Demut
griechisch: tapeinophrosýne
lateinisch: humilitas,
englisch: humility,
französisch: humilité
althochdeutsch: diomuoti
mittelhochdeutsch: diemuo, dêmuot,
wobei die Silben
»dio«,»die«
und »dê« für »Knecht« bzw. »Diener« stehen und die Silben
»muoti«
bzw. »muot« die Bedeutung »Sinn« bzw. »Gesinnung« haben.

Ursprünglich bedeutet
Demut also
»Dien-Gesinnung«
oder »Gesinnung eines Dienenden«.

In der christlichen Lehre ist die Demut eine Tugend, mit der eine freiwillige Haltung bezeichnet wird, die das menschliche Bewusstsein einnimmt, nach dem es in wahrer Selbsterkenntnis seine eigene Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit vor der unermesslichen Größe Gottes bewusst geworden ist.

Demut
erfordert den Mut sich in blindem Gottvertrauen, zu einem Gott zu bekennen, der nicht nur alles Böse zulässt, sondern den Menschen auch die die Kraft dazu gibt, das Böse in die Wirklichkeit umzusetzen. Die Demut wird ausgeübt, indem der demutsbereite Mensch in aller Bescheidenheit und wahrer Nächsten- und Gottesliebe seine Dienste gegenüber Gott und den Menschen anbietet und dabei seine eigene Geltungsbedürftigkeitund Geltungssucht (Eigendünkel) und rein selbstsüchtigen Wünsche von Herzen gerne selbstlos missachtet.

In der wahren Demutshaltung bleibt für Stolz, Ehrsucht, Selbstruhm, Angeberei und Eitelkeit genau so wenig Platz wie für hündische Ergebenheit, reine knechtische Unterwürfigkeit, Einschmeichelei, Kriecherei und Schleimerei. Dies gilt aber nicht für die dankbare Anerkennung, Ehrung und Würdigung einer Persönlichkeit, in der die von Gott geschenkten Gaben in vorbildlicher Weise als sittliches Ideal für andere Menschen dienen können.

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass der uneigennützigste Dienst am Nächsten (Nächstenliebe) und an Gott niemals möglich wäre ohne ein gewisses Mindestmaß an gesunder Selbstsucht, in der uns Gott die Stärke (Kraft) für unser irdisches Leben und Sterben und all unsere bösen und guten Werke zur freien Verfügung stellt. Demut ist also keinesfalls eine Selbstflucht vor der naturgegebenen lebensnotwendigen Selbstsucht, sondern der Versuch die teuflische Rücksichtlosigkeit und Zügellosigkeit dieser Selbstsucht durch eine freiwillige Selbstzucht in einen rücksichtsvollen menschen- und gottfreundlichen Griff zu bekommen.

Eine übertriebene demütige Haltung nach außenhin verrät die unechte Demut, die eigentlich bloße machochistische Selbsterniedrigung sowie pure sklavische Gesinnung ist. Für Nietzsche zählt Demut zu den gefährlichen und verleumderischen christlichen Idealen, hinter denen sich Feigheit und Schwäche in einer geheuchelten und verlogenen Gottergebung verstecken.


Die reine Schicksalsergebung, die im mohammedanischen Kismeth des Fatalismus (lat. fatalis = das Schicksal betreffend) zum Ausdruck kommt, setzt voraus, dass der Mensch auch nicht die geringsten Spielraum an Freiheit hat, in dem er an seinem Schicksal selbst etwas beeinflussen und verändern kann Dies geht nicht, weil in dem Los, das er zufälligerweise gezogen hat bzw. das ihm zugeteilt worden ist, alles bis in die kleinste Einzelheit im Rahmen der göttlichen Vorsehung unabänderlich vorherbestimmt ist.


Heinrich Jung-Stilling
(1749 – 1817)
Was wahre Demut ist?
Der wahre Demütige und Sanftmütige aber wird von jedermann geliebt, er lässt sich gern von anderen belehren, und nimmt also immer an Weisheit zu; er schätzt sich nach seinem wahren Wert, und findet immer mehr Unvollkommenheiten an sich selbst, als an andern; er bestrebt sich also unaufhörlich, immer sittlich vollkommener zu werden, und alle um sich her mit sich fortzuziehen, und endlich forscht er immer mit tiefer Unterwerfung, was wohl in jedem Augenblicke der Wille sein möchte; er wandelt in seiner Gegenwart, und wirkt dann nicht als Selbstherrscher, sondern als Diener des Allerhöchsten.
Aus: Heinrich Jung-Stilling, Szenen aus dem Geisterreich, 1. Band, 11. Szene, Die Hölle , Karl Rohm Verlag, Bietigheim

