Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818 - 1896)
Deutscher
Physiologe, Mathematiker und Philosoph, der sich erfolgreich mit
umfangreichen und fundamentalen Forschungen über die Elektrizität
bei Tieren beschäftigte, mehrere physikalische Versuchs- und Messgeräte
für elektrophysiologische Untersuchungen konstruierte und heute deshalb
als Begründer der Elektrophysiologie gilt. Du
Bois-Reymund war ein überzeugter Vertreter der Darwinschen
Lehre und suchte zusammen mit Helmholtz u.
a. - mittels der von ihnen vertretenen physikalisch-chemischen Richtung
der Physiologie - den Vitalismus zu überwinden. Von Bois-Reymond
stammen auch die Begriffe »Laplacescher
Geist« und »Welträtsel«. In seinem grundlegenden Vortrag »Grenzen des
Naturerkennens« hat er den oft zitierten Satz »Ignoramus
et ignorabimus« (»Wir wissen es nicht und werden es auch nicht
wissen«) geprägt. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Über die Grenzen des Naturerkennens
Die sieben Welträtsel
Über
die Grenzen des Naturerkennens
Vortrag, gehalten in der zweiten allgemeinen
Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig
am 14. August 1872.
In Nature’s infinite book of secrecy
A little I can read.
Antony
and Cleopatra.
Wie es einen Welteroberer der alten Zeit an einem Rasttag inmitten seiner Siegeszüge
verlangen konnte, die Grenzen seiner Herrschaft genau er festgestellt zu sehen,
um hier ein noch zinsfreies Volk zum Tribut heranzuziehen, dort in der Wasserwüste
ein seinen Reiterscharen unüberwindliches Hindernis und eine Schranke seiner
Macht zu erkennen: so wird es für die Weltbesiegerin unserer Tage, die
Naturwissenschaft, kein unangemessenes Beginnen sein, wenn sie bei festlicher
Gelegenheit von der Arbeit ruhend die wahren Grenzen ihres Reiches einmal klar
sich vorzuzeichnen versucht. Für um so gerechtfertigter halte ich dies
Unternehmen, als ich glaube, daß über die Grenzen
des Naturerkennens zwei Irrtümer weit verbreitet sind, und als ich
für möglich halte, solcher Betrachtung, trotz ihrer scheinbaren Trivialität,
auch für die, welche jene Irrtümer nicht teilen, einige neue Seiten
abzugewinnen.
Ich setze mir also vor, die Grenzen des Naturerkennens
aufzusuchen, und beantworte zunächst die Frage, was Naturerkennen sei.
Naturerkennen genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen
oder Erkennen der Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft
— ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt
auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte
bewirkt werden, oder Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.
Es ist psychologische Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung
gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich befriedigt
fühlt. Die Sätze der Mechanik sind mathematisch darstellbar, und tragen
in sich dieselbe apodiktische Gewissheit wie die Sätze der Mathematik.
Indem die Veränderungen in der Körperwelt auf eine konstante Summe
von Spannkräften und lebendigen Kräften, oder von potentieller und
kinetischer Energie zurückgeführt werden, welche einer konstanten
Menge von Materie anhaftet, bleibt in diesen Veränderungen selber nichts
zu erklären übrig.
KANTS Behauptung in der Vorrede zu den
Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft,
»daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft
angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen
sei« —
ist also vielmehr noch dahin zu verschärfen, daß für Mathematik
Mechanik der Atome gesetzt wird. Sichtlich dies meinte er selber, als er der
Chemie den Namen einer Wissenschaft absprach, und sie unter die Experimentallehren
verwies. Es ist nicht wenig merkwürdig, daß in unserer Zeit die Chemie,
indem die Entdeckung der Substitution sie zwang, den elektrochemischen Dualismus
aufzugeben, sich von dem Ziel, eine Wissenschaft in diesem Sinne zu werden,
scheinbar wieder weiter entfernt hat.
Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegungen
von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentralkräfte bewirkt
werden, so wäre das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. Der Zustand
der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung
ihres Zustandes während des vorigen und als unmittelbare Ursache ihres
Zustandes während des folgenden Zeitdifferentiales. Gesetz und Zufall wären
nur noch andere Namen für mechanische Notwendigkeit. Ja es läßt
eine Stufe der Naturerkenntnis sich denken, auf welcher der ganze Weltvorgang
durch eine mathematische Formel vorgestellt würde, durch ein unermeßliches
System simultaner Differentialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung
und Geschwindigkeit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäbe.
»Ein Geist,«sagt
LAPLACE,
»der für einen gegebenen Augenblick
alle Kräfte kennte, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage
der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um
diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die
Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms
begreifen: nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit
wäre seinem Blick gegenwärtig. Der menschliche Verstand bietet in
der Vollendung, die er der Astronomie zu geben gewußt hat, ein schwaches
Abbild solchen Geistes dar.«
In der Tat, wie der Astronom nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen
negativen Wert zu erteilen braucht, um zu ermitteln, ob, als PERIKLES
nach Epidaurus sich einschiffte, die Sonne für den Piräeus
verfinstert ward, so könnte der von LAPLACE
gedachte Geist durch geeignete Diskussion seiner Weltformel uns
sagen, wer die eiserne Maske war oder wie der »President«
zugrunde ging. Wie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet
aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse
jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das griechische Kreuz von der
Sophienmoschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird.
Setzte er in der Weltformel t = — unendlich,
so enthüllte sich ihm der rätselhafte Urzustand der Dinge. Er sähe
im unendlichen Raume die Materie entweder schon bewegt, oder ruhend und ungleich
verteilt, da bei gleicher Verteilung das labile Gleichgewicht nie gestört
worden wäre. Ließe er t im positiven Sinn
unbegrenzt wachsen, so erführe er, nach wie langer Zeit CARNOTS
Satz das Weltall mit eisigem Stillstande bedroht. Solchem Geiste wären
die Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling
zur Erde. Ein vor- und rück¬wärts gewandter Prophet, wäre
ihm, wie D’ALEMBERT, LAPLACES Gedanken im
Keime hegend, in der Einleitung zur Enzyklopädie sich ausdrückte,
»das Weltganze nur eine einzige Tatsache und eine große Wahrheit.«
Auch bei LEIBNIZ findet sich schon der LAPLACESche
Gedanke, ja in gewisser Beziehung weiter entwickelt als bei LAPLACE,
sofern LEIBNIZ jenen Geist auch mit Sinnen und
mit technischem Vermögen von entsprechender Vollkommenheit ausgestattet
sich denkt. PIERRE BAYLE hatte gegen die Lehre von
der prästabilierten Harmonie eingewendet,
sie mache für den menschlichen Körper eine Voraussetzung ähnlich
der eines Schiffes, das durch eigene Kraft dem Hafen zusteuere.
LEIBNIZ erwidert, dies sei gar nicht so unmöglich,
wie BAYLE meine.
»Es ist kein Zweifel,« sagt er, »daß
ein Mensch eine Maschine machen könnte, fähig einige Zeit in einer
Stadt sich umher zu bewegen und genau an gewissen Straßenecken einzubiegen.
Ein unvergleichlich vollkommnerer, obwohl beschränkter Geist könnte
auch eine unvergleichlich größere Anzahl von Hindernissen vorhersehen
und ihnen ausweichen. So wahr ist dies, daß wenn, wie einige glauben,
diese Welt nur aus einer endlichen Anzahl nach den Gesetzen der Me¬chanik
sich bewegender Atome bestände, es gewiß ist, daß ein endlicher
Geist erhaben genug sein könnte, um alles, was zu bestimmter Zeit darin
geschehen muß, zu begreifen und mit mathematischer Gewißheit vorherzusehen;
so daß dieser Geist nicht nur ein Schiff bauen könnte, das von selber
einem gegebenen Hafen zusteuerte, wenn ihm einmal die gehörige innere Kraft
und die Richtung erteilt wäre, sondern er könnte sogar einen Körper
bilden, der die Handlungen eines Menschen nachmachte.«
Es braucht nicht gesagt zu werden, daß der menschliche Geist von dieser
vollkommenen Naturerkenntnis stets weit entfernt bleiben wird. Um den Abstand
zu zeigen, der uns sogar von deren ersten Anfängen trennt, genügt
eine Bemerkung. Ehe die Differentialgleichungen der Weltformel angesetzt werden
könnten, müßten alle Naturvorgange auf Bewegungen eines substantiell
unterschiedslosen, mithin eigenschaftslosen Substrates dessen zurückgeführt
sein, was uns als verschiedenartige Materie erscheint, mit anderen Worten,
alle Qualität müßte aus Anordnung und Bewegung solchen Substrates
erklärt sein …
Daß es in Wirklichkeit keine Qualitäten gibt, folgt aus der Zergliederung
unserer Sinneswahrnehmungen. Nach unseren jetzigen Vorstellungen findet in allen
Nervenfasern, welche Wirkung sie auch schließlich hervorbringen, derselbe,
nach beiden Richtungen sich ausbreitende, nur der Intensität nach veränderliche
Molekularvorgang statt. In den Sinnesnerven wird dieser Vorgang eingeleitet
durch die für Aufnahme äußerer Eindrücke verschiedentlich
eingerichteten Sinneswerkzeuge; in den Muskel-, Drüsen-, elektrischen,
Leuchtnerven durch unbekannte Ursachen in den Ganglienzellen der Zentren.
Der Idee nach müßte ein Stück Sehnerv mit einem Stück eines
elektrischen Nerven, bei gehöriger Rücksicht auf ihre physiologische
Wirkungsrichtung, Faser für Faser ohne Störung vertauscht werden können;
nach Einheilung der Stücke würden Sehnerv und elektrischer Nerv richtig
leiten. Vollends zwei Sinnesnerven würden einander ersetzen. Bei übers
Kreuz verheilten Seh- und Hörnerven hörten wir, wäre der Versuch
möglich, mit dem Auge den Blitz als Knall, und sähen mit dem Ohr den
Donner als Reihe von Lichteindrücken.
Die Sinnesempfindung als solche entsteht also erst in den Sinnsubstanzen, wie
JOHANNES MÜLLER die zu den Sinnesnerven gehörigen
Hirnprovinzen nannte, von welchen jetzt Hr. HERMANN MUNK
einen Teil in der Großhirnrinde als Sehsphäre, Hörsphäre
usw. unterschied. Die Sinnsubstanzen sind es, welche die in allen Nerven gleichartige
Erregung überhaupt erst in Sinnesempfindung übersetzen, und als die
wahren Träger der »spezifischen Energien«
JOHANNES MÜLLERS je nach ihrer Natur
die verschiedenen Qualitäten erzeugen. Das mosaische:
»Es ward Licht« ist physiologisch falsch. Licht ward erst,
als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmal Hell und Dunkel
unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsinnsubstanz
wäre diese farbenglühende, tönende Welt um uns her finster und
stumm.
Und stumm und finster an sich, d. h. eigenschaftslos, wie sie aus der subjektiven
Zergliederung hervorgeht, ist die Welt auch für die durch objektive Betrachtung
gewonnene mechanische Anschauung, welche statt Schall und Licht nur Schwingungen
eines eigenschaftslosen, dort als wägbare, hier als scheinbar
unwägbare Materie sich darbietenden Urstoffes kennt.
Aber wie wohlbegründet diese Vorstellungen im allgemeinen auch sind, zu
ihrer Durchführung im einzelnen fehlt noch so gut wie alles. Der Stein
der Weisen, der die heute noch unzerlegten Stoffe ineinander umwandelte und
aus höheren Grundstoffe, wenn nicht dem Urstoff selber, erzeugte, müßte
gefunden sein, ehe die ersten Vermutungen über Entstehung scheinbar verschiedenartiger
aus in Wirklichkeit eigenschafts-, also unterschiedsloser
Materie möglich würden: unserer achtundsechzig Elemente, deren
weitere Vermehrung uns so wenig aufzuregen pflegt wie die der kleinen Planeten,
aus der »Hyle«. Gewiß ist Hrn.
LOTHAR MEYERS und Hrn. MENDELEJEFFS periodisches
System der Elemente ein mächtiger Schritt in dieser Richtung, welcher aber
zunächst nur dazu dient uns zu zeigen, wie weit wir noch von der ersehnten
Einsicht entfernt sind.
Der oben geschilderte Geist — er heiße fortan kurz der
LAPLACEsche Geist — würde dagegen diese Einsicht
vollendet besitzen, und danach könnte es scheinen, als sei zwischen ihm
und uns kein Vergleich möglich. Doch ist der menschliche Geist vom
LAPLACEschen Geiste nur gradweise verschieden, etwa wie eine bestimmte
Ordinate einer von Null ins Unendliche ansteigenden Kurve von einer zwar ausnehmend
viel größeren, jedoch noch endlichen Ordinate derselben Kurve. Wir
gleichen diesem Geist, denn wir begreifen ihn. Ja es ist die Frage. ob ein Geist
wie NEWTONs von dem LAPLACEschen
Geiste sich viel mehr unterscheidet, als vom Geiste
NEWTONS der Geist eines Australnegers, der nur bis drei, eines Buschmannes,
der nur bis zwei zählt, oder eines Chiquitos, der gar keine Zahlwörter
besitzt. Mit anderen Worten, die Unmögichkeit, die Differentialgleichungen
der Weltformel aufzustellen, zu integrieren und das Ergebnis zu diskutieren,
ist keine in der Natur der Dinge begründete, sondern beruht auf der Unmöglichkeit,
die nötigen tatsächlichen Bestimmungen zu erlangen, und, auch wenn
dies möglich wäre, auf deren unermeßlicher,
vielleicht unendlicher Ausdehnung, ihrer Mannigfaltigkeit und Verwickelung.
Das Naturerkennen des LAPLACEschen Geistes stellt
somit die höchste denkbare Stufe unseres eigenen Naturerkennens vor, und
bei der Untersuchung über die Grenzen dieses Erkennens können wir
jenes zugrunde legen. Was der LAPLACEsche Geist
nicht zu durchschauen vermöchte, das wird vollends unserem in so viel engeren
Schranken eingeschlossenen Geiste verborgen bleiben.
Zwei Stellen sind es nun, wo auch der LAPLACEsche Geist
vergeblich trachten würde weiter vorzudringen, vollends wir stehen
zu bleiben gezwungen sind.
Erstens nämlich ist daran zu erinnern, daß das Naturerkennen, welches
vorher als unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig befriedigend
bezeichnet wurde, in Wahrheit dies nicht tut, und kein Erkennen ist. Die Vorstellung,
wonach die Welt aus stets dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen
besteht, deren Zentralkräfte alle Bewegung erzeugen,
ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung. Sie führt, wie bemerkt,
alle Veränderungen in der Körperwelt auf eine
konstante Menge von Materie und ihr anhaftender Bewegungskraft zurück,
und läßt an den Veränderungen selber also nichts zu erklären
übrig, denn was stets da war, kann nur Ursache, nicht Wirkung sein. Bei
dem gegebenen Dasein jenes Konstanten können wir, der gewonnenen Einsicht
froh, eine Zeitlang uns beruhigen; bald aber verlangen wir tiefer einzudringen
und es seinem Wesen nach zu begreifen. Da ergibt sich denn bekanntlich, daß
zwar die atomistische Vorstellung für den Zweck unserer physikalisch -
mathematischen Überlegungen brauchbar, ja mitunter unentbehrlich ist, daß
sie aber, wenn die Grenzen der an sie zu stellenden Forderungen überschritten
werden, als Korpuskularphilosophie in unlösliche
Widersprüche führt.
Ein physikalisches Atom, d. h. eine im Vergleich zu den Körpern, die wir
handhaben, verschwindend klein gedachte, aber trotz ihrem Namen in der Idee
noch teilbare Masse, welcher Eigenschaften oder ein Bewegungszustand zugeschrieben
werden, wodurch das Verhalten einer aus unzähligen solchen Atomen bestehenden
Masse sich erklärt, ist eine in sich folgerichtige und unter Umständen,
beispielsweise in der Chemie, der mechanischen Gastheorie, äußerst
nützliche Fiktion. In der mathematischen Physik wird übrigens deren
Gebrauch neuerlich möglichst vermieden, indem man, statt auf diskrete Atome,
auf Volumelemente der kontinuierlich gedachten Körper zurückgeht.
Ein philosophisches Atom dagegen. d. h. eine angeblich nicht
weiter teilbare Masse trägen wirkungslosen Substrates, von welcher
durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte ausgehen, ist bei näherer
Betrachtung ein Unding.
Denn soll das nicht weiter teilbare, träge, an sich unwirksame Substrat
wirklichen Bestand haben, so muß es einen gewissen noch
so kleinen Raum erfüllen. Dann ist nicht zu begreifen, warum es
nicht weiter teilbar sei. Auch kann es den Raum nur erfüllen, wenn es vollkommen
hart ist, d. h. indem es durch eine an seiner Grenze auftretende, aber nicht
darüber hinaus wirkende abstoßende Kraft, welche alsbald größer
wird, als jede gegebene Kraft, gegen Eindringen eines anderen Körperlichen
in denselben Raum sich wehrt. Abgesehen von anderen Schwierigkeiten, welche
hieraus entspringen, ist das Substrat alsdann kein wirkungsloses mehr.
Denkt man sich umgekehrt mit den Dynamisten als Substrat nur den geometrischen
Mittelpunkt der Zentralkräfte, so erfüllt das Substrat den Raum nicht
mehr, denn der Punkt ist die im Raume vorgestellte Negation des Raumes. Dann
ist nichts mehr da, wovon die Zentralkräfte ausgehen, und was träg
sein könnte, gleich der Materie.
Durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte sind an sich unbegreiflich,
ja widersinnig, und erst seit NEWTONS Zeit, durch
Mißverstehen seiner Lehre und gegen seine ausdrückliche Warnung,
den Naturforschern eine geläufige Vorstellung geworden. Denkt man sich
mit DESCARTES und LEIBNIZ
den ganzen Kaum erfüllt, und alle Bewegung durch Übertragung in Berührungsnähe
erzeugt, so ist zwar das Entstehen der Bewegung auf ein unserer sinnlichen Anschauung
vertrautes Bild zurückgeführt, aber es stellen sich andere Schwierigkeiten
ein. Unter anderem war es bei dieser Vorstellung bisher unmöglich, die
verschiedene Dichte der Körper aus verschiedener Zusammenfügung des
gleichartigen Urstoffes zu erklären.
Es ist leicht, den Ursprung dieser Widersprüche aufzudecken. Sie wurzeln
in unserem Unvermögen, etwas anderes, als mit den äußeren Sinnen
entweder, oder mit dem inneren Sinn Erfahrenes uns vorzustellen. Bei dem Bestreben,
die Körperwelt zu zergliedern, gehen wir aus von der Teilbarkeit der Materie,
da sichtlich die Teile etwas Einfacheres und Ursprünglicheres sind, als
das Ganze. Fahren wir in Gedanken mit Teilung der Materie immer weiter fort,
so bleiben wir mit unserer Anschauung in dem uns angewiesenen Geleise und fühlen
uns in unserem Denken unbehindert.
Zum Verständnis der Dinge tun wir keinen Schritt, da wir in der Tat nur
das im Bereiche des Großen und Sichtbaren Erscheinende auch im Bereiche
des Kleinen und Unsichtbaren uns vorstellen. Wir kommen so zum Begriffe des
physikalischen Atoms. Hören wir nun aber willkürlich
irgendwo mit der Teilung auf, bleiben wir stehen bei vermeintlichen philosophischen
Atomen, die nicht weiter teilbar, an sich wirkungslos, und doch vollkommen
hart und Träger fernwirkender Zentralkräfte sein sollen: so verlangen
wir, daß eine Materie, die wir uns unter dem Bilde der Materie denken,
wie wir sie handhaben, neue, ursprüngliche, ihr eigenes Wesen aufklärende
Eigenschaften entfalte, und dies ohne daß wir irgend ein neues Prinzip
einführten. So begehen wir den Fehler, der durch die vorher bloßgelegten
Widersprüche sich äußert.
Niemand, der etwas tiefer nachgedacht hat, verkennt die transzendente Natur
des Hindernisses, das hier sich uns entgegenstellt. Wie man es auch zu umgehen
versuche, in der einen oder anderen Form stößt man darauf. Von welcher
Seite, unter welcher Deckung man ihm sich nähere, man erfährt seine
Unbesiegbarkeit. Die alten ionischen Physiologen standen davor nicht ratloser
als wir. Alle Fortschritte der Naturwissenschaft haben
nichts dawider vermocht, alle ferneren werden dawider nichts fruchten. Nie
werden wir besser als heute wissen, was, wie PAUL ERMAN
zu sagen pflegte, »hier«, wo
Materie ist, »im Raume spukt«. Denn
sogar der LAPLACEsche, über den unseren so
weit erhabene Geist würde in diesem Punkte nicht klüger sein als wir,
und daran erkennen wir verzweifelnd, daß wir hier an der einen Grenze
unseres Witzes stehen.
Übrigens böte die materielle Welt diesem Geiste noch ein unlösbares
Rätsel. Zwar würde, wie wir sahen, seine Formel ihm den
Urzustand der Dinge enthüllen. Träfe er aber die Materie vor
unendlicher Zeit im unendlichen Raume ruhend und ungleich verteilt an, so wüßte
er nicht, woher die ungleiche Verteilung; träfe er sie schon bewegt an,
so wüßte er nicht, woher die Bewegung, welche ihm nur als zufälliger
Zustand der Materie erscheint. In beiden Fällen bliebe sein Kausalitätsbedürfnis
unbefriedigt. Vielleicht, ja wahrscheinlich, ist die schon von ARISTOTELES
erörterte Frage nach dem Anfang der Bewegung
einerlei mit der nach dem Wesen von Materie und
Kraft. Weder läßt sich dies beweisen, noch wäre dem LAPLACEschen
Geist damit geholfen, da eben das Wesen von Materie
und Kraft ihm verschlossen bleibt.
Sehen wir aber von dem allen ab, setzen wir die bewegte Materie als gegeben
voraus, so ist in der Idee, wie gesagt, die Körperwelt verständlich.
Seit unendlicher Zeit geht im unendlichen Raume Verdichtung der scheinbar sich
anziehenden Materie vor sich. Als verschwindender Punkt irgendwo im Weltall
ballt sich dabei auch der kreisende Nebel zusammen, aus welchem die von Hrn.
VON HELMHOLTZ mittels der mechanischen Wärmetheorie weiter geführte
KANTsche Hypothese unser Planetensystem mit seiner erschöpfbaren,
nie wiederkehrenden Wärmemitgift werden läßt. Schon sehen wir
unsere Erde als feurig flüssigen Tropfen, umhüllt mit einer Atmosphäre
von unvorstellbarer Beschaffenheit, in ihrer Bahn rollen. Wir sehen sie im Lauf
unermeßlicher Zeiträume mit einer Rinde erstarrenden Urgesteines
sich umgeben, Meer und Veste sich scheiden, den Granit, durch heiße kohlensaure
Wolkenbrüche zerfressen, das Material zu kalihaltigen Erdschichten
liefern, und schließlich Bedingungen entstehen, unter denen Leben möglich
ward.
Wo und in welcher Form es auf Erden zuerst erschien, oh als Protoplasmaklümpchen
im Meer, oder ob an der Luft unter Mitwirkung der noch mehr ultraviolette Strahlen
entsendenden Sonne bei noch höherem Kohlensäuregehalt der Atmosphäre;
ob von anderen Weltkörpern her Lebenskeime zu uns herüberflogen; wer
sagt es je? Aber der LAPLACEsche Geist im
Besitze der Weltformel könnte es sagen. Denn beim
Zusammentreten unorganischen Stoffes zu Lebendigem handelt es sich zunächst
nur um Bewegung, um Anordnung von Molekeln in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen,
und um Einleitung eines Stoffwechsels, teils durch von außen überkommene
Bewegung, teils durch Spannkräfte der mit Molekeln der Außenwelt
in Wechselwirkung tretenden Molekeln des Lebewesens.
Was das Lebende vom Toten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen
Funktionen betrachtete Tier vom Kristall unterscheidet, ist zuletzt dieses:
im Kristall befindet sich die Materie in stabilem Gleichgewichte, während
durch das Lebewesen ein Strom von Materie sich ergießt, die Materie darin
in mehr oder minder vollkommenem dynamischen Gleichgewichte sich befindet, mit
bald positiver, bald der Null gleicher, bald negativer Bilanz. Daher ohne Einwirkung
äußerer Massen und Kräfte der Kristall ewig bleibt was er ist,
dagegen das Lebewesen in seinem Bestehen von gewissen äußeren Bedingungen,
den integrierenden oder Lebensreizen der älteren Physiologie, abhängt,
und einem zeitlichen Verlauf unterliegt, aber auch fähig wird, kinetische
in potentielle Energie, diese in jene nach Bedürfnis zu verwandeln.
So werden durch diese grundlegende Verschiedenheit zwischen den Individuen der
toten und denen der lebenden Natur die Vorgänge in letzteren dem Gesetz
der Erhaltung der Energie untertan. Neben ihr verschwinden an Bedeutung, sofern
sie nicht darin aufgehen, die von ERNST HEINRICH WEBER scharfsinnig ausgedachten, die beiden Klassen von Individuen mehr äußerlich
trennenden Merkmale. Den sonst vom
Vitalismus hervorgehobenen Unterschieden, der angeblich höheren Unbegreiflichkeit
und Unnachahmlichkeit der Lebewesen, ihrer Zweckmäßigkeit, verschiedenen
Reaktion und Unteilbarkeit liegt meist unrichtige Auffassung zugrunde.
Was insbesondere die Unteilbarkeit betrifft, so beruht zwar die sogenannte Teilbarkeit
mancher Organismen nur auf einem weitreichenden Regenerationsvermögen.
Doch sind in der Idee Lebewesen nach Art der Kristalle teilbar in konstituierende
Elementarorganismen, so daß sie kaum noch Individuen heißen dürften;
andererseits sind Maschinen unteilbar nach Art der Lebewesen, da in beiden die
Wirkung des Ganzen die der Teile, die Wirkung der Teile die des Ganzen bedingt.
So erklärt sich ohne grundsätzliche Verschiedenheit
der Kräfte im Kristall und im Lebewesen, ohne Lebenskraft in irgend einer
Form oder Verkleidung, daß beide miteinander inkommensurabel sind wie
ein in lauter ähnliche Werkstücke spaltbares Bauwerk und eine Maschine,
und somit ist für den Forscher kein Grund vorhanden, zwischen beiden Reichen
jene absoluten Schranken gelten zu lassen, wie sie der unbefangene Menschensinn
freilich allerorten und jederzeit erblickt hat und erblicken wird, und wie eine
erst in unseren Tagen abgelaufene Periode der Wissenschaft sie zum Dogma erhob.
Es ist daher ein Missverständnis, im ersten Ercheinen lebender Wesen
auf Erden oder auf einem anderen Weltkörper etwas Supernaturalistisches,
etwas anderes zu sehen, als ein überaus schwieriges mechanisches Problem.
Von den beiden Irrtümern, auf die ich hinweisen wollte, ist dies der eine,
und ich halte nicht für geboten, von Ewigkeit her gleichsam eine
kosmische Panspermie [Theorie
von der Entstehung des Lebens auf der Erde durch Keime von anderen Planeten]
anzunehmen. Nicht hier ist die andere Grenze des Naturerkennens;
hier nicht mehr als in der Kristallbildung. Könnten wir die Bedingungen
herstellen, unter denen einst Lebewesen entstanden, wie wir dies für gewisse,
nicht für alle Kristalle können, so würden nach dem Prinzipe
des Aktualismus wie damals auch heute Lebewesen entstehen. Sollte es aber auch
nie gelingen, Urzeugung zu beobachten, geschweige
sie im Versuch herbeizuführen, so wäre doch hier kein unbedingtes
Hindernis.
Wären uns Materie und Kraft verständlich, die Welt hörte nicht auf begreiflich zu sein, auch wenn wir uns die Erde (um
nur sie zu nennen) von ihrem äquatorialen Smaragdgürtel bis
zu den letzten fechtengrauen Polarklippen mit der üppigsten Fülle
von Pflanzenleben überwuchert denken, gleichviel welchen Anteil an der
Gestaltung des Pflanzenreiches man organischen Bildungsgesetzen, welchen der
natürlichen Zuchtwahl einräume. Nur die zur Befruchtung vieler Pflanzen
als unentbehrlich erkannte Beihilfe der Insektenwelt müssen wir aus Gründen,
die bald einleuchten werden, in dieser Betrachtung beiseite lassen. Sonst bietet
das reichste, von BERNARDIN DR SAINT-PIERRE, ALEXANDER
VON HUMBOLDT oder PÖPPIG entworfene Gemälde
eines tropischen Urwaldes dem Blicke der theoretischen Naturforschung nichts
dar, als auf bestimmte Weise angeordnete oder bewegte
Materie.
Allein es tritt nunmehr, an irgendeinem Punkt der Entwickelung des Lebens auf
Erden, den wir nicht kennen und auf dessen Bestimmung es hier nicht ankommt,
etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, etwas wiederum,
gleich dem Wesen von Materie und Kraft, und gleich der ersten Bewegung Unbegreifliches.
Der in negativ unendlicher Zeit angesponnene Faden des Verständnisses
zerreisst, und unser Naturerkennen gelangt an eine Kluft, über die
kein Steg, kein Fittig trägt: wir stehen an der anderen
Grenze unseres Witzes.
Dies neue Unbegreifliche ist das Bewusstsein. Ich
werde jetzt, wie ich glaube, in sehr zwingender Weise dartun, daß nicht
allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das Bewusstsein aus
seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt,
sondern dass es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nie
erklärbar sein wird. Die entgegengesetzte Meinung, dass nicht alle
Hoffnung aufzugeben sei, das Bewusstsein aus seinen
materiellen Bedingungen zu begreifen, dass dies vielmehr im Laufe
der Jahrhunderte oder Jahrtausende dem alsdann in ungeahnte Reiche der Erkenntnis
vorgedrungenen Menschengeiste wohl gelingen könne: dies ist der zweite
Irrtum, den ich in diesem Vortrage bekämpfen will.
Ich gebrauche dabei absichtlich den Ausdruck »Bewußtsein«,
weil es hier nur um die Tatsache eines geistigen Vorganges irgendeiner, sei
es der niedersten Art, sich handelt. Man braucht nicht NEWTON oder LEIBNIZ die Infinitesimalrechnung erfindend,
nicht JAMES WATT vor seinem inneren Auge sein Parallelogramm
in Gang setzend, nicht SHAKESPEARE, RAFFAEL, MOZART in
der wunderbarsten ihrer Schöpfungen begriffen sich vorzustellen, um das
Beispiel eines aus seinen materiellen Bedingungen unerklärbaren geistigen
Vorganges zu haben. In der Hauptsache ist die erhabenste Seelentätigkeit
nicht unbegreiflicher aus materiellen Bedingungen. als das Bewußtsein
auf seiner ersten Stufe, der Sinnesempfindung. Mit der ersten Regung von Behagen
oder Schmerz, die im Beginn des tierischen Lebens auf Erden ein einfachstes
Wesen empfand, oder mit der ersten Wahrnehmung einer Qualität,
ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt, und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich
geworden.
Über wenig Gegenstände wurde annaltender nachgedacht, mehr geschrieben,
leidenschaftlicher gestritten, als über Verbindung
von Leib und Seele im Menschen. Alle philosophischen Schulen, dazu die
Kirchenväter, haben darüber ihre Lehrmeinungen gehabt. Die neuere
Philosophie kümmert sich weniger um diese Frage; um so reicher sind deren
Anfänge im siebzehnten Jahrhundert an Theorien über die Wechselwirkung von Materie und Geist.
DESCARTES selber hatte sich die Möglichkeit, diese Wechselwirkung
zu begreifen, durch zwei Aufstellungen vorweg abgeschnitten.
Erstens behauptete er, dass Körper und Geist verschiedene Substanzen,
durch Gottes Allmacht
vereinigt, seien, welche, da der Geist als unkörperlich keine Ausdehnung habe, nur in einem Punkt und zwar in der sogenannten Zirbeldrüse des Gehirnes, einander berühren.
Er behauptete zweitens, dass die im Weltall vorhandene Bewegungsgröße
beständig sei. Je sicherer daraus die Unmöglichkeit zu folgen scheint,
dass die Seele Bewegung der Materie erzeuge, um so mehr erstaunt man, wenn
nun DESCARTES, um die Willensfreiheit zu retten,
die Seele einfach die Zirbeldrüse in dem nötigen Sinne bewegen lässt,
damit die tierischen Geister, wir würden sagen, das Nervenprinzip, den
richtigen Muskeln zuströmen. Umgekehrt die durch Sinneseindrücke erregten
tierischen Geister bewegen die Zirbeldrüse,
und die mit dieser verbundene Seele merkt die Bewegung.
DESCARTES‘ unmittelbare Nachfolger, CLAUBERG,
MALEBRANCHE, GEULINCX,
bemühen sich, einen so offenbaren Missgriff zu verbessern. Sie halten
fest an der Unmöglichkeit einer Wechselwirkung von Geist und Materie, als
von zwei verschiedenen Substanzen. Um aber zu verstehen, wie dennoch die Seele
den Körper bewege, und umgekehrt von ihm erregt werde, nehmen sie an, daß
das Wollen der Seele Gott veranlasse, den Körper
jedesmal nach Wunsch der Seele zu bewegen, und daß umgekehrt
die Sinneseindrücke ihn veranlassen, die Seele jedesmal in Übereinstimmung
damit zu verändern. Die Causa efficiens
der Veränderungen des Körpers durch die Seele und der Seele durch
den Körper ist also stets nur Gott; das Wollen der Seele und die Sinneseindrücke
sind nur die Causae occasionales für
die unaufhörlich erneuten Eingriffe seiner Allmacht.
LEIBNIZ endlich pflegte dies Problem mittels des
von GEULINCX zuerst darauf angewandten Bildes
zweier Uhren zu erläutern, die gleichen Gang zeigen sollen. Auf
dreierlei Art, sagt er, könne dies geschehen.
Erstens können beide Uhren durch Schwingungen, die sie einer gemeinsamen
Befestigung mitteilen, einander beeinflussen, daß ihr Gang derselbe werde,
wie dies HUYGENS beobachtet habe.
Zweitens könne stets die eine Uhr gestellt werden, um sie in gleichem Gange
mit der anderen zu halten.
Drittens könne von vornherein der Künstler so geschickt gewesen sein,
dass er beide Uhren. obschon ganz unabhängig voneinander, gleichgehend
gemacht habe.
Zwischen Leib und Seele sei die erste Art der Verbindung anerkannt unmöglich.
Die zweite, der okkasionalistischen Lehre entsprechende, sei Gottes unwürdig,
den sie als Deus ex machina missbrauche.
So bleibe nur die dritte übrig, in der man LEIBNIZ‘
eigene Lehre von der prästabilierten Harmonie
wiedererkennt.
Allein diese und ähnliche Betrachtungen sind in den Augen der neueren Naturforschung
entwertet und der Wirkung auf die heutigen Ansichten beraubt durch die dualistische
Grundlage, auf welche sie, gemäß ihrem halb theologischen Ursprunge,
gleich anfangs sich stellen, Ihre Urheber gehen aus von der Annahme einer vom
Körper unbedingt verschiedenen geistigen Substanz, der Seele, deren Verbindung
mit dem Körper sie untersuchen. Sie fanden, daß eine Verbindung beider
Substanzen nur durch ein Wunder möglich ist, und daß, auch nach diesem
ersten Wunder, ein ferneres Zusammengehen beider Substanzen nicht anders stattfinden
kann, als wiederum durch ein entweder stets erneutes oder
seit der Schöpfung fortwirkendes Wunder.
Diese Folge nun geben sie für eine neue Einsicht aus, ohne hinreichend
zu prüfen. ob nicht sie selber vielleicht sich die Seele erst so zurechtgemacht
haben, daß eine Wechselwirkung zwischen ihr und dem Körper undenkbar
ist. Mit einem Wort, der gelungenste Beweis, daß keine Wechselwirkung
von Körper und Seele möglich sei. lässt dem Zweifel Raum,
ob nicht die Prämissen willkürliche seien, und ob nicht Bewusstsein
einfach als Wirkung der Materie gedacht und vielleicht begriffen werden könne.
Für den Naturforscher muß daher der Beweis, dass die geistigen
Vorgänge aus ihren materiellen Bedingungen nie zu begreifen sind, unabhängig
von jeder Voraussetzung über den Urgrund jener Vorgänge
geführt werden.
Ich nenne astronomische Kenntnis eines materiellen Systemes solche Kenntnis
aller seiner Teile, ihrer gegenseitigen Lage und ihrer Bewegung, daß ihre
Lage und Bewegung zu irgendeiner vergangenen und zukünftigen Zeit mit derselben
Sicherheit berechnet werden kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper
bei vorausgesetzter unbedingter Schärfe der Beobachtungen und Vollendung
der Theorie. Dazu gehört, dass man kenne
1. die Gesetze, nach welchen die zwischen den Teilen des Systemes wirksamen
Kräfte sich mit der Entfernung ändern;
2. die Lage der Teile des Systemes in zwei durch ein Zeitdifferential getrennten
Augenblicken, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Lage der Teile und
ihre nach drei Achsen zerlegte Geschwindigkeit zu einer bestimmten Zeit.
Astronomische Kenntnis eines materiellen Svstemes ist bei unserer Unfähigkeit,
Materie und Kraft zu begreifen. die vollkommenste Kenntnis, die wir von dem
System erlangen können. Es ist die, wobei unser Kausalitätstrieb sich
zu beruhigen gewohnt ist, und welche der LAPLACEsche Geist
selber bei gehörigem Gebrauche seiner Weltformel von dem System
besitzen würde.
Denken wir uns nun, wir hätten es zur astronomischen Kenntnis eines Muskels,
einer Drüse, eines elektrischen oder Leuchtorganes in Verbindung mit den
zugehörigen gereizten Nerven, einer Flimmerzelle, einer Pflanze, des Eies
in Berührung mit dem Samen oder auf irgendeiner Stufe der Entwickelung
gebracht. Alsdann besäßen wir also von diesen materiellen Systemen
die vollkommenste uns mögliche Kenntnis, unser Kausalitätsbedürfnis
wäre soweit befriedigt. daß wir nur noch verlangten, das Wesen von
Materie und Kraft selber zu begreifen. Muskelverkürzung, Absonderung in
der Drüse, Schlag des elektrischen, Leuchten des Leuchtorganes, Flimmerbewegung,
Wachstum und Chemismus der Zellen in der Pflanze, Befruchtung und Entwickelung
des Eies: alle diese jetzt noch fast hoffnungslos dunklen Vorgänge wären
uns so durchsichtig, wie die Bewegungen der Planeten.
Machen wir dagegen dieselbe Voraussetzung astronomischer Kenntnis für
das Gehirn des Menschen, oder auch nur für das Seelenorgan des niedersten
Tieres, dessen geistige Tätigkeit auf Empfinden von Lust und Unlust oder
auf Wahrnehmung einer Qualität sich beschränken mag, so wird zwar
in bezug auf alle darin stattfindenden materiellen Vorgänge unser Erkennen
ebenso vollkommen sein und unser Kausalitätsbedürfnis ebenso befriedigt
sich fühlen, wie in bezug auf Zuckung oder Absonderung bei astronomischer
Kenntnis von Muskel und Drüse.
Die unwillkürlichen und nicht notwendig mit Empfindung verbundenen Wirkungen
der Zentralteile, Reflexe, Mitbewegung, Atembewegungen, Tonus, der Stoffwechsel
des Gehirnes und Rückenmarkes u. dgl. m. wären erschöpfend
erkannt. Auch die mit geistigen Vorgängen der Zeit nach stets, also wohl
notwendig zusammenfallenden materiellen Vorgänge wären ebenso vollkommen
durchschaut. Und es wäre natürlich ein hoher Triumph, wenn wir zu
sagen wüssten, dass bei einem bestimmten geistigen Vorgang in
bestimmten Ganglienzellen und Nervenfasern eine bestimmte Bewegung bestimmter
Atome stattfinde.
Es wäre grenzenlos interessant, wenn wir so mit geistigem Auge in uns hineinblickend
die zu einem Rechenexempel gehörige Hirnmechanik sich abspielen sähen
wie die Mechanik einer Rechenmaschine; oder wenn wir auch nur wüßten,
welcher Tanz von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-, Phosphor-
und anderen Atomen der Seligkeit musikalischen Empfindens, welcher Wirbel solcher
Atome dem Gipfel sinnlichen Genießens, welcher Molekularsturm dem wütenden
Schmerz beim Misshandeln des N. trigeminus entspricht. Die Art des geistigen
Vergnügens, welche die durch FECHNER geschaffenen
Anfänge der Psychophysik oder DONDERS’ Messungen
der Dauer einfacherer Seelenhandlungen uns bereiten, läßt uns ahnen,
wie solche unverschleierte Einsicht in die materiellen Bedingungen geistiger
Vorgänge uns erbauen würde. Für jetzt wissen wir noch nicht einmal,
ob nur die graue, oder ob auch die weiße Gehirnsubstanz denkt, und ob
einem bestimmten Seelenzustand eine bestimmte Lage oder eine bestimmte Bewegung
von Hirnatomen oder -Molekeln entspricht.
Was nun aber die geistigen Vorgänge selber betrifft, so zeigt sich, daß
sie bei astronomischer Kenntnis des Seelenorgans uns ganz ebenso unbegreiflich
wären, wie jetzt. Im Besitze dieser Kenntnis ständen wir vor ihnen
wie heute als vor einem völlig Unvermittelten. Die astronomische Kenntnis
des Gehirnes, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt
uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder
Bewegung materieller Teilchen aber lässt sich eine Brücke ins
Reich des Bewusstseins schlagen.
Bewegung kann nur Bewegung erzeugen, oder in potentielle Energie zurück
sich verwandeln. Potentielle Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches
Gleichgewicht erhalten. Druck oder Zug üben. Die Summe der Energie bleibt
dabei stets dieselbe. Mehr als dies Gesetz bestimmt, kann in der Körperwelt
nicht geschehen, auch nicht weniger; die mechanische Ursache geht rein auf in
der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn
einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand
des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes, und
schon darum sind sie nicht zu verstehen, so wenig, wie ein
Mobile perpetuum es wäre. Aber auch sonst sind sie unbegreiflich.
Es scheint zwar bei oberflächlicher Betrachtung, als könnten durch
die Kenntnis der materiellen Vorgänge im Gehirn gewisse geistige Vorgänge
und An¬lagen uns verständlich werden. Ich rechne dahin das Gedächtnis,
den Fluß und die Assoziation der Vorstellungen, die Folgen der Übung,
die spezifischen Talente u. dgl. m.
Das geringste Nachdenken lehrt, daß dies Täuschung ist. Nur über
gewisse innere Bedingungen des Geisteslebens, welche mit den äußeren
durch die Sinneseindrücke gesetzten etwa gleichbedeutend sind, würden
wir unterrichtet sein, nicht über das Zustande¬kommen des Geisteslebens
durch diese Bedingungen.
Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter
Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen,
nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: »Ich
fühle Schmerz, fühle Lust, fühle warm, fühle kalt: ich schmecke
Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot,« und
der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewissheit: »Also
bin ich?« Es ist eben durchaus und für immer
unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-.
Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen
und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen
werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußtsein
entstehen könne. Sollte ihre Lagerungs- und Bewegungsweise ihnen nicht
gleichgültig sein, so müßte man sie sich nach Art der Monaden
schon einzeln mit Bewußtsein ausgestattet denken. Weder wäre damit
das Bewußtsein überhaupt erklärt, noch für die Erklärung
des einheitlichen Bewußtseins des Individuums das mindeste gewonnen.
Es ist also grundsätzlich unmöglich, durch irgendeine mechanische
Kombination zu erklären, warum ein Akkord KÖNIGscher
Stimmgabeln mir wohl-, und warum Berührung mit glühendem Eisen
mir wehtut. Kein mathematisch überlegender Verstand könnte aus astronomischer
Kenntnis des materiellen Geschehens in beiden Fällen a
priori bestimmen, welcher der angenehme und welcher der schmerzhafte
Vorgang sei. Dass es vollends unmöglich sei, und stets bleiben werde,
höhere geistige Vorgänge aus der als bekannt vorausgesetzten Mechanik
der Hirnatome zu verstehen, bedarf nicht der Ausführung. Doch ist, wie
schon bemerkt, gar nicht nötig, zu höheren Formen geistiger Tätigkeit
zu greifen. um das Gewicht unserer Betrachtung zu verstärken. Sie gewinnt
gerade an Eindringlichkeit durch den Gegensatz zwischen der vollständigen
Unwissenheit, in welcher astronomische Kenntnis des Gehirnes uns über das
Zustandekommen auch der niedersten geistigen Vorgänge ließe, und
der durch solche Kenntnis gewährten ebenso vollständigen Enträtselung
der höchsten Probleme der Körperwelt.
Ein aus irgendeinem Grunde bewusstloses, z. B. ohne Traum schlafendes Gehirn,
astronomisch durchschaut, enthielte kein Geheimnis mehr, und bei astronomischer
Kenntnis auch des übrigen Körpers wäre die ganze menschliche
Maschine, mit ihrem Atmen, ihrem Herzschlag, ihrem Stoffwechsel, ihrer Wärme,
usf., bis auf das Wesen von Materie und Kraft völlig entziffert. Der traumlos
Schlafende ist begreiflich, so weit wie die Welt, ehe es Bewußtsein gab.
Wie aber mit der ersten Regung von Bewußtsein die Welt doppelt unbegreiflich
ward, so wird auch der Schläfer es wieder mit dem ersten ihm dämmernden
Traumbild. Der unlösliche Widerspruch, in welchem die mechanische
Weltanschauung mit der Willensfreiheit, und dadurch unmittelbar mit der
Ethik steht, ist sicher von großer Bedeutung. Der Scharfsinn der Denker
aller Zeiten hat sich daran erschöpft, und wird fortfahren, daran sich
zu üben. Abgesehen davon, dass Freiheit
sich leugnen läßt, Schmerz und Lust nicht, geht dem Begehren,
welches den Anstoß zum Handeln und somit erst Gelegenheit zum Tun oder
Lassen gibt, notwendig Sinnesempfindung voraus. Es ist also das Problem der
Sinnesempfindung, und nicht, wie ich einst sagte, das der Willensfreiheit, bis
zu dem die analytische Mechanik reicht.
Damit ist die andere Grenze unseres Naturerkennens
bezeichnet. Nicht minder als die erste ist sie eine unbedingte. Nicht mehr als
im Verstehen von Kraft und Materie hat im Herleiten geistiger Vorgänge
aus materiellen Bedingungen die Menschheit seit zweitausend Jahren, trotz allen
Entdeckungen der Naturwissenschaft, einen wesentlichen Fortschritt gemacht.
Sie wird es nie. Sogar der LAPLACEsche Geist mit
seiner Weltformel gliche in seinen Anstrengungen, über diese Schranke sich
fortzuheben, einem nach dem Monde trachtenden Luftschiffer. In seiner aus bewegter
Materie aufgebauten Welt regen sich zwar die Hirnmolekeln wie in stummem Spiel.
Er übersieht ihre Scharen, er durchschaut ihre Verschränkungen,
und Erfahrung lehrt ihn ihre Gebärde dahin auslegen, daß sie diesem
oder jenem geistigen Vorgang entspreche; aber warum sie dies tue, weiß
er nicht.
Zwischen bestimmter Lage und Bewegung gewisser Atome eigenschaftsloser Materie
in der Sehsinnsubstanz und dem Sehen ist so wenig Beziehung wie zwischen einem
ähnlichen Hergang in der Gehörsinnsubstanz und dem Hören, einem
dritten in der Geruchsinnsubstanz und dem Riechen, usw., und darum bleibt, wie
wir vorhin sahen, die objektive Welt des LAPLACEschen
Geistes eigenschaftslos.
An ihm haben wir das Maß unserer eigenen Befähigung oder vielmehr
unserer Ohnmacht. Unser Naturerkennen ist also eingeschlossen
zwischen den beiden Grenzen, welche die Unfähigkeit, einerseits Materie
und Kraft zu verstehen, andererseits geistige Vorgänge aus materiellen
Bedingungen herzuleiten, ihm ewig steckt. Innerhalb dieser Grenzen ist
der Naturforscher Herr und Meister, zergliedert er und baut er auf, und niemand
weiß, wo die Schranke seines Wissens und seiner Macht liegt; über
diese Grenzen hinaus kann er nicht, und wird er niemals können.
Je unbedingter aber der Naturforscher die ihm gesteckten Grenzen anerkennt,
und je demütiger er in seine Unwissenheit sich schickt, um so tiefer fühlt
er das Recht, mit voller Freiheit, unbeirrt durch Mythen, Dogmen und alterstolze
Philosopheme, auf dem Wege der Induktion seine eigene Meinung über die
Beziehung zwischen Geist und Materie sich zu bilden.
Er sieht in tausend Fällen materielle Bedingungen das Geistesleben beeinflussen.
Seinem unbefangenen Blicke zeigt sich kein Grund zu bezweifeln, daß wirklich
die Sinneseindrücke sich der sogenannten Seele mitteilen. Er sieht den
menschlichen Geist gleichsam mit dem Gehirne wachsen, und, nach der empiristischen
Theorie, die wesentlichen Formen seines Denkens sogar erst durch äußere
Wahrnehmungen sich aneignen.
Im Schlaf und Traum; in der Ohnmacht, dem Rausch und der Narkose in der Epilepsie,
dem Wahn- und Blödsinn, dem Kretinismus und der Mikrocephalie; in der Inanition,
dem Fieber, dem Delirium, der Entzündung des Gehirns und seiner Häute,
genug in unzähligen teils noch in die Breite der Gesundheit fallenden,
teils krankhaften Zuständen zeigt sich dem Naturforscher die geistige Tätigkeit
abhängig von der dauernden oder vorübergehenden Beschaffenheit des
Seelenorgans.
Durch kein theologisches Vorurteil wird er wie
DESCARTES verhindert, in den Tierseelen der Menschenseele
verwandte, stufenweise minder vollkommene Glieder einer und derselben Entwickelungsreihe
zu erblicken. Vielmehr halten bei den Wirbeltieren die Hirnteile, in welche
auch physiologische Versuche und pathologische Erfahrungen den Sitz höherer
Geistestätigkeit verlegen, ihrer Entwickelung nach gleichen Schritt mit
der Steigerung dieser Tätigkeit. Wo von den anthropoiden Affen zum Menschen
die geistige Befähigung den durch den Besitz der Sprache bezeichneten Sprung
macht, findet sich ein entsprechender Sprung der Hirnmasse vor. Die verschiedene
Anordnung derselben Elementarteile, Ganglienzellen und Nervenfasern, bei Wirbeltieren
und Wirbellosen belehrt aber den Naturforscher, daß es hier wie bei anderen
Organen weniger auf die Architektur, als auf die Strukturelemente
ankommt.
Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachtet er das mikroskopische Klümpchen
Nervensubstanz, welches der Sitz der arbeitsamen, baulustigen, ordnungliebenden
pflichttreuen, tapferen Ameisenseele ist. Endlich die Deszendenztheorie im Verein
mit der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl drängt ihm die Vermutung
auf, daß die Seele als allmähliches Ergebnis gewisser materieller
Kombinationen entstanden und vielleicht gleich anderen erblichen, im Kampf ums
Dasein dem Einzelwesen nützlichen Gaben durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern
sich gesteigert und vervollkommnet habe.
Wenn nun die alten Denker jede Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, wie sie
letztere sich vorstellten, als unverständlich und unmöglich erkannten,
und wenn nur durch prästabilierte Harmonie das Rätsel des dennoch
stattfindenden Zusammengehens beider Substanzen zu lösen ist, so wird wohl
die Vorstellung, die sie, in Schulbegriffen befangen, von der Seele sich machten,
falsch gewesen sein. Die Notwendigkeit einer der Wirklichkeit so offenbar zuwiderlaufenden
Schlußfolge ist gleichsam ein apagogischer Beweis gegen die Richtigkeit
der dazu führenden Voraussetzung. Um bei dem »Uhrengleichnis«
stehen zu bleiben, sollte nicht die einfachste Lösung der Aufgabe
die von LEIBNIZ voweg verworfene vierte
Möglichkeit sein, dass die beiden Uhren, deren Zusammengehen erklärt
werden soll, im Grunde nur eine sind? Ob wir die geistigen Vorgänge
aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage ganz verschieden
von der, ob diese Vorgänge das Erzeugnis materieller Bedingungen sind.
Jene Frage kann verneint werden, ohne dassüber diese etwas ausgemacht,
geschweige auch sie verneint würde.
An der oben angeführten Stelle sagt LEIBNIZ, der
dem menschlichen Geist unvergleichlich überlegene, aber endliche Geist,
dem er Sinne und technisches Vermögen von entsprechender Vollkommenheit
zuschreibt, könnte einen Körper bilden, der die Handlungen eines Menschen
nachmachte. Daß er einen Menschen bilden könnte, sagt er offenbar
deshalb nicht, weil in seinem Sinne dem Automaten von
Fleisch und Bein, den er, wie DESCARTES
die Tiere, sich seelenlos vorstellt, zum Menschen noch die mechanisch unfaßbare
Seelenmonade fehlen würde. Unsere Vorstellung von der Beziehung zwischen
Materie und Geist wird aber durch etwas weitere Ausführung dieser
LEIBNIZischen Fiktion besonders
klar. Man denke sich alle Atome, aus denen CÄSAR
in einem gegebenen Augenblick, am Rubikon etwa, bestand, durch mechanische Kunst
mit einem Schlage jedes an seinen Ort gebracht und mit seiner Geschwindigkeit
im richtigen Sinne versehen. Nach unserer Anschauung wäre dann CÄSAR
geistig wie körperlich wieder hergestellt. Der künstliche
CÄSAR hätte im ersten Augenblick dieselben Empfindungen, Strebungen,
Vorstellungen wie sein Vorbild am Rubikon und teilte mit ihm seine Gedächtnisbilder,
ererbten und erworbenen Fähigkeiten usf.
Man denke sich das gleiche Kunststück zu gleicher oder auch zu verschiedener
Zeit mit einer gleichen Zahl anderer Kohlenstoff-, Wasserstoff- usw. Atome ein,
zwei, mehrere Mal ausgeführt. Worin sonst unterschieden sich im ersten
Augenblick der neue CÄSAR und seine Doppelgänger,
als in dem Ort, an dem sie wären zusammengesetzt worden? Aber der von LEIBNIZ
gedachte Geist, der den neuen CÄSAR und
seine mehreren SOSIA gebildet hätte, verstände
gleichwohl nicht, wie die von ihm selber richtig angeordneten und im richtigen
Sinne mit der richtigen Geschwindigkeit fortgeschnellten Atome deren Seelentätigkeit
vermitteln.
Man erinnert sich Hrn. KARL VOGTs kecker Behauptung,
welche in den fünfziger Jahren zu einer Art von Turnier um die Seele Anlass
gab: »dass alle jene Fähigkeiten die wir
unter dem Namen Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen des Gehirns sind, oder, um es einigermaßen grob auszudrücken, dass die Gedanken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der
Leber oder der Urin zu den Nieren.«
Die Laien stießen sich an diesem Vergleiche, der im wesentlichen schon
bei GABANIS sich findet, weil ihnen die Zusammenstellung
der Gedanken mit der Absonderung der Nieren entwürdigend schien. Die Physiologie kennt indes solche ästhetischen Rangunterschiede nicht. Ihr ist die Nierenabsonderung
ein wissenschaftlicher Gegenstand von ganz gleicher Würde mit der Erforschung
des Auges oder Herzens oder sonst eines der gewöhnlich sogenannten edleren
Organe. Auch das ist am »Sekretionsgleichnis« schwerlich zu tadeln, dass darin die Seelentätigkeit als Erzeugnis
der materiellen Bedingungen im Gehirn hingestellt wird. Fehlerhaft dagegen erscheint,
daß es die Vorstellung erweckt, als sei die Seelentätigkeit aus dem
Bau des Gehirnes ihrer Natur nach so begreiflich, wie bei hinreichend vorgeschrittener
Kenntnis die Absonderung aus dem Bau der Drüse es sein würde.
Wo es an den materiellen Bedingungen für geistige Tätigkeit in Gestalt
eines Nervensystemes gebricht, wie in den Pflanzen, kann der Naturforscher ein
Seelenleben nicht zugeben, und nur selten stößt er hierin auf Widerspruch
Was aber wäre ihm zu erwidern, wenn er, bevor er in die Annahme einer Weltseele willigte, verlangte, daß ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet, mit warmem arteriellem Blut unter richtigem Drucke gespeist, und mit
angemessenen Sinnesnerven und Organen versehen, ein dem geistigen Vermögen
solcher Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und Nervenfasern
gezeigt würde?
Schließlich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen
unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen seien, d.
h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen,
wie die ihnen zugrunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet,
begehrt und denkt. Freilich ist diese Vorstellung die einfachste, und nach bekannten
Forschungsgrundsätzen bis zu ihrer Widerlegung der vorzuziehen, wonach,
wie vorhin gesagt wurde, die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt
in der Natur der Dinge, dass wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit
kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig.
Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst
gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein
»Ignoramus« (wir wissen es nicht)
auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt
ihn dabei — das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte,
und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was
Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein
für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen:
»Ignorabimus (wir werden es niemals wissen).
Aus: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die
sieben Welträtsel. Zwei Vorträge von Emil Du Bois-Reymond. Leipzig
Verlag von Veit und Comp. 1907
Die sieben
Welträtsel
Vortrag, gehalten in der öffentlichen
Sitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zu Feier
des Leibnizischen Jahrestages am 8. Juli 1880.
Je ratifie aujourd’hui cette confession avec
d’autant plus d’empressement, qu’ayant
depuis ce temps beaucoup plus lu, beaucouup
plus médité, et étant plud instruit, je suis
plus en état d’arffirmer que je ne sais rien.
Dictionnaire phiosophique
J’ose dire pourtant que je n’ai mérité
Ni cet excès d’honneur, ni cette indignité.
Britannicus
Als ich vor acht Jahren übernommen hatte, in öffentlicher Sitzung
der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte einen Vortrag zu halten,
zögerte ich lange, bis ich mich entschloß, die Grenzen des Naturerkennens
zu meinem Gegenstande zu wählen. Die Unmöglichkeit, einerseits das
Wesen von Materie und Kraft zu begreifen, andererseits das Bewußtsein
auch auf niederster Stufe mechanisch zu erklären, erschien mir eigentlich
als triviale Wahrheit. Daß man mit Atomistik, Dynamistik, stetiger Ausfüllung
des Raumes in gleicher Weise in die Brüche gerate, ist eine alte Erfahrung,
an welcher keine Entdeckung der Naturwissenschaft etwas zu ändern vermochte.
Daß durch keine Anordnung und Bewegung von Materie auch nur einfachste
Sinnesempfindung verständlich werde, haben längst vortreffliche Denker
erkannt. Wohl wußte ich, daß über letzteren Punkt falsche Begriffe
weit verbreitet seien; fast aber schämte ich mich, den Deutschen Naturforschern
so abgestandenen Trunk zu schenken, und nur durch die Neuheit meiner Beweisführung
hoffte ich Teilnahme zu erwecken.
Der Empfang, der meiner Auseinandersetzung wurde, zeigte mir, daß ich
mich in der Sachlage getäuscht hatte. Dem anfangs kühl aufgenommenen
Vortrage widerfuhr bald die Ehre, Gegenstand zahlreicher Besprechungen zu werden,
in denen eine große Mannigfaltigkeit von Standpunkten sich kundgab. Die
Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten
Tadel an, und das Wort »Ignorabimus«,
in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von
naturphilosophischem Schibboleth.
Die durch meinen Vortrag in der deutschen Welt hervorgebrachte Erregung läßt
die philosophische Bildung der Nation, auf welche wir gewohnt sind, uns etwas
zugute zu tun, in keinem günstigen Licht erscheinen. So schmeichelhaft
es mir war, meine Darlegung als KANTsche Tat gepriesen
zu sehen, ich muß diesen Ruhm zurückweisen. Wie bemerkt, meine Aufstellungen
enthielten nichts, was bei einiger Belesenheit in älteren philosophischen
Schriften nicht jedem bekannt sein konnte, der sich darum kümmerte. Aber
seit der Umgestaltung der Philosophie durch KANT hat
diese Disziplin einen so esoterischen Charakter angenommen; sie hat die Sprache
des gemeinen Menschenverstandes und der schlichten Überlegung so verlernt;
sie ist den Fragen, die den unbefangenen Jünger am tiefsten bewegen, so
weit ausgewichen, oder sie hat sie so sehr von oben herab als unberufene Zumutungen
behandelt; sie hat sich endlich der neben ihr emporwachsenden neuen Weltmacht,
der Naturwissenschaft, lange so feindselig gegenübergestellt: daß
nicht zu verwundern ist, wenn, namentlich unter Naturforschern, das Andenken
selbst an ganz tatsächliche Ergebnisse aus früheren Tagen der Philosophie
verloren ging.
Einen Teil der Schuld trägt wohl der Umstand, daß die neuere Philosophie
zur positiven Religion meist in einem negierenden, mindestens in keinem klaren
Ver¬hältnis sich befand, und daß sie, bewußt oder unbewußt,
vermied, sich über gewisse Fragen unumwunden auszusprechen, wie dies beispielsweise
LEIBNIZ konnte, welcher vor keinem Kirchentribunal
etwas zu verbergen gehabt hätte. Die Philosophie soll hier dafür weder
gelobt noch getadelt werden; aber so kommt es, daß bei den Philosophen
von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an die packendsten Probleme der Metaphysik
sich nicht unverhohlen, wenigstens nicht in einer dem induktiven Naturforscher
zusagenden Sprache, aufgestellt und erörtert finden. Auch das möchte
einer der Gründe sein, warum die Philosophie so vielfach als gegenstandslos
und unersprießlich beiseite geschoben wird, und warum jetzt, wo die Naturwissenschaft
selber an manchen Punkten beim Philosophieren angelangt ist, oft solch ein Mangel
an Vorbegriffen, solche Unwissenheit im wirklich Geleisteten sich zeigt.
Denn während von der einen Seite mein Verdienst weit überschätzt
wurde, rief man von der anderen Anathema über mich, weil ich dem menschlichen
Erkenntnisvermögen unübersteigliche Grenzen zog. Man konnte nicht
begreifen, warum nicht das Bewußtsein in derselben Art verständlich
sein sollte, wie Wärmeentwickelung bei chemischer Verbindung, oder Elektrizitätserregung
in der galvanischen Kette. Schuster verließen ihren Leisten und rümpften
die Nase über »das fast nach konsistorialrätlicher Demut schmeckende
Bekenntnis des »Ignorabimus«,
wodurch das Nichtwissen in Permanenz erklärt werde«.
Fanatiker dieser Richtung, die es besser wissen konnten, denunzierten
mich als zur schwarzen Bande gehörig, und zeigten aufs neue, wie nah beieinander
Despotismus und äußerster Radikalismus wohnen. Gemäßigtere
Köpfe verrieten doch bei dieser Gelegenheit, daß es mit ihrer Dialektik
schwach bestellt sei. Sie glaubten etwas anderes zu sagen als ich, wenn sie
meinem »Ignorabimus« ein
»Wir werden wissen« unter der Bedingung entgegensetzten,
daß »wir als endliche Menschen, die wir sind,
uns mit menschlicher Einsicht bescheiden«. Oder sie vermochten
nicht den Unterschied zu erfassen zwischen der Behauptung, die ich widerlegte:
Bewußtsein kann mechanisch erklärt werden, und der Behauptung, die
ich nicht bezweifelt, vielmehr durch zahlreiche Gründe gestützt hatte:
Bewußtsein ist an materielle Vorgänge gebunden.
Schärfer sah DAVID FRIEDRICH STRAUSS. Der
große Kritiker hatte spät die Wandlung durchgemacht, welche gewisse
Naturen früher nicht selten in der Jugend rasch durchliefen. vom theologischen
Studium zur Naturwissenschaft. Der Naturforscher von Fach mag von den Auseinandersetzungen
zweiter Hand gering denken, in denen der Verfasser »des
alten und des neuen Glaubens« vielleicht etwas zu sehr sich gefällt.
Dem Ethiker, Juristen, Lehrer, Arzte mag die etwas gewaltsame Folgerichtigkeit
bedenklich scheinen, mit welcher STRAUSS seine
Weltanschauung ins Leben einzuführen versucht. Wenn ich selber einmal an
dieser Stelle mich in diesem Sinn gegen ihn wandte, so bewundere ich nicht minder
die Geisteskraft und Charakterstärke, welche diesen zugleich künstlerisch
so begabten Meister des Gedankens in die Mitte der alten Welträtsel trugen,
die er freilich auch nicht löst, aber doch ohne jede irdische Scheu heim
Namen nennt.
STRAUSS entging es nicht, daß ich mich den
geistigen Vorgängen gegenüber durchaus auf den Standpunkt des induktiven
Naturforschers gestellt hatte, der den Prozeß nicht vom Substrat trennt,
an welchem er den Prozeß kennen lernte, und der an das Dasein des vom
Substrat gelösten Prozesses ohne zureichenden Grund nicht glaubt. Etwas
erfahrener in verschlungenen Gedankenwegen, und an abstraktere Ausdrucksweise
gewöhnt, verstand er natürlich den Unterschied zwischen jenen beiden
Behauptungen. STRAUSS und
LANGE, der zu früh der Wissenschaft entrissene Verfasser der
»Geschichte des Materialismus«, überhoben mich der Mühe,
den Jubel derer, welche in mir einen Vorkämpfer des
Dualismus erstanden wähnten, mit dem Sprüche niederzuschlagen:
»Und wer mich nicht verstehen kann, der lerne besser lesen.«
Aber auch STRAUSS tadelte merkwürdigerweise
meinen Satz von der Unbegreiflichkeit des Bewußtseins
aus mechanischen Gründen. Er sagt:
»Drei Punkte sind es bekanntlich in der aufsteigenden Entwickelung der
Natur, an denen vorzugsweise der Schein des Unbegreiflichen haftet. Es sind
die drei Fragen: wie ist das Lebendige aus dem Leblosen, wie das Empfindende
aus dem Empfindungslosen, wie das Vernünftige aus dem Vernunftlosen hervorgegangen?
Der Verfasser der >Grenzen des Naturerkennens<
hält das erste der drei Probleme, A, den Hervorgang des Lebens, für
lösbar. Die Lösung des dritten Problems, C, der Intelligenz und Willensfreiheit,
bahnt er sich, wie es scheint, dadurch an, daß er es im engsten Zusammenhange
mit dem zweiten, die Vernunft nur als höchste Stufe des schon mit der Empfindung
gegebenen Bewußtseins faßt. Das zweite Problem, B, das der Empfindung.
hält er dagegen für unlösbar. Ich gestehe, mir könnte noch
eher einleuchten, wenn einer sagte: unerklärlich ist und bleibt A, nämlich
das Leben; ist aber einmal das gegeben, so folgt von selber, d. h. mittels natürlicher
Entwickelung, B und C, nämlich Empfinden und Denken. Oder meinetwegen auch
umgekehrt: A und B lassen sich noch begreifen, aber am C, am Selbstbewußtsein,
reißt unser Verständnis ab. Beides, wie gesagt, erschiene mir noch
annehmlicher, als daß gerade die mittlere Station allein die unpassierbare
sein soll.«
So weit STRAUSS. Ich bedauere es aussprechen zu
müssen, aber er hat den Nerven meiner Betrachtung nicht erfaßt. Ich
nannte astronomische Kenntnis eines materiellen Systems solche Kenntnis, wie
wir sie vom Planetensystem hätten, wenn alle Beobachtungen unbedingt richtig,
alle Schwierigkeiten der Theorie völlig besiegt wären. Besäßen
wir astronomische Kenntnis dessen, was innerhalb eines noch so rätselhaften
Organes des Tier- oder Pflanzenleibes vorgeht, so wäre in bezug auf dies
Organ unser Kausalitätsbedürfnis so befriedigt, wie in bezug auf das
Planetensystem, d. h. soweit es die Natur unseres Intellektes gestattet, welches
von vornherein am Begreifen von Materie und Kraft scheitert. Besäßen
wir dagegen astronomische Kenntnis dessen, was innerhalb des Gehirnes vorgeht,
so wären wir in bezug auf das Zustandekommen des Bewusstseins nicht
um ein Haar breit gefördert. Auch im Besitze der Weltformel jener dem unsrigen
so unermesslich überlegene, aber doch ähniche LAPLACEsche
Geist wäre hierin nicht klüger als wir; ja nach LEIBNIZ‘ Fiktion mit solcher Technik ausgerüstet, dass
er Atom für Atom, Molekel für Molekel, einen Homunculus zusammensetzen könnte, würde er ihn zwar denkend machen,
aber nicht begreifen, wie er dächte.
Die erste Entstehung des Lebens hat an sich mit dem Bewusstsein nichts
zu schaffen. Es handelt sich dabei nur um Anordnung von Atomen und Molekeln,
um Einleitung gewisser Bewegungen. Folglich ist nicht bloß astronomische
Kenntnis dessen denkbar, was man Urzeugung, Generatio spontanea seu aequivoca,
neuerlich Abiogenese der Heterogenie nennt, sondern diese astronomische Kenntnis
würde auch in bezug auf die erste Entstehung des Lebens unser Kausalitätsbedürfnis
ebenso befriedigen, wie in bezug auf die Bewegungen der Himmelskörper.
Das ist der Grund, weshalb, um mit STRAUSS zu reden »in aufsteigender Entwickelung der Natur« der Hiat für
unser Verständnis nicht am Punkt A eintrifft, sondern erst am Punkte B. Übrigens habe ich keineswegs behauptet, dass mit gegebener Empfindung
jede höhere Stufe geistiger Entwickelung verständlich, das Problem
C ohne weiteres lösbar sei. Ich legte auf die mechanische Unbegreiflichkeit
auch der einfachsten Sinnesempfindung nur deshalb so großes Gewicht, weil
daraus die Unbegreiflichkeit aller höheren geistigen Prozesse erst recht,
durch ein Argumentum a fortiori, folgt. Zwar erscheint die erste Entstehung
des Lebens jetzt in noch tieferes Dunkel gehüllt, als da man noch hoffen
durfte, Lebendiges aus Totem im Laboratorium, unter dem Mikroskop, hervorgehen
zu sehen. In Hrn. PASTEURS Versuchen ist die Heterogenie wohl für lange, wenn nicht für immer, der Panspermie unterlegen: wo
man glaubte, daß Leben entstehe, entwickelten sich schon vorhandene Lebenskeime.
Und doch haben die Dinge so sich gewendet, dass, wer nicht auf ganz kindlichem
Standpunkte verharrt, logisch gezwungen werden kann, mechanische Entstehung
des Lebens zuzugeben. Dem geologischen Aktualismus und der Deszendenztheorie gegenüber wird sich kaum noch ein ernster Verfechter der Lehre von den
Schöpfungsperioden finden, nach welcher die schaffende Allmacht stets von
neuem ihr Werk vernichten sollte, um es, gleich einem stümperhaften Künstler,
stets von neuem, in einem Punkte besser, in einem anderen vielleicht schlechter,
von vorn wieder anzufangen.
Auch wer an Endursachen glaubt, wird eingestehen, dass solches Beginnen wenig würdig der schaffenden Allmacht erscheine.
Ihr geziemt, durch supernaturlistischen Eingriff in die
Weltmechanik höchstens einmal einfachste Lebenskeime ins Dasein
zu rufen, aber so ausgestattet, dass aus ihnen, ohne
Nachhilfe, die heutige organische Schöpfung werde. Wird dies zugestanden,
so ist die weitere Frage erlaubt, ob es nun nicht wieder der schaffenden Allmacht würdiger sei, auch jenes einmaligen Eingriffes in
von ihr selber gegebene Gesetze sich zu entschlagen, und die Materie gleich
von vornherein mit solchen Kräften auszurüsten, dass unter geeigneten
Umständen auf Erden, auf anderen Himmelskörpern, Lebenskeime ohne
Nachhilfe entstehen mussten? Dies zu verneinen gibt es keinen Grund;
damit ist aber auch zugestanden, dass rein mechanisch Leben entstehen könne,
und nun wird es sich nur noch darum handeln, ob die Materie, die sich rein mechanisch
zu Lebendigem zusammenfügen kann, stets da war, oder ob sie, wie LEIBNIZ meinte, erst von Gott geschaffen wurde.
Dass astronomische Kenntnis des Gehirnes uns das Bewusstsein aus mechanischen
Gründen nicht verständlicher machen würde als heute, schloß
ich daraus, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff., Stickstoff-,
Sauerstoff- usw. Atomen gleichgültig sein müsse, wie sie liegen und
sich bewegen, es sei denn, dass sie schon einzeln Bewußsssein hätten,
womit weder das Bewusstsein überhaupt, noch das einheitliche Bewusstsein
des Gesamthirnes erklärt würde.
Ich hielt diese Schlußfolgerung für völlig überzeugend. DAVID FRIEDRICH STRAUSS meint, am Ende könne
doch nur die Zeit darüber entscheiden, ob dies wirklich das letzte Wort
in der Sache sei. Das ist es nun freilich nicht geblieben, sofern Hr.
HAECKEL, die von mir behufs der Reductio ad absurdum
gemachte Annahme, dass die Atome einzeln Bewusstsein haben, umgekehrt
als metaphysisches Axiom hinstellte.
»Jedes Atom«, sagt er, »besitzt
eine inhärente Summe von Kraft, und ist in diesem Sinne >beseelt<.
Ohne die Annahme einer >Atom-Seele< sind die gewöhnlichsten und allgemeinsten
Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Abneigung,
Anziehung und Abstoßung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein;
denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden
chemischen Verbindung stattfinden müssen, sind mir erklärbar, wenn
wir ihnen Empfindung und Willen beilegen.
. . Wenn der >Wille< des Menschen und der höheren Tiere frei erscheint
im Gegensatz zu dem >festen< Willen der Atome, so ist das eine Täuschung,
hervorgerufen durch die höchst verwickelte Willensbewegung der ersteren
im Gegensatze zu der höchst einfachen Willensbewegung der letzteren.«
Und ganz im Geist der einst von derselben Stätte aus der deutschen Wissenschaft
verderblich gewordenen falschen Naturphilosophie fährt Hr.
HAECKEL fort in Konstruktionen über das »unbewusste
Gedächtnis« gewisser von ihm als »Plastidule« bezeichneter »belebter« Atomkomplexe.
So verschmäht er den uns von LA METTRIE gewiesenen
Weg des induktorischen Erforschens, unter welchen Bedingungen Bewusstsein
entstehe. Er sündigt wider eine der ersten Regeln des Philosophierens: »Entia non sunt creanda sine necessitate«, denn wozu
Bewusstsein, wo Mechanik reicht? Und wenn Atome empfinden, wozu noch Sinnesorgane? Hr. HAECKEL übergeht die doch genügend
von mir betonte Schwierigkeit zu begreifen, wie den zahllosen »Atom-Seelen« das einheitliche Bewusstsein des Gesamthirnes
entspringe. Übrigens gedenke ich seiner Aufstellung nur, um daran die Frage
zu knüpfen, warum er es für jesuitisch hält, die Möglichkeit
der Erklärung des Bewusstseins aus Anordnung und Bewegung von Atomen
zu leugnen, wenn er selber nicht daran denkt, das Bewusstsein so zu erklären,
sondern es als nicht weiter zergliederbares Attribut der Atome postuliert?
Einem mehr in Anschauung von Formen geübten Morphologen ist es zu verzeihen,
wenn er Begriffe wie Wille und Kraft nicht auseinander zuhalten vermag. Aber
auch von besser geschulter Seite wurden ähnliche Mißgriffe begangen.
Anthropomorphische Träumereien aus der Kindheit der Wissenschaft erneuernd,
erklärten Philosophie und Physiker die Fernwirkung von Körper auf
Körper durch den leeren Raum aus einem den Atomen innewohnenden Willen. Ein wunderlicher Wille in der Tat, zu welchem immer zwei
gehören! Ein Wille, der, wie Adelheids im Götz, wollen soll, er mag
wollen oder nicht, und das im geraden Verhältnis des Produktes der Massen
und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen! Ein Wille, der das geschleuderte
Subjekt im Kegelschnitt bewegen muss! Ein Wille fürwahr, der an jenen
Glauben erinnert, welcher Berge versetzt, aber in der Mechanik bisher als Bewegungsursache
noch nicht verwertet wurde. Zu solchem Widersinn gelangt, wer, anstatt
in Demut sich zu bescheiden, die Flagge an den Mast nagelt, und durch lärmende
Phraseologie bei sich und anderen den Rausch zu unterhalten sucht, ihm sei gelungen,
woran NEWTON verzweifelte. In welchem Gegensatze
zu solchem Unterfangen erscheint die weise Zurückhaltung des Meisters,
der als Aufgabe der analytischen Mechanik hinstellt, die Bewegungen der Körper
zu beschreiben.
Auf alle Fälle zeigt der heftige und weit verbreitete Widerspruch gegen
die von mir behauptete Unbegreiflichkeit des Bewußtseins aus mechanischen
Gründen wie unrecht die neuere Philosophie daran tut, diese Unbegreiflichkeit
als selbsverständlich vorauszusetzen. Mit Feststellung dieses Punktes,
also mit irgendeiner der meinigen entsprechenden Argumentation, scheint vielmehr
alles Philosophieren über den Geist anfangen zu müssen. Wäre
Bewußtsein mecha¬nisch begreifbar, so gäbe es keine Metaphysik;
für das Unbewußte allein bedürfte es keiner anderen Philosophie,
als der Mechanik.
Wenn ich hier einen Versuch der Neuzeit anreihe, die andere Schranke des Naturerkennens
weiter hinauszurücken, und Licht auf die Natur der Materie zu werfen, um
auch ihn als unbefriedigend zu bezeichnen, so ist meine Meinung nicht, ihn mit
der Beseelung der Atome gleich niedrig zu stellen. Dieser Versuch ging aus von
der Schottischen mathematisch-physikalischen Schule, von
Sir WILLIAM THOMSON und jenem Prof. TAlT,
dessen Chauvinismus den Streit über LEIBNIZ‘ Anteil an der Erfindung der Infinitesimalrechnung wieder anfachte, und
der sich nicht scheut, LEIBNIZ einen Dieb zu schelten,
daher die Ehre, heut in diesem Saale genannt zu werden, ihm eigentlich nicht
gebührt. Sir WILLIAM THOMSON und Prof.
TAIT glauben, dass sich aus den merkwürdigen Eigenschaften,
welche Hr. VON HELMHOLTZ an den Wirbelringen der
Flüssigkeiten entdeckte, mehrere wichtige Eigentümlichkeiten herleiten
lassen, die wir den Atomen zuschreiben müssen. Man könne sich unter
den Atomen außerordentlich kleine, von Ewigkeit her fort und fort sich
drehende, verschiedentlich geknotete Wirbelringe denken.
Nichts kann ungerechter sein, als, wie in Deutschland geschah, diese Theorie
für eine Wiederbelebung der Cartesischen Wirbel auszugeben. Obwohl in den
Wirbelringen die wägbare Materie nicht, wie in den die Eisenteilchen umgebenden
Strömchen die Elektrizität, parallel der zum Ringe gebogenen Achse,
sondern um diese Achse kreist, fühlt man sich durch die AMPÈREsche Theorie doch günstig für die THOMSONsche
gestimmt. Aber so vorschnell es wäre, Sir
WILLIAM THOMSONS sinnreiche Spekulation leichthin abweisen zu wollen,
weil sie in vielen Stücken zu kurz kommt, eines kann man schon sicher behaupten:
dass sie, so wenig wie irgendeine frühere Vorstellung, die Widersprüche
schlichtet, auf welche unser Intellekt bei seinem Bestreben stößt,
Materie und Kraft zu begreifen. Denn gelänge es ihr auch, bei der ihr zugrunde
liegenden Annahme stetiger Raumerfüllung die verschiedene Dichte der Materie
abzuleiten, sie müsste doch die Wirbelbewegung
entweder von Ewigkeit her bestehen, oder durch supernaturalistischen
Anstoß entstehen lassen, da sie denn vor der zweiten dem Begreifen
der Welt sich widersetzenden Schwierigkeit, dem Problem
vom Ursprung der Bewegung, alsbald wieder ratlos stände.
Dieser Schwierigkeiten lassen sich im ganzen sieben
unterscheiden. Transzendent
nenne ich darunter die, welche mir unüberwindlich erscheinen,
auch wenn ich mir die in der aufsteigenden Entwickelung ihnen voraufgehenden
gelöst denke.
Die erste Schwierigkeit ist das
Wesen von Materie und Kraft. Als meine
eine Grenze des Naturerkennens ist sie an sich
transzendent.
Die zweite Schwierigkeit ist eben
der Ursprung der Bewegung. Wir
sehen Bewegung entstehen und vergehen; wir können uns die Materie in Ruhe
vorstellen; die Bewegung erscheint uns an der Materie als etwas Zufälliges,
wofür in jedem einzelnen Falle der zureichende Grund angegeben werden muß.
Versuchen wir daher uns einen Urzustand zu denken,
in welchem noch keine Ursache auf die Materie eingewirkt hat, so daß in
bezug auf Bewegung unserem Kausalitätsbedürfnis keine weitere Frage
übrig bleibt, so kommen wir dazu, uns vor unendlicher Zeit die Materie
ruhend und im unendlichen Raume gleichmäßig verteilt vorzustellen.
Da ein supernaturalistischer Anstoß in unsere Begriffswelt nicht paßt,
fehlt es dann am zureichenden Grunde für die erste Bewegung. Oder wir stellen
uns die Materie als von Ewigkeit bewegt vor. Dann verzichten wir von vornherein
auf Verständnis in diesem Punkte. Diese Schwierigkeit erscheint mir
transzendent.
Die dritte Schwierigkeit ist die
erste Entstehung des Lebens. Ich sagte schon öfter und
erst eben wieder, daß ich, der hergebrachten Meinung entgegen, keinen
Grund sehe, diese Schwierigkeit für transzendent zu halten. Hat einmal die Materie angefangen sich zu bewegen, so können
Welten entstehen; unter geeigneten Bedingungen, die wir so wenig nachahmen können,
wie die, unter welchen eine Menge unorganischer Vorgänge stattfinden, kann
auch der eigentümliche Zustand dynamischen Gleichgewichtes der Materie,
den wir Leben nennen, geworden sein. Ich wiederhole es und bestehe darauf: sollten
wir einen supernaturalistischen Akt zulassen, so
genügte ein einziger solcher Akt, der bewegte Materie schüfe: auf
alle Fälle brauchten wir nur einen Schöpfungstag.
Die vierte Schwierigkeit wird
dargeboten durch die anscheinend absichtsvoll
zweckmäßige Einrichtung der Natur. Organische Bildungsgesetze
können nicht zweckmäßig wirken, wenn nicht die Materie zu Anfang
zweckmäßig geschaffen wurde; so wirkende Gesetze sind also mit der
mechanischen Naturansicht unverträglich. Aber auch diese Schwierigkeit
ist nicht unbedingt transzendent. DARWIN
zeigte in der natürlichen Zuchtwahl eine Möglichkeit,
sie zu umgehen, und die innere Zweckmäßigkeit der organischen Schöpfung
sowohl wie ihre Anpassung an die unorganischen Bedingungen durch eine nach Art
eines Mechanismus mit Naturnotwendigkeit wirkende Verkettung von Umständen
zu erklären. Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit der Selektionstheorie
zukomme, erwog ich schon früher einmal bei gleicher Gelegenheit an dieser
Stelle. »Mögen wir immerhin«, sagte
ich, »indem wir an diese Lehre uns halten, die Empfindung des sonst
rettungslos Versinkenden haben, der an eine ihn nur eben über Wasser tragende
Planke sich klammert. Bei der Wahl zwischen Planke und Untergang ist der Vorteil
entschieden auf seiten der Planke«. Daß ich die Selektionstheorie einer Planke verglich,
an der ein Schiffbrüchiger Rettung sucht, erweckte im jenseitigen Lager
solche Genugtuung, daß man vor Vergnügen beim Weitererzählen
aus der Planke einen Strohhalm machte. Zwischen Planke und Strohhalm aber ist
ein großer Unterschied. Der auf einen Strohhalm Angewiesene versinkt,
eine ordentliche Planke rettete schon manches Menschenleben; und deshalb ist
auch die vierte Schwierigkeit bis auf weiteres nicht transzendent,
wie zagend ernstes und gewissenhaftes Nachdenken auch immer wieder davor stehe.
Erst die fünfte ist es wieder
durchaus: meine andere Grenze des Naturerkennens,
das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung.
Soeben wurde daran erinnert, wie ich die hypermechanische Natur dieses Problems,
folglich seine Transzendenz, bewies. Es ist nicht unnütz zu betrachten,
wie dies LEIBNIZ tut. An mehreren Stellen seiner
nicht systematischen Schriften findet sich die nackte Behauptung, dass
durch keine Figuren und Bewegungen, in unserer heutigen Sprache, keine Anordnung
und Bewegung von Materie, Bewusstsein entstehen könne. In den
sonst gerade gegen den Essay an Human Understanding
gerichteten Nouveaux Essais sur l’Entendement
humain läßt LEIBNIZ den
Anwalt des Sensualismus, Philalethes,
fast mit LOCKES Worten sagen:
»Vielleicht wird es angemessen sein, etwas Nachdruck
auf ,,die Frage zu legen, ob ein denkendes Wesen von einem nicht denkenden Wesen
ohne Empfindung und Bewusstsein, wie die Materie, herrühren könne.
Es ist ziemlich klar, dass ein materielles Teilchen nicht einmal vermag,
irgendetwas durch sich hervorzubringen und sich selber Bewegung zu erteilen.
Entweder also muss seine Bewegung von Ewigkeit, oder sie muss ihm
durch ein mächtigeres Wesen eingeprägt sein. Aber auch wenn sie von
Ewigkeit wäre, könnte sie nicht Bewusstsein erzeugen. Teilt die
Materie, wie um sie zu vergeistigen, in beliebig kleine Teile; gebt ihr was
für Figuren und Bewegungen ihr wollt; macht daraus eine Kugel, einen Würfel,
ein Prisma, einen Zylinder u. dgl. m., deren Dimensionen nur ein Tausendmilliontel
eines philosophischen Fußes, d. h. des dritten Teiles des Sekundenpendels
unter 45° Breite betragen. Wie klein auch dies Teilchen sei, es wird auf
Teilchen gleicher Ordnung nicht anders wirken, als Körper von einem Zoll
oder einem Fuß Durchmesser es untereinander tun. Und man könnte mit
demselben Recht hoffen, Empfindung, Gedanken, Bewußtsein durch Zusammenfügung
grober Teile der Materie von bestimmter Figur und Bewegung zu erzeugen, wie
mittels der kleinsten Teilchen in der Welt. Diese stoßen, schieben und
widerstehen einander gerade wie die groben, und weiter können sie nichts.
Könnte aber Materie, unmittelbar und ohne Maschine, oder ohne Hilfe von
Figuren und Bewegungen, Empfindung, Wahrnehmung und Bewusstsein aus sich
selber schöpfen: so müßten diese ein untrennbares Attribut der
Materie und aller ihrer Teile sein.«
Darauf antwortet Theophil, der Vertreter des LEIBNIZschen
Idealismus:
»Ich finde diese Schlussfolgerung so fest begründet
wie nur möglich, und nicht nur genau zutreffend, sondern auch tief, und
ihres Urhebers würdig. Ich bin ganz seiner Meinung, dass es keine
Kombination oder Modifikation der Teilchen der Materie gibt. Wie klein
sie auch seien, welche Wahrnehmung erzeugen könnte; da, wie man klar sieht,
die groben Teile dies nicht vermöchten, und in den kleinen Teilen alle
Vorgänge denen in den großen proportional sind.«
In der später für Prinz EUGEN verfassten
»Monadologie« sagt
LEIBNIZ kürzer und mit ihm eigener, charakteristischer Wendung:
»Man ist gezwungen zu gestehen, daß die Wahrnehmung,
und was davon abhängt, aus mechanischen Gründen, d. h. durch Figuren
und Bewegungen, unerklärlich ist. Stellt man sich eine Maschine vor, deren
Bau Denken, Fühlen, Wahrnehmen bewirke, so wird man sie sich in denselben
Verhältnissen vergrößert denken können, so dass man
hineintreten könnte, wie in eine Mühle. Und dies vorausgesetzt wird
man in ihrem Inneren nichts antreffen als Teile, die einander stoßen,
und nie irgendetwas, woraus Wahrnehmung sich erklären ließe«.
So gelangt LEIBNIZ zu demselben Ergebnis wie wir,
doch ist dazu zweierlei zu bemerken.
Erstens verlor LOCKES
von LEIBNIZ angenommene Beweisführung an Bündigkeit
durch die Fortschritte der Naturwissenschaft. Denn vom heutigen Standpunkt aus
könnte eingewendet werden, daß bei immer feinerer Zerteilung der
Materie allerdings ein Punkt kommt, wo sie neue Eigenschaften entfaltet. Es
fällt sogar sehr auf, daß weder LOCKE noch
LEIBNIZ daran dachten, wie es keineswegs gleichgültig
ist, ob fußgroße Klumpen Kohle, Schwefel und Salpeter neben- und
aufeinander ruhen, oder ob diese Stoffe in bestimmtem Verhältnis zu einem
Mischpulver verrieben und zu Klümpchen von einer gewissen Feinheit gekörnt
sind. Nicht einmal die mechanische Leistung einander ähnlicher Maschinen
ist ihrer Größe proportional. Wenn so die Materie nach dem Grad ihrer
Zerteilung andere und andere mechanisch verständliche Wirkungen äußert,
warum sollte sie bei noch feinerer Zerteilung nicht auch denken, ohne dass
diese neue Wirkung aufhörte, mechanisch verständlich zu sein? Um zu
dieser nur scheinbar berechtigten, doch vielleicht manche irreleitenden Frage
nicht erst Gelegenheit zu geben, ist es besser, LOCKES
fortschreitende Zerkleinerung der Materie, LEIBNIZ’
Gedankenmühle aus dem Spiel zu lassen, und sogleich von der in Atome
zerlegten Materie zu beweisen, dass durch keine Anordnung und Bewegung
von Atomen das Bewusstsein je erklärt werde.
Die zweite Bemerkung ist, dass
wir zwar bis hierher mit LEIBNIZ gehen, aber vorläufig
nicht weiter. Aus der Unbegreiflichkeit des Bewußtseins
aus mechanischen Gründen schließt er, dass es nicht durch
materielle Vorgänge erzeugt werde. Wir begnügen uns damit, jene Unbegreiflichkeit
anzuerkennen, der ich gern den drastischen Ausdruck gebe, daß es eben
so unmöglich ist zu verstehen, warum Zwicken des N. trigeminus Höllenschmerz
verursacht, wie warum die Erregung gewisser anderer Nerven wohltut. LEIBNIZ verlegt das Bewusstsein in die dem Körper zuerteilte
Seelenmonade, und lässt durch Gottes
Allmacht darin eine den Erlebnissen des Körpers entsprechende Reihe
von Traumbildern ablaufen. Wir dagegen häufen Gründe dafür, dass
das Bewusstsein an materielle Vorgänge gebunden
sei.
Übrigens wurde gegen meinen Beweis der Unmöglichkeit, Bewusstsein
mechanisch zu begreifen, von keiner Seite ein Wort vorgebracht; man begnügte
sich mit kontradiktorischen Behauptungen. Nach Hrn. HAECKEL
wäre mein Leipziger Vortrag »im wesentlichen eine großartige
Verleugnung der Entwickelungsgeschichte«, indem ich nicht berücksichtige,
dass die Menschheit mit der Zeit eine Organisation erreichen werde, die
über der jetzigen so hoch stehe, wie diese über der unserer Progenitoren
in irgendeiner früheren geologischen Periode. Inzwischen scheint etwa seit
HOMER unsere Spezies ziemlich stabil; seit EPIKUR,
der schon die Konstanz von Materie und Kraft kannte, ward das Wesen der Körperwelt,
seit PLATON und ARISTOTELES das des Geistes nicht verständlicher, und ehe Hrn. HAECKELS Vorhersage sich erfüllt, durfte die Erde unbewohnbar werden. Allein wenn
hier einer an der Entwickelungsgeschichte sich versündigte, ist es der
Jenenser Prophet. Wie rasch oder langsam auch das menschliche Gehirn fortschreite,
es muß innerhalb des gegebenen Typus bleiben, dessen höchstes Erzeug¬nis
das unerreichbare Ideal des LAPLACEschen Geistes wäre. Da nun meine Grenzen des Naturerkennens auch für diesen gelten,
wird auch durch Entwickelung die Menschheit nie darüber sich fortheben,
und wenn Hr. HAECKEL gegen meine Argumentation
nichts ein¬zuwenden weiß, als die Möglichkeit paratypischer Entwickelung,
werde ich wohl recht behalten.
Nicht mit voller Überzeugung stelle ich als sechste
Schwierigkeit das vernünftige Denken
und den Ursprung der damit eng verbundenen Sprache auf. Zwischen
Amöbe und Mensch, zwischen Neugeborenem und Erwachsenem ist sicher eine
gewaltige Kluft; sie lässt sich aber bis zu einem gewissen Grade durch
Übergänge ausfüllen. Die Entwickelung des geistigen Vermögens
in der Tierreihe leistet dies objektiv bis zu den anthropoiden Affen; um beim
Einzelwesen von der einfachen Empfindung zu den höheren Stufen geistiger
Tätigkeit zu gelangen, bedarf die Erkenntnistheorie wahrscheinlich nur des Gedächtnisses und des Vermögens der Verallgemeinerung. Wie
groß auch der zwischen den höchsten Tieren und den niedrigsten Menschen
übrigbleibende Sprung und wie schwer die hier zu lösenden Aufgaben
seien, bei einmal gegebenem Bewusstsein ist deren Schwierigkeit ganz anderer
Art als die, welche der mechanischen Erklärung des Bewusstseins überhaupt
entgegensteht: diese und jene sind inkommensurabel. Daher bei gelöstem
Problem B - um wieder STRAUSS‘ Notation anzuwenden, das Problem C mir
nicht transzendent erscheint. Wie STRAUSS richtig
bemerkt, hängt aber das Problem C eng zusammen mit einem anderen, welches
in unserer Reihe als
siebentes und letztes auftritt. Dies ist die
Frage nach der Willensfreiheit.
Zwar liegt es in der Natur der Dinge, dass alle hier aufgezählten
Probleme die Menschheit beschäftigt haben, solange sie denkt. Über
Konstitution der Materie, Ursprung des Lebens und der Sprache ist jederzeit,
bei allen Kulturvölkern, gegrübelt worden. Doch waren es stets, nur
wenig erlesene Geister, die bis zu diesen Fragen vordrangen, und wenn auch gelegentlich
scholastisches Gezänk um sie sich erhob, reichte doch der Hader kaum über
akademische Hallen hinaus. Anders mit der Frage, ob der
Mensch in seinem Handeln frei, oder durch unausweichlichen Zwang gebunden sei. Jeden berührend, scheinbar jedem zugänglich, innig verflochten mit
den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das tiefste eingreifend
in die religiösen Überzeugungen, hat diese Frage in der Geistes- und
Kulturgeschichte eine Rolle unermesslicher Wichtigkeit gespielt, und in
ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des Menschengeistes
deutlich ab.
Das klassische Altertum hat sich über das Problem der Willensfreiheit den
Kopf nicht sehr zerbrochen. Da für die antike Weltanschauung im allgemeinen
weder der Begriff unverbrüchlich bindender Naturgesetze, noch der einer
absoluten Weltregierung vorhanden war, so lag kein Grund vor zu einem Konflikt
zwischen Willensfreiheit und dem herrschenden Weltprinzip. Die Stoa glaubte an ein Fatum, und leugnete demgemäß die Willensfreiheit,
die römischen Moralisten stellten diese aber aus ethischem Bedürfnis
auf naiv subjektiver Grundlage wieder her. »Sentit
animus se« heißt es in den Tusculanen — »quod
quum sentit, illud una sentit se vi sua, non aliena moveri«;
und der stoische Fatalismus wurde durch Anekdoten
verspottet, wie die von dem Sklaven des ZENON von Kition,
der den begangenen Diebstahl durch das Fatum entschuldigend zur Antwort erhält:
Nun wohl, so war es auch dein Fatum geprügelt zu werden. …
Der christliche Dogmatismus (gleichviel wieviel semitische und wieviel hellenistische
Elemente zu ihm verschmolzen) war es, der durch die Frage nach der Willensfreiheit
in die dunkelsten, selbstgegrabenen Irrwege geriet.
Von den Kirchenvätern und Schismatikern, von AUGUSTINUS
und PELAGIUS, durch die Scholastiker Scotus
ERIGENA und ANSELM von Canterbury,
bis zu den Reformatoren LUTHER und
CALVIN und darüber hinaus, zieht sich der hoffnungslos verworrene Streit der Willensfreiheit und Prädestination. Gott
ist allmächtig und allwissend; nichts geschieht, was er nicht v on Ewigkeit
wusste und vorhersah. Also ist der Mensch unfrei; denn handelte er anders
als Gott vorherbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend
gewesen. Also liegt es nicht in des Menschen Willen, dass er das Gute tue
oder sündige. Wie kann er dann für seine
Taten verantwortlich sein? Wie verträgt es sich mit Gottes Gerechtigkeit
und Güte, dass er den Menschen straft oder belohnt für Handlungen,
welche im Grunde Gottes eigene Handlungen sind?
Das ist die Form, in welcher das Problem der Willensfreiheit
dem durch heiligen Wahnsinn verfinsterten Menschengeiste sich darstellte. Die Lehre von der Erbsünde, die Fragen nach der Erlösung durch eigenes
Verdienst oder durch das Blut des Heilandes, durch den Glauben oder durch die
Werke, nach den verschiedenen Arten der Gnade, verwuchsen tausendfältig
mit jenem an Spitzfindigkeiten schon hinlänglich fruchtbaren Dilemma, und
vom vierten bis zum siebzehnten Jahrhundert widerhallten durch die ganze Christenheit
Klöster und Schulen von Disputationen über Determinismus
und Indeterminismus. Vielleicht gibt es keinen Gegenstand menschlichen
Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener
Folianten im Staube der Bibliotheken modern. Aber nicht immer blieb es beim
Bücherstreit. Wütende Verketzerung mit allen Greueln, die der herrschenden
Religionspartei gegen Andersdenkende freistanden, hing sich an solche abstruse
Kontroversen um so lieber, je weniger damit Vernunft und aufrichtiges Streben
nach Wahrheit zu tun hatten.
Wie anders faßt unsere Zeit das Problem der Willensfreiheit auf. Die Erhaltung
der Energie besagt, daß, so wenig wie Materie, jemals Kraft entsteht oder
vergeht. Der Zustand der ganzen Welt, auch eines menschlichen Gehirnes, in jedem
Augenblick ist die unbedingte mechanische Wirkung des Zustandes im vorhergehenden
Augenblick, und die unbedingte mechanische Ursache des Zustandes im folgenden
Augenblick. Dass unter gegebenen Umständen von zwei Dingen entweder
das eine oder das andere geschehen könne, ist undenkbar. Die Hirnmolekeln
können stets nur auf bestimmte Weise fallen, so sicher wie Würfel,
nachdem sie den Becher verließen. Wiche eine Molekel ohne zureichenden
Grund aus ihrer Lage oder Bahn so wäre das ein Wunder so groß, als
bräche der Jupiter aus seiner Ellipse und versetzte das Planetensystem
in Aufruhr. Wenn nun, wie der Monismus es sich denkt, unsere Vorstellungen und
Strebungen, also auch unsere Willensakte, zwar unbegreifliche, doch notwendige
und eindeutige Begleiterscheinungen der Bewegungen und Umlagerungen unserer
Hirnmolekeln sind, so leuchtet ein, dass es keine Willensfreiheit gibt; dem Monismus ist die Welt ein Mechanismus, und in einem Mechanismus ist kein
Platz für Willensfreiheit.
Der erste, dem die materielle Welt in solcher Gestalt vorschwebte, war LEIBNIZ.
Wie ich an dieser Stelle schon öfter bemerklich machte, war seine mechanische
Weltanschauung durchaus dieselbe, wie die unsrige. Wenn er die Erhaltung der
Energie auch noch nicht wie wir durch verschiedene Molekularvorgänge zu
verfolgen vermochte, er war von dieser Erhaltung überzeugt. Er befand sich
sämtlichen Molekularvorgängen gegenüber in der Lage, in welcher
wir uns noch einzelnen gegenüber befinden. Da nun LEIBNIZ
ebenso fest an eine Geisterwelt glaubte, die ethische Natur des Menschen
in den Kreis seiner Be¬trachtungen zog, ja mit der positiven Religion trefflich
sich abfand, so lohnt sich zu fragen, was er von der Willensfreiheit hielt,
insbesondere wie er sie mit der mechanischen Weltansicht zu verbinden wußte.
LEIBNIZ war unbedingter Determinist,
und musste es seiner ganzen Lehre nach sein. Er nahm
zwei von Gott geschaffene Substanzen an, die materielle
Welt und die Welt seiner
Monaden. Die eine kann nicht auf die andere wirken; in beiden laufen
mit unabänderlich vorherbestimmter Nötigung, vollkommen unabhängig
voneinander, aber genau Schritt haltend, miteinander harmonierende Prozesse
ab: das mathematisch vor- und rückwärts berechenbare Getriebe der
Weltmaschine, und in den zu jedem beseelten Einzelwesen gehörigen Seelenmonaden
die Vorstellungen, welche den scheinbaren Sinneseindrücken, Willensakten
und Vorstellungen des Wirtes der Monade entprechen. Der bloße Namen der
prästabilierten Harmonie, den LEIBNIZ seinem
Systeme gibt, schließt Freiheit aus. Da die Vorstellungen der Monaden
nur Traumbilder ohne mechanische Ursache, ohne Zusammenhang mit der Körperwelt
sind, so hat es LEIBNIZ leicht, die subjektive Überzeugung von der Freiheit unserer Handlungen zu erklären. Gott
hat einfach den Fluss der Vorstellungen der Seelenmonade so geregelt, dass sie frei zu handeln meint.
Bei anderer Gelegenheit schließt sich LEIBNIZ mehr der gewöhnlichen Denkweise an, indem er dem Menschen einen Schein
von Freiheit lässt, hinter welchem sich geheime zwingende Antriebe
verbergen. Durch den Artikel »BURIDAN« in
seinem Dictionnaire historique et critique
hatte PIERRE BAYLE wieder die Aufmerksamkeit auf
das vielbesprochene, fälschlich jenem Scholastiker zugeschriebene, schon
bei DANTE, ja bei ARISTOTELES
vorkommende Sophisma gelenkt
»…….. von dem grauen Freunde,
Der zwischen zwei Gebündel Heu«
elendiglich verhungert, da beiderseits alles gleich ist, er aber als Tier das
franc arbitre entbehrt.
»Es ist wahr«, sagt LEIBNIZ
in der Theodicee, »dass,
wäre der Fall möglich, man urteilen müsste, dass er
sich Hungers sterben lassen würde: aber im Grunde han¬delt es sich
um unmögliches; es sei denn, daß Gott die Sache absichtlich verwirkliche.
Denn durch eine den Esel der Länge nach hälftende senkrechte Ebene
könnte nicht auch das Weltall so gehälftet werden, dass beiderseits
alles gleich wäre; wie eine Ellipse oder sonst eine der von mir amphidexter
genannten ebenen Figuren, welche jede durch ihren Mittelpunkt gezogene Gerade
hälftet. Denn weder die Teile des Weltalls, noch die Eingeweide des Tieres
sind auf beiden Seiten jener senkrechten Ebene einander gleich und gleich gelegen.
Es würde also immer viel Dinge im Esel und außerhalb des Esels geben,
welche, obschon wir sie nicht bemerken, ihn bestimmen würden, eher der
einen als der anderen Seite sich zuzuwenden. Und obschon der Mensch frei ist,
was der Esel nicht ist, erscheint doch auch im Menschen der Fall vollkommenen
Gleichgewichtes der Bestimmungsgründe für zwei Entschlüsse unmöglich,
und ein Engel, oder wenigstens Gott, würde stets einen Grund für den
vom Menschen gefassten Entschluss angeben können, wenn auch wegen
der weitreichenden Verkettung der Ursachen dieser Grund oft sehr zusammengesetzt
und uns selber unbegreiflich wäre.«
Über die Frage, wo beim Determinismus die Verantwortlichkeit
des Menschen, die Gerechtigkeit und Güte Gottes bleiben, hilft sich
LEIBNIZ mit seinem Optimismus
fort. Am Schluß der Theodicce, von der ein großer Teil diesem
Gegenstande gewidmet ist, führt er, eine Fiktion des LAURENTIUS
VALLA fortspinnend aus, wie es für den SEXTUS
TARQUINIUS freilich schlimm war, Verbrechen begehen zu müssen, für
welche ihm die Strafe nicht erspart werden konnte. Zahllose Welten waren möglich,
in denen TARQUINIUS eine mehr oder minder achtungswerte
Rolle gespielt, mehr oder minder glücklich gelebt hätte, darunter
solche sogar, wo er als tugendhafter Greis, von seinen Mitbürgern geehrt
und beweint, hochbejahrt gestorben wäre: allein Gott mußte vorziehen,
diese Welt zu erschaffen, in welcher SEXTUS TARQUINIUS
ein Bösewicht wurde, weil voraussichtlich sie die beste, das Verhältnis des Guten zum unumgänglichen
Übel für sie ein Maximum war.
Es braucht nicht gesagt zu werden, daß dem
Monismus mit diesen immerhin in sich folgerichtigen, aber, um das geringste
zu sagen, höchst willkürlichen und das Gepräge des Unwirklichen
tragenden Vorstellungen nicht gedient sein kann, und so muß er denn selber
seine Stellung zum Problem der Willensfreiheit sich suchen. Sobald man sich
entschließt, das subjektive Gefühl der
Freiheit für
Täuschung zu erklären, ist es auf monistischer Grundlage so leicht,
wie bei LEIBNIZ‘ extremem Dualismus, die
scheinbare Freiheit mit der Notwendigkeit zu versöhnen. Die Fatalisten
aller Zeiten, worin auch ihre Überzeugung wurzelte, ZENON, AUGUSTINUS,
und die Thomisten, CALVIN,
LEIBNIZ, LAPLACE, - Jacques und seinen Hauptmann nicht zu vergessen -
fanden darin keine Schwierigkeit. Mit mäßiger dialektischer Gewandtheit
läßt sich einem jenes von CICERO beschriebene
Gefühl wegdisputieren.
Auch im Traume fühlen wir uns frei, da doch die Phantasmen unserer Sinnsubstanzen
mit uns spielen. Von vielen scheinbar mit bewußter Absicht ausgeführten,
weil zweckmäßigen Handlungen wissen wir jetzt, dass sie unwillkürliche
Wirkungen gewisser Einrichtungen unseres Nervensystemes sind, der Reflexmechanismen
und der sogenannten automatischen Nervenzentren. Wenn wir auf den Fluß
unserer Gedanken achten, bemerken wir bald, wie unabhängig von unserem
Wollen Einfälle kommen, Bilder aufleuchten und verlöschen. Sollten
unsere vermeintlichen Willensakte in der Tat viel willkürlicher sein? Sind
übrigens alle unsere Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen nur das Erzeugnis
gewisser materieller Vorgänge in unserem Gehirn, so kann ja der Molekularbewegung,
mit welcher die Willensempfindung zum Heben des Armes verbunden ist, auch sogleich
der materielle Anstoß entsprechen, der die Hebung des Armes rein mechanisch
bewirkt, und es bleibt also heim ersten Blick gar kein Dunkel mehr zurück.
Das Dunkel zeigt sich aber für die meisten Naturen, sobald man die physische
Sphäre mit der ethischen vertauscht. Denn man gibt leicht zu, daß man nicht frei, sondern als Werkzeug verborgener Ursachen handelt, solange die Handlung gleichgültig ist. Ob CÄSAR in Gedanken die rechte oder linke Caliga zuerst anlegt, bleibt sich gleich,
in beiden Fällen tritt er gestiefelt aus dem Zelt. Ob er den Rubikon überschreitet
oder nicht, davon hängt der Lauf der Weltgeschichte ab. So wenig frei sind
wir in gewissen kleinen Entschließungen. daß ein Kenner der menschlichen
Natur mit überraschender Sicherheit vorhersagt, welche Karte von mehreren
unter bestimmten Bedingungen hingelegten wir aufnehmen werden.
Aber auch der entschlossenste Monist vermag den ernsteren Forderungen des praktischen
Lebens gegenüber die Vorstellung nur schwer festzuhalten, daß das
ganze menschliche Dasein nichts sei als eine Fable
convenue, in welcher mechanische Notwendigkeit
dem Cajus die Rolle des Verbrechers, dem
Sempronius die des Richters erteilte, und deshalb Cajus zum Richtplatz geführt wird, während Sempronius
frühstücken geht. Wenn Hr. VON STEPHAN
uns berichtet, daß auf hunderttausend Briefe jahraus jahrein so
und so viel entfallen, welche ohne Adresse in den Kasten geworfen werden, denken
wir uns nichts Besonderes dabei. Aber daß nach QUETELET
unter hunderttausend Einwohnern einer Stadt jahraus jahrein naturnotwendig
so und so viel Diebe, Mörder und Brandstifter sind, das empört unser
sittliches Gefühl; denn es ist peinlich, denken zu müssen, daß
wir nur deshalb nicht Verbrecher wurden, weil andere für uns die schwarzen
Lose zogen, die auch unser Teil hätten werden können.
Wer gleichsam schlafwandelnd durch das Leben geht, ob er in seinem Traum die
Welt regiere oder Holz hacke; wer als Historiker, Jurist, Poet in einseitiger
Beschaulichkeit mehr mit menschlichen Satzungen und Leidenschaften, oder wer
naturforschend und -beherrschend ebenso beschränkten Blickes nur mit Naturgesetzen
verkehrt: der vergißt jenes Dilemma, auf dessen Hörner gespießt
unser Verstand gleich der Beute des Neuntöters schmachtet; wie wir die
Doppelbilder vergessen, welche Schwindel erregend uns sonst überall verfolgen
würden. In um so verzweifelteren Anstrengungen, solcher Qual sich zu entwinden,
erschöpft sich die kleine Schar derer, die mit dem Rabbi von Amsterdam
das All sub specie aeternitatis [unter
dem Blickwinkel der Ewigkeit] anschauen: es sei denn, daß sie wie LEIBNIZ getrost die Selbstbestimmung sich
absprechen. Die Schriften der Metaphysiker bieten eine lange Reihe von Versuchen,
Willensfreiheit und Sittengesetz mit mechanischer Weltordnung zu versöhnen.
Wäre ihrer einem, etwa KANT, diese Quadratur
wirklich gelungen, so hätte wohl die Reihe ein Ende. So unsterblich pflegen
nur unbesiegbare Probleme zu sein.
Minder bekannt als diese metaphysischen sind die neuerlich in Frankreich hervorgetretenen,
auf dasselbe Ziel gerichteten mathematischen Bestrebungen. Sie knüpfen
an DESCARTES‘ verunglückten Versuch
an, die Wechselwirkung zwischen Seele und Leib, der von ihm angenommenen geistigen und materiellen Substanz zu erklären.
Obschon nämlich DESCARTES die Quantität
der Bewegung in der Welt für konstant hielt, und obschon er nicht glaubte,
daß die Seele Bewegung erzeugen könne, meinte er doch, daß die Richtung der Bewegung durch die Seele bestimmt
werde. LEIBNIZ zeigte, daß nicht die Summe
der Bewegungen, sondern die der Bewegungskräfte konstant ist, und daß
auch die in der Welt vorhandene Summe der Richtkräfte oder des Fortschrittes
nach irgendeiner im Raume gezogenen Achse dieselbe bleibt. So nennt er die algebraische
Summe der jener Achse parallelen Komponenten aller mechanischen Momente. Nach
letzterem von DESCARTES übersehenen Satze
könne auch die Richtung von Bewegungen nicht ohne entsprechenden Kraftaufwand
bestimmt oder verändert werden. Wie klein man sich solchen Kraftaufwand
auch denke, er mache einen Teil des Naturmechanismus aus, und könne nicht
der geistigen Substanz zugeschrieben werden. Eine Einsicht, zu welcher es wohl
kaum des von LEIBNIZ herangezogenen Apparates bedurfte,
da der Hinweis auf GALILEIS Bewegungsgesetze genügt.
Der verstorbene Mathematiker COURNOT in Dijon,
Hr. BOUSSINESQ, Professor in Lille und der durch seine Arbeiten über
Elastizität rühmlich bekannte Pariser Akademiker Hr.
DE SAINT-VENANT haben sich nacheinander die Aufgabe gestellt, die Bande
des mechanischen Determinismus durch den Nachweis zu sprengen, daß,
LEIBNIZ‘ Behauptung entgegen, ohne Kraftaufwand Bewegung erzeugt
oder die Richtung der Bewegung geändert werden könne. COURNOT
und Hr. DE SAINT-VENANT führen dazu den der
deutschen physiologischen Schule längst geläufigen Begriff der Auslösung (décrochement) ein. Sie glauben,
daß die zur Auslösung der willkürlichen Bewegung nötige
Kraft nicht nur verhältnismäßig sehr klein, sondern Null sein
könne. Hr. BOUSSINESQ seinerseits weist auf
gewisse Differentialgleichungen der Bewegung hin, deren Integrale singuläre
Lösungen derart zulassen, daß der Sinn der weiteren Bewegung zweideutig
oder völlig unbestimmt wird.
Schon POISSON hatte auf diese Lösungen als
auf eine Art mechanischen Paradoxons aufmerksam gemacht.
Solch ein Fall ist beispielsweise der, wo einem schweren Punkt am Mantel eines
reibungslosen Kegels mit senkrechter Achse und aufwärts gerichteter Spitze
in der Richtung auf die Spitze zu die Geschwindigkeit erteilt wird, welche er
von der Spitze frei herabfallend in derselben wagerechten Ebene erlangen würde.
Er kommt dann auf der Spitze mit der Geschwindigkeit Null
an, und bleibt in Ruhe, bis es, nach Hrn. BOUSSINESQS
Annahme, einem dort hausenden »Principe directeur« gefällt, ihm in beliebiger Richtung einen ihn der Unterstützung beraubenden
Anstoß zu erteilen, der, obschon mechanisch gleich Null, doch imstande
sein soll, ihn am Kegelmantel wieder herabgleiten zu lassen. Einen Punkt einer
Kurve oder Fläche, wo dergleichen sich ereignen kann, nennt Hr.
BOUSSINESQ Point d‘arrêt,
einen Punkt, wo die Bahn sich gabelt, Point de bifurcation, und er meint, daß solche Punkte es seien, wo im Organismus ein immaterielles
Prinzip mechanische Wirkungen erzeugen könne.
COURNOT glaubt der auslösenden Kraft gleich
Null, Hr. BOUSSINESQ der Integrale mit singulären
Lösungen schon zu bedürfen, um dadurch, in Verbindung mit dem »lenkenden
Prinzipe«, die Mannigfaltigkeit und Unbestimmbarkeit der organischen
Vorgänge zu erklären. Die deutsche physiologische Schule, längst
gewöhnt, in den Organismen nichts zu sehen als eigenartige Mechanismen,
wird sich mit dieser Auffassung schwerlich befreunden, und trotz den gegenteiligen
Versicherungen, trotz der von Hrn. BOUSSINESQ angerufenen
Auktorität CLAUDE BERNARDS, hinter dem »lenkenden
Prinzipe« die in Frankreich stets, unter der einen oder anderen
Gestalt und Benennung, wieder auftauchende Lebenskraft
fürchten. COURNOTS vitalistische
Denkweise liegt völlig am Tage.
Dabei sei bemerkt, daß Hr. BOUSSSINESQ mich
mißversteht, wenn er mich in den »Grenzen
des Naturerkennens« sagen läßt, ein Organismus unterscheide
sich von einer Kristallbildung, etwa von Eisblumen oder dem Dianabaum, nur durch
größere Verwickelung. Ich lege im Gegenteil Wert darauf, den Umstand
genau bezeichnet zu haben, in welchem mir alle die sinnfälligen Unterschiede
zu wurzeln scheinen, die jederzeit und überall die Menschheit trieben,
in der lebenden und der toten Natur zwei verschiedene
Reiche zu erkennen, obschon, unserer jetzigen Überzeugung nach,
in beiden dieselben Kräfte walten. Dieser Umstand ist der, daß in
den unorganischen Individuen, den Kristallen, die Materie sich in stabilem Gleichgewicht
befindet, während in den organischen Individuen, den Lebewesen, mehr oder
minder vollkommenes dynamisches Gleichgewicht der Materie herrscht, bald mit
positiver, bald mit negativer Bilanz. Während der das Tier durchrauschende
Strom von Materie der Umwandlung potentieller in kinetische
Energie dient, erklärt er zugleich die Abhängigkeit des Lebens
von äußeren Bedingungen, den integrierenden oder Lebensreizen der
älteren Physiologie, und die Vergänglichkeit des Organismus gegenüber
der Ewigkeit des bedürfnislos in sich ruhenden Kristalls.
Unseres Bedünkens kann die Theorie des unbewußten Lebens ohne sich
gabelnde oder unbestimmt werdende Integrale und ohne »lenkendes
Prinzip« auskommen. Andererseits ist zu bezweifeln, daß damit,
oder mit der Auslösung, in dem Streit zwischen Willensfreiheit und Notwendigkeit
irgend etwas auszurichten sei. Hrn. PAUL JANETs
empfehlender Bericht an die Académie des Sciences
morales et politiques, dessen lichtvolle Schönheit ich höchlich
bewundere, läßt auf die Verantwortung der drei Mathematiker hin die
Möglichkeit eines mechanischen Indeterminismus gelten. Indem aber diese
Lehre von der Behauptung, die auslösende Kraft könne
unendlich klein sein, übergeht zu der, sie könne auch wirklich Null
sein, scheint sie von einem in der Infinitesimalrechnung unter ganz anderen
Bedingungen üblichen Verfahren unstatthaften Gebrauch zu machen.
Erstere Behauptung will doch nur sagen, daß die auslösende Kraft im Vergleich zur ausgelösten Kraft verschwindend
klein sein könne. So verschwindet die Kraft des Flügelschlages einer
Krähe, welcher die Lawine zu Fall bringt, gegen die Kraft der schließlich
zu Tal stürzenden Schneemassen, d. h. wir können eine der ersteren
gleiche Kraft bei Messung der letzteren vernachlässigen, weil sie bei keiner
ziffermäßigen Erwägung merklichen Einfluß übt, auch
weit innerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler fällt. Aber wie winzig,
vom Tal aus betrachtet, neben der rasenden Gewalt der Lawine der Flügelschlag
hoch oben erscheint, in der Nähe bleibt er ein Flügelschlag, dem ein
bestimmtes Gewicht auf bestimmte Höhe gehoben entspricht.
Im Wesen der Auslösung liegt, daß auslösende und ausgelöste
Kraft voneinander unabhängig, durch kein Gesetz verknüpft sind; nach
JUL. ROB. MAYERs treffendem Ausdruck ist die Auslösung überhaupt
kein Gegenstand mehr für die Mathematik. Daher es mindestens ungenau ist
zu sagen, »das Verhältnis der auslösenden
zur ausgelösten Kraft strebe der Grenze Null zu«, ohne hinzuzufügen,
daß dies nur auf einem im Sinne der auslösenden Kraft zufälligen
Wachsen der ausgelösten Kraft beruhe, also in unserem Beispiel bei sich
gleichbeibendem Flügelschlag auf immer größerer Höhe, Steilheit,
Glätte der Bergwand, immer mächtigerer Anhäufung von Schnee,
u. dgl. m. So wenig kann die auslösende Kraft an sich wahrhaft Null sein,
daß, soll nicht die Auslösung versagen, sie nicht einmal unter einen
gewissen, von den Umständen abhängigen »Schwellenwert«
sinken darf; und es ist also nicht daran zu denken, mit Hilfe der Auslösung
zu erklären, wie eine geistige Substanz materielle Änderungen bewirke.
Was die von Hrn. BOUSSINESQ vorgeschlagene Lösung
betrifft, so ist der schwere Punkt im Point
d‘arrêt einfach in labilem Gleichgewicht liegen geblieben, und um die Folgen dieser Lagerung zu erwägen, war nicht
nötig, ihn erst durch Integration hinauf zu befördern. In der Tat
unterscheidet sich der Fall nur durch abstrakte Ausdrucksweise und mathematische
Einkleidung von dem DANTES oder BURIDANS, der sich auch so formulieren läßt, daß das hungernde Geschöpf
sich
»Intra duo cibi, distanti e moventi
D‘un modo …«
in labilem Gleichgewicht befinde. Kein »lenkendes
Prinzip« immaterieller Natur vermag den schweren Punkt auf der
Spitze des Kegels um die kleinste Größe zu verschieben: unter allen Umständen gehört dazu eine wenn auch noch so kleine mechanische
Kraft. Könnte dies eine Kraft gleich Null, so verschwände zugleich
unsere zweite transzendente Schwierigkeit, Entstehung der Bewegung bei gleichmäßiger
Verteilung der Materie im unendlichen Raum: da es an einem Anstoß gleich
Null ja nirgend fehlt.
Hr. BOUSSINESQ bringt auch die bekannte Frage zur Sprache, was
die Folge der Umkehr aller Bewegungen in der Welt wäre. Denkt man
sich den Weltmechanismus nur aus umkehrbaren Vorgängen bestehend, und in
einem gegebenen Augenblick die Bewegungen aller großen und kleinen Teile
der Materie mit gleicher Geschwindigkeit in gleicher Richtung umgekehrt, wie
die eines zurückgeworfenen Balles, so müßte die
Geschichte der materiellen Welt sich rückwärts wieder abspielen. Alles,
was je sich ereignet, trüge sich in umgekehrter Ordnung nach gemessener
Frist wieder zu, das Huhn würde wieder zum Ei, der Baum wüchse rückwärts
zum Samen, und nach unendlicher Zeit hätte der Kosmos
wieder zum Chaos sich aufgelöst.
Welche Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen begleiteten nun wohl die verkehrten
Bewegungen der Hirnmolekeln? Waren die geistigen Zustände nur an Stellungen
von Atomen geknüpft, so würden mit denselben Stellungen dieselben
Zustände wiederkehren, was zu wunderlichen Folgerungen, beispielsweise
zu der führt, daß unmittelbar vor einem Willensakte
jedesmal das Umgekehrte von dem Gewollten geschähe. Wir können
uns aber die Erwägung der hier denkbaren Möglichkeiten sparen. Nicht
nur, wie Hr. BOUSSINESQ ausführt, wegen der
sich gabelnden oder unbestimmt werdenden Integrale, sondern auch sonst ist die
Annahme falsch, daß so die Kurbel der Weltmaschine auf »Rückwärts« gestellt werden könnte. Unter anderem würde die durch Reibung in Wärme
umgewandelte Massenbewegung nicht wieder in denselben Betrag mit verändertem
Vorzeichen gleichgerichteter Massenbewegung zurückverwandelt werden. Die
verkehrte Welt bleibt ein unmögliches mechanisches Phantasiestück,
aus welchem über Zustandekommen von Bewusstsein und über Willensfreiheit
nichts sich folgern läßt.
Mit unserer siebenten Schwierigkeit also steht es so, dass sie keine ist,
wofern man sich entschließt, die Willensfreiheit zu leugnen und das subjektive
Freiheitsgefühl für Täuschung zu erklären, dass
aber anderenfalls sie für transzendent gelten muss und es ist dem Monismus nur ein schlechter Trost, dass er
den Dualismus in das gleiche Netz in dem Maß hilfloser verstrickt sieht, wie dieser mehr Gewicht auf das Ethische legt. In
diesem Sinne schrieb ich einst, in der Vorrede zu meinen »Untersuchungen
über tierische Elektrizität«, die Worte, auf welche sich
jetzt STRAUSS gegen mich berief: »Die
analytische Mechanik reicht bis zum Problem der persönlichen Freiheit,
dessen Erledigung Sache der Abstraktionsgabe jedes einzelnen bleiben muss.« Es kam aber später, ich mache daraus kein Hehl, für mich der Tag von
Damaskus. Wiederholtes Nachdenken zum Zweck meiner öffentlichen Vorlesungen »Über einige Ergebnisse der neueren Naturforschung« führte mich zur Überzeugung, dass dem Problem
der Willensfreiheit mindestens noch drei transzendente Probleme vorhergehen:
außer dem schon früher von mir erkannten des Wesens von Materie und
Kraft, das der ersten Bewegung und das der ersten Empfindung in der Welt.
Dass die sieben Welträtsel hier wie in
einem mathematischen Aufgabenbuch hergezählt und numeriert wurden, geschah
wegen des wissenschaftlichen Divide et impera
[Teile und herrsche]. Man kann sie auch zu einem einzigen Problem,
dem Weltproblem, zusammenfassen.
Der gewaltige Denker, dessen Gedächtnis wir heute feiern, glaubte dies
Problem gelöst zu haben: er hatte sich die Welt zu seiner Befriedigung
zurechtgelegt. Könnte LEIBNIZ, auf seinen
eigenen Schultern stehend, heut unsere Erwägungen teilen, er sagte sicher
mit uns
»Dubitemus«. S.67ff.
Aus: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die
sieben Welträtsel. Zwei Vorträge von Emil Du Bois-Reymond. Leipzig
Verlag von Veit und Comp. 1907