Friedrich Albert Lange (1828 - 1875)
Deutscher
Philosoph, Theologe und Philologe, der als »Neukantianer«
in seiner Sicht der Erscheinungswelt sehr von Kant
beeinflusst ist. Durch sein Im Jahre 1865 erschienenes Hauptwerk »Geschichte
des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart« hat eine Bedeutung über seine Zeit hinaus gewonnen. Nach Lange
bedarf »der Mensch einer Ergänzung
der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt«.
Die Metaphysik hat die »Welt des Seienden mit
der »Welt der Werte« in
Verbindung zu bringen und wird so ethisch wirken. Die Religion ist ein notwendiges
Phantasieprodukt, deren Kern in der »Erhebung
der Gemüter über das Wirkliche und in der Erschaffung einer Heimat
der Geister« zu finden ist. Der göttliche Wille wird als
das wahre Wesen des eigenen Willens erkannt. Der Materialismus ist
für Lange wohl eine »vortreffliche
Maxime« zur Erforschung der Erscheinungswelt. Aus mangelndem
Wissen über die geistigen Hintergründe des Daseins ist er aber
als endgültige Weltanschauung unhaltbar. In der sogenannten »Arbeiterfrage« vertrat Lange einen optimistisch geprägten
Sozialstandpunkt, nach dem des egoistische Konkurrenzdenken unter den Menschen
im Laufe der Zeit immer mehr durch Vernunft und Sittlichkeit beherrscht
und ersetzt wird. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Religion als
notwendiges Phantasieprodukt.
Eins ist sicher : dass der
Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene
Idealwelt bedarf, und dass die höchsten und edelsten Funktionen seines
Geistes in solchen Schöpfungen zusammenwirken. Soll aber diese freie
Tat des Geistes immer und immer wieder die Truggestalt einer beweisenden Wissenschaft
annehmen? Dann wird auch der Materialismus immer wieder hervortreten und die
kühneren Spekulationen zerstören, indem er dem Einheitstriebe der
Vernunft mit einem Minimum von Erhebung über das Wirkliche und Beweisbare
zu entsprechen sucht.
Wir dürfen, zumal in Deutschland, an einer anderen Lösung der Aufgabe
nicht verzweifeln, seit wir in den philosophischen Dichtungen Schillers eine Leistung vor uns haben, welche mit edelster Gedankenstrenge die höchste
Erhebung über die Wirklichkeit verbindet, und welche dem Ideal eine überwältigende
Kraft verleiht, indem sie es offen und rückhaltlos in das Gebiet der Phantasie verlegt.
Damit soll nicht gesagt sein, dass alle Spekulation auch die Form der Poesie
annehmen müsse. Sind doch Schillers philosophische Erdichtungen mehr als
bloße Erzeugnisse des spekulativen Naturtriebes! Sie
sind Ausströmungen einer wahrhaft religiösen Erhebung des Gemütes
zu den reinen und ungetrübten Quellen alles dessen, was der Mensch je als
göttlich und überirdisch verehrt hat. Mag sich immerhin die
Metaphysik auch ferner noch an der Lösung ihrer unlösbaren Aufgabe
versuchen! Je mehr sie theoretisch bleibt und mit Wissenschaften der Wirklichkeit
an Sicherheit wetteifern will, desto weniger wird sie allgemeine Bedeutung zu
gewinnen vermögen. Je mehr sie dagegen die Welt des
Seienden mit der Welt der Werte in Verbindung bringt und durch ihre Auffassung
der Erscheinungen selbst zu einer ethischen Wirkung emporstrebt, desto mehr
wird sie auch die Form über den Stoff vorwalten lassen, und ohne den Tatsachen
Gewalt anzutun, in der Architektur ihrer Ideen dem Ewigen und Göttlichen
einen Tempel der Verehrung errichten. Die freie Poesie aber mag den Boden des
Wirklichen völlig verlassen und zum Mythus greifen, um dem Unaussprechlichen
Worte zu verleihen.
Hier stehen wir denn auch vor einer vollkommen befriedigenden Lösung der
Frage nach der näheren und ferneren Zukunft der Religion. Es gibt nur zwei
Wege, welche hier auf die Dauer ernstlich in Frage kommen, nachdem sich gezeigt
hat, dass bloße Aufklärung im Sande der Flachheit verläuft,
ohne doch je von unhaltbaren Dogmen frei zu werden. Der eine Weg ist die
völlige Aufhebung und Abschaffung aller Religion und die Übertragung
ihrer Aufgaben auf den Staat, die Wissenschaft und die Kunst; der andere ist
das Eingehen auf den Kern der Religion und die Überwindung
alles Fanatismus und Aberglaubens durch die bewusste Erhebung über
die Wirklichkeit und den definitiven Verzicht auf die Verfälschung des
Wirklichen durch den Mythus, der ja nicht dem Zweck der Erkenntnis dienen kann.
Der erste dieser Wege führt die Gefahr geistiger Verarmung mit sich; der
zweite hat mit der großen Frage zu schaffen, ob nicht gerade jetzt der
Kern der Religion in einer Umwandlung begriffen sei, welche es schwer macht,
ihn mit Sicherheit zu erfassen. Aber das zweite Bedenken ist das geringere,
weil gerade das Prinzip der Vergeistigung der Religion jeden durch die Kulturbedürfnisse
der fortschreitenden Zeit bedingten Übergang erleichtern und friedlicher
gestalten muß.