Immanuel Kant (1724 -1804)
Von der Kriecherei
§11. … Das Bewusstsein und Gefühl der Geringfügigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz ist die Demut (humilitas moralis). Die Überredung von einer Größe dieses seines Werts, aber nur aus Mangel der Vergleichung mit dem Gesetz, kann der Tugendstolz (arrogantia moralis) genannt werden. - Die Entsagung alles Anspruchs auf irgendeinen moralischen Wert seiner selbst, in der Überredung, sich eben dadurch einen geborgten zu erwerben, ist die sittlich-falsche Kriecherei (humilitas spuria).

Demut in Vergleichung mit anderen Menschen (ja überhaupt mit einem endlichen Wesen, und wenn es auch ein Seraph wäre) ist gar keine Pflicht; vielmehr ist die Bestrebung, in diesem Verhältnisse anderen gleichzukommen oder sie zu übertreffen, mit der Überredung, sich dadurch einen auch einen größeren inneren Wert zu verschaffen, Hochmut (ambitio), welcher der Pflicht gegen andere gerade zuwider ist. Aber die bloß als Mittel zu Erwerbung der Gunst eines anderen (wer es auch sei) ausgesonnene Herabsetzung seines eignen moralischen Werts (Heuchelei und Schmeichelei)* ist falsche (erlogene) Demut und, als Abwürdigung seiner Persönlichkeit, der Pflicht gegen sich selbst entgegen
.
*Heucheln (eigentlich häuchlen) scheint vom ächzenden, die Sprache unterbrechenden Hauch (Stoßseufzer) abgeleitet zu sein; dagegen Schmeicheln vom Schmiegen, welches als Habitus Schmiegeln und endlich von den Hochdeutschen Schmeicheln genannt worden ist, abzustammen.


Aus unserer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz (dessen Heiligkeit und Strenge) muss unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, dass wir einer solchen inneren Gesetzgebung, dass der (physische) Mensch den moralischen Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung als Gefühl seines inneren Werts (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist, und eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt.


§12 . Mehr oder weniger kann man diese Pflicht in Beziehung auf die Würde der Menschheit in uns, mithin auch gegen uns selbst in folgenden Beispielen kennbar machen.

Werdet nicht der Menschen Knechte. – Lasst euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten. - Macht keine Schulden, für die ihr nicht volle Sicherheit leistet. – Nehmt nicht Wohltaten an, die ihr entbehren könnt, und seid nicht Schmarotzer oder Schmeichler oder gar (was freilich nur im Grad von dem vorigen unterschieden ist ) Bettler. Daher seid wirtschaftlich, damit ihr nicht bettelarm werdet. – Das Klagen und Winseln, selbst das bloße Schreien bei einem körperlichen Schmerz ist euer schon unwert, am meisten, wenn ihr euch bewusst seid,, ihn selbst verschuldet zu haben: daher die Veredlung (Abwendung der Schmach) des Todes eines Deliquenten durch die Standhaftigkeit, mit der er stirbt. – Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung himmlischer Gegenstände sich dadurch zu versinnlichen, ist der Menschenwürde zuwider, sowie die Anrufung derselben in gegenwärtigen Bildern; denn ihr demütigt euch alsdann nicht unter einem Ideal, sondern unter einem Idol, was euer eigen Gmächsel ist.

Kasuistische Fragen
Ist nicht in dem Menschen das Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung, d. i. die Gemütserhebung (elatio animi) als Schätzung seiner selbst, mit dem Eigendünkel (arrogantia), welcher der wahren Demut (humilitas moralis) gerade entgegengesetzt ist, zu nahe verwandt, als dass zu jener aufzumuntern es ratsam wäre, selbst in Vergleichung mit anderen Menschen, nicht bloß mit dem Gesetz? Oder würde diese Art von Selbstverleugnung nicht vielmehr den Ausspruch anderer bis zur Geringschätzung unserer Person steigern und so der Pflicht (der Achtung) gegen uns selbst zuwider sein? Das Bücken und Schmiegen vor einem Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen unwürdig zu sein.

Diese vorzügliche Achtungsbezeigung in Worten und Manieren, selbst gegen einen nicht Gebietenden in der bürgerlichen Verfassung – die Referenzen, Verbeugungen (Komplimente), höfische – den Unterschied der Stände mit sorgfältiger Pünktlichkeit bezeicnende Phrasen, welche von der Höflichkeit ( die auch sich gleich Achtenden notwendig ist ) ganz unterschieden sind, - das Du, Er, Ihr und Sie oder Ew. Wohledlen, Hochedlen, Hochedelgeborenen, Wohlgeborenen (ohe, iam satis est) [»O weh, jetzt ist's genug«] in der Anrede – als in welcher Pedanterei die Deutschen unter allen Völkern der Erde (die indischen Kasten vielleicht ausgenommen) es am weitesten gebracht haben, sind das nicht Beweise eines ausgebreiteten Hanges zur Kriecherei unter Menschen? (Hae nugae in seria ducunt) [»Diese Possen gehen über in Ernst«.] Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird. S. 320 ff
Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre. Ethische Elementarlehre, 1.Teil. 1.Buch. 2.Hauptstück. III. §11, §12 . Reclams Universal-Bibliothek Nr. 4508

Demut ist eine erhabene Gemütsstimmung
Selbst die Demut, als unnachsichtliche Beurteilung seiner Mängel, die sonst beim Bewusstsein guter Gesinnungen leicht mit der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur bemäntelt werden könnten, ist eine erhabene Gemütsstimmung, sich willkürlich dem Selbstverweise zu unterwerfen, um die Ursache dazu nach und nach zu vertilgen. S.110
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, erster Teil, Kritik der äshetischen Urteilskraft, B vom Dynamisch-Erhabenen der Natuir §28, S.110 Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek Band 39a

Demütigung des Eigendünkels

Was unserem Eigendünkel in unserem eigenen Urteil Abbruch tut, das demütigt. Also demütigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens, uns in unserem Selbstbewusstsein demütigt, erweckt, sofern es positiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung. Also ist das moralische Gesetz auch subjektiv ein Grund der Achtung.
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I. Buch, 3.Hauptstück, Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft S. 87 Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek Band 7

Friedrich Nietzsche
(1844 – 1900)
Grenze aller Demut.

- Zu der Demut , welche spricht: credo quia absurdum est [Ich glaube, weil es widersinnig ist.Tertullian], und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl so mancher: aber keiner , soviel ich weiß, bis zu jener Demut, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht: credo quia absurdus est . [Ich glaube, weil es wider alle Vernunft vorhanden ist]

Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Viertes Buch, 417, Kröners Taschenausgabe, Band 73 (S.249)

Der Betrug bei der Demütigung.
- Du hast deinem Nächsten mit deiner Unvernunft ein tiefes Leid hinzugefügt und ein unwiederbringliches Glück zerstört – und nun gwinnst du es über deine Eitelkeit, zu ihm zu gehen, du demütigst dich vor ihm, gibst deine Unvernunft vor ihm der Verachtung preis und meinst, nach dieser harten, für dich äußerst beschwerlichen Szene sei im Grunde wieder alles in Ordnung gebracht – deine freiwillige Einbuße an Ehre gleiche die unfreiwillige Einbuße des andern an Glück aus; mit diesem Gefühle gehst du erhoben und in deiner Tugend wiederhergestellt davon, Aber der andere hat sein tiefes Leid wie vorher, es liegt ihm gar nichts Tröstliches darin, dass du unvernünftig bist und es gesagt hast; er erinnert sich sogar des peinlichen Anblickes, den du ihm gegeben hast, als du dich vor ihm selbst verachtet, wie einer neuen Wunde, welche er dir verdankt, - aber er denkt nicht an Rache und begreift nicht, wie zwischen dir und ihm etwas ausgeglichen werden könnte. Im Gunde hast du jene Szene vor dir selbst aufgeführt und für dich selber: du hattest einen Zeugen eingeladen, deinetwegen wiederum und nicht seinetwegen. - betrüge dich nicht!

Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Viertes Buch, 417, Kröners Taschenausgabe, Band 73 (S.190)

Demütigung

- Findet jemand in einem geschenkten Sack Vorteil auch nur ein Korn Demütigung , so macht er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele.

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II I. Vermischte Meinungen und Sprüche, 65, Kröners Taschenausgabe, Band 72 (S.37)

Die Demut hat das härteste Fell

… Da sprach es wider ohne Stimme zu mir: »Was liegt an Dir? Du bist mir noch ncht demütig genug. Die Demut hat das härteste Fell«.

Friedrich Nietzsche: Zarathustra, Zweiter Teil, Die stillste Stunde, Kröners Taschenausgabe, Band 73 (S.16 1)

Die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt

[…] »Schenkende Tugend« - so nannte das Unbenennbare einst Zarathustra.
Und damals geschah es auch – und wahrlich dass sein Wort die Selbstsucht selig pries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt: -
- aus mächtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehört, der schöne, sieghafte, erquickliche, um den herum jedwedes Ding Spiegel wird:
- der geschmeidige überredende Leib, der Tänzer, dessen Gleichnis und Auszug, die selbst-lustige Seele ist. Solcher Leiber und Seelen Selbst-Lust heißt sich selber: »Tugend«.

Mit ihren Worten von Gut und Schlecht schirmt sich solche Selbst-Lust wie mit heiligen Hainen; mit den Namen ihres Glücks bannt sie von sich alles Verächtliche.

Von sich weg bannt sie alles Feige; sie spricht: Schlecht – das ist feige! Verächtlich dünkt ihr der immer Sorgende, Seufzende, Klägliche und wer auch die kleinsten Vorteile aufliest.

Sie verachtet auch alle wehselige Weisheit: denn wahrlich, es gibt auch Weisheit, die im Dunkeln blüht, eine
Nachtschatten-Weisheit: als welche immer seufszst: »Alles ist eitel!«

Das scheue Misstrauen glt ihr gering, und jeder, wer Schwüre statt Blicke und Hände will: auch alle allzu misstrauische Weisheit, denn solche ist feiger Seelen Art.

Geringer gilt ihr noch der Schnell-Gefällige, der Hündische, der gleich auf dem Rücken liegt, der Demütige ; und auch Weisheit gibt es, die demütig und hündisch und fromm und schnell-gefällig ist.

Verhasst ist ihr gar und ein Ekel, wer nie sich wehren will, wer giftigen Speichel und böse Blicke hinunterschluckt, der Allzu-Geduldige, Alles-Dulder, All-Genügsame: das ist die knechtische Art.


Ob einer vor Göttern und göttlichen Fußtritten knechtisch ist, ob vor Menschen oder blöden Menschen-Meinungen: alle Knechtsart speit sie an, diese selige Selbstsucht!


Schlecht: so heißt sie alles, was geknickt und knickerisch-knechtisch ist, unfreie Zwinker-Augen, gedrückte Herzen und jene falsche nachgebende Art, welche mit breiten feigen Lippen küsst.

Und After-Weisheit: so heißt sie alles, was Knechte und Greise und Müde witzeln; und sonderlich die ganze sclimme aberwitzige, überwitzige Priester-Narrheit!

Die After-Weisen, alle die Priester, Weltmüden, und wessen Seele von Weibs- und Knechtsart ist,l – o wie hat ihr Spiel von jeher der Selbstsucht übel mitspielt! Und Das gerade sollte Tugend sin und Tugend heißen, dass man der Selbstsucht übel mitgspiele! Und »selbstlos« - so wünschen sich selber mit gutem Grunde alle diese weltmüden Feiglinge und Kreuzspinnen!

Aber denen kommt nun der Tag, die Wandlung, das Richtschwert, der große Mittag: da soll vieles offenbar werden! Und wer das Ich heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig, wahrlich der spricht auch, was er weiß, ein Weissager: »Siehe, er kommt, er ist nahe, der große Mittag«!

Also sprach Zarathustra.

Friedrich Nietzsche: Zarathustra, Zweiter Teil, Von den drei Bösen, 1, Kröners Taschenausgabe, Band 75 (S.210ff)

Der getretene Wurm krümmt sich.

Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er veringert damit die Wahrscheinlichkeit von neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demut . -
Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung, Sprüche und Pfeile, 31, Kröners Taschenausgabe, Band 77 (S.85)

Armut, Demut und Keuschheit sind gefährliche und verleumderische Ideale.

Armut, Demut und Keuschheit - gefährliche und verleumderische Ideale, aber, wie Gifte, in gewissen Krankheitsfällen, nützliche Heilmittel z. B. in der römischen Kaiserzeit.

Alle Ideale sind gefährlich, weil sie das Tatsächliche erniedrigen und brandmarken; alle sind Giftge, aber als zeitweilige Heilmittel unentbehrlich.

Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, Kritik der bisherigen höchsten Werte, 223 , Kröners Taschenausgabe, Band 78 (S.159)

Max Scheler
(1874 – 1928)
Die Demut

Von den neuen Haltungen des Gemüts, welche die Erscheinung Christi hervorgebracht und mit dem Glanze göttlicher Glorie umkleidet hat, ist die Demut, diejenige, die – recht gesehen und verstanden – sowohl gegenüber der antiken als der modern-bürgerlichen Tugendhaltung die tiefste Paradoxie und die stärkste Antithese verkörpert. Die Demut ist die zarteste, die verborgenste und die schönste der christlichen Tugenden.

Die Demut (humilitas) ist ein stetiges inneres Pulsen von geistiger Dienstbereitschaft im Kerne unserer Existenz, von Dienstbereitschaft gegen alle Dinge, die guten und die bösen, die schönen und hässlichen, die lebendigen und toten. Sie ist die innere seelische Nachzeichnung der einen großen Bewegung des Christlich-Göttlichen, in der es sich freiwillig seiner Hoheit und Majestät begibt, zum Menschen kommt, um jedermanns und aller Kreatur freier und seliger Knecht zu werden. Indem wir diese Bewegung mitvollziehen und all unser Selbst, all seinen möglichen Wert und seine Achtbarkeit und Würdigkeit, die der Stolze fest umklammert, loslassend, und selbst wahrhaft »verlieren «, uns »dahingeben« - angstlos, was hierbei mit uns geschehe – aber dunkel vertrauend, es könne der Mitvollzug jener göttlichen Bewegung als einer »göttlichen« auch uns nur zum Heile dienen, - sind wir »demütig«. Auf das echte »Loslassen« unseres Selbst und seines Wertes, auf das Wagnis, sich ernstlich in die fürchterliche Leere hinauszuschwingen, die jenseits aller Ichbezüglichkeiten, der bewussten und halbbewussten gähnt, - eben darauf kommt es an! Wagt es, euch dankbar darüber zu verwundern, dass ihr nicht nicht seid, dass überhaupt Etwas ist - - und nicht lieber Nichts ist! Wagt es, zu verzichten auf alle eure inneren vermeintlichen »Rechte«. auf eure »Würdigkeiten«, auf eure »Verdienste«, auf aller Menschen Achtung – am meisten aber auf eure »Selbstachtung« -, auf jeglichen Anspruch, irgendeiner Art von Glück »würdig« zu sein und es anders als nur geschenkt aufzufassen: So erst seid ihr demütig!

Die äußerste Antithese enthält die »Demut« gegen die vernunft- und sittenstolze Haltung des römischen Stoikers, gegen die Methode, so zu handeln, dass man seine Selbstachtung, dass man die »Souveränität« und »Würdigkeit« seines Selbsts bewahre und nicht verliere. […]

Der Stolze: ist ein Mensch, der durch fortwährendes »Herabblicken« sich suggeriert, er stehe auf einem Turme. Jedes faktische Sinken seiner Person überkompensiert er mit dem einen Blick in eine noch tiefere Tiefe – so dass er sich steigen sehen muss, wo er tatsächlich sinkt. Er merkt nicht, dass ihn die Tiefe, die er stets neu ins Auge fasst, eben dadurch langsam an sich zieht, dass er sie stets – um sich hoch zu dünken – anblickt. Also »fällt« langsam – in seine eigene Blickrichtung gezogen – der Engel. Diese Blickrichtung ist berechtigt, soweit es sich nur um besitzbare Werte und Güter, um Ämter und Würden handelt und sich die Haltung sich im sozialen Vergleich bewegt. Dann ist diese Haltung nur Hochmut, welche die Demut des Seins nicht ausschließt. So waren die typischen Herren und Ritter des Frühmittelalters, so auch die größten Päpste, äußerst hochmütig und demütig zugleich. Diese Mischung ist ein besonderer Reiz des Tugendwesens jener Zeit, Nur etwas schließt Demut aus: Den Seinsstolz, der auf die Substanz des eigenen Wesens zielt! Dieser eben allein ist das Teuflische, das zur Hölle leitet. Die Demut aber ist die Tugend, die, indem sie den Demütigen tiefer und tiefer sich nieder- und herabsinken lässt – vor sich selbst - und durch sein Selbst vor allen Dingen, geradewegs in den Himmel hinein führt. Denn Demut ist nichts anderes als der resolute Blick auf die Linien unseres Selbsts, die es zum Idealistischen seines individuellen Wesens hinzusteuern scheinen, und deren Schnittpunkt im Unsichtbaren liegt – in Gott. Sie ist ein fortwährendes Sichsehen »in Gott« und »durch das Auge« Gottes, ein wahrhaftes »Wandeln unter dem Auge des Herrn«. […] Ebenso ist für den wahrhaft Demütigen dauernd das »Bild« gegenwärtig, welches er die auf ihn abzielende Bewegung der Liebe Gottes von seiner eigenen Individualität in jedem Momente neu vorzeichnen und gleichsam vor sich her tragen fühlt. Wie könnte er anders als in jedem seiner empirischen Lebensmomente sich als ganz dunkel und klein wissen vor dem Glanze und der Größe dieses Bildes? Indem er in die Sphäre seines Bewusstseins tiefer und tiefer, im Eindringen in dies göttliche Bild, hinabsinkt, und sich erniedrigt sieht, reißt ihn faktisch das schöne Bild zu Gott empor und steigt er leise in der Substanz seines Wesens empor in den Himmel.

Die Demut ist ein Modus der Liebe, die sonnenmächtig allein das starre Eis zerbricht, dass der schmerzensreiche Stolz um das immer leerere Ich gürtet. Nichts Holdseligeres, als wenn die Liebe in stolze Herzen leise die Demut hineinzaubert und das Herz sich öffnen und dahinströmen macht! Der stolzeste Mann und die stolzeste Frau werden noch ein wenig demütig und dienstbereit an alle Dinge, wenn sie lieben. Eben als die duftigste Blüte der christlichen Liebe ist die Demut die christliche Tugend katexochen [vorzugsweise] und in ihrer reinsten Prägung ist sie nur der zarte Schattenriss, den die Bewegung der heiligen, gottbezogenen Liebe auf die Seele zurückwirft. Und das ist allein diese Liebe zur Welt und Gott und den Dingen aus Gott heraus, und »die Liebe in Gott« (das »Amare deum et mundum in deo« der Scholastiker), diese schöne Sebsterniedrigung, die den angeborenen Star unseres Geistes sticht und das volle Licht aller nur möglichen Werte in uns hineinfluten macht. Der Stolze, dessen Auge auf seinem Wert – wie gebannt – hängt, lebt notwendig in Nacht und Finsternis. Seine Wertewelt verdunkelt sich von Minute zu Minute; denn jeder erblickte Wert ist ihm wie Diebstahl und Raub an seinem Selbstwert. Also wird er Teufel und Verneiner! Im Gefängnis seines Stolzes eingeschlossen, wachsen und wachsen die Wände, die ihm das Tageslicht der Welt absperren. Seht ihr das ichgierige, eifersüchtige Auge, wenn er die Brauen runzelt? Demut hingegen öffnet das Geistesauge für alle Werte der Welt. Sie erst, die davon ausgeht, dass Nichts verdient sei und Alles Geschenk und Wunder, macht Alles gewinnen! Sie macht es noch fühlbar, wie herrlich der Raum ist, in dem sich die Körper ausdehnen können, wie sie nur wünschen, ohne doch auseinander zu fallen; und wie viel wunderbarer und dankenswerter es ist, dass es Raum, Zeit, Licht und Luft, Meer und Blumen gibt, ja sogar, - wie immer neu sie froh entdeckt Fuß und Hand und Auge als all jene Dinge, deren Wert wir nur zu fassen fähig zu sein pflegen, wenn sie selten sind und die anderen sie nicht haben! Sei demütig und sofort wirst du ein Reicher und Mächtiger werden! Indem du nichts mehr »verdienst«, wird dir alles geschenkt! Denn die Demut ist die Tugend der Reichen, wie der Stolz jene der Armen. Aller Stolz ist »Bettelstolz«! Ist faktisch in der Welt eine Spur der Gnade für das Gefühl und eine Spur des Wunders für den Verstand – wie sollte der Stolze, der sich ja eben »nichts schenken lassen will« und auch erkennend nichts rein aufnehmen , den Sinn der Welt hereinlassen will, was den Tribut an seine sogenannten 12 Verstandeskategorien, - oder besser seine 12 Gattungsspleens und generellen Zwangsideen – gezahlt hat, etwas Wesentliches von der Welt wissen? Ein Wesen, etwas von der Welt wissen, das sich einbildet, es schreibe sein »Verstand der Natur die Gesetze vor« und es gebe keinen anderen »Richter« über sich selbst als es selber?

Die Demut ist jene tiefe Kunst der Seele, in der sie sich noch über jenes Maß hinaus entspannt, das in einem bloßen Sichleben- und Sichströmenlassen liegt. Es gibt zwei Wege einer Seele und eine Überwindung ihrer natürlichen Enge und Dumpfheit. Der eine Weg ist der Weg der Anspannung des Geistes und des Willens, der Konzentration, der selbstbewussten Entfremdung von den Dingen und von sich selbst. Aller »Rationalismus« und alle Moral der »Selbstbefreiung«, des »Selbstrichtens«, der »Selbstverkommnung« beruht auf dieser Richtung. Der andere Weg ist der Weg der Entspannung des Geistes und Willens, der Expansion und des steigenden Entzweischneidens der Fäden, die auch noch in schlaffer, untätiger Einstellung der Welt, Gott, die Menschen und alle übrigen Lebewesen an den eigenen Organismus und das eigene Ich auf automatische Weise ketten – der Weg der Vermählung mit den Dingen und Gott. Wer den ersten dieser Wege geht, fürchtet den zweiten. Er misstraut dem Sinn und Gang der Welt, er misstraut dem Sinn und Gang der eigenen Seele und er vertraut sich selbst und seinem Willen allein. Sein Ideal der Vollkommenheit ist, dass er sich und die Welt »in die Hand nehme«. Wer den zweiten Weg geht fürchtet nicht weniger den ersten. Er, der mit dem restlosen Vertrauen in das Sein und die Wurzel aller Dinge, aus der sie sprießen, beginnt, empfindet es als Wahnwitz, eine fragwürdige Welt erst »einrichten« zu wollen. Sich als Teil der Welt tief empfindend und voll Patriotismus für diese Welt, kann er den Gedanken, der Teil solle erst aus dem Ganzen etwas Besseres machen als dieses Ganze – das doch auch ihn umfängt und ihn enthält, - nur als eine Absurdität ansehen. Aber das heißt nicht, er sähe uns fühle weniger das, was man die »Übel«, die »Schwächen«, das »Böse« und »Sinnlose« der Welt nennt. […]

In seinem letzten Werke »Das puralistische Universum« sagt Williams James:

» Luther war der erste Moralist*,
*Diese Behauptung entspricht historisch nicht den Tatsachen. Ich zitiere nach der dankenswerten Übersetzung von J. Goldstein. 8. Vorlesung, Leipzig, Alfred Kröner 1914
der die Kruste dieser ganzen naturallistischen Selbstgenügsamkeit (sc. der antiken Moral) wirksam durchbrach, wobei er annahm (und darin hatte er möglicherweise recht), dass dies schon Paulus getan hatte. Die religiöse Erfahrung des Lutherischen Typus fährt zum Bankrott aller unserer naturalistischen Prinzipien und Maßstäbe: sie zeigt, man ist nur stark, wenn man schwach ist. Man kann nicht nur von Stolz oder Selstgenügsamkeit leben. Es gibt ein Leben, in dessen Lichte all natürlich begründeten und landläufigen sittlichen Bewertungen, Vortrefflichkeiten und der Selbstschutz unseres Charakters als etwas äußerst Kindisches erscheinen. Ehrlich seinen eingebildeten Stolz aufgeben und auf die Hoffnung verzichten, aus eigener Kraft gut sein zu können, das ist die einzige Pforte zu den tieferen Bereichen des Kosmos«. […]
»Das fragliche Phänomen besteht darin, dass nach Augenblicken höchster Verzweiflung neue Ordnungen des Lebens sich uns innerlich offenbaren. Es gibt Hilfsquellen in uns, um die sich der Naturalismus mit seinen sklavisch befolgten Moralvorschriften und seinem Legalismus niemals bekümmert, Möglichkeiten, die uns den Atem rauben, eine neue Art inneren Glückes und innerer Macht, die sich darauf gründet, dass wir unseren eigenen Willen aufgeben und etwas Höheres für uns wirken lassen. Diese neuen Lebensmächte scheinen eine Welt zu offenbaren, die weiter und umfassender ist, als die Physik und die gewöhnliche Philister-Ethik sich träumen lassen. Hier ist eine Welt, in der alles gut ist trotz gewisser Formen des Todes, ja infolge gewisser Formen des Todes – infolge des Todes der Hoffnung und der Stärke, des Todes der »Verantwortlichkeit«, der Furcht und der kleinlichen Sorgen, des persönlichen Verdienstes und Wertes, kurz infolge des Todes von all dem, auf das Heidentum, Naturalismus und Legalismus ihren Glauben und ihr Vertrauen gründeten. Die Vernunft, die unsere anderen Erfahrungen, selbst unsere psychologischen, bearbeitet, hätte niemals auf diese spezifisch religiösen vor ihrem wirklichen Auftreten schließen können. Sie konnte ihre Existenz nicht vermuten, denn sie bedeuten einen Bruch mit den »natürlichen« Erfahrungen, auf die sie folgen und deren Werte sie umkehren. Aber in dem Maße, wie diese religiösen Erfahrungem sich nun wirklich einstellen, weitet sich die Schöpfung vor den Blicken derjenigen, die sie erleben. Sie deuten darauf hin, dass unsere natürliche Erfahrung nur ein Bruchstück der gesamten menschlichen Erfahrung ist. Sie geben der Natur weichere, unbestimmtere Umrisse und eröffnen dem Geiste die außerordentlichen Möglichkeiten und Ausblicke«.

Die albernste und witzigste Verkennung, welche die christliche Demut bei einigen moderneren Bürgern gefunden hat, ist wohl jene, die sich als eine Art zur Tugend erhobener gottgeweihter »Servilität«, als die »Tugend« der Armen, Schwachen, Kleinen erscheinen lässt. Dass jener Habitus, der sich »Bürgerstolz vor Königsthronen« nennt und dass die als »Pflicht« empfundene Haltung aller Emporkömmlinge, sich nur vor allem »nichts schenken lassen zu dürfen«, d. h. jenes a priori gesetzte vollendete Nicht
seins gefühl, das sich in der alleinigen Wertbetonung des »Selbsterworbenen«, des »aus eigener Kraft Gewordenen« , für jeden nicht moralisch Tauben so vernehmlich ausspricht, zu dieser Täuschung führen muss – dies freilich ist selbstverständlich. Was weiß der »Bürgersmann«, der ja eben »etwas werden will«, der sich auch da noch heimlich an seinen Herren und Königen misst, wo er »stolz« gegen sie aufmuckt – was könnte er wissen von der freiwilligen Selbsterniedrigung, vo dem süßen Drang des Sichselbstverflutens derer, die etwas sind … und die sich eben darum nicht in der Höhe wissen, weil sie selbstverständlich auf der Höhe stehen?

Demut: das ist ja eben die Bewegung der Selbsterniedrigung, die Bewegung also des Herkommens von oben, des Kommens aus der Höhe, des Sichhinabgleitenlassens Gottes zum Menschen, des Heiligen zum Sünder – diese freie, kühne, angstlose Bewegung eines Geistes, dessen selbstverständliche Fülle ihm selbst noch den Begriff der Selbstverschwendung unfasslich macht; der sich nicht »vergeben« kann, da er selbst nur quellendes Geben ist. Will denn der Servile geben und dienen? Der Servile »will« herrschen, und nur ein Mangel an Kraft und Reichtum lässt ihn sich verbeugen vor seinm Herrn und ihm mit Händen dienen. Mit der Gewöhnung an die vielen Verbeugungen wird er dienerhaft oder servil.

Die Demut hingegen ist vor allem eine Tugend der geborenen Herren und besteht in dem Nichtherankommenlassen der ihnen selbstverständlichen irdischen Werte, der Ehren, des Ruhmes der Lobpreisungen ihrer Diener an das Zentrum der Seele, im fortwährenden Beugen des inneren Hauptes vor dem Unsichtbaren mitten und während der Herrschaft über das Sichtbare. Der Demütige vollzieht auch noch jeden Akt der Herrschaft in einer tief geheimen Dienstbereitschaft an dem, über den er herrscht. Eben das ist für ihn nur Haltung, was für den Servilen Zentrum ist: das Herrschenwollen! Und eben das ist für ihn Zentrum, was für den Servilen nur Haltung ist: Dienstbereitschaft!
Auszüge aus S. 23-37
Max Scheler: Vom Umsturz der Werte, Erster Band, Zweite Auflage, Zur Rehabilitierung der Tugend, Die Demut, LEIPZIG 1923, DER NEUE GEIST-VERLAG/DR:PETER REINHOLD