, sie scharf ins Auge zu fassen, sondern jedem, der sich unterfängt, sie frech anzublicken, die Sehkraft nimmt. Und so wirst du auch finden, dass die Diener der Götter unsichtbar sind. Dass der Blitzstrahl von oben herabfährt und alles niederschmettert, was ihm in den Weg kommt, ist klar; aber man sieht weder, wenn er kommt, noch wenn er eingeschlagen hat, noch wenn er geht. Auch die Winde selbst sind nicht sichtbar, nur ihre Wirkungen sind uns sichtbar und ihr Wehen lässt sich empfinden. Ja auch die menschliche Seele, die mehr als irgendein anderes Besitztum des Menschen etwas vom Göttlichen hat, ist zwar durch ihre Herrschaft in uns erkennbar, aber selbst nicht sichtbar. Dies beherzigend, muss man das Unsichtbare nicht verachten, sondern aus den Erscheinungen seine Macht erkennen und die Gottheit verehren.

Euthydemos: Ich, Sokrates, weiß genau, dass ich nie im Geringsten die Götter missachten werde; nur das eine macht mir Sorgen, dass mir scheint, auch nicht e i n Mensch könne je im Stande sein, mit würdigem Danke die Wohltaten der Götter zu erwidern.

Sokrates: Verliere deshalb den Mut nicht, Euthydemos! Du weißt ja, wenn man den Gott in Delphi fragt, so antwortet er „Nach den Gesetzen des Staates“. Und Gesetz ist es doch sicher überall, nach Kräften durch Opfer sich die Götter geneigt zu machen. Wie könnte nun einer würdiger und ehrerbietiger die Götter ehren, als wenn er tut, was sie selbst gebieten? Aber hinter seinen Kräften darf man durchaus nicht zurückbleiben; und wenn einer dies täte, so würde es offenbar sein, dass er in diesem Falle die Götter nicht ehrt. Man darf also nichts versäumen, die Götter nach Kräften zu ehren; dann kann man auch getrost sein und auf die größten Güter hoffen. Denn der wäre nicht bei Verstande, der von andern größere Güter erwartete, als von den Göttern, die uns von allen die größten Wohltaten erweisen können, und auf keine andere Weise zuversichtlicher, als wenn man ihnen sich wohlgefällig macht. Wie könnte man aber eher ihnen sich wohlgefällig machen, als dadurch, dass man ihnen so viel als möglich folgsam ist?

Xenophon: So redete er und so handelte er selbst, und so machte er die, welche mit ihm umgingen, gottesfürchtiger und vernünftiger.
S.130ff.
Nach: Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Dr. Otto Güthling. Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig 1883. Universal-Bibliothek Band 1855/6


Zum Tode des Sokrates siehe auch Platon
Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates, Viertes Buch, Achtes Kapitel
Die Tatsache, dass Sokrates verurteilt wurde, spricht nicht gegen seine Behauptung, dass die Gottheit ihm andeute, was er tun und lassen solle. Er hätte ohne dieses nicht mehr lange gelebt; er entging so den Beschwerden des Alters und erwarb sich noch Ruhm durch die Art, wie er seinen Tod ertrug, der nicht ihm, sondern denen zur Schmach gereichte, welche ihn über ihn verhängten. Alle, die ihn kannten, vermissten ihn schmerzlich; denn in ihm starb der Beste und der Glücklichste unter den Menschen.


1. Wenn man etwa aus dem Umstande, dass Sokrates behauptete, die Gottheit gebe ihm Andeutungen darüber, was er tun und lassen sollte, und doch von seinen Richtern zum Tode verurteilt wurde, folgern wollte, dass er in Betreff der Gottheit einer Lüge schuldig sei, der bedenke fürs erste, dass er schon damals in einem Alter war, wo er, wenn auch nicht jetzt schon, doch bald darauf hätte sterben müssen; ferner, dass er dem beschwerlichsten Teile des Lebens, in welchem bei allen Menschen die Geisteskräfte abnehmen, entging und dafür durch die Beweise von Seelenstärke, die er gab, noch an Ruhm gewann, indem er bei seiner Verteidigung vor Gericht, wie noch kein anderer, auf das Wahrste, Freimütigste und Gerechteste sprach und sein Todesurteil auf das Gelassenste und Mannhafteste ertrug.

2. Das ist allgemein anerkannt, dass in der ganzen Geschichte sich kein Beispiel findet, wo einer den Tod in würdigerer Weise ertragen habe. Er musste nämlich nach dem Ausspruche des Todesurteils noch dreißig Tage am Leben bleiben, weil gerade das Delische Fest in jenem Monate war, und gesetzlich niemand hingerichtet werden darf, bis die Festgesandtschaft von Delos zurückgekehrt ist. Und während dieser ganzen Zeit waren alle seine Freunde Zeugen, dass er sich nicht im mindesten im Vergleich zu seinem früheren Leben veränderte; und doch war er von jeher, wie kein anderer Mensch, wegen seines fröhlichen und heiteren Sinnes bewundert worden.

3. Und wie könnte wohl einer schöner als so sterben? Oder welcher Tod könnte schöner sein als ein solcher, als ein solcher, bei dem man auf die schönste Weise stirbt? Und welcher Tod könnte wohl glücklicher sein, als der schönste? Und welcher endlich eine größere Gnade der Götter, als der beseligendste?

