Ernst Haeckel (1834 – 1919)

Deutscher Zoologe und Naturphilosoph, der einer der Neuformer und Verfechter der Abstammungslehre Darwins war. Mit seiner Urzeugungs- und Monerentheorie sowie durch sein »biogenetisches Grundgesetz« suchte er die Deszendenztheorie, die er auch auf die Entwicklung des Menschen ausdehnte, weiter zu untermauern, u. a. auch durch seinen Monismus, den er als Band zwischen Religion und Wissenschaft verstand.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Der Begriff Gott
Theismus
Polytheismus
Triplotheismus
Amphitheismus
Monotheismus
Pantheisimus

Atheismus
Schöpfung
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge
Schöpfung der Substanz
Schöpfung der Einzeldinge
Der große »züchtende Gott«
Die Lösung der Welträtsel
Die Antinomien von Immanuel Kant


Christus
Das Buch der Bücher
Mohammeds Sicht von Christus
Die Quellen des Christentums
Die goldene Regel
Die Abstammung Jesu

Der Begriff Gott
Als letzten und höchsten Urgrund aller Erscheinungen betrachtet die Menschheit seit Jahrtausenden eine bewirkende Ursache unter dem Begriffe Gott (Deus, Theos). Wie alle anderen allgemeinen Begriffe, so ist auch dieser höchste Grundbegriff im Laufe der Vernunftentwicklung den bedeutendsten Umbildungen und den mannigfaltigsten Abartungen unterworfen gewesen. Ja, man kann sagen, daß kein anderer Begriff so sehr umgestaltet und abgeändert worden ist; denn kein anderer berührt in gleich hohem Maße sowohl die höchsten Aufgaben des erkennenden Verstandes und der vernünftigen Wissenschaft als auch zugleich die tiefsten Interessen des gläubigen Gemütes und der dichtenden Phantasie. (S.353)

THEISMUS: Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen. Gott steht der Welt gegenüber als der Schöpfer, Erhalter und Regierer. Dabei wird Gott stets mehr oder weniger menschenähnlich gedacht, als ein Organismus, welcher dem Menschen ähnlich (wenn auch in höchst vollkommener Form) denkt und handelt. Dieser anthropomorphe Gott, offenbar polyphyletisch von den verschiedenen Naturvölkern erdacht, unterliegt in deren Phantasie bereits den mannigfaltigsten Abstufungen vom Fetischismus aufwärts bis zu den geläuterten monotheistischen Religionen der Gegenwart. Als wichtigste Unterarten der theistischen Begriffsbildung unterscheiden wir Polytheismus, Thripotheismus, Amphitheismus und Monotheismus. (S.354)

POLYTHEISMUS (Vielgötterei). Die Welt ist von vielen verschiedenen Göttern bevölkert, welche mehr oder weniger selbständig in deren Getriebe eingreifen. Der Fetischismus findet dergleichen untergeordnete Götter in den verschiedensten leblosen Naturkörpern in den Steinen, im Wasser, in der Luft, in menschlichen Kunstprodukten aller Art (Götterbildern, Statuen usw.). Der Dämonismus erblickt Götter in lebendigen Organismen aller Art, in Bäumen, Tieren, Menschen. Diese Vielgötterei nimmt schon in den niedersten Religionsformen der rohen Naturvölker sehr mannigfaltige Formen an. Sie erscheint auf der höchsten Stufe geläutert im hellenischen Polytheismus, in jenen herrlichen Göttersagen des alten Griechenlands, welche noch heute unserer modernen Kunst die schönsten Vorbilder für Poesie und Bildnerei liefern. Auf viel tieferer Stufe steht der katholische Polytheismus, in dem zahlreiche »Heilige«(oft von sehr zweifelhaftem Rufe!) als untergeordnete Gottheiten angebetet und um gütige Vermittelung beim obersten Gott (oder bei dessen Freundin und Tochter, der »Jungfrau Maria«) ersucht werden — eine jämmerliche Karikatur des christlichen Monotheismus! ( S.354)

TRIPLOTHEISMUS (Dreigötterei, Trinitätslehre): Die Lehre von der »Dreieinigkeit Gottes«, welche heute noch im Glaubensbekenntnis der christlichen Kulturvölker die grundlegenden »drei Glaubensartikel« bildet, gipfelt bekanntlich in der Vorstellung, dass der Eine Gott des Christentums eigentlich in Wahrheit aus drei Personen von verschiedenem Wesen sich zusammensetzt:

1. Gott der Vater ist der »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde« (dieser unhaltbare Mythus ist durch die wissenschaftliche Kosmogenie, Astronomie und Geologie längst widerlegt).

2. Jesus Christus ist der »eingeborene Sohn Gottes des Vaters« (und zugleich der dritten Person, des »Heiligen Geistes«!!), erzeugt durch unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria

3. Der Heilige Geist, ein mystisches Wesen, über dessen unbegreifliches Verhältnis zum »Sohne« und zum Vater sich Millionen von christlichen Theologen seit 1900 Jahren den Kopf ganz umsonst zerbrochen haben.

Die Evangelien, die doch die einzigen lauteren Quellen dieses christlichen Triplotheismus sind, lassen uns über die eigentlichen Beziehungen dieser drei Personen zueinander völlig im Dunkeln und geben auf die Frage nach ihrer rätselhaften Einheit keine irgend befriedigende Antwort. Dagegen müssen wir besonders darauf hinweisen, welche Verwirrung diese unklare und mystische Trinitätslehre in den Köpfen unserer Kinder schon beim ersten Schulunterricht notwendig anrichten muß. Montag morgens in der ersten Unterrichtsstunde (Religion) lernen sie: dreimal eins ist eins! - und gleich darauf in der zweiten Stunde (Rechnen): dreimal eins ist drei! Ich erinnere mich selbst sehr wohl noch der Bedenken, welche dieser auffällige Widerspruch in mir schon beim ersten Unterricht erregte. - Übrigens ist die »Dreieinigkeit« im Christentum keineswegs originell, sondern gleich den meisten anderen Lehren desselben aus älteren Religionen übernommen. Aus dem Sonnendienste der chaldäischen Magier entwickelt sich die Trinität der Ilu, der geheimnisvollen Urquelle der Welt; ihre drei Offenbarungen waren Anu, das ursprüngliche Chaos, Bel, der Ordner der Welt, und Ao, das himmlische Licht, die alles erleuchtende Weisheit. - In der Brahmanenreligion wird die Trimurti als »Gotteseinheit« ebenfalls aus drei Personen zusammengesetzt, aus Brahma (dem Schöpfer), Wischnu (dem Erhalter) und Schiwa (dem Zerstörer). Es scheint, daß in diesen wie in anderen Trinitätsvorstellungen die »heilige Dreizahl« als solche - als »symbolische Zahl« - eine Rolle gespielt hat. Auch die drei ersten Christenpflichten: »Glaube, Liebe, Hoffnung«, bilden eine solche Triade
. (S.354-356)

AMPHITHEISMUS (Zweigötterei). Die Welt wird von zwei verschiedenen Göttern regiert, einem guten und einem bösen Wesen, Gott und Teufel. Beide Weltregenten befinden sich in einem beständigen Kampfe, wie Kaiser und Gegenkaiser, Papst und Gegenpapst. Das Ergebnis dieses Kampfes ist jederzeit der gegenwärtige Zustand der Welt. Der liebe Gott, als das gute Wesen, ist der Urquell des Guten und Schönen, der Lust und Freude. Die Welt würde vollkommen sein, wenn sein Wirken nicht beständig durchkreuzt würde von dem bösen Wesen, dem Teufel; dieser schlimme Satanas ist die Ursache alles Bösen und Häßlichen, der Unlust und des Schmerzes.

Dieser Amphiteismus ist unter allen verschiedenen Formen des Götterglaubens insofern der vernünftigste, als sich seine Theorie am ersten mit einer wissenschaftlichen Welterklärung verträgt. Wir finden ihn daher schon mehrere Jahrtausende vor Christus bei verschiedenen Kulturvölkern des Altertums ausgebildet. Im alten Indien kämpft Wischnu, der Erhalter, mit Schiwa dem Zerstörer. Im alten Ägypten steht dem guten Osiris der böse Typhon gegenüber. Bei den ältesten Hebräern besteht ein ähnlicher Dualismus zwischen Aschera, der fruchtbar zeugenden Erdmutter (= Keturah), und Eljou (= Moloch oder Sethos), dem strengen Himmelsvater. In der Zendreligion der alten Perser, von Zoroaster 2000 Jahre vor Christus gegründet, herrscht beständiger Kampf zwischen Ormudz, dem guten Gott des Lichtes, und Ahriman, dem bösen Gott der Finsternis.

Keine geringere Rolle spielt der Teufel als Gegner des guten Gottes in der Mythologie des Christentums als der Versucher und Verführer, der Fürst der Hölle und Herr der Finsternis. Als persönlicher Satanas war er auch noch im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts ein wesentliches Element im Glauben der meisten Christen; erst gegen die Mitte desselben wurde er mit zunehmender Aufklärung allmählich abgesetzt, oder er mußte sich mit jener untergeordneten Rolle begnügen, welche ihm Goethe in der größten aller dramatischen Dichtungen, im „Faust“, als Mephistopheles zuteilt. Gegenwärtig gilt in den besseren gebildeten Kreisen der ,,Glaube an den persönlichen Teufel“ als ein überwundener Aberglaube des Mittelalters, während gleichzeitig der ,,Glaube an Gott“ (d.h. den persönlichen, guten und lieben Gott) als ein unentbehrlicher Bestandteil der Religion festgehalten wird. Und doch ist der erstere Glaube ebenso voll berechtigt (und ebenso haltlos!) wie der letztere! Jedenfalls erklärt sich die vielbeklagte „Unvollkommenheit des Erdenlebens“, der ,,Kampf ums Dasein“, und was dazu gehört, viel einfacher und natürlicher durch diesen unentschiedenen Kampf des guten und des bösen Gottes, als durch irgendwelche andere Form des Gottesglaubens.
(S.356-357)

MONOTHEISMUS (Eingötterei): Die Lehre von der Einheit Gottes kann in vieler Beziehung als die einfachste und natürlichste Form der Gottesverehrung gelten; nach der herrschenden Meinung ist sie die weitest verbreitete Grundlage der Religion und beherrscht namentlich den Kirchenglauben der Kulturvölker. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall; denn der angebliche Monotheismus erweist sich bei näherer Betrachtung meistens als eine der vorher angeführten Formen des Theismus, indem neben dem obersten »Hauptgotte« noch einer oder mehrere Nebengötter angebetet werden [. . .]

Der christliche Monotheismus teilte das Schicksal seiner Mutter, des Mosaismus, und blieb wahre Eingötterei meistens nur theoretisch im Prinzip, während er praktisch in die mannigfaltigsten Formen des Polytheismus sich verwandelte. Eigentlich war ja schon in der Trinitätslehre selbst, die doch als ein unentbehrliches Fundament der christlichen Religion gilt, der Monotheismus logischerweise aufgegeben. Die drei Personen, die als Vater, Sohn und Heiliger Geist unterschieden werden, sind und bleiben ebenso drei verschiedene Individuen (und zwar anthropomorphe Personen!) wie die drei indischen Gottheiten der Trimurti (Brahma, Wischnu, Schiwa) oder wie die Trinität der alten Hebräer (Anu, Bel, Ao). Dazu kommt noch, daß in den weitestverbreiteten Abarten des Christianismus als vierte Gottheit die Jungfrau Maria, als unbefleckte Mutter Christi, eine große Rolle spielt; in weiten katholischen Kreisen gilt sie sogar als viel wichtiger und einflußreicher als die drei männlichen Personen der Himmelsregierung. Der Madonnenkultus hat hier tatsächlich eine solche Bedeutung gewonnen, daß man ihn als einen weiblichen Monotheismus der gewöhnlichen männlichen Form der Eingötterei gegenüberstellen kann. Die »hehre Himmelskönigin« erscheint hier so sehr im Vordergrund aller Vorstellungen (wie es auch unzählige Madonnenbilder und Sagen bezeugen), daß die drei männlichen Personen der Trinität dagegen ganz zurücktreten.

Nun hat sich aber außerdem schon frühzeitig in der Phantasie der gläubigen Christen eine zahlreiche Gesellschaft von »Heiligen« aller Art zu dieser obersten Himmelsregierung gesellt, und musikalische Engel sorgen dafür, daß es im »ewigen Leben« an Konzertgenüssen nicht fehlt. Die römischen Päpste — die größten Charlatans, die jemals eine Religion hervorgebracht hat! — sind beständig beflissen, durch neue Heiligsprechungen die Zahl dieser anthropomorphen Himmelstrabanten zu vermehren. Den reichsten und interessantesten Zuwachs hat aber diese seltsame Paradies-Gesellschaft am 13. Juli 1870 dadurch bekommen, daß das vatikanische Konzil die Päpste als Stellvertreter Christi für unfehlbar erklärt und sie damit selbst zum Range von Göttern erhoben hat. Nimmt man dazu noch den von ihnen anerkannten »persönlichen Teufel« und die »bösen Engel«, welche seinen Hofstaat bilden, so gewährt uns der Papismus, die heute noch weitestverbreitete Form des modernen Christentums, ein so buntes Bild des reichsten Polytheismus, daß der hellenische Olymp dagegen klein und dürftig erscheint.
(S.357, 361-362)

PANTHEISMUS (All-Eins-Lehre): Gott und Welt sind ein einziges Wesen. Der Begriff Gottes fällt mit demjenigen der Natur oder der Substanz zusammen. Diese pantheistische Weltanschauung steht im Prinzip sämtlichen angeführten und allen sonst noch möglichen Formen des Theismus schroff gegenüber, wenngleich man durch Entgegenkommen von beiden Seiten die tiefe Kluft zwischen beiden zu überbrücken sich vielfach bemüht hat. Immer bleibt zwischen beiden der fundamentale Gegensatz bestehen, daß im Theismus Gott als extramundanes [»außerweltliches«] Wesen der Natur schaffend und erhaltend gegenübersteht und von außen auf sie einwirkt, während im Pantheismus Gott als intramundanes [»innerweltliches«] Wesen allenthalben die Natur selbst ist und im Inneren der Substanz als »Kraft oder Energie« tätig ist. Diese letztere Ansicht allein ist vereinbar mit jenem höchsten Naturgesetze, dessen Erkenntnis einen der größten Triumphe des neunzehnten Jahrhunderts bildet, mit dem Substanzgesetze. Daher ist notwendigerweise der Pantheismus die Weltanschauung unserer modernen Naturwissenschaft. Freilich gibt es auch heute noch nicht wenige Naturforscher, welche diesen Satz bestreiten und welche meinen, die alte theistische Beurteilung des Menschen mit dem pantheistischen Grundgedanken des Substanzgesetzes vereinigen zu können. Indessen beruhen alle diese vergeblichen Bestrebungen auf Unklarheit oder Inkonsequenz des Denkens, falls sie überhaupt aufrichtig und ehrlich gemeint sind. Das gilt auch vom modernen ,,Idealistischen Monismus“, der eigentlich „Pseudomonismus“ ist.

Da der Pantheismus (s.a. Eisler) erst aus der geläuterten Naturbetrachtung des denkenden Kulturmenschen hervorgehen konnte, ist er begreiflicherweise viel jünger als der Theismus, dessen roheste Formen sicher schon vor mehr als zehntausend Jahren bei den primitiven Naturvölkern an mannigfaltigen Variationen ausgebildet wurden. Wenn auch in den ersten Anfängen der Philosophie bei den ältesten Kulturvölkern (in Indien und Ägypten, in China und Japan) schon mehrere Jahrtausende vor Christus Keime des Pantheismus in verschiedenen Religionsformen sieh eingestreut finden, so tritt doch eine bestimmte philosophische Fassung desselben erst in dem Hylozoismus der ionischen Naturphilosophen auf, in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. Alle großen Denker dieser Blüteperiode des hellenischen Geistes überragt der gewaltige Anaximander von Milet, der die prinzipielle Einheit des unendlichen Weltganzen (Apeiron) tiefer und klarer erfaßte als sein Lehrer Thales und sein Schüler Anaximenes. Nicht nur den großen Gedanken der ursprünglichen Einheit des Kosmos, der Entwickelung aller Erscheinungen aus der alles durchdringenden Urmaterie, hatte Anaximander bereits ausgesprochen, sondern auch die kühne Vorstellung von zahllosen, in periodischem Wechsel entstehenden und vergehenden Weltbildungen.

