Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778)

  Französisch-schweizerischer Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge, der der Sohn eines von Hugenotten abstammenden Uhrmachers und einer Genfer Calvinistin war . — Rousseau hatte eine unglückliche Kindheit. 1728 kam er zu Madame de Warens, einer katholisch gewordenen Calvinistin, die ihn zum Eintritt in die Katholische Kirche bewegte. Nach intensiver Lektüre und Musikstudien ging er 1741 nach Paris. Dort war er als Hauslehrer und Privatsekretär tätig. Dabei lernte er Denis Diderot und das Vorhaben der »Encyclopédie« (für die er musiktheoretische Beiträge verfasste) kennen und lebte in freier (erst 1768 legalisierter) Ehe mit Thérèse Levasseur, deren 5 von ihm stammende Kinder er im Findelhaus unterbrachte. Auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, ob der Fortschritt der Kultur die Menschen gebessert habe, antwortete er 1750 verneinend mit dem »Discours sur les sciences et les arts«. Diese preisgekrönte Schrift machte ihn über Nacht berühmt. Sie konstruiert einen glücklichen, naturhaften Urzustand der Menschheit (»état naturel«), aus dem diese durch Vergesellschaftung (»état civil«) ins Verderben gefallen sei. 1754 setzte Rousseau die aufgeworfenen Fragen in dem — ebenfalls von der Akademie von Dijon angeregten, aber nach Erscheinen abgelehnten — »Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes« fort. Obwohl er auch in dieser Schrift Kultur und Aufklärung schroff verurteilte, lehnte er nun nicht mehr grundsätzlich die Vergesellschaftung ab, sondern nur die (angeblich historische) Entwicklung von einem ersten glücklichen Gesellschaftszustand zur Rechtsungleichheit. Der »discours« gipfelt in der radikalen Forderung nach Wiederherstellung der natürlichen Rechtsgleichheit aller. Damit formulierte er zugleich die Unvereinbarkeit mit den vorherrschenden (naturrechtlichen) Gesellschaftstheorien seiner Zeit. In den folgenden Jahren kehrte er zum Calvinismus zurück, überwarf sich mit fast allen Freunden und Gönnern und konnte kaum seinen Lebensunterhalt sichern. In dieser schwierigen Lebensphase vollendete er u. a, pädagogische Lehrbuch »Emile ou de l’éducation« (Emile oder Über die Erziehung), in dem er den für die neuere Pädagogik (v. a. J. H. Pestalozzi) richtungweisenden Gedanken einer kindgemäßen, freien, individuellen Erziehung vertrat, sowie den »Contrat social«, in dem er nicht mehr den freien Naturmenschen, sondern den politisch mündigen Bürger als Vorbild hinstellte, der durch willentliche Abtretung seiner Naturfreiheit an einen Kollektivwillen (volonté générale) den idealen Staat schafft. Mit diesen Schriften setzte sich er in schroffen Gegensatz zum »Ancien régime«. Ein Haftbefehl auf Grund seiner Verurteilung durch das Parlament und den Erzbischof von Paris zwangen ihn zur Flucht ins Ausland (unter dem Schutz Friedrichs II. von Preußen in Neuenburg, auf Einladung David Humes in England). In Paris, wohin er nach Jahren ruhelosen Umherreisens 1770 zurückkehrte, vollendete er die »confessions« (1781), in denen er teils apologetisch, teils sich selbst anklagend sein Leben schildert. Durch die eindringliche Schilderung der Einsamkeit, der eigenen Vereinsamung, der Liebes- und Naturidyllen und seiner pessimistischen Lebenshaltung, die sich insbesondere in den Spätschriften ausdrücken, übersteigt Rousseau literarisch das Lebensgefühl der Aufklärung und nimmt das der Romantik vorweg.

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Inhaltsverzeichnis
Ich glaube, dass die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird
Das unbegreifliche Wesen Gottes
Die klarste aller Religionen ist zweifellos die beste
Der Urheber des Übels ist der Mensch selbst . . .
Tod und Unsterblichkeit


Christus
Anerkennung als Gottes Sohn

Ich glaube, d
ass die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird
Es gibt nicht ein Wesen im Universum, das man nicht in irgendwelcher Hinsicht als gemeinsamen Mittelpunkt aller anderen betrachten könnte, um den alle sich ordnen, so dass sie alle im Bezug auf die anderen wechselweise Zweck und Mittel darstellen. Der Geist verwirrt und verliert sich in dieser Unendlichkeit der Bezüge, von denen nicht einer sich im Gemenge verliert. Welch absurde Voraussetzung, diese ganze Harmonie vom blinden Mechanismus einer zufällig bewegten Materie abzuleiten! Diejenigen, die die Einheitlichkeit der Absicht, die in den Beziehungen aller Teile in dieser großen Gesamtheit deutlich wird, leugnen, mögen ihren Galimatias mit Abstraktionen, Koordinationen, allgemeinen Prinzipien und symbolischen Ausdrücken verbrämen; was sie auch tun mögen — mir ist es unmöglich, ein System von so immerwährend geordneten Wesen zu erfassen, wenn ich mir nicht eine Intelligenz vorstellen kann, die es regelt. Es steht nicht in meinem Ermessen, zu glauben, etwas Passives und Abstraktes habe lebende und fühlende Wesen erzeugen können, eine blinde Fatalität habe intelligente Wesen erzeugt, das, was nicht denkt, habe Wesen erzeugt, die denken.

Ich glaube also, dass die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird; ich erkenne oder, vielmehr, fühle ihn, und das zu wissen ist mir wichtig. Ist diese nämliche Welt jedoch ewig oder eine Schöpfung? Gibt es einen einzigen Ursprung der Dinge? Gibt es deren zwei oder mehrere? Und welcher Art sind sie? Ich weiß es nicht, und was kümmert‘s mich? Soweit diese Erkenntnisse mich angehn, werde ich mich bemühen, sie zu erwerben; bis dahin einhalte ich mich überflüssiger Fragen, die mein Selbstgefühl erregen können, die aber für mein Verhalten nutzlos und meinem Verstand überlegen sind.

Halte dir immer vor Augen, daß ich meine Meinung durchaus nicht lehre, sondern darlege. Ob die Materie ewig oder geschaffen ist, ob es ein passives Prinzip oder keins gibt — es bleibt gewiss, dass das All eins ist und auf eine einzige Intelligenz hinweist; denn ich sehe nichts, was nicht in dasselbe System eingeordnet wäre und nicht demselben Ziel zustrebte, nämlich der Erhaltung des Ganzen in der festgesetzten Ordnung. Dieses Wesen, das will und das kann, dieses aus sich selbst aktive Wsen, dieses Wesen, das, was es auch sein mag, das Universum bewegt und alle Dinge ordnet, nenne ich Gott. Mit diesem Namen verbinde ich die Vorstellung von Intelligenz, Macht, Willen, die ich nach und nach dargelegt habe, und die der Güte, die deren notwendige Folge ist. Darum kenne ich das Wesen, dem ich sie beilege, doch nicht besser; es entzieht sich meinen Sinnen ebenso wie meinem Verstand; je mehr ich darüber nachdenke, um so verwirrter werde ich; ich weiß mit großer Sicherheit, dasses existiert und daß es durch sich selbst existiert; ich weiß, daß meine Existenz der seinigen untergeordnet ist und daß alle mir bekannten Dinge sich in dem gleichen Fall befinden. Ich nehme Gott in allen seinen Werken wahr; ich fühle ihn in mir, ich sehe ihn überall um mich; sobald ich ihn aber in ihm selbst betrachten will, sobald ich erforschen will, wo er ist, was er ist, welche Substanz er hat, entgleitet er mir, und mein verstörter Geist erkennt nichts mehr.

Von meiner Unzulänglichkeit durchdrungen, werde ich nie über das Wesen Gottes räsonieren, wenn ich nicht durch das Gefühl seiner Beziehungen zu mir dazu gezwungen bin. Diese Beweisführungen sind immer vermessen, ein weiser Mensch sollte sich nur mit Zagen darauf einlassen und gewiß, daß er nicht dazu geschaffen ist, tiefer in sie einzudringen; denn es beleidigt die Gottheit weniger, überhaupt nicht über sie nachzudenken, als falsch über sie zu denken. S.565-567

Das unbegreifliche Wesen Gottes
Das unbegreifliche, alles umfassende Wesen, das die Welt in Bewegung setzt und die ganze Ordnung des Seienden bestimmt, ist weder mit unsren Augen zu sehen noch mit unsren Händen zu fassen; es entzieht sich all unsren Sinnen: das Werk ist offenbar, aber der Meister verbirgt sich. Es ist nicht so einfach, schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen, daß er existiert, und wenn wir dahin gelangt sind, wenn wir uns fragen: wie ist er? wo ist er? gerät unser Geist in Verwirrung, verirrt sich, und wir wissen nicht mehr, was wir denken sollen. S.526

So, Gott in seinen Werken betrachtend und im Nachdenken über diejenigen seiner Attribute, deren Erkenntnis für mich von Bedeutung war, bin ich Schritt für Schritt dahin gelangt, die zunächst unvollkommene und beschränkte Idee, die ich mir von jenem unermeßlichen Wesen machte, zu erweitern und zu vervollkommnen. Wenn jedoch diese Idee edler und größer geworden ist, so ist sie der menschlichen Vernunft auch weniger angemessen. Je näher ich im Geiste dem ewigen Licht komme, um so mehr blendet und verwirrt mich sein Glanz, und ich muss alle irdischen Begriffe preisgeben, die mir halfen, es mir vorzustellen. Gott ist nicht mehr körperlich und empfindsam; die höchste Vernunft, die die Welt regiert, ist nicht mehr die Welt selbst: vergebens erhebe und ermüde ich meinen Geist, um ihr Wesen zu erfassen.

Wenn ich bedenke, daß sie es ist, die der lebendigen und aktiven Substanz, welche die belebten Körper beherrscht, Leben und Aktivität verleiht; wenn ich sagen höre, daß meine Seele geistig und Gott ein Geist ist, dann empöre ich mich gegen diese Erniedrigung des göttlichen Wesens; als ob Gott und meine Seele gleicher Natur wären; als ob Gott nicht das einzige und absolute Wesen wäre, das einzige, das wirklich aus sich selbst handelt, fühlt, denkt und will, und von dem wir das Denken, Fühlen, Handeln, den Willen, die Freiheit und das Sein empfangen haben! Wir sind nur darum frei, weil er will, daß wir es seien; und für unsre Seele ist seine unerklärliche Substanz das, was unsre Seele für unseren Leib ist.

Ob er die Materie, die Körper, den Geist, die Welt erschaffen hat — ich weiß es nicht. Die Idee der Schöpfung verwirrt mich und übersteigt mein Fassungsvermögen: ich glaube daran, soweit ich es zu begreifen vermag; aber ich weiß, daß Gott das Universum und alles, was existiert, geformt, daß er alles bewirkt und alles geordnet hat. Gott ist ewig — ohne Zweifel; kann mein Geist aber die Idee der Ewigkeit erfassen? Warum soll ich gedankenlos leere Worte reden? Ich begreife nur, daß er vor allen Dingen gewesen ist, daß er sein wird, solange sie bestehen werden, und daß er sogar darüber hinaus noch sein wird, wenn eines Tages alles enden sollte. Daß ein Wesen, das ich nicht erfasse, anderen Wesen ihre Existenz gibt, das ist nur dunkel und unbegreiflich, daß aber das Sein und das Nichts sich von selbst ineinander verwandeln, ist ein greifbarer Widerspruch, eine eindeutige Absurdität.

Gott ist ein geistiges Wesen; aber auf welche Art ist er es?
Der Mensch ist ein geistiges Wesen, wenn er denkt, aber die höchste Vernunft bedarf des Denkens nicht; für sie gibt es weder Voraussetzungen noch Schlußfolgerungen, nicht einmal Urteile — sie ist rein intuitiv, sie sieht alles, was ist, ebenso wie alles, was sein kann; für sie sind alle Ideen nur eine einzige Idee, wie alle Orte ein einziger Punkt und alle Zeiten ein einziger Augenblick. Die menschliche Macht wirkt nur mittelbar, die göttliche Macht wirkt durch sich selbst. Gott vermag, weil er will; seine Macht ist sein Wille. Gott ist gut; nichts ist offenbarer: aber die Güte des Menschen ist seine Liebe zum Nächsten, und die Liebe Gottes die Liebe zur Ordnung, denn durch die Ordnung erhält er das, was existiert, und verbindet er das Einzelne mit dem Ganzen.

Gott ist gerecht, und ich bin überzeugt, daß das die Folge seiner Güte ist; die Ungerechtigkeit der Menschen ist das Werk der Menschen und nicht das Gottes; die moralische Verkommenheit, die in den Augen der Philosophen gegen die Vorsehung zeugt, ist in meinen Augen nur ein Beweis dafür. Aber die Gerechtigkeit des Menschen besteht darin, jedem das zu geben, was ihm zukommt, die Gerechtigkeit Gottes aber darin, von jedem Rechenschaft zu verlangen über das, was er ihm gegeben hat.

Entdecke ich also nach und nach diese Attribute, von denen ich keinerlei absolute Vorstellung habe, so geschieht es durch zwingende Schlußfolgerungen, durch den richtigen Gebrauch meiner Vernunft; aber ich bejahe sie, ohne sie zu verstehen, und im Grunde heißt das nichts bejahen. Ich mag mir wohl sagen: Gott ist so, ich fühle es, ich beweise es mir; darum begreife ich nicht besser, wie Gott so sein kann.
Je mehr ich mich denn bemühe, sein unendliches Wesen zu betrachten, um so weniger begreife ich es; aber es existiert, das genügt mir; je weniger ich es erfasse, um so mehr bete ich es an.
Ich demütige mich und sage zu ihm: Wesen aller Wesen, ich bin, weil du bist; unaufhörlich über dich meditieren heißt mich zu meinem Ursprung erheben. Der würdigste Gebrauch meiner Vernunft ist, vor dir sich auszulöschen: mich von deiner Größe überwältigt zu fühlen bildet das Entzücken meines Geistes und den Reiz meiner Schwäche. S.582-584

Die klarste aller Religionen ist zweifellos die beste
Da sie von Gott kommt, muß diese Lehre den geheiligten Charakter der Göttlichkeit haben; sie muß nicht nur die verworrenen Vorstellungen klären, die unsrem Geist durch das Räsonieren eingeprägt sind, sie muß auch einen Kult bringen, eine Moral und Maximen, die den Attributen, durch die allein wir seine Wesenheit erfassen, angemessen sind. Wenn sie uns also nur absurde und vernunftwidrige Dinge lehrte, wenn sie uns nur Gefühle des Abscheus für unsresgleichen und des Schauders für uns selbst einflößte, wenn sie uns nur einen zürnenden, eifersüchtigen, rachsüchtigen, parteiischen Gott zeichnete, der die Menschen haßt, einen kämpferischen und streitbaren Gott, immer bereit, zu zerstören und seine Blitze zu schleudern, der von nichts anderem spricht als von Qualen, Leiden, der sich rühmt, sogar die Unschuldigen zu strafen — zu diesem schrecklichen Gott würde sich mein Herz nicht hingezogen fühlen, und ich würde mich wohl hüten, die natürliche Religion aufzugeben, um jene anzunehmen; denn du siehst, daß man sich notwendigerweise für das eine oder das andere entscheiden muß. Euer Gott ist nicht der unsere, würde ich seinen Anhängern sagen. Wer sich ein einziges Volk auserwählt und das ganze übrige Menschengeschlecht ächtet, ist nicht der Allvater der Menschen; wer die größte Anzahl seiner Geschöpfe zu Höllenqualen bestimmt, ist nicht der gnadenreiche und gute Gott, den mir meine Vernunft gezeigt hat.

Im Hinblick auf die Dogmen sagt sie mir, daß sie klar, einleuchtend und durch ihre Evidenz überzeugend sein müssen. Ist die natürliche Religion unzulänglich, so darum, weil sie die großen Wahrheiten, die sie uns lehrt, in Dunkelheit läßt. Es ist an der Offenbarung, uns diese Wahrheiten auf eine Weise zu lehren, die dem menschlichen Geist faßbar und fühlbar ist, ihn sie begreifen zu lassen, damit er an sie glaube. Der Glaube wird durch das Verständnis gesichert und gefestigt; die klarste aller Religionen ist zweifellos die beste: wer mir den Kult, den er mir predigt, mit Mysterien und Widersprüchen belastet, lehrt mich, ihm ebendeshalb zu mißtrauen. Der Gott, den ich anbete, ist kein Gott der Finsternis, er gab mir meinen Verstand nicht, daß ich ihn nicht gebrauche — wer behauptet, ich müsse meine Vernunft unterwerfen, beleidigt ihren Schöpfer. Der Diener der Wahrheit tyrannisiert meine Vernunft nicht, er klärt sie auf. S.611-612

Der Urheber des Übels ist der Mensch selbst . . .
O Mensch, suche nicht mehr nach dem Urheber des Übels; dieser Urheber bist du selbst. Es gibt kein anderes Übel als das, was du tust oder erleidest, und beides kommt dir von dir selbst. Das allgemeine Übel kann nur in der Unordnung liegen, und ich sehe im Weltsystem eine Ordnung, die sich absolut nicht verleugnet. Das Einzelübel liegt nur in der Empfindung des Wesens, das es erleidet; und diese Empfindung hat der Mensch nicht von der Natur empfangen, er hat sie sich selbst gegeben. Der Schmerz hat wenig Gewalt über den, der weder Erinnerung noch Voraussicht kennt, da er wenig nachgedacht hat. Nimm unsre verhängnisvollen Fortschritte weg, nimm unsre Irrtümer und Laster weg, alles Menschenwerk, und alles ist gut.

Wo alles gut ist, gibt es keine Ungerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist von der Güte untrennbar; so ist die Güte die notwendige Wirkung einer unbeschränkten Macht und der Selbstliebe, die jedem fühlenden Wesen zu eigen ist. Wer alles vermag, dehnt sozusagen seine Existenz mit der der Wesen aus. Erzeugen und bewahren ist die beständige Tätigkeit der Macht; sie wirkt nicht auf das, was nicht ist; Gott ist nicht der Gott der Toten, er könnte nicht zerstörerisch und böse sein, ohne sich zu schaden. Wer alles vermag, kann nur das Gute wollen. So muß das Wesen höchster Güte, weil es allmächtig ist, auch von höchster Gerechtigkeit sein, sonst widerspräche es sich selbst; denn die Liebe zur Ordnung, die die Ordnung schafft, heißt Güte, und die Liebe zur Ordnung, die sie erhält, heißt Gerechtigkeit.

Man sagt, Gott sei seinen Geschöpfen nichts schuldig. Ich glaube, er schuldet ihnen alles, was er ihnen versprach, indem er ihnen die Existenz gab. Und ihnen die Vorstellung eines Guts zu geben und sie das Bedürfnis danach empfinden zu lassen heißt soviel wie es ihnen versprechen. Je mehr ich in mich gehe, je öfter ich mich befrage, desto öfter lese ich diese Worte, die meiner Seele eingeschrieben sind: Sei gerecht, und du wirst glücklich sein. Wenn ich den jetzigen Stand der Dinge betrachte, ist es damit allerdings anders bestellt; der Böse hat Erfolg und der Gerechte bleibt unterdrückt. Denke aber auch, welche Entrüstung in uns aufflackert, wenn diese Erwartung getäuscht wird! Das Bewußtsein erhebt sich und murrt gegen seinen Schöpfer; es ruft ihm seufzend zu: Du hast mich getäuscht! S.576-577

Tod und Unsterblichkeit
Wären wir unsterblich, wären wir höchst elende Geschöpfe. Gewiß, es ist hart, sterben zu müssen, aber die Hoffnung, daß man nicht ewig leben wird und daß ein besseres Leben die Leiden im Diesseits beenden wird, ist tröstlich. Würde man uns die Unsterblichkeit auf Erden anbieten — wer möchte wohl dieses traurige Geschenk annehmen? Welche Hilfe, welche Hoffnung und welcher Trost bliebe uns dann gegen die Härten des Schicksals und die Ungerechtigkeit der Menschen? Der Unwissende, der noch ohne Voraussicht lebt, hat kaum ein Gefühl für den Wert des Lebens und also kaum Angst, es zu verlieren; der wahrhaft aufgeklärte Mensch aber liebt Güter höheren Werts, die er jenem vorzieht. Nur das Halbwissen und die Afterweisheit, die unsere Gedanken bis zum Tode und nicht über ihn hinauslenken, machen aus ihm das Schlimmste aller Übel. Das Unvermeidliche des Todes ist für den Weisen der einzige Grund, die Leiden des Lebens zu ertragen. Wäre man nicht sicher, es einmal zu verlieren, so wäre seine Bewahrung allzu teuer bezahlt.

Alle unsre geistigen Übel sind imaginär außer einem, dem Verbrechen, und das hängt von uns selbst ab.

Unsre physischen Leiden zerstören sich selbst oder uns. Die Zeit und der Tod sind unsre Heilmittel; aber wir leiden um so mehr, als wir nicht zu leiden verstehn, und wir quälen uns mehr damit ab, unsere Krankheiten zu heilen, als wir müßten, wenn wir sie ertrügen. Lebe natürlich, sei geduldig und verjage die Ärzte: dem Tod wirst du nicht entgehen, aber du wirst ihn nur einmal erleiden, während die Ärzte ihn täglich in deine gequälten Vorstellungen hineintragen, und ihre Lügenkunst, anstatt dein Leben zu verlängern, raubt dir seinen Genuß. Ich werde nicht aufhören zu fragen, welches wirkliche Heil diese Kunst der Menschheit gebracht hat. Einige von denen, die sie geheilt bat, würden zwar sterben, aber Millionen derer, die sie tötet, würden am Leben bleiben. Vernünftiger Mensch, spiele nicht in dieser Lotterie, bei der fast alle Chancen gegen dich sind. Leide, stirb oder genese; vor allem aber lebe, lebe bis zu deiner letzten Stunde.

Alles ist nur Torheit und Widerspruch in den menschlichen Einrichtungen. Je wertloser unser Leben wird, um so mehr Sorgen machen wir uns darum. Die Greise trauern ihm mehr nach als die Jungen; sie wollen nicht die Mühe verloren geben , die sie sich gemacht haben, um es einmal zu genießen. Es ist freilich sehr grausam, mit sechzig Jahren sterben zu müssen, ehe man zu leben angefangen hat. Man nimmt an, der Mensch habe einen lebhaften Selbsterhaltungstrieb, und das stimmt auch. Man übersieht aber, daß dieser Trieb, so wie wir ihn empfinden, zum großen Teil das Werk der Menschen ist. Von Natur aus ist der Mensch um seine Selbsterhaltung nur soweit besorgt, als er die Mittel dazu in der Hand hat. Sobald sie ihm entrinnen, beruhigt er sich und stirbt, ohne sich unnötig darüber aufzuregen. Das erste Gesetz der Resignation kommt uns von der Natur. Die Wilden ebenso wie die Tiere wehren sich kaum gegen den Tod und erleiden ihn fast klaglos. Ist dieses Gesetz einmal verloren, so bildet sich ein anderes, das aus der Vernunft kommt. Aber nur wenige verstehen es, Nutzen daraus zu ziehen, und diese künstliche Resignation ist niemals so vollständig wie die ursprüngliche. […]

Oh, Mensch! Lebe dein Leben in dir selbst, und du wirst nicht mehr unglücklich sein. Bleibe an dem dir von der Natur zugewiesenen Platz in der Reihe der Geschöpfe, und er wird dir durch nichts streitig gemacht werden können. Sträube dich nicht gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit und erschöpfe nicht im Kampf dagegen die Kräfte, die der Himmel dir nicht dazu gab, um deine Existenz auszuweiten oder zu verlängern, sondern einzig, um sie zu erhalten, wie und solange es ihm gefällt. Deine Freiheit, deine Macht reichen nicht weiter als deine natürlichen Kräfte; alles übrige ist Sklaverei, Illusion, Blendwerk. S.190-193

Wenn die Seele immateriell ist, kann sie den Leib überleben; wenn sie ihn überlebt, ist die Vorsehung gerechtfertigt. Hätte ich keinen anderen Beweis für die Unkörperlichkeit der Seele als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, würde das allein genügen, mir meine Zweifel zu nehmen. Eine so grelle Dissonanz in der universellen Harmonie ließe mich nicht ruhen, bis ich sie aufgelöst hätte. Ich würde mir sagen: Nicht alles endet für uns mit dem Leben, alles kehrt beim Tod in die Ordnung zurück. Ich käme in die Verlegenheit, mich zu fragen, wo der Mensch ist, wenn alles Fühlbare in ihm vernichtet ist. Diese Frage stellt keine Schwierigkeit mehr für mich dar, sobald ich zwei Substanzen anerkannt habe. Es ist ganz klar, daß mir während meines leiblichen Lebens, da ich alles nur durch meine Sinne wahrnehme, entgeht, was ihnen nicht untergeordnet ist. Wenn die Verbindung zwischen Leib und Seele zerbricht, begreife ich, daß jener sich auflösen und diese sich erhalten kann. Warum sollte die Zerstörung des einen die der anderen nach sich ziehen? Von so unterschiedlichem Wesen, befanden sie sich vielmehr durch ihre Verbindung in einem gezwungenen Zustand; und wenn diese Verbindung aufhört, treten alle beide in ihren natürlichen Zustand zurück — die aktive und lebendige Substanz gewinnt alle Kraft zurück, die sie gebrauchte, die passive und tote Substanz zu bewegen. Ach! ich fühle es nur zu sehr durch meine Laster — der Mensch lebt sein Leben nur halb, und das Leben der Seele beginnt erst mit dem Tod des Leibes.

Aber was für ein Leben ist das? und ist die Seele ihrer Natur nach unsterblich? Mein begrenzter Verstand erfaßt nichts Grenzenlosesalles, was man unendlich nennt, entzieht sich ihm. Was kann ich leugnen, was bejahen? Welche Schlußfolgerungen kann ich aus etwas ziehen, das ich nicht begreifen kann? Ich glaube, daß die Seele den Körper für die Aufrechterhaltung der Ordnung lange genug überlebt — wer weiß, ob es lange genug für ewig ist? Jedenfalls begreife ich, wie sich der Körper durch den Zerfall seiner Teile verbraucht und zerstört — aber eine solche Zerstörung des denkenden Wesens kann ich mir nicht vorstellen; und da ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie es sterben kann, nehme ich an, daß es nicht stirbt. Da diese Vermutung mich tröstet und nichts Unsinniges hat, warum sollte ich Bedenken haben, dabei zu bleiben?

Ich fühle meine Seele, ich erkenne sie durch das Gefühl und durch das Denken, ich weiß, daß sie existiert, ohne zu wissen welchen Wesens sie ist; über Vorstellungen, die ich nicht habe, kann ich nicht räsonieren. Aber ich weiß sehr gut, daß die Identität des Ich nur durch das Gedächtnis Dauer hat und daß ich, um wirklich der gleiche zu sein, mich daran erinnern muß, gewesen zu sein. Nach meinem Tod aber kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich in meinem Leben war, wenn ich mich nicht auch an das erinnere, was ich empfunden habe und, folglich, getan habe; und ich zweifle nicht daran, daß diese Erinnerung eines Tages die Glückseligkeit der Guten und die Qual der Bösen sein wird. Hienieden zehren tausend glühende Leidenschaften das innere Empfinden auf und halten das Gewissen zum Narren. Demütigungen und Ungnade, die die Ausübung der Tugend auf uns zieht, verhindern, daß wir all ihre Reize fühlen.

Wenn wir uns aber, erlöst von den Täuschungen, die uns Leib und Sinne bereiten, an der Betrachtung des höchsten Wesens und der ewigen Wahrheiten, deren Quelle es ist, erfreuen, wenn die Schönheit der Ordnung alle Kräfte unsrer Seele anrührt und wir uns einzig damit beschäftigen, das, was wir getan haben, mit dem, was wir hätten tun müssen, zu vergleichen, dann wird die Stimme des Gewissens ihre Kraft und ihre Herrschaft wiedergewinnen, dann wird die reine Wollust, die aus der Selbstgenügsamkeit entsteht, und die bittere Reue, sich erniedrigt zu haben, durch unerschöpfliches Gefühlserleben jedem das Los bestimmen, das er sich selbst bereitet hat.

Frage mich nicht, mein lieber Freund, ob es noch andere Quellen des Glücks und des Leids gibt — ich weiß es nicht; und die, die ich mir vorstelle, genügen mir, mich über dieses Leben zu trösten und mich ein anderes erhoffen zu lassen. Ich behaupte nicht, daß die Guten belohnt werden, denn welch ein anderes Gut kann ein auserwähltes Wesen erwarten, als das, seiner Natur gemäß zu existieren? Aber ich behaupte, daß sie glücklich sein werden, weil ihr Schöpfer, der Schöpfer aller Gerechtigkeit, sie, als er sie empfindungsfähig schuf, nicht zum Leiden geschaffen hat; sie, die niemals Mißbrauch trieben mit ihrer Freiheit auf Erden, sie, die ihrer Bestimmung nicht untreu wurden, sie haben dennoch gelitten in diesem Leben und werden darum in einem anderen dafür entschädigt werden. Dieses Gefühl gründet sich weniger auf die Verdienste des Menschen als auf die Vorstellung von Güte, die mir vom göttlichen Wesen untrennbar erscheint. Ich setze nur voraus, daß die Gesetze der Ordnung befolgt werden und Gott sich selbst gleich bleibe.

Frage mich auch nicht, ob die Qualen der Bösen ewig dauern werden; ich weiß es noch nicht, und die eitle Wißbegier, unnütze Fragen aufzuklären, ist mir nicht eigen. Was kümmert es mich, was aus den Bösen wird? Ihr Schicksal interessiert mich wenig. Dennoch kann ich kaum glauben, daß sie zu ewigen Qualen verurteilt sind. Wenn die höchste Gerechtigkeit sich rächt, rächt sie sich schon in diesem Leben. Ihr und eure Fehler, ihr Völker, seid ihre Diener. Sie benutzt die Übel, die ihr euch bereitet, euch für die Verbrechen zu strafen, die sie nach sich ziehen. In euren unersättlichen, von Neid, Geiz und Ehrgeiz zerfressenen Herzen, in eurem trügerischen Glück liegt die Strafe, womit die rächenden Leidenschaften eure Untaten strafen. Wozu die Hölle im Jenseits suchen? sie ist schon in diesem Leben in den Herzen der Bösen. S.578-581
Aus: Jean-Jaques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Matin Rang
Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau Reclams Universalbibliothek Nr. 901. © 1963 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages