Alexander von Humboldt (1769 – 1859)
Deutscher
Naturforscher und Geograph, der im Zuge seiner Forschungen und
Naturbeschreibungen einen großen Teil der Welt bereiste und den Naturwissenschaften in Deutschland außerordentlich wichtige Impulse gab. Alexander war
der jüngere Bruder von Wilhelm von Humboldt. Siehe auch Wikipeda , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg |
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Inhaltsverzeichnis
Die wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze
Die Naturpoesie der Hebräer
Die
wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze
Wer die Resultate der Naturforschung nicht in ihrem Verhältnis zu einzelnen
Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen
Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung auf die gesamte Menschheit betrachtet,
dem bietet sich als die erfreulichste Frucht dieser Forschung der Gewinn dar,
durch Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen den Genuss der Natur
vermehrt und veredelt zu sehen. Eine solche Veredelung ist aber das Werk der
Beobachtung. der Intelligenz und der Zeit, in welcher alle Richtungen der Geisteskräfte
sich reflektieren. Wie seit Jahrtausenden das Menschengeschlecht dahin gearbeitet
hat, in dem ewig wiederkehrenden Wechsel der Weltgestaltungen das Beharrliche
des Gesetzes aufzufinden und so allmählich durch die Macht der Intelligenz
den weiten Erdkreis zu erobern, lehrt die Geschichte den, welcher den uralten
Stamm unseres Wissens durch die tiefen Schichten der Vorzeit bis zu seinen Wurzeln
zu verfolgen weiß. Diese Vorzeit befragen heißt,
dem geheimnisvollen Gang der Ideen nachzuspüren. auf welchem dasselbe Bild,
das früh dem inneren Sinne als ein harmonisch geordnetes Ganzes, Kosmos,
vorschwebte, sich zuletzt wie das Ergebnis langer, mühevoll gesammelter
Erfahrungen darstellt.
In diesen beiden Epochen der Weltansicht, dem ersten Erwachen des Bewusstseins
der Völker und dem endlichen, gleichzeitigen Anbau aller Zweige der Kultur,
spiegeln sich zwei Arten des Genusses ab. Den einen erregt in dem offenen kindlichen
Sinne des Menschen der Eintritt in die freie Natur und das
dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wechsel ihres stillen
Treibens herrscht. Der andere Genuss gehört der vollendeteren
Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum an.
Er entspringt aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und in das Zusammenwirken
der physischen Kräfte. So wie der Mensch sich nun Organe schafft, um die
Natur zu befragen und den engen Raum seines flüchtigen
Daseins zu überschreiten, wie er nicht mehr bloß beobachtet,
sondern Erscheinungen unter bestimmten Bedingungen hervorzurufen weiß,
wie endlich die Philosophie der Natur, ihrem alten dichterischen Gewande entzogen,
den ernsten Charakter einer denkenden Betrachtung des Beobachteten annimmt,
treten klare Erkenntnis und Begrenzung an die Stelle dumpfer Ahnungen und unvollständiger
Induktionen. Die dogmatischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte leben dann
nur fort in den Vorurteilen des Volks und in gewissen Disziplinen, die in dem
Bewußtsein ihrer Schwäche sich gern in Dunkelheit hüllen. Sie
erhalten sich auch als ein lästiges Erbteil in den Sprachen, die sich durch
symbolisierende Kunstwörter und geistlose Formen verunstalten. Nur eine
kleine Zahl sinniger Bilder der Phantasie, welche wie vom Duft der Urzeit umflossen
auf uns gekommen sind, gewinnen bestimmtere Umrisse und eine erneuerte Gestalt.
Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit
in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff
der Naturdinge und Naturkräfte als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste
Resultat des sinnigen [sinnvollen] physischen Forschens
ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen
alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten,
die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen,
der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk den Geist
der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt
liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge
Grenze der Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend,
den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen. S.319ff. […]
Je tiefer man eindringt in das Wesen der Naturkräfte,
desto mehr erkennt man den Zusammenhang von Phänomenen, die lange,
vereinzelt und oberflächlich betrachtet, jeglicher Anreihung zu widerstreben
schienen, desto mehr werden Einfachheit und Gedrängtheit der Darstellung
möglich. Es ist ein sicheres Kriterium der Menge und des Wertes der Entdeckungen,
die in einer Wissenschaft zu erwarten sind, wenn die Tatsachen noch unverkettet,
fast ohne Beziehung aufeinander dastehen, ja wenn mehrere derselben, und zwar
mit gleicher Sorgfalt beobachtete, sich zu widersprechen scheinen. Diese Art
der Erwartungen erregt der Zustand der Meteorologie, der neueren Optik und besonders,
seit Mellonis und Faradays
herrlichen Arbeiten, der Lehre von der Wärmestrahlung und vom Elektromagnetismus. Der Kreis glänzender Entdeckungen ist hier noch nicht durchlaufen, ob sich
gleich in der Voltaischen Säule schon ein
bewundernswürdiger Zusammenhang der elektrischen, magnetischen und chemischen
Erscheinungen offenbart hat. Wer verbürgt uns, daß auch nur die Zahl
der lebendigen, im Weltall wirkenden Kräfte bereits ergründet sei?
In meinen Betrachtungen über die wissenschaftliche Behandlung einer allgemeinen
Weltbeschreibung ist nicht die Rede von Einheit durch Ableitung aus wenigen,
von der Vernunft gegebenen Grundprinzipien. Was ich physische Weltbeschreibung
nenne (die vergleichende Erd- und Himmelskunde),
macht daher keine Ansprüche auf den Rang einer rationellen Wissenschaft
der Natur. Es ist die denkende Betrachtung der durch Empirie
gegebenen Erscheinungen als eines Naturganzen. In dieser Beschränktheit
allein konnte dieselbe, bei der ganz objektiven Richtung meiner Sinnesart, in
den Bereich der Bestrebungen treten, die meine lange wissenschaftliche Laufbahn
ausschließlich erfüllt haben. Ich wage mich nicht auf ein
Feld, das mir fremd ist und vielleicht von andern erfolgreicher bebaut wird.
Die Einheit, welche der Vortrag einer physischen Weltbeschreibung, wie ich mir
dieselbe begrenze, erreichen kann, ist nur die, welcher sich geschichtliche
Darstellungen zu erfreuen haben. Einzelheiten der Wirklichkeit, sei es in der
Gestaltung oder Aneinanderreihung der Naturgebilde, sei es in dem Kampf des
Menschen gegen die Naturmächte oder der Völker gegen die Völker.
alles, was dem Feld der Veränderlichkeit und realer Zufälligkeit angehört,
kann nicht aus Begriffen abgeleitet (konstruiert) werden.
Weltbeschreibung und Weltgeschichte stehen daher auf derselben Stufe der Empirie. Aber eine denkende Behandlung beider, eine sinnvolle Anordnung von Naturerscheinungen
und von historischen Begebenheiten durchdringen tief mit dem Glauben an eine
alte innere Notwendigkeit, die alles Treiben geistiger und materieller Kräfte
in sich ewig erneuernden, nur periodisch erweiterten oder verengten Kreisen
beherrscht. Sie führen (und diese Notwendigkeit
ist das Wesen der Natur, sie ist die Natur selbst in beiden Sphären ihres
Seins, der materiellen und der geistigen) zu Klarheit und Einfachheit
der Ansichten, zu Auffindung von Gesetzen, die in der Erfahrungswissenschaft als das letzte Ziel menschlicher Forschung
erscheinen.
Das Studium jeglicher neuen Wissenschaft, besonders einer solchen, welche die
ungemessenen Schöpfungskreise, den ganzen Weltraum umfaßt,
gleicht einer Reise in ferne Länder. Ehe man sie in Gemeinschaft unternimmt,
fragt man, ob sie ausführbar sei. Man mißt seine eigenen Kräfte,
man blickt mißtrauisch auf die Kräfte der Mitreisenden in der vielleicht
ungerechten Besorgnis, sie möchten lästige Zögerung erregen.
Die Zeit, in der wir leben, vermindert die Schwierigkeit des Unternehmens. Meine
Zuversicht gründet sich auf den glänzenden Zustand der Naturwissenschaften
selbst, deren Reichtum nicht mehr die Fülle, sondern die Verkettung des
Beobachteten ist. Die allgemeinen Resultate, die jedem gebildeten Verstande
Interesse einflößen, haben sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
wundervoll vermehrt. Die Tatsachen stehen mindervereinzelt da, die Klüfte
zwischen den Wesen werden ausgefüllt. Was in einem engeren Gesichtskreis,
in unserer Nähe dem forschenden Geiste lange unerklärlich blieb, wird
oft durch Beobachtungen aufgehellt, die auf einer Wanderung in die entlegensten
Regionen angestellt worden sind. Pflanzen- und Tiergebilde, die lange isoliert
erschienen, reihen sich durch neuentdeckte Mittelglieder oder durch Übergangsformen
aneinander. Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher
linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe, nach höherer
Ausbildung oder Verkümmerung gewisser Organe, nach vielseitigem Schwanken
in der relativen Übermacht der Teile, stellt sich allmählich
dem forschenden Natursinn dar. Schichtungsverhältnisse von trachytartigem
Syenitporphyr, von Grünstein und Serpentin, die im gold- und silberreichen
Ungarn oder im Platinlande des Urals oder tiefer in Asien, im südwestlichen
Altai, zweifelhaft blieben, werden durch geognostische Beobachtungen in den
Hochebenen von Mexiko und Antioquia, in den Flußtälern des Choco
unerwartet aufgeklärt. Die Materialien, welche die allgemeine Erdkunde
anwendet, sind nicht zufällig aufgehäuft. Unser Zeitalter erkennt
nach der Tendenz, die ihm seinen individuellen Charakter gibt, daß Tatsachen
nur dann fruchtbringend werden, wenn der Reisende den dermaligen Zustand und
die Bedürfnisse der Wissenschaft kennt, deren Gebiet er erweitern will,
wenn Ideen, das heißt Einsicht in den Geist der
Natur, das Beobachten und Sammeln vernunftmäßig leiten.
Durch diese Richtung des Naturstudiums, durch diesen glücklichen, aber
oft auch allzuleicht befriedigten Hang nach allgemeinen Resultaten kann ein
beträchtlicher Teil des Naturwissens das Gemeingut der gebildeten Menschheit
werden, ein gründliches Wissen erzeugen nach Inhalt und Form, nach Ernst
und Würde des Vortrags, ganz von dem verschieden, was man bis zum Ende
des letzten Jahrhunderts dem populären
Wissen genügsam zu bestimmen pflegte. Wem daher seine Lage es erlaubt,
sich bisweilen aus den engen Schranken des bürgerlichen Lebens herauszuretten,
errötend, »daß er lange fremd geblieben
der Natur und stumpf über sie hingehe«, der wird in der
Abspiegelung des großen und freien Naturlebens einen der edelsten Genüsse
finden, welche erhöhte Vernunfttätigkeit dem Menschen gewähren
kann. Das Studium der allgemeinen Naturkunde weckt gleichsam Organe in
uns, die lange geschlummert haben. Wir treten in einen innigeren Verkehr mit
der Außenwelt. bleiben nicht unteilnehmend an dem, was gleichzeitig das
industrielle Fortschreiten und die intellektuelle Veredlung der Menschheit bezeichnet.
Je klarer die Einsicht ist, welche wir in den Zusammenhang der Phänomene
erlangen, desto leichter machen wir uns auch von dem Irrtum frei, als wären
für die Kultur und den Wohlstand der Völker nicht alle Zweige des
Naturwissens gleich wichtig, sei es der messende und beschreibende Teil oder
die Untersuchung chemischer Bestandteile oder die Ergründung allgemein
verbreiteter physischer Kräfte der Materie. In der Beobachtung einer anfangs
isoliert stehenden Erscheinung liegt oft der Keim einer großen Entdeckung.
Als Galvani die sensible Nervenfaser durch Berührung
ungleichartiger Metalle reizte, konnten seine nächsten Zeitgenossen nicht
hoffen, daß die Kontaktelektrizität der Voltaischen Säule uns
in den Alkalien silberglänzende, auf dem Wasser schwimmende, leicht entzündliche
Metalle offenbaren, daß die Säule selbst das wichtigste Instrument
für die zerlegende Chemie, ein Thermoskop und ein Magnet werden würde.
Als Huygens die Lichterscheinungen des Doppelspats
zu enträtseln anfing, ahnte man nicht, daß durch den bewundernswürdigen
Scharfsinn eines Physikers unserer Zeit [Arago, 1811]
farbige Polarisationsphänomene dahin leiten würden, mittels des kleinsten
Fragments eines Minerals zu erkennen, ob das Licht der Sonne aus einer festen
Masse oder aus einer gasförmigen Umhüllung ausströme, ob Kometen
selbstleuchtend sind oder fremdes Licht wiedergeben.
Gleichmäßige Würdigung aller Teile des Naturstudiums ist aber
vorzüglich ein Bedürfnis der gegenwärtigen Zeit, wo der materielle
Reichtum und der wachsende Wohlstand der Nationen in einer sorgfältigeren
Benutzung von Naturprodukten und Naturkräften gegründet sind. Der
oberflächlichste Blick auf den Zustand des heutigen Europa lehrt, daß
bei ungleichem Wettkampfe oder dauernder Zögerung
[Verzögerung, Hinziehen] notwendig partielle Verminderung und endlich
Vernichtung des Nationalreichtums eintreten müsse. Denn in dem Lebensgeschick
der Staaten ist es wie in der Natur, für die nach dem sinnvollen Ausspruche Goethes »es im Bewegen und Werden kein Bleiben gibt
und die ihren Fluch gehängt hat an das Stillestehen«. Nur
ernste Belebung chemischer, mathematischer und naturhistorischer Studien wird
einem von dieser Seite einbrechenden Übel entgegnen.
Der Mensch kann auf die Natur nicht einwirken, sich keine
ihrer Kräfte aneignen, wenn er nicht die Naturgesetze nach Maß- und
Zahlverhältnissen kennt. Auch hier liegt die Macht in der volkstümlichen
Intelligenz. Sie steigt und sinkt mit dieser. Wissen und Erkennen sind die Freude
und die Berechtigung der Menschheit. Sie
sind Teile des Nationalreichtums, oft ein Ersatz für die Güter, welche
die Natur in allzu kärglichem Maße ausgeteilt hat. Diejenigen Völker,
welche an der allgemeinen industriellen Tätigkeit, in Anwendung der Mechanik
und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher
Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung einer solchen Tätigkeit
nicht alle Klassen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstand herabsinken.
Sie werden es um so mehr, wenn benachbarte Staaten, in denen Wissenschaft und
industrielle Künste in regem Wechselverkehr miteinander stehen, wie in
erneuerter Jugendkraft vorwärtsschreiten.
Die Vorliebe für Belebung des Gewerbefleißes und für die Teile
des Naturwissens, welche unmittelbar darauf einwirken (ein
charakteristisches Merkmal unseres Zeitalters), kann weder den Forschungen
auf dem Gebiet der Philosophie, der Altertumskunde und der Geschichte nachteilig
werden, noch den allbelebenden Hauch der Phantasie den edlen Werken bildender
Künste entziehen. Wo unter dem Schutz weiser Gesetze und freier Institutionen
alle Blüten der Kultur sich kräftig entfalten, da wird im friedlichen
Wettkampf kein Bestreben des Geistes dem andern verderblich. Jedes bietet dem
Staate eigene, verschiedenartige Früchte dar: die nährenden, welche
dem Menschen Unterhalt und Wohlstand gewähren, und die Früchte schaffender
Einbildungskraft, die, dauerhafter als dieser Wohlstand selbst, die rühmliche
Kunde der Völker auf die späteste Nachwelt tragen. Die Spartiaten [Spartaner] beteten trotz der Strenge dorischer
Sinnesart: »Die Götter möchten ihnen das
Schöne zu dem Guten verleihen.«
Wie in jenen höheren Kreisen der Ideen und Gefühle, in dem Studium
der Geschichte, der Philosophie und der Wohlredenheit
[Rhetorik], so ist auch in allen Teilen des Naturwissens der
erste und erhabenste Zweck geistiger Tätigkeit ein
innerer, nämlich das Auffinden von Naturgesetzen, die Ergründung
ordnungsmäßiger Gliederung in den Gebilden, die Einsicht in den notwendigen
Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall. Was von diesem Wissen
in das industrielle Leben der Völker überströmt und den Gewerbefleiß
erhöht, entspringt aus der glücklichen Verkettung menschlicher Dinge, nach der das Wahre. Erhabene und Schöne mit dem Nützlichen
wie absichtslos in ewige Wechselwirkung treten. Vervollkommnung des Landbaues
durch freie Hände und in Grundstücken von minderem Umfang, Aufblühen
der Manufakturen, von einengendem Zunftzwange befreit, Vervielfältigung
der Handelsverhältnisse und ungehindertes Fortschreiten in der geistigen
Kultur der Menschheit wie in den bürgerlichen Einrichtungen stehen (das
ernste Bild der neuen Weltgeschichte drängt diesen Glauben auch dem Widerstrebendsten
auf) in gegenseitigem, dauernd wirksamem Verkehr miteinander. S.340ff.
Die
Naturpoesie der Hebräer
Die semitischen oder aramäischen Nationen zeigen uns in den ältesten
und ehrwürdigsten Denkmälern ihrer dichterischen Gemütsart und
schaffenden Phantasie Beweise eines tiefen Naturgefühls. Der Ausdruck desselben
offenbart sich großartig und belebend in Hirtensagen,
in Tempel- und Chorgesängen, in dem Glanz der lyrischen Poesie unter David,
in der Seher- und Prophetenschule, deren hohe Begeisterung, der Vergangenheit
fast entfremdet, ahnungsvoll auf die Zukunft gerichtet ist.
Die hebräische Dichtungsweise bietet den Bewohnern
des Abendlandes bei ihrer inneren, erhabenen Größe noch den besonderen
Reiz, daß sie mit den lokalen Glaubenserinnerungen der Anhänger von
drei weitverbreiteten Religionen, der mosaischen, christlichen und mohammedanischen,
vielfach verwebt ist. Durch Missionen, welche der Handelsgeist und die Eroberungssucht
schiffahrender Nationen begünstigen, sind geographische Namen und Naturschilderungen
des Morgenlandes, wie sie die Schriften des Alten Bundes uns bewahren, tief
in die Wälder der Neuen Welt und in die Inseln der Südsee eingedrungen.
Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Naturpoesie der Hebräer,
dass als Reflex des Monotheismus sie stets das Ganze
des Weltalls in seiner Einheit umfaßt, sowohl das Erdenleben als die leuchtenden
Himmelsräume. Sie weilt seltener bei dem einzelnen der Erscheinung,
sondern erfreut sich der Anschauung großer Massen. Die Natur wird nicht
geschildert als ein für sich Bestehendes, durch eigene Schönheit Verherrlichtes;
dem hebräischen Sänger erscheint sie immer in
Beziehung auf eine höherwaltende geistige Macht. Die Natur ist ihm ein
Geschaffenes, Angeordnetes, der lebendige Ausdruck der Allgegenwart Gottes in
den Werken der Sinnenwelt. Deshalb ist die lyrische Dichtung der Hebräer
schon ihrem Inhalt nach großartig und von feierlichem Ernst; sie ist trübe
und sehnsuchtsvoll, wenn sie die irdischen Zustände der Menschheit berührt.
Bemerkenswert ist auch noch, daß diese Poesie trotz ihrer Größe,
selbst im Schwunge der höchsten, durch den Zauber der Musik hervorgerufenen
Begeisterung fast nie maßlos wie die indische Dichtung wird. Der
reinen Anschauung des Göttlichen hingegeben, sinnbildlich in der Sprache,
aber klar und einfach in dem Gedanken, gefällt sie sich in Gleichnissen,
die fast rhythmisch, immer dieselben, wiederkehren.
Als Naturbeschreibungen sind die Schriften des Alten Bundes eine treue Abspiegelung
der Beschaffenheit des Landes, in welchem das Volk sich bewegte, der Abwechslung
von Öde, Fruchtbarkeit und libanotischer Waldbedeckung, die der Boden von
Palästina darbietet. Sie schildern die Verhältnisse des Klimas in
geregelter Zeitfolge, die Sitten der Hirtenvölker und deren angestammte
Abneigung gegen den Feldbau. Die epischen oder historischen Darstellungen sind
von naiver Einfachheit, fast noch schmuckloser als Herodot, naturwahr, wie bei
so geringer Umwandlung der Sitten und aller Verhältnisse des Nomadenlebens
die neueren Reisenden einstimmig es bezeugen. Geschmückter aber und ein
reiches Naturleben entfaltend ist die Lyrik der Hebräer. Man möchte
sagen, dass in dem einzigen 104. Psalm das Bild des ganzen Kosmos dargelegt
ist: »Der Herr, mit Licht
umhüllet, hat den Himmel wie
einen Teppich ausgespannt. Er hat den Erdball auf
sich selbst gegründet, daß er in Ewigkeit nicht wanke. Die Gewässer quellen von den Bergen herab in die Täler, zu den Orten, die ihnen beschieden,
daß sie nie überschreiten die ihnen gesetzten Grenzen, aber tränken
alles Wild des Feldes. Der Lüfte Vögel singen unter dem Laube hervor.
Saftvoll stehen des Ewigen Bäume; Libanons Zedern, die der Herr selbst
gepflanzt, daß sich das Federwild dort niste und auf Tannen sein Gehäus
der Habicht baue.« Es wird beschrieben »das
Weltmeer, in dem es wimmelt von Leben ohne
Zahl. Da wandeln die Schiffe, und es regt sich das Ungeheuer, das Du schufest,
darin zu scherzen.« Es wird die »Saat
der Felder, durch Menschenarbeit bestellt, der fröhliche
Weinbau und die Pflege der Ölgärten«
geschildert. Die Himmelskörper geben
diesem Naturbild seine Vollendung. »Der Herr schuf
den Mond, die Zeiten einzuteilen, die Sonne, die das Ziel kennt ihrer Bahn.
Es wird Nacht, da schwärmt Gewild umher. Nach Raub brüllen junge Löwen
und verlangen Speise von Gott. Erscheint die Sonne, so heben sie sich davon
und lagern sich in ihre Höhlen; dann geht der Mensch zu seiner Arbeit,
zu seinem Tagewerk bis Abend.« Man erstaunt, in einer lyrischen
Dichtung von so geringem Umfang mit wenigen großen Zügen das Universum,
Himmel und Erde, geschildert zu sehen. Dem bewegten Elementarleben, der Natur,
ist hier des Menschen stilles, mühevolles Treiben vom Aufgang der Sonne
bis zum Schluß des Tagewerks am Abend entgegengestellt. Dieser Kontrast,
diese Allgemeinheit der Auflassung in der Wechselwirkung der Erscheinungen,
dieser Rückblick auf die allgegenwärtige unsichtbare Macht, welche »die Erde verjüngen« oder in Staub
zertrümmern kann, begründet das Feierliche einer weniger lebenswarmen
und gemütlichen [gemüthaft, gemütvoll]
als erhaben poetischen Dichtung.
Ähnliche Ansichten des Kosmos kehren mehrmals wieder (Psalm
65, 7—14, und 74, 15—17), am vollendetsten vielleicht in
dem 37. Kapitel des alten, wenn auch nicht vormosaischen Buches
Hiob. Die meteorologischen Prozesse, welche in der Wolkendecke vorgehen,
die Formbildung und Auflösung der Dünste bei verschiedener Windrichtung,
ihr Farbenspiel, die Erzeugung des Hagels und des rollenden Donners werden mit
individueller Anschaulichkeit beschrieben, auch viele Fragen vorgelegt, die
unsere heutige Physik in wissenschaftlicheren Ausdrücken zu formulieren,
aber nicht befriedigend zu lösen vermag. Das Buch Hiob wird allgemein für
die vollendetste Dichtung gehalten, welche die hebräische Poesie hervorgebracht
hat. Es ist so malerisch in der Darstellung einzelner Erscheinungen als kunstreich
in der Anlage der ganzen didaktischen Komposition. In allen modernen Sprachen,
in welche das Buch Hiob übertragen worden ist, hinterlassen seine Naturbilder
des Orients einen tiefen Eindruck. »Der Herr wandelt
auf des Meeres Höhen, auf dem Rücken der vom Sturm aufgetürmten
Wellen. — Die Morgenröte erfaßt der Erde Saum und gestaltet
mannigfach die Wolkenhülle wie des Menschen Hand den bildsamen Ton.«
Es werden die Sitten der Tiere geschildert, des Waldesels und der Rosse,
des Büffels, des Nilpferds und der Krokodile, des Adlers und des Straußes.
Wir sehen »den reinen Äther in der Schwüle des Südwindes
wie einen gegossenen Spiegel über die dürstende Wüste hingedehnt«. Wo die Natur kärglich ihre Gaben spendet, schärft sie den Sinn des
Menschen, daß er auf jeden Wechsel im bewegten Luftkreis wie in den Wolkenschichten
lauscht, daß er in der Einsamkeit der starren Wüste wie in der des
wellenschlagenden Ozeans jeden Wechsel der Erscheinungen bis zu seinen Vorboten
nachspürt. Das Klima ist besonders in dem dürren und felsigen Teil
von Palästina geeignet, solche Beobachtungen anzuregen. Auch an Mannigfaltigkeit
der Form fehlt es der dichterischen Literatur der Hebräer nicht. Während
von Josua bis Samuel die Poesie eine kriegerische Begeisterung atmet, bietet
das kleine Buch der ährenlesenden Ruth ein Naturgemälde dar von der
naivsten Einfachheit und von unaussprechlichem Reiz. Goethe
in der Epoche seines Enthusiasmus für das Morgenland nennt es »das
lieblichste, das uns episch und idyllisch überliefert worden ist«. S.381ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 266, Alexander von Humboldt,
Kosmische Naturbetrachtung. Sein Werk im Grundriss. Herausgegeben von Rudolph
Zaunick .
©1958 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart. Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages,
Stuttgart