Auch viele von den folgenden großen Philosophen des klassischen Altertums, vor allen Demokritos, Heraklitos und Empedokles, hatten in gleichem oder ähnlichem Sinne tief eindringend bereits jene Einheit von Natur und Gott. von Körper und Geist erfaßt, welche im Substanzgesetze unseres heutigen Monismus den bestimmtesten Ausdruck gewonnen hat. Der große römische Dichter und Naturphilosoph Lukretius Carus hat ihn in seinem berühmten Lehrgedichte »De rerum natura« in hochpoetischer Form dargestellt. Allein dieser naturwahre pantheistische Monismus wurde bald ganz zurückgedrängt durch den mystischen Dualismus von Plato und besonders durch den gewaltigen Einfluß, den seine idealistische Philosophie durch die Verschmelzung mit den christlichen Glaubenslehren gewann. Als sodann deren mächtigster Anwalt, der römische Papst, die geistige Weltherrschaft gewann wurde der Pantheismus gewaltsam unterdrückt; Giordano Bruno, sein geistvoller Vertreter, wurde am 17. Februar 1600 auf dem Campo Fiori in Rom von dem »Stellvertreter Gottes« lebendig verbrannt.

Erst in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wurde durch den großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in reinster Form ausgebildet; er stellte für die Gesamtheit der Dinge den reinen Substanzbegriff auf, in welchem »Gott und Welt« untrennbar vereinigt sind. Wir müssen die Klarheit, Sicherheit und Folgerichtigkeit des monistischen Systems von Spinoza heute um so mehr bewundern, als diesem gewaltigen Denker vor 250 Jahren noch alle die sicheren empirischen Fundamente fehlten, die wir erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gewonnen haben. Das Verhältnis von Spinoza zum späteren Materialismus im achtzehnten und zu unserem heutigen Monismus im neunzehnten Jahrhundert haben wir bereits im ersten Kapitel besprochen. Zur weiteren Verbreitung desselben, besonders im deutschen Geistesleben, haben vor allem die unsterblichen Werke unseres größten Dichters und Denkers beigetragen, Wolfgang Goethe. Seine herrlichen Dichtungen »Gott und Welt«, »Prometheus«, »Faust« usw. hüllen die Grundgedanken des Pantheismus in die vollkommenste und schönste dichterische Form: »Gott und Natur sind Eins«. (S.366-369)

ATHEISMUS (»die entgötterte Weltanschauung«): Es gibt keinen Gott und keine Götter, falls man unter diesem Begriff persönliche, außerhalb der Natur stehende Wesen versteht. Diese »gottlose Weltanschauung« fällt im wesentlichen mit dem Monismus oder Pantheismus unserer modernen Naturwissenschaft zusammen; sie gibt nur einen anderen Ausdruck dafür, indem sie eine negative Seite derselben hervorhebt, die Nichtexistenz der extramundanen oder übernatürlichen Gottheit. In diesem Sinne sagt Schopenhauer ganz richtig: »Pantheismus ist nur ein höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pantheismus besteht in der Aufhebung des dualistischen Gegensatzes zwischen Gott und Welt, in der Erkenntnis, daß die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch sich selbst da ist. Der Satz des Pantheismus: ›Gott und die Welt ist Eins‹ ist bloß eine höfliche Wendung, dem Herrgott den Abschied zu geben.«

Während des ganzen Mittelalters, unter der blutigen Tyrannei des Papismus, wurde der Atheismus als die entsetzlichste Form der Weltanschauung mit Feuer und Schwert verfolgt. Da der »Gottlose« im Evangelium mit dem »Bösen« schlechtweg identifiziert wird und ihm im ewigen Leben - bloß wegen »Glaubensmangels«! - die Höllenstrafe der ewigen Verdammnis angedroht wird, ist es begreiflich, daß jeder gute Christ selbst den entfernten Verdacht des Atheismus ängstlich mied. (S.369-370)

SCHÖPFUNG (Creatio). Die herrschende Ansicht über die Entstehung der Welt war in früheren Jahrhunderten fast überall, wo denkende Menschen wohnten, der Glaube an die Schöpfung derselben. In Tausenden von interessanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und Kreationsmythen, hat dieser Schöpfungsglaube seinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur wenige große Philosophen und besonders jene bewunderungswürdigen freien Denker des klassischen Altertums, die zuerst den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im Gegensatz zu diesem letzteren trugen alle jene Schöpfungsmythen den Charakter des Übernatürlichen, Wunderbaren oder Transzendenten. Unfähig, das Wesen der Welt selbst zu erkennen und ihre Entstehung durch natürliche Ursachen zu erklären, mußte die unentwickelte Vernunft selbstverständlich zum Wunder greifen. In den meisten Schöpfungssagen verknüpfte sich mit dem Wunder der Anthropismus. Wie der Mensch mit Absicht und durch Kunst seine Werke schafft, so sollte der bildende ,,Gott“ planmäßig die Welt erschaffen haben; die Vorstellung dieses Schöpfers war meistens ganz anthropomorph, ein offenkundiger ,,anthropistischer Kreatismus“. Der ,,allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden“, wie er im ersten Buch Moses und in unserem heute noch gültigen Katechismus schafft, ist ebenso ganz menschlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agassiz und Reinke oder der intelligente ,,Maschineningenieur“ von anderen Biologen der Gegenwart.

SCHÖPFUNG DES WELTALLS UND DER EINZELDINGE (Kreation der Substanz und der Akzidenzen). Bei tieferem Eingehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei wesentlich verschiedene Akte die totale Schöpfung des Weltalls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterscheiden, entsprechend dem Begriffe Spinozas von der Substanz (dem Universum) und den Akzidenzen (oder Modi, den einzelnen ,,Erscheinungsformen der Substanz“). Diese Unterscheidung ist prinzipiell wichtig; denn es hat viele und angesehene Philosophen gegeben (und es gibt noch heute solche), welche die erstere annehmen, die letztere dagegen verwerfen.

SCHÖPFUNG DER SUBSTANZ (Kosmologischer Kreatismus). Nach dieser Schöpfungslehre hat ,,Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen“. Man stellt sich vor, daß der ,,ewige Gott“ (als vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich allein von Ewigkeit her ohne Welt existierte, bis er dann einmal auf den Gedanken kam, ,,die Welt zu schaffen“. Die einen Anhänger dieses Glaubens beschränken die Schöpfungstätigkeit Gottes aufs Äußerste, auf einen einzigen Akt; sie nehmen an, daß der extramundane Gott (dessen übrige Tätigkeit rätselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz erschaffen, ihr die Fähigkeit zur weitestgehenden Entwickelung beigelegt und sich dann nie weiter um sie gekümmert habe. Diese weit verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus vielfach ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen Entwickelungslehre bis zur Berührung und gibt sie nur in dem einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des kosmologischen Kreatismus nehmen dagegen an, dass ,,Gott der Herr“ die Substanz nicht bloß einmal erschaffen habe, sondern als bewußter ,,Erhalter und Regierer der Welt“ in deren Geschichte fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens nähern sich bald dem Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind unvereinbar mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes; dieses kennt keinen ,,Anfang der Welt“.

Besonders interessant ist, daß E. du Bois-Reymond in seiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten Welträtsels!) bekannt hat; er sagt: „Der göttlichen Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie so geschaffen habe, daß nach der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, beispielsweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhilfe die heutige Natur von einer Urbazille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu Suleimas holden Gebärden, bis zu Newtons Gehirn ward. So kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein mechanisch entstehen.“ Hier wie bei der Bewusstseinsfrage in der Ignorabimus-Rede offenbart du Bois- Reymond in auffallender Weise die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit seines monistischen Denkens.

SCHÖPFUNG DER EINZELDINGE (ontologischer Kreatismus). Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden Schöpfungslehre hat Gott der Herr nicht nur die Welt im ganzen (,,aus Nichts!“) geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge in derselben. In der christlichen Kultwelt besitzt noch heute die uralte semitische, aus dem ersten Buch Moses herübergenommene Schöpfungssage die weiteste Geltung; selbst unter den modernen Naturforschern findet sie noch hie und da gläubige Anhänger (z. B. Reinke). Ich habe meine Auffassung derselben 1868 im ersten Kapitel der ,,Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ eingehend dargelegt. Als interessante Modifikationen des ontologischen Kreatismus dürften folgende Theorien zu unterscheiden sein:

I. Dualistische Kreation: Gott hat sich auf zwei Schöpfungsakte beschränkt; zuerst schuf er die anorganische Welt, die tote Substanz, für die allein das Gesetz der Energie gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der Weltkörper und der Gebirgsbildung; später erwarb Gott Intelligenz und teilte diese den Dominanten mit, den zielstrebigen, intelligenten Kräften, welche die Entwicklung der Organismen bewirken und leiten (Reinke).

II. Trialistische Kreation:
Gott hat die Welt in drei Hauptakten geschaffen: A. Schöpfung des Himmels (d.h. der außerirdischen Welt); B. Schöpfung der Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen; C. Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes): dieses Dogma ist noch heute weit verbreitet unter christlichen Theologen und anderen »Gebildeten«; es wird in vielen Schulen als Wahrheit gelehrt.

III. Hexamerale Kreation: die Schöpfung in sechs Tagen (nach Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an diesen mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern schon in der frühesten Jugend mit dem Bibelunterricht fest eingeprägt.
Die vielfachen, namentlich in England gemachten Versuche, denselben mit der modernen Entwickelungslehre in Einklang zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung, daß Linné bei Begründung seines Natursystems (1735) ihn annahm und zur Begriffsbestimmung der organischen (von ihm für beständig gehaltenen) Spezies benutzte: „Es gibt so viele verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind.“ Dieses Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859) festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine Unhaltbarkeit dargelegt hatte.

IV. Periodische Kreation: i
m Anfang jeder Periode der Erdgeschichte wurde die ganze ,Tier- und Pflanzenbevölkerung neu geschaffen und am Ende derselben durch eine allgemeine Katastrophe vernichtet; es gibt so viele General-Schöpfungsakte, als getrennte geologische Perioden aufeinander folgten (die Katastrophentheorie von Cuvier, 1818, und von Louis Agassiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvollkommenen Anfängen (in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts) diese Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen der organischen Welt zu stützen schien, hat dieselbe später vollständig widerlegt.

V. Individuelle Kreation:
jeder einzelne Mensch — ebenso wie jedes einzelne Tier und jedes Pflanzenindividuum — ist nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungsakt entstanden, sondern durch die Gnade Gottes geschaffen (,,der alle Dinge kennt und die Haare auf unserem Haupte gezählt hat“). Man liest diese christliche Schöpfungsansicht noch heute oft in den Zeitungen, besonders bei Geburtsanzeigen („Gestern schenkte uns der gnädige Gott einen gesunden Knaben“ usw.). Auch die individuellen Talente und Vorzüge unserer Kinder werden oft als ,,besondere Gaben Gottes“ dankbar anerkannt (die erblichen Fehler gewöhnlich nicht!).
(S.299-303)

Gewöhnlich wurde dieser »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden« durchaus anthropomorph gedacht; er schuf »jegliches Wesen nach seiner Art«. Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch in menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn, sehend mit seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte man sich von diesem »göttlichen Maschinenbauer« und von seiner künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungswerkstätte noch eine anschauliche Vorstellung machen. Viel schwieriger wurde dies, als sich der Gottesbegriff läuterte, und man in dem »unsichtbaren Gott« einen Schöpfer ohne Organe (- ein gasförmiges Wesen -) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden diese anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die Stelle des bewußt bauenden Gottes die unbewußt schaffende »Lebenskraft« setzte - eine unbekannte, zweckmäßig tätige Naturkraft, welche von den bekannten physikalischen und chemischen Kräften verschieden war und diese nur zeitweise - auf Lebenszeit - in Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herrschend; er fand seine tatsächliche Widerlegung erst durch den großen Physiologen Johannes Müller in Berlin. (S.332-333)

Der große »züchtende Gott«
Darwin zeigte zuerst, wie der gewaltige »Kampf ums Dasein« der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung bei der allmählichen Transformation der Spezies leitet; er ist der große »züchtende Gott«, welcher ohne Absicht neue Formen ebenso durch »natürliche Auslese« bewirkt, wie der züchtende Mensch neue Formen mit Absicht durch »künstliche Auslese« hervorbringt. Damit wurde das große philosophische Rätsel gelöst: »Wie können zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entstehen, ohne zwecktätige Ursachen?« Kant hatte dieses schwierige Welträtsel noch für unlösbar erklärt, obwohl schon mehr als 2000 Jahre früher der große Denker Empedokles auf den Weg seiner Lösung hingewiesen hatte. Neuerdings hat sich aus derselben das Prinzip der »teleologischen Mechanik« zu immer größerer Geltung entwickelt und hat auch die feinsten und verborgensten Einrichtungen der organischen Wesen uns durch die »funktionelle Selbstgestaltung der zweckmäßigen Struktur« mechanisch erklärt. Damit ist aber der transzendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schulphilosophie beseitigt, das größte Hindernis einer vernünftigen und einheitlichen Naturauffassung. (S.334)

Die Welträtsel
Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanz-Problem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses »Substanzrätsel« gelöst oder auch nur, daß sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben?

Die Antwort auf diese Schlußfrage fällt natürlich sehr verschieden aus, entsprechend dem Standpunkte des fragenden Philosophen und seiner empirischen Kenntnis der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnislos gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja, wir müssen sogar eingestehen, daß uns dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwickelung kennen lernen. Was als »Ding an sich« hinter den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische »Ding an sich« überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht? Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses ideale Gespenst den »reinen Metaphysikern« und erfreuen wir uns statt dessen als »echte Physiker« an den gewaltigen realen Fortschritten, welche unsere monistische Naturphilosophie tatsächlich errungen hat.

Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des verflossenen »großen Jahrhunderts« das gewaltige, allumfassende Substanzgesetz, das »Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes«. Die Tatsache, daß die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt dasselbe zugleich zum universalen Entwickelungs-Gesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanz-Problem entwickelte sich das klare Substanz-Gesetz. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der »ewigen, ehernen, großen Gesetze« im ganzen Universum. Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.

Viele von uns sehen gewiß mit lebhaftem Bedauern oder selbst mit tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche unseren teuren Eltern und Voreltern als höchste geistige Güter galten. Wir trösten uns aber mit dem Worte des Dichters:

»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen !«

Die alte Weltanschauung des Ideal-Dualismus mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die neue Sonne unseres Real-Monismus auf, welche uns den wunderbaren Tempel der Natur voll erschließt. Indem reinen Kultus des »Wahren, Guten und Schönen«, welcher den Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«.

In der vorliegenden Behandlung der Welträtsel habe ich meinen konsequenten monistischen Standpunkt scharf betont und den Gegensatz zu der dualistischen, heute noch herrschenden Weltanschauung klar hervorgehoben. Ich stütze mich dabei auf die Zustimmung von fast allen modernen Naturforschern, welche überhaupt Neigung und Mut zum Bekenntnis einer abgerundeten philosophischen Überzeugung besitzen.

Ich möchte aber von meinen Lesern nicht Abschied nehmen, ohne versöhnlich darauf hinzuweisen, daß dieser schroffe Gegensatz bei konsequentem und klarem Denken sich bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völlig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchsten Prinzipien auf das Gesamtgebiet des Kosmos — der organischen und anorganischen Natur —, nähern sich die Gegensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene Naturerscheinung!

Die große Mehrzahl aller Philosophen möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben entbehren, den sie mit der linken Hand festhält. Charakteristisch für diesen widerspruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt zwischen der reinen und der praktischen Vernunft in der kritischen Philosophie des höchstgestellten neueren Denkers, des großen Immanuel Kant.

Dagegen ist immer die Zahl derjenigen Denker klein gewesen, welche diesen Dualismus tapfer überwanden und sich dem reinen Monismus zuwendeten. Das gilt ebensowohl für die konsequenten Idealisten und Theisten, wie für die folgerichtig denkenden Realisten und Pantheisten. Die Verschmelzung der. anscheinenden Gegensätze, und damit der Fortschritt zur Lösung des fundamentalen Welträtsels wird uns aber durch das stetig zunehmende Wachstum der Naturerkenntnis mit jedem Jahre näher gelegt. So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung hingeben, daß das zwanzigste Jahrhundert jene Gegensätze immer mehr ausgleichen und durch Ausbildung des reinen Monismus die ersehnte Einheit der Weltanschauung in weiten Kreisen verbreiten wird. Unser größter Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, hat dieser Einheitsphilosophie schon im Anfange des neun¬zehnten Jahrhunderts den vollendetsten poetischen Ausdruck gegeben in seinen unsterblichen Dichtungen: Faust, Prometheus, Gott und Welt!

»Nach ewigen, ehernen
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.«

Bei der üblichen Verherrlichung von Kant (als höchster Autorität!) und seiner »Erkenntnistheorie« muß man immer zuerst fragen : Welcher Kant ist gemeint?

Kant Nr. I, der Begründer der monistischen Kosmogenie, der kritische Ergründer der »reinen Vernunft«? — oder

Kant Nr. II, der Verfasser der dualistischen »Kritik der Urteilskraft«, der dogmatische Erfinder der »praktischen Vernunft«?

Kant I behauptete »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen«, und stellte den Satz auf, daß »der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung aller Erscheinungen einschließt«.

Kant II dagegen vertrat »die notwendige Unterordnung des Prinzipes des Mechanismus unter das teleologische, in Erklärung eines Dinges als Naturzweck«; es sei »ungereimt, zu hoffen, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloßen mechanischen Prinzipien der Natur erklären können«.

Kant I, der kritische Naturphilosoph, wies überzeugend nach, daß die drei Zentraldogmen der Metaphysik: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für die »reine Vernunft« unzugänglich und unbeweisbar seien.

Kant II dagegen, der dogmatische Glaubensheld, behauptete, daß diese drei mystischen Phantasiegebilde unentbehrliche »Postulate der praktischen Vernunft« seien.

Dieser durchgreifende Gegensatz zwischen zwei unversöhnlichen Prinzipien, zwischen der theoretischen reinen Erkenntnis und den praktischen Glaubenssätzen, zieht sich durch die ganze lange Gedankenarbeit Kants von Anfang bis zum Ende durch und ist nie zum Ausgleich gelangt. Alle neueren unbefangenen Geschichtsschreiber der Philosophie, insbesondere Überweg-Heinze, A. Lange, A. Rau, Vaihinger — ja selbst Paulsen! — haben diesen unheilvollen Zwiespalt übereinstimmend anerkannt; er muß von vornherein unser Mißtrauen gegen eine »Erkenntnistheorie« erregen, die sich auf einer so dualistischen Grundlage aufbaut (vgl. H. Schmidt, »Der Kampf um die Welträtsel« S. 46—48).

Gerade diese vielberufene Erkenntnistheorie nun ist es, die von den eifrigen dualistischen Gegnern der »Welträtsel« meinem Monismus als sicherste Waffe entgegengehalten wird. Ihr gegenüber kann ich mich nur darauf berufen, daß die ganze neuere Naturwissenschaft seit dreihundert Jahren, seit Bacon und Newton, die unbefangene Erfahrung, die »voraussetzungslose« Erforschung der durch Sinnestätigkeit erkannten Tatsachen, als Ausgangspunkt aller sicheren Erkenntnis festhält, also a posteriori verfährt. Kant hingegen schließt umgekehrt a priori, aus der inneren Selbstbetrachtung seiner Vernunft, auf die Existenz und Beschaffenheit der Außenwelt. Die »Anfangsgründe der Naturwissenschaft« sind für Kant »metaphysisch« und transzendental, für unsere monistische Weltanschauung hingegen physikalisch und empirisch. Ebenso verhält es sich mit der Mathematik; ihre festen und unanfechtbaren Grundsätze bestehen nach Kant vor aller Erfahrung und unabhängig von ihr; nach unserer Überzeugung sind dieselben (— wie schon Stuart Mill u. a. gezeigt haben) die letzten, abstrakten Ergebnisse von Vernunftschlüssen, die durch eine lange Kette von Erfahrungen im Laufe der Kulturentwickelung allmählich errungen wurden.

Ja, Entwickelung ist auch hier das Zauberwort, welches alle »Welträtsel« (— bis auf das eine letzte, das Substanzproblem! —) zur Lösung führt. Wie sich der graue Rindenmantel unseres Großhirns, des wichtigsten Seelenorgans, im Laufe der Tertiärzeit aus der einfacheren Großhirnrinde unserer Primatenahnen phylogenetisch entwickelt hat, so sind auch dessen physiologische Funktionen gleichzeitig aus der niederen Seelentätigkeit der letzteren bis zu den Anfängen des Zählens und Messens bei den niederen Naturvölkern fortgeschritten und von diesen später hoch hinauf zu der Mathematik der Kulturvölker.

Kant oder Darwin! So muß es auf diesem Gebiete der Erkenntnistheorie jetzt heißen. Entweder gibt es, wie Kant II behauptet, zwei verschiedene Welten, eine empirische (durch Erfahrung und Verstand erkennbare) und eine intelligible (nur dem Glauben und dem Gemüt zugängliche) Welt; — oder diese beiden Welten sind eine und dieselbe, wie uns die von Darwin neu begründete Entwickelungstheorie lehrt. Gemäß dieser letzteren gilt der Mechanismus der Natur, der alles nach festen Gesetzen bewirkt, auch für das gesamte, auf Gehirntätigkeit beruhende Seelenleben des Menschen; es gibt keine »absolute Freiheit«.

Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo man sich überzeugen wird, daß die sogenannte »kritische Philosophie« in Wahrheit rein dogmatisch ist. Ein Dogma, d. h. ein subjektiver, von aller Erfahrung unabhängiger Glaubenssatz, ist die »intelligible Welt« von Kant, jenes unbekannte »Jenseits«, in dem die »ewigen Ideen« von Plato wohnen, die »unsterblichen Seelen« und der »persönliche Gott.« Ein Dogma ist das rätselhafte »Ding an sich«, das hinter allen Erscheinungen stecken soll, und von dessen Existenz auch Kant selbst nichts weiß. Ein Dogma ist der kategorische Imperativ, der ein unbedingtes und allgemein gültiges Sittengesetz für alle verschiedenen Menschenrassen aufstellen will. Ein Dogma ist die Behauptung, daß die Anfangsgründe der Naturwissenschaft metaphysisch und a priori gegeben seien. Und so ist dogmatisch jenes ganze große Lehrgebäude der praktischen Vernunft, welches den durch die reine Vernunft gefundenen Wahrheiten widerspricht, aber trotzdem als »kritische« Weltweisheit verherrlicht wird.

Die Autorität von Kant hat sich seit hundert Jahren in der deutschen Philosophie eine ähnliche Vorherrschaft errungen, wie sie im Mittelalter Aristoteles besaß. In un¬zähligen Schriften wird der Schild dieser dualistischen Autorität den Ansprüchen der monistischen Naturwissenschaft entgegengehalten. Aber die wichtigste und zugleich dankbarste Aufgabe dieser »Kantstudien« hat noch niemand gelöst, nämlich auf einem Druckbogen in knapper und klarer Form die fundamentalen Widersprüche der beiden Weltanschauungen von Kant gegenüberzustellen:

links auf acht Seiten die monistischen Erkenntnisse der empirischen Welt durch die reine Vernunft von Kant I;

rechts auf acht Seiten die dualistischen Prinzipien der intelligiblen Welt durch die praktische Vernunft von Kant II.

Die nachstehende Tabelle gibt nur eine kurze Übersicht über die wichtigsten inneren Widersprüche oder Antinomien dieser höchstgestellten Philosophie.

Die Antinomien von Immanuel Kant
Übersicht über die wichtigsten inneren Widersprüche in der Weltanschauung des höchstgestellten neueren Philosophen

Kant I, der Physiker
(Monist)
(Kant, der Alles-Zermalmer)

1. Es gibt nur eine Welt, in der alles nach festen Gesetzen, gleich denen der Gravitation, geschieht; ihr »letzter Grund« bleibt überall unerkennbar.

2. Im Weltall herrscht allgemein das feste Naturgesetz, nirgends die Willkür der absoluten Freiheit.

3. Nur in der Erfahrung ist Wahrheit! »Das Innerliche der Materie, oder das Ding an sich, ist eine bloße Grille« (!!), ein negativer, inhaltloser Grenzbegriff!


4. Eine immaterielle Geisterwelt ist unserer Erfahrung ganz unzugänglich, ein Luftgebilde der Phantasie.

5. Es gibt keine positiven, der reinen Vernunft zugänglichen Beweise für das Dasein Gottes; der inhaltleere Glauben an ihn (ohne mögliche Vorstellung!) ist bloße Dichtung.

6. Es gibt keine positiven, der reinen Vernunft zugänglichen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele.

7. Es gibt keine positiven, der reinen Vernunft zugänglichen Beweise für die Freiheit des Willens; der kategorische Imperativ ist ein Dogma.

8. Ich mußte den Glauben (das Dogma) aufgeben, um zum Wissen (der kritischen Vernunft) Platz zu bekommen.

Kant I, der Atheist,
mit reiner Vernunft
  Kant II, der Metaphysiker
(Dualist)
(Kant, der Alles-Verschleierer)

1. Es gibt zwei Welten, eine erkennbare Natur (Mundus sensibilis) und eine nicht erkennbare Geisteswelt (Mundus intelligibilis — Lucus a non lucendo!!).

2. In der Natur herrscht absolute Notwendigkeit, in der Geisteswelt absolute Freiheit.

3. Die Natur ist durch Erfahrung nur als Erscheinung erkennbar. Das Ding an sich, das ihr eigentliches innerstes Wesen bildet, ist uns verborgen und unerkennbar.

4. Von der Existenz der immateriellen Geisterwelt überzeugt uns der Glaube, (»das moralische Bewußtsein in uns«!)

5. Von Gott können wir uns weder positive noch negative Vorstellungen machen: wir müssen aber an seine Existenz glauben (ohne bestimmte vernünftige Vorstellung auf Grund »innerer Erfahrung«).

6. Die Seele muß unsterblich sein, weil unser Bewußtsein (Ahnung!) uns davon überzeugt.

7. Das »moralische Gesetz in uns« (der kategorische Imperativ) überzeugt uns von der Freiheit des Willens und ist allgemein gültige Norm.

8. Ich mußte das Wissen (die reine Vernunft) aufgeben, um zum Glauben (der praktischen Vernunft) Platz zu bekommen.

Kant, der Theist,
mit reiner Unvernunft

S.478ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 1, Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Mit einer Einleitung von Iring Fetscher
©1984 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart : Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart