Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751)

 

Französischer Philosoph, der wegen seines Materialismus und Atheismus verfolgt wurde und 1748 von Friedrich dem Großen Asyl erhielt. La Mettrie vertrat die Anschauung, dass das geistige Leben vom körperlichen abhängig sei, und fasste den Menschen in diesem Sinn als Maschine auf (»L‘homme machine« ).

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Der Mensch eine Maschine
Ursprünglich waren wir nicht dazu geschaffen, Gelehrte zu werden; vielleicht wurden wir es durch eine Art Missbrauch unserer organischen Fähigkeiten, und zwar auf Kosten des Staates, der eine Menge von Müßiggängern ernährt, welche die Eitelkeit mit dem Namen Philosophen ausgezeichnet hat. Die Natur hat uns einzig und allein dazu geschaffen, glücklich zu sein; ja, uns alle — vom Wurm, der auf dem Boden dahinkriecht, bis zu dem Adler, der sich in den Wolken verliert. Deshalb hat die Natur auch allen Lebewesen einen gewissen Anteil am Naturgesetz verschafft, einen mehr oder weniger trefflichen Anteil, je nachdem die mehr oder weniger gut beschaffenen Organe jedes Lebewesens es zulassen.

Wie sollen wir nun das Naturgesetz definieren? Es ist ein Gefühl, das uns lehrt, was wir anderen nicht antun sollen, weil wir nicht wollen, dass man es uns selbst antue. Darf ich zu dieser allgemeinen Idee noch bemerken, dass dieses Gefühl, wie mir scheint, nur eine Art Furcht oder Angst ist, die für die Gattung ebenso heilsam ist wie für das Individuum; denn vielleicht achten wir nur deshalb den Geldbeutel und das Leben des anderen, um unsere Güter, unsere Ehre und uns selbst zu erhalten, gleichwie jene Ungeheuer des Christentums, die nur deshalb Gott lieben und so viele vermeintliche Tugenden annehmen, weil sie die Hölle fürchten.

Sie sehen, das Naturgesetz ist nur ein inneres Gefühl, das ebenso zur Einbildungskraft gehört wie alle anderen Empfindungen, zu denen man auch das Denken zählen kann. Daher setzt das Naturgesetz ganz offensichtlich keine Erziehung, keine Offenbarung, keinen Gesetzgeber voraus — es sei denn, man wolle es nach der lächerlichen Art und Weise der Theologen mit den Staatsgesetzen verwechseln.

Die Waffen des Fanatismus können diejenigen vernichten, die diese Wahrheiten verteidigen; aber sie werden niemals diese Wahrheiten selbst vernichten.

Das heißt nicht etwa, dass ich die Existenz eines höchsten Wesens in Zweifel ziehe; mir scheint im Gegenteil, dass der höchste Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht. Da aber diese Existenz die Notwendigkeit eines Kults ebensowenig beweist wie alles andere, so ist sie eine theoretische Wahrheit, die in der Praxis kaum von Nutzen ist. So setzt denn die Religion, wie man nach so vielen Erfahrungen wohl behaupten kann, keine strenge Rechtschaffenheit voraus; doch dieselben Gründe berechtigen uns zu der Annahme, dass der Atheismus strenge Rechtschaffenheit nicht ausschließt.

Wer weiß übrigens, ob der Grund für die Existenz des Menschen nicht in seinem Dasein selbst liegt? Vielleicht ist er zufällig auf irgendeinen Punkt der Erdoberfläche geworfen worden, ohne dass man sagen kann, wie und warum; wir wissen nur, dass er leben und sterben muss, gleich jenen Pilzen, die von einem Tag zum anderen erscheinen, oder jenen Blumen, die am Rand der Gräben wachsen und Gemäuer bedecken.

Verlieren wir uns nicht in der Unendlichkeit, wir sind nicht fähig, uns die geringste Idee von ihr zu bilden, und es ist uns völlig unmöglich, auf den Ursprung der Dinge zurückzugehen. Im übrigen ist es für unsere Ruhe gleichgültig, ob die Materie ewig ist oder ob sie geschaffen worden ist, ob es einen Gott gibt oder ob es keinen gibt. Wie töricht ist es, sich so sehr wegen der Dinge zu quälen, die wir unmöglich erkennen können und die uns nicht glücklicher machen würden, wenn wir sie ergründen könnten.

Aber, wendet man hier ein, lesen Sie doch alle Werke von Fénelon, Nieuwentijd, Abbadie, Derham, Ra usw. Nun gut, was sollen sie mich lehren? Oder vielmehr, was haben sie mich gelehrt? Es sind nur langweilige Wiederholungen eifernder Schriftsteller, wobei der eine dem anderen immer nur einen Wortschwall hinzufügt, der eher geeignet ist, die Grundlagen des Atheismus zu festigen als zu untergraben. Die Unmenge der Beweise, die man aus dem Schauspiel der Natur ableitet, verleiht ihnen nicht mehr Überzeugungskraft. Allein der Bau eines Fingers, eines Ohrs, eines Auges und eine Beobachtung Malpighis beweisen alles, und zweifellos viel besser als Descartes und Malebranche; oder alles übrige beweist nichts.

Die Deisten und selbst die Christen sollten sich also mit dem Hinweis begnügen, dass im ganzen Tierreich dieselben Absichten durch unendlich viele verschiedene Mittel, die aber alle streng mathematisch sind, verwirklicht werden. Denn mit welchen stärkeren Waffen könnte man sonst die Atheisten niederschmettern? Es ist wahr, dass der Mensch und das ganze Weltall, wenn meine Vernunft mich nicht täuscht, zu dieser Einheit der Absichten bestimmt zu sein scheinen. Die Sonne, die Luft, das Wasser, der organische Bau, die Form der Körper — alles ist im Auge so angeordnet wie in einem Spiegel, der unserer Einbildungskraft die Gegenstände getreu wiedergibt, die sich in ihm nach den Gesetzen abbilden, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Körper erfordert, die dem Sehen dienen. Im Ohr finden wir überall eine auffallende Verschiedenartigkeit, ohne dass dieser verschiedene Bau des Menschen, der Tiere, der Vögel, der Fische auf verschiedene Zwecke hinausläuft. Alle Ohren sind so mathematisch gebaut, dass sie alle in gleicher Weise ein und demselben Zweck dienen: dem Hören.

Sollte der Zufall, fragt der Deist, ein so großer Mathematiker sein, dass er nach seinem Belieben die Werke, für deren Schöpfer man ihn hält, zu verändern vermag, ohne dass so viele Verschiedenheiten ihn daran hindern könnten, denselben Zweck zu erreichen? Er verweist auch auf die Teile, die im Lebewesen offenbar für künftige Zwecke enthalten sind: der Schmetterling in der Raupe, der Mensch im Samentierchen, ein ganzer Polyp in jedem seiner Teile, die Klappe in der Öffnung des Eierstocks, die Lunge im Fötus, die Zähne in den Kieferhöhlen, die Knochen in den Flüssigkeiten, die sich von ihnen absondern und in unbegreiflicher Weise verhärten. Da aber die Anhänger dieses Systems nichts übersehen, was sich geltend machen lässt, sondern unermüdlich Beweise auf Beweise häufen, so wollen sie aus allem Nutzen ziehen, in gewissen Fällen sogar aus der Schwäche des Geistes. Sehen Sie doch, sagen sie, wie solche Apostel wie Spinoza, Vanini, Des Barreaux und Boindin dem Deismus mehr Ehre erweisen als Schaden zufügen! Die Dauer ihrer Gesundheit war indes das Maß für ihre Ungläubigkeit. Es kommt in der Tat selten vor, fügen sie hinzu, dass man dem Atheismus nicht abschwört, sobald die Leidenschaften mit dem Körper, der ihr Werkzeug ist, schwächer geworden sind.

Das ist gewiss alles, was man zugunsten der Existenz eines Gottes sagen kann, obgleich das letztere Argument insofern nichtig ist, als solche Bekehrungen von kurzer Dauer sind und der Geist fast immer seine früheren Anschauungen wieder annimmt und sich konsequent verhält, sobald er seine Kräfte wiedergewonnen oder vielmehr mit denen des Körpers wiedergefunden hat. Darin liegt zumindest viel mehr, als der Arzt Diderot in seinen Philosophischen Gedanken sagt — einem hervorragenden Werk, das aber keinen Atheisten überzeugen wird. Was sollte man denn einem Manne antworten, der behauptet: »Wir kennen die Natur durchaus nicht. Ursachen, die in ihrem Schoß verborgen sind, könnten alles hervorgebracht haben. Sehen Sie sich doch einmal den Polypen Trembleys an! Enthält er nicht in sich die Ursachen, die Anlass zu seiner Fortpflanzung geben? Wie absurd wäre es also, anzunehmen, dass es physische Ursachen gibt, durch die alles hervorgebracht worden ist und die mit der ganzen Kette des unermesslichen Weltalls notwendigerweise so eng verbunden und von ihr so abhängig sind, dass nichts von dem, was geschieht, nicht geschehen könnte! Die völlig unüberwindliche Unkenntnis über diese Ursachen ließ uns Zuflucht zu einem Gott nehmen, der nach der Ansicht gewisser Leute nicht einmal ein Vernunftwesen ist. Auf solche Weise den Zufall aufheben heißt nicht die Existenz eines höchsten Wesens beweisen, da es ja etwas anderes geben kann, das weder Zufall noch Gott wäre — ich meine die Natur, deren Erforschung folglich nur Ungläubige hervorbringen kann, wie uns die Denkweise aller ihrer glücklichsten Erforscher beweist.«

Das Gewicht des Weltalls kann also einen wahren Atheisten nicht erschüttern, geschweige denn ihn niederschmettern; und alle jene tausend- und abertausendmal widerlegten Anzeichen für einen Schöpfer — Anzeichen, die man weitaus höher schätzt als die Denkweise der Mitmenschen — sind doch, soweit man dieses Argument auch treiben mag, nur evident für die Antipyrrhonier oder diejenigen, die zu ihrer Vernunft so viel Vertrauen haben, daß sie glauben, über gewisse Erscheinungen urteilen zu können, denen aber die Atheisten, wie Sie sehen, andere Erscheinungen entgegensetzen können, die vielleicht ebenso überzeugend sind und jenen völlig widersprechen. Wenn wir nämlich den Naturforschern Gehör schenken, so sagen sie uns folgendes: Dieselben Ursachen, die in den Händen eines Chemikers und durch den Zufall verschiedener Mischungen den ersten Spiegel hervorbrachten, haben in den Händen der Natur klares Wasser hervorgebracht, das der einfachen Hirtin zu demselben Zweck dient.

Die Bewegung, welche die Welt erhält, vermochte sie auch zu schaffen; jeder Körper nahm den Platz ein, den ihm seine Natur anwies; die Luft musste die Erde aus demselben Grunde umgeben, aus dem das Eisen und die anderen Metalle das Produkt ihres Innern sind; die Sonne ist ein natürliches Erzeugnis wie die Elektrizität; sie wurde für die Erwärmung der Erde und aller ihrer Bewohner, die sie zuweilen auch verbrennt, ebensowenig geschaffen wie der Regen für das Wachstum des Getreides, das er oft verdirbt; der Spiegel und das Wasser wurden ebensowenig dafür geschaffen, dass man sich in ihnen betrachte, wie alle blanken Körper, welche dieselbe Eigenschaft haben; das Auge ist in Wahrheit eine Art Spiegel, in dem die Seele das Abbild der Gegenstände so betrachten kann, wie es ihr von diesen Körpern dargeboten wird; aber es ist keineswegs bewiesen, dass dieses Organ wirklich nur für diese Betrachtung geschaffen und absichtlich in der Augenhöhle untergebracht worden ist; denn es könnte wohl möglich sein, dass Lukrez, der Arzt Lamy und die anderen Epikureer des Altertums und der Neuzeit recht hatten, als sie behaupteten, dass das Auge nur deshalb sehe, weil es den entsprechenden Bau und die entsprechende Lage hat; sobald nämlich die Gesetze der Bewegung, welche die Natur bei der Erzeugung und Entwicklung der Körper befolgt, überhaupt gegeben waren, konnte dieses wunderbare Organ nicht anders gebaut und auch nicht anderswo untergebracht sein.

Das ist das Für und Wider sowie die kurze Zusammenfassung der schwerwiegenden Gründe, welche die Philosophen immer in zwei Parteien teilen werden. Ich selbst nehme dazu keine Stellung.

Aus: Julien Offray de La Mettrie, Der Mensch eine Maschine Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke . Nachwort von Holm Tetens
Reclams Universalbibliothek Nr. 18146 (S. 59-66) © 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart
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