Anselm von Canterbury (1033 – 1109)

  Englischer Theologe, Philosoph und Kirchenlehrer der Scholastik. Anselm war von 1078 bis 1093 Abt des Benediktinerklosters Bee (Normandie) und danach bis zu seinem Tod Erzbischof von Canterbury. Heiliger (Tag: 21. 4.).—

Anselms
reiche spekulative Begabung und mystische Frömmigkeit machten Anselm zum »Vater«, der mittelalterlichen Scholastik und Mystik. Sein auf Augustinus zurückgehender Grundsatz: »Credo, ut intelligam« (»Ich glaube, um zu erkennen«) bedeutet, dass die Vernunft den Glaubensinhalt soweit wie möglich rational durchleuchten und systematisieren soll. In diesem Sinn hehandelte er die Existenz und Dreieinigkeit Gottes sowie die Schöpfung. Berühmt ist sein ontologischer Gottesbeweis. Sein erstaunlicher Einfallsreichtum entfaltet sich voll in den Begründungen des Dialogs zwischen den fiktiven Figuren Anselm und Boso, in dem Anselm darlegen will: »Warum Gott Mensch geworden ist« (Cur Deus Homo).

Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Heiligenlexikon
 

Warum Gott Mensch geworden ist
Die Einwände der Ungläubigen und die Antworten der Gläubigen
Daß diese Antworten den Ungläubigen nicht notwendig und gleichsam wie Bilder erscheinen
Daß die Erlösung des Menschen durch keine andere als Gottes Person erfolgen konnte

Daß die Genugtuung, durch die der Mensch gerettet wird, nur ein Gott-Mensch leisten kann
Daß es notwendig ist, daß ein und derselbe vollkommener Gott und vollkommener Mensch sei
Daß es notwendig ist, daß das Wort allein und der Mensch zu einer Person vereinigt werden


>>>Christus


Warum Gott Mensch geworden ist
Die Einwände der Ungläubigen und die Antworten der Gläubigen
Boso. Es werfen uns die Ungläubigen unter Spott auf unsere Einfalt vor, wir fügten Gott Unbill und Schmach zu, wenn wir behaupten, er sei in den Schoß eines Weibes herabgestiegen, aus einer Frau geboren, mit Milch und menschlichen Speisen ernährt aufgewachsen und er habe — um von vielem anderen zu schweigen, was Gott nicht zu gebühren scheint — Ermüdung, Hunger, Durst, Schläge und zwischen Räubern Kreuz und Tod erduldet.

Anselm. Wir fügen Gott keinerlei Unbill oder Schmach zu, sondern aus ganzem Herzen danksagend, loben und preisen wir die unaussprechliche Größe seiner Barmherzigkeit; denn je wunderbarer und über alles Erwarten hinaus er uns aus so großen und so verdienten Übeln, in denen wir uns befanden, in so große und so unverdiente Güter, die wir verloren hatten, wieder eingesetzt hat, um so größere Liebe und Güte hat er uns erzeigt. Denn wenn sie gründlich betrachteten, wie angemessen auf diese \\eise die Wiederherstellung des Menschen erfolgte, würden sie nicht unsere Einfalt verlachen, sondern mit uns Gottes weise Güte preisen. Wie nämlich durch eines Menschen Ungehorsam der Tod in das Menschengeschlecht eingetreten war, so mußte auch durch den Gehorsam eines Menschen das Leben wieder hergestellt werden. Und wie die Sünde, die Ursache unserer Verdammnis, von einem Weibe ihren Ausgang nahm, so mußte auch der Urheber unserer Gerechtigkeit und unseres Heiles aus einem Weibe geboren werden. Und es mußte der Teufel, der den Menschen durch den Genuß einer Baumesfrucht, zu dem er ihn verleitete, besiegt hatte, von einem Menschen durch das Leiden an einem Baumesstamme, das er ihm zugefügt, besiegt werden‘, Es gibt noch vieles andere, was, sorgfältig betrachtet, eine gewisse unaussprechliche Schönheit unserer auf diese Weise vorgesehenen Erlösung sichtbar macht.
S.15 f.

Daß diese Antworten den Ungläubigen nicht notwendig und gleichsam wie Bilder erscheinen
Boso. All das ist schön und nach Art von Bildern aufzufassen. Aber wenn kein fester Grund da ist, auf dem es ruht, scheint es den Ungläubigen nicht dafür zu genügen, warum wir glauben müßten, Gott hätte all das von uns Genannte erleiden wollen. Denn wer ein Gemälde anfertigen will, wählt einen festen Grund aus, auf dem er malt, damit bleibt, was er malt. Denn niemand malt auf Wasser oder in die Luft, weil da keinerlei Spuren des Bildes bleiben. Wenn wir daher diese von dir vorgebrachten Billigkeitsgründe den Ungläubigen gleichsam wie Bilder eines geschehenen Ereignisses entgegenhalten, so meinen sie, weil sie ja wähnen, was wir glauben, sei nicht geschehenes Ereignis, sondern Erfindung, wir malten gleichsam auf Wolken. Es ist mithin zuerst ein vernunftgemäßer fester Untergrund der Wahrheit aufzuzeigen, das heißt die Notwendigkeit, die beweist, daß Gott zu dem, was wir verkünden, sich erniedrigen mußte oder konnte; dann sind, damit gleichsam der Leib der Wahrheit selber mehr erstrahle, jene Billigkeitsgründe wie Bilder dieses Leibes darzustellen.

Anselm. Scheint es nicht ein genügend notwendiger Grund zu sein, warum Gott das, was wir sagen, tun mußte: nämlich weil das Menschengeschlecht, sein so kostbares Werk, gänzlich zugrundegegangen war und es sich nicht ziemte, daß, was Gott über den Menschen beschlossen hatte, vollständig zunichte werden sollte und dieses sein Vorhaben nicht zum Erfolg geführt werden konnte, es sei denn, das Menschengeschlecht würde von seinem Schöpfer selbst befreit? S.17 f.

Daß die Erlösung des Menschen durch keine andere als Gottes Person erfolgen konnte
Boso- Wenn man irgendwie sagen würde, daß eben diese Befreiung durch eine andere als durch Gottes Person — sei es durch einen Engel, sei es durch einen Menschen — erfolgt sei, so würde das die menschliche Vernunft als weit tragbarer hinnehmen. Denn Gott konnte einen Menschen ohne Sünde machen, nicht aus der sündigen Masse noch von einem anderen Menschen, sondern so, wie er Adam gemacht hat, durch den eben dieses Werk, wie es scheint, hätte geschehen können.

Anselm. Siehst du nicht ein, daß, welche Person auch den Menschen vom ewigen Tode erlösen würde, dieser Mensch mit Recht als deren Knecht erachtet würde? Wenn es so wäre, dann wäre er keineswegs in die Würde eingesetzt worden, welche er haben sollte, falls er nicht gesündigt härte; denn dann wäre der, der nur Gottes Knecht und den guten Engeln in allem ebenbürtig sein sollte, der Knecht dessen, der nicht Gott wäre und dessen Knechte nicht die Engel wären.
S.19

Daß die Genugtuung, durch die der Mensch gerettet wird, nur ein Gott-Mensch leisten kann
Anselm. Das aber kann nicht geschehen, wenn es nicht jemanden gibt, der Gott für die Sünde des Menschen etwas Größeres gibt, als alles, was außerhalb Gottes existiert.

Boso. So steht es fest.

Anselm. Auch ist es notwendig, daß der, der aus seinem Eigenen Gott etwas wird geben können, das alles, was unter Gott steht, überragt, größer ist als alles, was Gott nicht ist.

Boso. Ich kann es nicht leugnen.

Anselm.
Nichts aber ist über allem, was Gott nicht ist, außer Gott.

Boso.
Das ist wahr.

Anselm.
Also kann diese Genugtuung nur Gott leisten.

Boso. So folgt.

Anselm. Es darf sie aber niemand leisten außer dem Menschen. Sonst leistete nicht der Mensch Genugtuung.

Boso.
Es erscheint nichts gerechter.

Anselm. Wenn also, wie es feststeht, notwendig ist, daß aus den Menschen jene himmlische Stadt vollendet wird und das nicht geschehen kann, wenn nicht die erwähnte Genugtuung erfolgt, die einerseits nur Gott leisten kann und andererseits nur der Mensch leisten darf: so ist es notwendig, daß sie ein Gott-Mensch leiste.

Boso. «Gepriesen sei Gott», bereits haben wir von dem, was wir suchen, etwas Großes gefunden. Fahre also fort, wie du begonnen hast. Denn ich hoffe, daß Gott uns helfen wird
. S.97 f.

Daß es notwendig ist, daß ein und derselbe vollkommener Gott und vollkommener Mensch sei
Anselm. Jetzt ist zu erforschen, wie ein Gott-Mensch sein kann. Denn die göttliche und menschliche Natur können nicht ineinander vertauscht werden, so daß die göttliche zur menschlichen und die menschliche zur göttlichen werde; noch so vermischt, daß es irgendeine dritte aus beiden ergäbe, die weder ganz göttlich noch menschlich wäre. Schließlich wäre, wenn die eine in die andere verwandelt werden könnte, entweder nur Gott und nicht Mensch, oder nur Mensch und nicht Gott. Oder wenn sie so sich vermischten, daß beide zugrundegingen und eine dritte entstünde — so wie aus zwei einzelnen Lebewesen verschiedener Gattung, aus Männchen und Weibchen, ein drittes geboren wird, das weder die Natur des Vaters noch die der Mutter unversehrt bewahrt, sondern aus beiden eine dritte, gemischte —: so wäre weder Mensch noch Gott. Es kann also der Gott-Mensch, nach dem wir suchen, aus der göttlichen und menschlichen Natur nicht entstehen entweder durch Verwandlung der einen in die andere oder aus einer zerstörenden Vermischung beider zu einer dritten, weil das nicht geschehen kann; oder wenn es möglich wäre, hätte es keinen Wert für das, wonach wir forschen.
Wenn man aber sagt, diese zwei unversehrten Naturen würden auf irgendeine beliebige Art so vereinigt, daß jedoch ein anderer Mensch wäre und ein anderer Gott, und nicht derselbe Gott wäre, der auch Mensch ist: so wäre es unmöglich, daß beide das leisten, was geleistet werden muß. Denn Gott wird es nicht leisten, weil er es nicht schuldet, und der Mensch wird es nicht leisten, weil er es nicht kann. Damit das also ein Gott-Mensch leiste, ist es notwendig, daß ein und derselbe, der die Genugtuung leisten soll, vollkommener Gott und vollkommener Mensch sei; denn sie kann nur ein wahrer Gott und darf nur ein wahrer Mensch leisten. Weil es also notwendig ist, daß mit Wahrung der Unversehrbarkeit beider Naturen der Gott-Mensch gefunden werde, ist es nicht weniger notwendig, daß diese beiden unversehrten Naturen in einer Person zusammenkommen wie Leib und vernünftige Seele in einem Menschen zusammenkommen —, weil es anders nicht geschehen kann, daß ein und derselbe vollkommener Gott und vollkommener Mensch ist.

Boso. Alles, was du sagst, gefällt mir
. S.99

Daß es notwendig ist, daß das Wort allein und der Mensch zu einer Person vereinigt werden
Anselm. Jetzt ist auch zu erforschen, in welcher Person Gott, der drei Personen ist, den Menschen annehmen soll. Denn mehrere Personen können nicht einen und denselben Menschen in die Einheit der Person aufnehmen. Deshalb ist es notwendig, daß sich dies nur in einer Person vollziehe. Aber über diese Einheit der Person Gottes und des Menschen und darüber, in welcher Person Gottes das mit mehr Notwendigkeit geschehe, habe ich in dem Briefe Von der Fleischwerdung des Wortes, der sich an den Herrn Papst Urban richtet, gesprochen, soweit es, wie ich glaube, für die gegenwärtige Untersuchung genügt.

Boso. Jedoch berühre hier kurz, warum eher die Person des Sohnes Fleisch werden muß als die des Vaters oder des Heiligen Geistes.

Anselm. Wenn irgendeine andere Person Fleisch würde, werden zwei Söhne in der Dreifaltigkeit sein, nämlich der Sohn Gottes, der auch vor der Menschwerdung Sohn ist, und jener, der durch die Menschwerdung Sohn der Jungfrau sein wird; und es wird unter den Personen, die immer gleich sein müssen, eine Ungleichheit nach der Würde der Geburten herrschen. Denn eine würdevollere Geburt wird der aus Gott Geborene haben als der aus der Jungfrau Geborene. Desgleichen werden, falls der Vater Mensch würde, zwei Enkel in der Dreifaltigkeit sein; denn der Vater wird durch den angenommenen Menschen Enkel der Eltern der Jungfrau sein; und das Wort wird, obwohl es nichts vom Menschen hat, dennoch Enkel der Jungfrau sein, weil es der Sohn ihres Sohnes sein wird. Das alles sind Unzuträglichkeiten und ist bei der Fleischwerdung des Wortes nicht der Fall. Es gibt noch etwas anderes, warum es mehr dem Sohne angemessen ist, Mensch zu werden, als den anderen Personen: es klingt schicklicher, wenn der Sohn den Vater bittet als eine andere Person eine andere. Desgleichen: Der Mensch, für den er beten, und der Teufel, den er bekämpfen sollte, hatten sich beide durch ihren Eigenwillen eine falsche Ähnlichkeit mit Gott angemaßt. Daher hatten sie in besonderer Weise gegen die Person des Sohnes gesündigt, der nach dem Glauben das wahre Abbild des Vaters ist. Dem also, dem besonders Unrecht geschieht, wird passender die Strafe für die Schuld oder die Verzeihung zugeschrieben. Wie uns daher ein unausweichbarer Grund dazu geführt hat, daß es notwendig sei, daß die göttliche und menschliche Natur in einer Person sich vereinigen und daß das nicht in mehreren Personen Gottes geschehen könne, und daß es einleuchte, daß das angemessener in der Person des Wortes als in den anderen sich vollziehe: so ist es notwendig, daß Gott das Wort und der Mensch in einer Person sich vereinigen
.
S.105
Aus: Anselm von Canterbury: Cur deus homo - Warum Gott Mensch geworden
Lateinisch und Deutsch. Besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt O. S. B.
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