4. Auch will ich erzählen, was ich von Hermogenes, dem Sohne des Hipponikos, über ihn gehört habe. Als nämlich Meletos bereits seine Anklage gegen Sokrates erhoben hatte, und Hermogenes ihn über alles andere, nur nicht von seinem Prozesse reden hörte, soll ihn dieser daran erinnert haben, auch an seine Verteidigung zu denken.

Scheint dir nicht, sagte Sokrates, dass ich hierauf mein ganzes Leben bedacht gewesen bin?

Als jener ihn aber fragte, wie er das meine, sagte ihm, dass er sein Leben lang nichts anders getan habe, als Betrachtungen angestellt über das Gerechte und Ungerechte, dass er das Gerechte geübt, dagegen das Ungerechte vermieden habe; und dies halte er für die schönste Vorbereitung zu seiner Verteidigung. –

5. Darauf sagte Hermogenes: Siehst du nicht, Sokrates, dass die Richter in Athen schon oft durch ein Wort sich verleiten haben lassen, Unschuldige zu verurteilen, und andere , die wirklich schuldig waren, freizusprechen? – Ich hatte auch in der Tat, sagte Sokrates, schon damit angefangen, über eine Verteidigungsrede vor den Richtern nachzudenken, allein die Gottheit war dagegen. –

6. Sonderbares redest du, sagte Hermogenes. –

Du wunderst dich, sagte Sokrates, dass ich jetzt mein Leben beende? Weißt du nicht, dass ich bis auf den heutigen Tag keinem Menschen einräumen würde, dass er besser und angenehmer als ich gelebt habe? Denn am besten, glaube ich, leben diejenigen, die am meisten sich`s angelegen sein lassen, immer besser zu werden, und niemand angenehmer, als die, welche lebhaft fühlen, dass sie besser werden.

7. Und im Verlaufe meines Lebens merkte ich an mir selbst, dass mir ein solches Leben zu Teil geworden sei, und auch, wenn ich mit anderen zusammenkam und mich mit ihnen zusammenstellte, habe ich stets diese meine Ansicht bezeugt gefunden. Und nicht allein ich, sondern auch meine Freunde urteilen beständig so über mich, nicht weil sie mich lieben, denn sonst würden auch die, welche andere lieben, so über diese ihre Freunde urteilen, sondern weil sie nur durch ihren Umgang mit mir besser werden zu können glauben.

8. Würde ich noch länger leben, dann müsste ich vielleicht dem Alter meinen Tribut bezahlen: Gesicht und Gehör, Verstand, Fassungsvermögen und Gedächtnis würden schwächer werden, und ich würde hinter denen zurückstehen, welchen ich bis jetzt voraus war. Hätte ich hiervon kein Bewusstsein, dann fürwahr wäre mein Leben nicht des Lebens wert, hätte ich aber ein Bewusstsein davon, wie könnte ich dann anders, als schlechter und unangenehmer leben?

9. Wenn ich aber unschuldig sterben sollte, so wird allerdings diejenigen, die mich ungerechterweise hinrichten lassen, Schande treffen; [denn wenn überhaupt Ungerechtigkeit eine Schande ist, wie sollte da nicht auch jede ungerechte Handlung eine Schande sein?] Aber wie kann es mir Schande bringen, wenn andere nicht die Kraft besitzen, in meiner Angelegenheit gerecht zu denken und zu handeln?

10. Sehe ich doch, dass diejenigen aus früheren Zeiten, welche sich Ungerechtigkeiten erlaubten, bei der Nachwelt nicht in demselben Andenken stehen, wie die, welche Ungerechtigkeiten erduldeten; und ich glaube daher zuversichtlich, dass auch ich, selbst wenn ich jetzt sterben muss, nicht einer gleichen Beurteilung ausgesetzt bin, wie diejenigen, welche mich zum Tode verurteilt haben, denn ich weiß, dass man mir bezeugen wird, das ich nie einem Menschen Unrecht zugefügt und keinen schlechter gemacht, wohl aber unablässig mich bemüht habe, meine Freunde besser zu machen. So sprach Sokrates mit Hermogenes und anderen.

11. Und wer ihn kannte, wie er war, und wer nach Tugend strebte, der fühlt noch jetzt in sich die lebhafteste Sehnsucht nach ihm als dem kräftigsten Beistande auf dem Tugendwege. Mir schien besonders sein Geist und Charakter, wie ich ihn geschildert,

seine Gottesfurcht, die ihn nichts ohne die Zustimmung der Götter tun ließ,

seine Gerechtigkeit, nach der er keinem auch nur im geringsten schadete, vielmehr allen, die mit ihm verkehrten, die größten Dienste leistete,

seine Selbstbeherrschung, die ihn nie das Angenehme dem Besseren vorziehen ließ,

sein scharfer Verstand, mit dem er niemals in der Beurteilung des Besseren und Schlechteren irrte, auch keines anderen Hilfe dazu nötig hatte, sondern in der Erkenntnis dieser Dinge sich selbst genug war, und auch die

Fähigkeit, seine Gedanken anderen mitzuteilen und die Begriffe scharf zu bestimmen, sowie auch andere hierin zu prüfen, und wenn sie fehlten, zu überführen und

sie auf den Weg der Tugend, des Schönen und Guten zu leiten – dieser sein Geist und Charakter schien mir wenigstens das Musterbild des besten und glücklichsten Mannes zu sein. Und wer dies bezweifeln sollte, der mag hiermit den Charakter eines andern vergleichen und dann sein Urteil abgeben
. S.152ff.
Nach: Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Dr. Otto Güthling. Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig 1883. Universal-Bibliothek Band 1855/6