Johann Gottfried von Herder (1744 - 1803)

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Christus
Die Gestalt Jesu

Siebzig Jahre vor dem Untergange des jüdischen Staates wurde in ihm ein Mann geboren, der sowohl in dem Gedankenreich der Menschen als in ihren Sitten und Verfassungen eine unerwartete Revolution bewirkt hat, Jesus. Arm geboren, ob er wohl vom alten Königshause seines Volkes abstammte, und im rohesten Teil seines Landes, fern von der gelehrten Weisheit seiner äußerst verfallenen Nation erzogen, lebte er die größte Zeit seines kurzen Lebens unbemerkt, bis er, durch eine himmlische Erscheinung am Jordan eingeweiht, zwölf Menschen seines Standes Schüler zu sich zog, mit ihnen einen Teil Judäas durchreiste und sie bald darauf selbst als Boten eines herannahenden neuen Reichs umher sandte. Das Reich, das er ankündigte, nannte er das Reich Gottes, ein himmlisches Reich, zu welchem nur auserwählte Menschen gelangen könnten, zu welchem er also auch nicht mit Auflegung äußerlicher Pflichten und Gebräuche, desto mehr aber mit einer Aufforderung zu reinen Geistes- und Gemütstugenden einlud. Die echteste Humanität ist in den wenigen Reden enthalten, die wir von ihm haben; Humanität ist‘s, was er im Leben bewies und durch seinen Tod bekräftigte; wie er sich denn selbst mit einem Lieblingsnamen den Menschensohn nannte. Daß er in seiner Nation, insonderheit unter den Armen und Gedrückten, viele Anhänger fand, aber auch von denen, die das Volk scheinheilig drückten, bald aus dem Wege geräumt ward, so daß wir die Zeit, in welcher er sich öffentlich zeigte, kaum bestimmt angeben können; beides war die natürliche Folge der Situation, in welcher er lebte.

Was war nun dies Reich der Himmel, dessen Ankunft Jesus verkündigte, zu wünschen empfahl und selbst zu bewirken strebte? Dass es keine weltliche Hoheit gewesen, zeigt jede seiner Reden und Taten, bis zu dem letzten klaren Bekenntnis, das er vor seinem Richter ablegte. Als ein geistiger Erretter seines Geschlechts wollte er Menschen Gottes bilden, die, unter welchen Gesetzen es auch wäre, aus reinen Grundsätzen andrer Wohl beförderten und selbst duldend im Reich der Wahrheit und Güte als Könige herrschten. Daß eine Absicht dieser Art der einzige Zweck der Vorsehung mit unserm Geschlecht sein könne, zu welchem auch, je reiner sie denken und streben, alle Weisen und Guten der Erde mitwirken müssen und mitwirken werden; dieses ist durch sich selbst klar: denn was hätte der Mensch für ein andres Ideal seiner Vollkommenheit und Glückseligkeit auf Erden, wenn es nicht diese allgemein-wirkende reine Humanität wäre?


Die Religion Jesu
Verehrend beuge ich mich vor deiner edlen Gestalt, du Haupt und Stifter eines Reichs von so großen Zwecken, von so dauerndem Umfange, von so einfachen, lebendigen Grundsätzen, von so wirksamen Triebfedern, dass ihm die Sphäre dieses Erdenlebens selbst zu enge schien. Nirgend finde ich in der Geschichte eine Revolution, die in kurzer Zeit so stille veranlaßt, durch schwache Werkzeuge auf eine so sonderbare Art, zu einer noch unabsehlichen Wirkung allenthalben auf der Erde angepflanzt und in Gutem und Bösem bebaut worden ist, als die sich unter dem Namen nicht deiner Religion, das ist deines lebendigen Entwurfs zum Wohl der Menschen, sondern größtenteils einer Religion an dich, das ist einer gedankenlosen Anbetung deiner Person und deines Kreuzes den Völkern mitgeteilt hat. Dein heller Geist sah dies selbst voraus; und es wäre Entweihung deines Namens, wenn man ihn bei jedem trüben Abfluss deiner reinen Quelle zu nennen wagte. Wir wollen ihn, so weit es sein kann, nicht nennen; vor der ganzen Geschichte, die von dir stammt, stehe deine stille Gestalt allein.
Aus: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (S.441f.)
R.Löwit, Wiesbaden

Der Ursprung des Christentums
So sonderbar es scheint, daß eine Revolution, die mehr als einen Weltteil der Erde betraf, aus dem verachteten Judäa hervorging: so finden sich doch, hei näherer Ansicht, hierzu historische Gründe. Die Revolution nämlich, die von hier ausging, war geistig; und so verächtlich Griechen und Römer von den Juden denken mochten: so blieb es ihnen doch eigen, daß sie vor andern Völkern Asiens und Europas aus alter Zeit Schriften besaßen, auf welche ihre Verfassung gebaut war und an welchen sich, dieser Konstitution zufolge, eine besondere Art Wissenschaft und Literatur ausbilden mußte. Weder Griechen noch Römer besaßen einen solchen Kodex religiöser und politischer Einrichtung, der, mit älteren geschriebenen Geschlechts-Urkunden verknüpft, einem eignen zahlreichen Stamm anvertraut war und von ihm mit abergläubischer Verehrung aufbewahrt wurde. Notwendig erzeugte sich aus diesen verjährten Buchstaben mit der Zeit eine Art feineren Sinnes, an welchen die Juden bei ihrer öfteren Zerstreuung unter andre Völker gewöhnt wurden. Im Kanon ihrer heiligen Schriften fanden sich Lieder, moralische Sprüche und erhabene Reden, die, zu verschiedenen Zeiten nach den verschiedensten Anlässen geschrieben, in eine Sammlung zusammenwuchsen, welche man bald als ein fortgehendes System betrachtete und aus ihr einen Hauptsinn zog. Die Propheten dieser Nation, die als konstituierte Wächter des Landesgesetzes, jeder im Umkreise seiner Denkart, bald lehrend und ermunternd, bald warnend oder tröstend, immer aber patriotisch hoffend dem Volk ein Gemälde hingestellt hatten, wie es sein sollte und wie es nicht war, hatten mit diesen Früchten ihres Geistes und Herzens der Nachwelt mancherlei Samenkörner zu neuen Ideen hinterlassen, die jeder nach seiner Art erziehen konnte. Aus allen hatte sich nach und nach das System von Hoffnungen auf einen König gebildet, der sein verfallendes, dienstbares Volk retten, ihm, mehr als seine alten größten Könige, goldene Zeiten verschaffen und eine neue Einrichtung der Dinge beginnen sollte. Nach der Sprache der Propheten waren diese Aussichten theokratisch; mit gesammelten Kennzeichen eines Messias wurden sie zum lebhaften Ideal ausgebildet und als Brief und Siegel der Nation betrachtet. In Judäa hielt das wachsende Elend des Volkes diese Bilder fest; in andern Ländern, zum Beispiel in Ägypten, wo seit dem Verfall der Monarchie Alexanders viele Juden wohnhaft waren, bildeten sich diese Ideen mehr nach griechischer Weise aus: apokryphische Bücher, die jene Weissagungen neu darstellten, gingen umher; und jetzt war die Zeit da, die diesen Träumereien auf ihrem Gipfel ein Ende machen sollte. Es erschien ein Mann aus dem Volk, dessen Geist, über Hirngespinste irdischer Hoheit erhaben, alle Hoffnungen, Wünsche und Weissagungen der Propheten zur Anlage eines idealistischen Reichs vereinigte, das nichts weniger als ein jüdisches Himmelreich sein sollte. Selbst den nahen Umsturz seiner Nation sah er in diesem höheren Plan voraus und weissagte ihrem prächtigen Tempel, ihrem ganzen zum Aberglauben gewordenen Gottesdienst ein schnelles trauriges Ende. Unter alle Völker sollte das Reich Gottes kommen, und das Volk, das solches eigentümlich zu besitzen glaubte, ward von ihm als ein verlebter Leichnam betrachtet.