Dazu kommt noch das Bedenken, ob Abschaffung aller Religion, so erwünscht
sie manchem wohlmeinenden und denkenden Manne erscheinen mag, überhaupt
auch nur möglich sei. Kein Vernünftiger wird dabei an einen plötzlichen
oder gar gewaltsamen Schritt denken. Vielmehr wird man in diesem Prinzip zunächst
eine Maxime für das Verhalten der höher Gebildeten erblicken, etwa
im Sinne von Strauß, dessen Überrest von Religion hier wenig in Frage
kommt. Sodann aber wird man den Staat und die Schule zu benutzen suchen, um
der Religion im Volksleben allmählich den Boden zu entziehen und das Verschwinden
derselben systematisch vorzubereiten. Ein solches Verfahren vorausgesetzt, würde
es sehr in Frage kommen, ob nicht dadurch trotz aller schulmäßigen
Aufklärung eine Reaktion im Volke zugunsten einer recht
fanatischen und engherzigen Auffassung der Religion entstehen müsste,
oder ob nicht aus der zurückgebliebenen Wurzel immer neue, vielleicht wilde
aber lebenskräftige Sprossen hervortreiben würden.
Der Mensch sucht die Wahrheit des Wirklichen und liebt
die Erweiterung seiner Kenntnisse, so lange er sich frei fühlt. Man fessle ihn an das, was mit den Sinnen und dem Verstande zu erreichen
ist, und er wird sich empören und der Freiheit seiner Phantasie und seines
Gemütes vielleicht in roheren Formen Ausdruck geben, als diejenigen waren,
welche man glücklich zerstört hat.
So lange man den Kern der Religion suchte in gewissen
Lehren über Gott, die menschliche Seele, die Schöpfung und ihre Ordnung, konnte es nicht fehlen, dass jede Kritik, welche damit begann, nach
logischen Grundsätzen die Spreu vom Weizen zu sondern, zuletzt zur vollständigen
Negation werden musste. Man sichtete, bis nichts mehr übrig blieb.
Erblickt man dagegen den Kern der Religion in der Erhebung
der Gemüter über das Wirkliche und in der Erschaffung einer Heimat
der Geister, so können die geläutertsten Formen noch wesentlich
dieselben psychischen Prozesse hervorrufen, wie der Köhlerglaube der ungebildeten
Menge, und man wird mit aller philosophischen Verfeinerung
der Ideen niemals auf Null kommen.
Ein unerreichtes Muster dafür ist die Art, wie Schiller
in seinem »Reich
der Schatten« die christliche Erlösungslehre zu der Idee
einer ästhetischen Erlösung verallgemeinert hat. Die Erhebung des
Geistes im Glauben wird hier zur Flucht in das Gedankenland
der Schönheit, in welchem alle Arbeit ihre Ruhe, jeder Kampf und
jede Not ihren Frieden und ihre Versöhnung finden. Das Herz aber, welches
erschreckt ist durch die furchtbare Macht des Gesetzes, vor dem kein Sterblicher
bestehen kann, öffnet sich dem göttlichen Willen,
den es als das wahre Wesen seines eigenen Willens anerkennt und findet sich
dadurch mit der Gottheit versöhnt. Sind diese Augenblicke der Erhebung
aber auch vorübergehend, so wirken sie doch befreiend und läuternd
auf das Gemüt, und in der Ferne winkt die Vollendung, die uns niemand mehr
entreißen kann, dargestellt unter dem Bilde der Himmelfahrt des Herakles. –
Dies Gedicht ist ein Produkt einer Zeit und einer Bildungssphäre, welche
gewiß nicht geneigt waren, dem spezifisch Christlichen zu viel einzuräumen:
der Dichter der »Götter
Griechenlands« verleugnet sich nicht, es ist in gewissem Sinne hier
alles heidnisch: und dennoch steht Schiller hier dem traditionellen Glaubensleben
des Christentums näher als die aufgeklärte Dogmatik, welche den Gottesbegriff
willkürlich festhält und die Erlösungslehre als irrationell fahren
lässt.
Man gewöhne sich also, dem Prinzip der schaffenden
Idee an sich und ohne Übereinstimmung mit der historischen und naturwissenschaftlichen
Erkenntnis, aber auch ohne Verfälschung derselben einen höheren Wert beizulegen als bisher; man gewöhne sich, die Welt
der Ideen als bildliche Stellvertretung der vollen Wahrheit für gleich
unentbehrlich zu jedem menschlichen Fortschritt zu betrachten, wie die Erkenntnisse
des Verstandes, indem man die größere oder geringere Bedeutung jeder
Idee auf ethische und ästhetische Grundlagen zurückführt.
Es wird freilich manchem Alt- oder Neugläubigen bei dieser Zumutung vorkommen,
als wollte man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen und dabei
verlangen, dass er stehen bleiben solle, als wenn nichts passiert wäre;
allein es fragt sich eben, was der Boden der Ideen ist: ob ihre Einordnung in
das Ganze der Ideenwelt nach ethischen Rücksichten oder das Verhältnis
der Vorstellungen, in denen die Idee sich ausprägt, zur erfahrungsmäßigen
Wirklichkeit. Als die Umdrehung der Erde bewiesen wurde, glaubte jeder Philister
fallen zu müssen, wenn diese gefährliche Lehre nicht widerlegt würde;
ungefähr wie jetzt mancher fürchtet, ein Holzklotz zu werden, wenn
Vogt ihm beweisen kann, daß er keine Seele hat. –
Ist die Religion etwas wert und steckt ihr bleibender
Wert im ethischen und nicht im logischen Inhalt, so wird dies auch wohl
früher so gewesen sein, wie sehr man auch den buchstäblichen Glauben
für unentbehrlich halten mochte. S. 987ff.
Enthalten in: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik
seiner Bedeutung in der Gegenwart, Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte der
Philosophie
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin