Xenophon (430 - 355 v.Chr.)
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Griechischer Philosoph, der in seinem praktischen Leben ein erfolgreicher Söldnerführer und Gutsherr war. Nach verlorener Schlacht soll er durch einen geordneten Rückzug
6000 Soldaten das Leben gerettet haben. Von historischer Bedeutung sind
seine Erinnerungen an Sokrates, der selbst nichts Schriftliches hinterlassen
hat. Sie sind ein wichtige Ergänzung zu den völlig anders gearteten
Ausführungen Platons. Xenophon ist mehr
ein wichtiger Zeitzeuge, weniger aber ein gewichtiger Denker. Siehe auch Wikipedia und Projekt Gutenberg |
Inhaltsverzeichnis
Die richtige Erkenntnis über die Götter
Zum Tode des Sokrates
Die
richtige Erkenntnis über die Götter
Xenophon`s Erinnerungen
an Sokrates, Viertes Buch, Drittes Kapitel
Sokrates belehrt den Euthydemos, dass die Götter
für die Menschen, denen sie ja, was sie brauchen, gegeben haben, wahrhafte
Fürsorge hegen. Alle übrigen Geschöpfe seien nur zum Nutzen der
Menschen da, und dieser habe vor jenen Vernunft und Sprache voraus. Außerdem
kann er von den Göttern erfahren, was ihm heilsam ist, wenn er sie nur
fürchtet, ehrt und ihnen vertraut.
Xenophon: Dass seine Freunde redefertig, brauchbar für das tätige
Leben und gewandt würden, damit hatte Sokrates keine Eile. Er glaubte vielmehr,
dass er ihnen zuvor noch eine vernünftige Erkenntnis einflößen
müsse. Denn wer diese Fähigkeiten, meinte er, ohne Vernunft besitze,
dem können sie nur dazu dienen, ihn in Ungerechtigkeiten zu stärken
und ihn in der Ausführung seiner schlechten Handlungen zu unterstützen.
Zuerst nun suchte er seinen Freunden eine richtige Erkenntnis der Götter
beizubringen. Andere, die bei der Unterredung zugegen waren, wo er in der Weise
zu einer solchen richtigen Erkenntnis hinleitete, haben dieselben bekannt gemacht.
Ich war bei folgender Unterredung, die er mit Euthydemos hielt, zugegen.
Sokrates: Sage mir, Euthydemos, ist dir schon einmal
eingefallen, darüber nachzudenken, mit welcher Fürsorge die Götter
alles, was die Menschen benötigen, eingerichtet haben?
Euthydemos: Nein, in der Tat bis jetzt noch nicht.
Sokrates: Weißt du nicht, dass wir zuerst
des Lichts bedürfen, welches uns die Götter gewähren?
Euthydemos: Freilich, denn wenn wir dies nicht
hätten, wären wir ja wie die Blinden, trotz unserer Augen.
Sokrates: Aber da wir auch der Ruhe bedürfen,
so geben sie uns die Nacht, die schönste Zeit der Ruhe.
Euthydemos: Auch dieses ist sehr dankenswert.
Sokrates: Und noch mehr: die Sonne lässt uns
durch ihr Licht die Tageszeiten und alles Übrige erkennen, während
die Nacht dunkel und ohne bestimmte Merkmale ist. Deshalb lassen die Götter
in der Nacht die Gestirne leuchten, welche uns die Nachtzeiten anzeigen, und
vermöge dessen können wir das, was wir nötig haben, verrichten.
Euthydemos: So ist es.
Sokrates: Aber noch mehr: Der Mond macht uns nicht
nur die Teile der Nacht, sondern auch die des Monats kenntlich.
Euthydemos: Allerdings.
Sokrates: Da wir ferner der Nahrung bedürfen, so lassen dieselbe
aus der Erde herauswachsen und schenken uns passende Jahreszeiten dazu, die
uns nicht nur für unser Bedürfnis, sondern auch zu einem angenehmen
Genusse vieles und mannigfaltiges geben – wie siehst du das an?
Euthydemos: Auch dies ist sehr menschenfreundlich gehandelt.
Sokrates: Ferner schenken sie uns auch das Wasser,
das von so unschätzbarem Werte ist, das im Verein mit der Erde und den
Jahreszeiten alles uns nützliche hervorbringt und entwickelt, uns selbst
ernähren hilft und alle unsere Nahrung durch sein Hinzukommen verdaulicher,
gesunder und schmackhafter macht, und sie geben es uns in reichlichem Maße,
weil auch das Bedürfnis deshalb so groß ist – wie siehst du
das an?
Euthydemos: Auch das ist ein Zeichen der Fürsorge.
Sokrates: Und wie denkst du darüber, dass
sie uns auch das Feuer gaben, ein Schutzmittel gegen die Kälte, ein Gegenmittel
gegen die Finsternis, ein Mitarbeiter bei jeder Kunst und bei allem, was die
Menschen zu ihrem Nutzen verfertigen? Denn mit einem Worte, ohne Feuer bringen
die Menschen sonst nichts von dem, was zum Leben notwendig ist, zu Stande.
Euthydemos: Auch hierin erkenne ich ihre übermäßige
Menschenliebe.
Sokrates: Und dass die Sonne, nachdem sie im Winter
sich gewendet hat, sich uns nähert und einiges zur Reife bringt, anderes,
wenn seine Zeit vorüber ist, dörrt, und wenn sie dies zu Stande gebracht,
nicht näher rückt, sondern umkehrt, damit sie uns nicht durch ihre
allzu große Hitze schadet, und wenn sie wieder so weit sich entfernt hat,
dass wir selbst merken, wir müssten vor Kälte erstarren, wenn sie
noch weiter sich entfernte, dass sie dann sich wieder wendet und näher
kommt und in der Gegend des Himmels ihren Kreislauf vollzieht, wo sie uns am
meisten uns nützen kann?
Euthydemos: Beim Zeus, auch dies sieht ganz so
aus, wie wenn es um der Menschen willen vor sich gehe.
Sokrates: Und dass sie endlich, da wir offenbar
weder die Kälte noch die Hitze ertragen könnten, wenn sie plötzlich
hereinbräche, dass die Sonne deswegen erst ganz allmählich sich nähert
und ganz allmählich sich wieder entfernt, dass wir, ohne es zu merken,
in beiden den höchsten Grad erreichen – wie siehst du das an?
Euthydemos: Ich erwäge schon das, ob überhaupt
die Götter etwas Anderes tun, als für die Menschen zu sorgen; nur
das eine verursacht mir noch Bedenklichkeiten, dass auch die andern lebenden
Wesen an diesen Wohltaten Teil nehmen.
Sokrates: Ist es denn nicht klar, dass auch diese
der Menschen wegen geschaffen und groß gezogen werden? Denn welches andere
Geschöpf hat von den Ziegen, Schafen, Rindern, Eseln und den übrigen
Tieren so viele Vorteile zu genießen, als der Mensch? Denn wie ich glaube,
nützen sie mehr als die Pflanzen; wenigstens nährt und bereichert
er sich von jenen so gut wie von diesen. Viele Menschen gebrauchen die Gewächse
der Erde gar nicht als Nahrung, sondern leben, indem sie sich von der Milch
ihrer Herden, von Butter und Fleisch nähren. Darin stimmen aber alle Völker
überein, dass sie die nützlichen Tiere zähmen und bändigen
und sich zum Kriege und zu vielen anderen Verrichtungen ihrer Hilfe bedienen.
Euthydemos: Auch hierin stimme ich dir bei, denn
ich sehe, dass selbst solche Tiere, die uns an Stärke weit überlegen
sind, dem Menschen so gehorsam werden, dass er sie gebrauchen kann, wozu er
nur will.
Sokrates: Denke aber auch ferner daran, dass sie
für das viele Schöne und Nützliche, weil es so verschieden unter
einander ist, für jedes uns die geeigneten Sinneswerkzeuge gegeben haben,
vermittelst deren wir alle Güter genießen; dass sie uns die Vernunft
eingepflanzt haben, vermöge welcher wir, indem wir die sinnlichen Wahrnehmungen
zu Gegenständen des Denkens und der Erinnerung machen, allerlei Mittel
erfinden, das Gute zu genießen und das Böse von uns fern zu halten;
endlich, dass sie uns auch die Fähigkeit, uns einander verständlich
zu machen, gegeben haben, mittelst welcher wir alles Gute durch Belehrung einander
mitteilen und gemeinsam genießen, uns über Gesetze einigen und in
Staaten leben.
Euthydemos: Ja, ja, Sokrates, die Götter müssen
sehr für die Menschen besorgt sein.
Sokrates: Auch bedenke noch, dass sie, da wir nicht
im Stande sind, auch für die Zukunft das für uns Zuträgliche
zu sorgen, selbst uns Hilfe leisten, indem sie denen, welche sie um Auskunft
bitten, mittelst der Weissagekunst den Ausgang der Unternehmungen verkündigen
und sie über die besten Maßregeln belehren.
Euthydemos: Dir aber, Sokrates, scheinen sie noch weit mehr als andern
hold zu sein, wenn sie, ohne von dir befragt zu sein, dir bedeuten, was du tun
sollst und was nicht.
Sokrates: Dass ich aber die Wahrheit sage, wirst
du dann erst erfahren, Euthydemos, wenn du nicht erst wartest, bis du die Götter
in sichtbarer Gestalt siehst, sondern damit zufrieden bist, ihre Werke zu sehen,
um sie und zu verehren. Bedenke, dass auch die Götter selbst darauf hindeuten;
denn auch die übrigen von ihnen kommen bei Erteilung ihrer Güter ebenso
wenig für uns zum Vorschein, wie diejenige Gottheit, welche das ganze Weltall,
den Inbegriff alles Schönen und Guten ordnet und zusammenhält, die
alles, obwohl es immerfort gebraucht wird, unversehrt, gesund und nie alternd
erhält und es befähigt, schneller als ein Gedanke fehlerlos ihren
Willen auszuführen – diese, sage ich, vollbringt zwar vor unseren
Augen die größten aller Werke, sie selbst aber, die Ordnerin von
allem diesen, bleibt unseren Blicken verborgen. Bedenke ferner, dass selbst
die Sonne, die doch für jedermann sichtbar zu sein scheint, den Menschen
nicht erlaubt, sie scharf ins Auge zu fassen, sondern jedem, der sich unterfängt,
sie frech anzublicken, die Sehkraft nimmt. Und so wirst du auch finden, dass
die Diener der Götter unsichtbar sind. Dass der Blitzstrahl von oben herabfährt
und alles niederschmettert, was ihm in den Weg kommt, ist klar; aber man sieht
weder, wenn er kommt, noch wenn er eingeschlagen hat, noch wenn er geht. Auch
die Winde selbst sind nicht sichtbar, nur ihre Wirkungen sind uns sichtbar und
ihr Wehen lässt sich empfinden. Ja auch die menschliche Seele, die mehr
als irgendein anderes Besitztum des Menschen etwas vom Göttlichen hat,
ist zwar durch ihre Herrschaft in uns erkennbar, aber selbst nicht sichtbar.
Dies beherzigend, muss man das Unsichtbare nicht verachten,
sondern aus den Erscheinungen seine Macht erkennen und die Gottheit verehren.
Euthydemos: Ich, Sokrates, weiß genau, dass
ich nie im Geringsten die Götter missachten werde; nur das eine macht mir
Sorgen, dass mir scheint, auch nicht e i n Mensch könne je im Stande sein,
mit würdigem Danke die Wohltaten der Götter zu erwidern.
Sokrates: Verliere deshalb den Mut nicht, Euthydemos!
Du weißt ja, wenn man den Gott in Delphi fragt, so antwortet er „Nach den Gesetzen des Staates“. Und Gesetz ist es doch
sicher überall, nach Kräften durch Opfer sich die Götter geneigt
zu machen. Wie könnte nun einer würdiger und ehrerbietiger die Götter
ehren, als wenn er tut, was sie selbst gebieten? Aber hinter seinen Kräften
darf man durchaus nicht zurückbleiben; und wenn einer dies täte, so
würde es offenbar sein, dass er in diesem Falle die Götter nicht ehrt.
Man darf also nichts versäumen, die Götter nach Kräften zu ehren;
dann kann man auch getrost sein und auf die größten Güter hoffen.
Denn der wäre nicht bei Verstande, der von andern größere Güter
erwartete, als von den Göttern, die uns von allen die größten
Wohltaten erweisen können, und auf keine andere Weise zuversichtlicher,
als wenn man ihnen sich wohlgefällig macht. Wie könnte man aber eher
ihnen sich wohlgefällig machen, als dadurch, dass man ihnen so viel als
möglich folgsam ist?
Xenophon: So redete er und so handelte er selbst,
und so machte er die, welche mit ihm umgingen, gottesfürchtiger und vernünftiger.
S.130ff.
Nach: Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Dr. Otto Güthling.
Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig 1883. Universal-Bibliothek Band 1855/6
Zum Tode
des Sokrates siehe
auch Platon
Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates,
Viertes Buch, Achtes Kapitel
Die Tatsache, dass Sokrates verurteilt wurde, spricht nicht gegen seine Behauptung,
dass die Gottheit ihm andeute, was er tun und lassen solle. Er hätte ohne
dieses nicht mehr lange gelebt; er entging so den Beschwerden des Alters und
erwarb sich noch Ruhm durch die Art, wie er seinen Tod ertrug, der nicht ihm,
sondern denen zur Schmach gereichte, welche ihn über ihn verhängten.
Alle, die ihn kannten, vermissten ihn schmerzlich; denn in ihm starb der Beste
und der Glücklichste unter den Menschen.
1. Wenn man etwa aus dem Umstande, dass Sokrates behauptete, die Gottheit
gebe ihm Andeutungen darüber, was er tun und lassen sollte, und doch von
seinen Richtern zum Tode verurteilt wurde, folgern wollte, dass er in Betreff
der Gottheit einer Lüge schuldig sei, der bedenke fürs erste,
dass er schon damals in einem Alter war, wo er, wenn auch nicht jetzt schon,
doch bald darauf hätte sterben müssen; ferner, dass er dem beschwerlichsten
Teile des Lebens, in welchem bei allen Menschen die Geisteskräfte abnehmen,
entging und dafür durch die Beweise von Seelenstärke, die er gab,
noch an Ruhm gewann, indem er bei seiner Verteidigung vor Gericht, wie noch
kein anderer, auf das Wahrste, Freimütigste und Gerechteste sprach und
sein Todesurteil auf das Gelassenste und Mannhafteste ertrug.
2. Das ist allgemein anerkannt, dass in der ganzen Geschichte sich kein Beispiel
findet, wo einer den Tod in würdigerer Weise ertragen habe. Er musste nämlich nach dem Ausspruche des Todesurteils noch
dreißig Tage am Leben bleiben, weil gerade das Delische Fest in jenem
Monate war, und gesetzlich niemand hingerichtet werden darf, bis die Festgesandtschaft
von Delos zurückgekehrt ist. Und während dieser ganzen Zeit waren
alle seine Freunde Zeugen, dass er sich nicht im mindesten im Vergleich zu seinem
früheren Leben veränderte; und doch war er von jeher, wie kein anderer
Mensch, wegen seines fröhlichen und heiteren Sinnes bewundert worden.
3. Und wie könnte wohl einer schöner als so sterben? Oder welcher
Tod könnte schöner sein als ein solcher, als ein solcher, bei dem
man auf die schönste Weise stirbt? Und welcher Tod könnte wohl glücklicher
sein, als der schönste? Und welcher endlich eine größere Gnade
der Götter, als der beseligendste?
4. Auch will ich erzählen, was ich von Hermogenes, dem Sohne des Hipponikos,
über ihn gehört habe. Als nämlich Meletos bereits seine Anklage
gegen Sokrates erhoben hatte, und Hermogenes ihn über alles andere, nur
nicht von seinem Prozesse reden hörte, soll ihn dieser daran erinnert haben,
auch an seine Verteidigung zu denken.
Scheint dir nicht, sagte Sokrates, dass ich hierauf mein ganzes Leben bedacht
gewesen bin?
Als jener ihn aber fragte, wie er das meine, sagte ihm, dass er sein Leben lang
nichts anders getan habe, als Betrachtungen angestellt über das Gerechte
und Ungerechte, dass er das Gerechte geübt, dagegen das Ungerechte vermieden
habe; und dies halte er für die schönste Vorbereitung zu seiner Verteidigung. –
5. Darauf sagte Hermogenes: Siehst du nicht, Sokrates, dass die Richter in Athen
schon oft durch ein Wort sich verleiten haben lassen, Unschuldige zu verurteilen,
und andere , die wirklich schuldig waren, freizusprechen? – Ich hatte
auch in der Tat, sagte Sokrates, schon damit angefangen, über eine Verteidigungsrede
vor den Richtern nachzudenken, allein die Gottheit war dagegen. –
6. Sonderbares redest du, sagte Hermogenes. –
Du wunderst dich, sagte Sokrates, dass ich jetzt mein Leben beende? Weißt
du nicht, dass ich bis auf den heutigen Tag keinem Menschen einräumen würde,
dass er besser und angenehmer als ich gelebt habe? Denn am besten, glaube ich,
leben diejenigen, die am meisten sich`s angelegen sein lassen, immer besser
zu werden, und niemand angenehmer, als die, welche lebhaft fühlen, dass
sie besser werden.
7. Und im Verlaufe meines Lebens merkte ich an mir selbst, dass mir ein solches
Leben zu Teil geworden sei, und auch, wenn ich mit anderen zusammenkam und mich
mit ihnen zusammenstellte, habe ich stets diese meine Ansicht bezeugt gefunden.
Und nicht allein ich, sondern auch meine Freunde urteilen beständig so
über mich, nicht weil sie mich lieben, denn sonst würden auch die,
welche andere lieben, so über diese ihre Freunde urteilen, sondern weil
sie nur durch ihren Umgang mit mir besser werden zu können glauben.
8. Würde ich noch länger leben, dann müsste ich vielleicht dem
Alter meinen Tribut bezahlen: Gesicht und Gehör, Verstand, Fassungsvermögen
und Gedächtnis würden schwächer werden, und ich würde hinter
denen zurückstehen, welchen ich bis jetzt voraus war. Hätte ich hiervon
kein Bewusstsein, dann fürwahr wäre mein Leben nicht des Lebens wert,
hätte ich aber ein Bewusstsein davon, wie könnte ich dann anders,
als schlechter und unangenehmer leben?
9. Wenn ich aber unschuldig sterben sollte, so wird allerdings diejenigen, die
mich ungerechterweise hinrichten lassen, Schande treffen; [denn wenn überhaupt
Ungerechtigkeit eine Schande ist, wie sollte da nicht auch jede ungerechte Handlung
eine Schande sein?] Aber wie kann es mir Schande bringen, wenn andere nicht
die Kraft besitzen, in meiner Angelegenheit gerecht zu denken und zu handeln?
10. Sehe ich doch, dass diejenigen aus früheren Zeiten, welche sich Ungerechtigkeiten
erlaubten, bei der Nachwelt nicht in demselben Andenken stehen, wie die, welche
Ungerechtigkeiten erduldeten; und ich glaube daher zuversichtlich, dass auch
ich, selbst wenn ich jetzt sterben muss, nicht einer gleichen Beurteilung ausgesetzt
bin, wie diejenigen, welche mich zum Tode verurteilt haben, denn ich weiß,
dass man mir bezeugen wird, das ich nie einem Menschen Unrecht zugefügt
und keinen schlechter gemacht, wohl aber unablässig mich bemüht habe,
meine Freunde besser zu machen. So sprach Sokrates mit Hermogenes und anderen.
11. Und wer ihn kannte, wie er war, und wer nach Tugend strebte, der fühlt
noch jetzt in sich die lebhafteste Sehnsucht nach ihm als dem kräftigsten
Beistande auf dem Tugendwege. Mir schien besonders sein Geist und Charakter,
wie ich ihn geschildert,
seine Gottesfurcht, die ihn nichts
ohne die Zustimmung der Götter tun ließ,
seine Gerechtigkeit, nach der
er keinem auch nur im geringsten schadete, vielmehr allen, die mit ihm verkehrten,
die größten Dienste leistete,
seine Selbstbeherrschung, die
ihn nie das Angenehme dem Besseren vorziehen ließ,
sein scharfer Verstand, mit dem
er niemals in der Beurteilung des Besseren und Schlechteren irrte, auch keines
anderen Hilfe dazu nötig hatte, sondern in der Erkenntnis dieser Dinge
sich selbst genug war, und auch die
Fähigkeit, seine Gedanken anderen mitzuteilen
und die Begriffe scharf zu bestimmen, sowie auch andere hierin
zu prüfen, und wenn sie fehlten, zu überführen und
sie auf den Weg der Tugend, des Schönen und
Guten zu leiten – dieser sein Geist und Charakter schien
mir wenigstens das Musterbild des besten und glücklichsten Mannes zu sein.
Und wer dies bezweifeln sollte, der mag hiermit den Charakter eines andern vergleichen
und dann sein Urteil abgeben. S.152ff.
Nach: Xenophon`s Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Dr. Otto Güthling.
Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig 1883. Universal-Bibliothek Band 1855/6