Welche umfassende Stärke der Seele dazu gehörte, im damaligen Judäa etwas der Art anzuerkennen und vorzutragen, ist aus der unfreundlichen Aufnahme sichtbar, die diese Lehre bei den Obern und Weisen des Volks fand; man sah sie als einen Aufruhr gegen Gott und Moses, als ein Verbrechen der beleidigten Nation an, deren gesamte Hoffnungen sie unpatriotisch zerstörte. Auch den Aposteln war der Exjudaismus des Christentums die schwerste Lehre; und sie den christlichen Juden, selbst außerhalb Judäas, begreiflich zu machen, hatte der gelehrteste der Apostel, Paulus, alle Deutungen jüdischer Dialektik nötig. Gut, dass die Vorsehung selbst den Ausschlag gab und daß mit dem Untergange Judäas die alten Mauern gestürzt wurden, durch welche sich mit unerweichlicher Härte dies sogenannte Einzige Volk Gottes von allen Völkern der Erde schied. Die Zeit der einzelnen National- Gottesdienste voll Stolzes und Aberglaubens war vorüber: denn so notwendig dergleichen Einrichtungen in ältern Zeiten gewesen sein mochten, als jede Nation, in einem engen Familienkreise erzogen, gleich einer vollen Traube auf ihrer eignen Staude wuchs, so war doch, seit Jahrhunderten schon, in diesem Erdstrich fast alle menschliche Bemühung dahin gegangen, durch Kriege, Handel, Künste, Wissenschaften und Umgang die Völker zu verknüpfen und Früchte eines jeden zu einem gemeinsamen Trank zu keltern. Vorurteile der National-Religionen standen dieser Vereinigung am meisten im Wege; da nun beim allgemeinen Duldungsgeist der Römer in ihrem weiten Reich und bei der allenthalben verbreiteten eklektischen Philosophie (dieser sonderbaren Vermischung aller Schulen und Sekten) jetzt noch ein Volksglaube hervortrat, der alle Völker zu einem Volk machte und gerade aus der hartsinnigen Nation kam, welche sich sonst für die erste und einzige unter allen Nationen gehalten hatte: so war dies allerdings ein großer, zugleich auch ein gefährlicher Schritt in der Geschichte der Menschheit, je nachdem er getan wurde. Er machte alle Völker zu Brüdern, indem er sie einen Gott und Heiland kennen lehrte; er konnte sie aber auch zu Sklaven machen, sobald er ihnen diese Religion als Joch und Kette aufdrang. Die Schlüssel des Himmelreichs für diese und jene Welt konnten in den Händen andrer Nationen ein gefährlicherer Pharisäismus werden, als sie es in den Händen der Juden je gewesen waren.

Am meisten trug zur schnellen und starken Einwurzelung des Christentums ein Glaube bei, der sich vom Stifter der Religion selbst herschrieb; es war die Meinung von seiner baldigen Rückkunft und der Offenbarung seines Reichs auf Erden. Jesus hatte mit diesem Glauben vor seinem Richter gestanden, und ihn in den letzten Tagen seines Lebens oft wiederholt; an ihn hielten sich seine Bekenner und hofften auf die Erscheinung seines Reiches. Geistige Christen dachten sich dabei ein geistiges, fleischliche ein fleischliches Reich: und da die hochgespannte Einbildungskraft jener Gegenden und Zeiten nicht eben übersinnlich idealisierte, so entstanden jüdisch-christliche Apokalypsen, voll von mancherlei Weissagungen, Kennzeichen und Träumen. Erst sollte der Antichrist gestürzt werden, und als Christus wiederzukommen säumte, sollte jener sich erst offenbaren, sodann zunehmen und in seinen Greueln aufs höchste wachsen, bis die Errettung einbräche und der Wiederkommende sein Volk erquickte. Es ist nicht zu leugnen, daß Hoffnungen dieser Art zu mancher Verfolgung der ersten Christen Anlaß geben mußten: denn der Weltbeherrseherin Rom konnte es unmöglich gleichgültig sein, daß dergleichen Meinungen von ihrem nahen Unter-gange, von ihrer antichristlich-abscheulichen oder verachtenswerten Gestalt geglaubt wurden. Bald also wurden solche Propheten als unpatriotische Vaterlands- und Weltverächter, ja als des allgemeinen Menschenhasses überführte Verbrecher betrachtet; und mancher, der den Wiederkommenden nicht erwarten konnte, lief selbst dem Märtyrertum entgegen. Indessen ist es ebenso gewiß, daß diese Hoffnung eines nahen Reiches Christi im Himmel oder auf Erden die Gemüter stark aneinander band und von der Welt abschloß. Sie verachteten diese als eine, die im Argen liegt, und sahen, was ihnen so nahe war, schon vor und um sich. Dies stärkte ihren Mut, das zu überwinden, was niemand sonst überwinden konnte, den Geist der Zeit, die Macht der Verfolger, den Spott der Ungläubigen; sie weilten als Fremdlinge hier und lebten da, wohin ihr Führer vorangegangen war und von dannen er sich bald offenbaren würde.

Aus: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (S.442-444)
R.Löwit, Wiesbaden