Aristoteles (384 – 322 v. Chr.)

  Griechischer Philosoph. Aristoteles war Schüler Platons und Erzieher Alexander des Großen. Im Mittelpunkt der aristotelischen Lehre steht die »Erste Philosophie«, in der die Erkenntnis des Wesens des Seienden das Ziel ist, das er in 10 Kategorien ( 1 Wesen [Dieses-da-Bezeichnung, Art, Gattung], 2 Menge [wie viel], 3 Güte [Wie-beschaffen-sein, Gestalt], 4 Verhältnis [In-bezug-auf], 5 Ort [Wo], 6 Zeitpunkt [Wann], 7 Zustand im Hinblick auf Gegensätzlichkeit von Bejahung oder Verneinung [Liegen], 8 Austattung, Eigenschaften [Haben], 9 Aktivität [Tun], 10 Passivität [Erleiden, Widerfahren] ) zu umfassen sucht. Kant hat sich später in seiner »Kategorientafel« weitgehend an den aristotelischen Kategorien orientiert. Die Naturphilosophie beschreibt er in seiner »Physik«. Von besonderer Bedeutung ist seine Definition der Bewegung (Veränderung) und der Zeit als Zahl der Bewegung. Die räumliche Bewegung und die damit verbundene zeitliche Veränderung führt er auf eine ewig gleich- und unverändert bleibende (ätherische) Kreisbewegung zurück Seine »Ethik« beschäftigt sich mit der Frage der Glückseligkeit als höchstem (erstrebenswerten) Gut.

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Inhaltsverzeichnis
Göttliche Wissenschaft

Über Bewegung und das erste Bewegende (Metapysik XII. Buch)
5. Vermögen und Verwirklichung als Prinzipien und Ursachen
6. Die Notwendigkeit eines ersten Bewegenden
7. Das erste Bewegende und seine Tätigkeit
8. Die Anzahl bewegender Wesen
9. Die göttliche Vernunft
10. Das Gute und Beste in der Natur des Ganzen

Glückseligkeit (Nikomachische Ethik X. Buch)
Das vollendete Glück der Denktätigkeit (Siebentes Kapitel).
Das Glück des praktischen Lebens (Achtes Kapitel)
Die Seligkeit des Lebens der Betrachtung (Neuntes Kapitel). Nikomachische Ethik (Gesamttext)

Göttliche Wissenschaft
Die göttlichste Wissenschaft nämlich ist auch die ehrbarste, und nur in zweifacher Hinsicht ist sie es: die Wissenschaft nämlich, die die Gottheit am meisten besitzen dürfte, ist eine göttliche Wissenschaft, aber auch die, die vom Göttlichen handelt. Und diese allein umfaßt beides. Denn Gott gilt allen als eine Ursache und ein Prinzip, und Gott besitzt wohl diese Wissenschaft allein oder doch am meisten. Freilich sind alle anderen Wissenschaften notwendiger als diese, aber keine ist besser.
Aus: Aristoteles, Metaphysik . Schriften zur ersten Philosophie Übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz
Reclams Universalbibliothek Nr. 7913 (S.22-23) © 1970 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Über Bewegung und das erste Bewegende (Metapysik XII. Buch)
5. Vermögen und Verwirklichung als Prinzipien und Ursachen
Da es aber abgetrennte Dinge gibt und nicht abgetrennte Dinge, so sind die ersteren Wesen. Und aus diesem Grund sind die Ursachen von allen Dingen dieselben, weil es ohne Wesen keine Affektionen und keine Bewegungen gibt. Diese Ursachen könnten dann vielleicht Seele sein und Körper, oder Vernunft, Begehren und Körper.

Weiter sind in einer anderen Weise der Analogie nach die Prinzipien dieselben, nämlich als Verwirklichung und als Vermögen. Doch auch diese sind für andere Dinge andere Prinzipien und auch das in anderer Weise. In einigen Fällen nämlich gibt es dasselbe bald der Verwirklichung nach und bald dem Vermögen nach, wie etwa Wein, Fleisch oder Mensch. (Auch diese Fälle gehören unter die genannten Ursachen. Der Verwirklichung nach nämlich existiert die Form, sofern sie abgetrennt existiert, und das aus beiden Vereinigte und die Privation — zum Beispiel die Finsternis oder das Kranke; dem Vermögen nach aber existiert der Stoff, denn er vermag beides zu werden.) In anderer Weise aber unterscheidet sich der Verwirklichung nach und dem Vermögen nach dasjenige, was nicht über denselben Stoff verfügt, von dem, was nicht über dieselbe, sondern über eine verschiedene Form verfügt. So sind etwa Ursachen des Menschen seine Elemente, Feuer und Erde als Stoff und die eigentümliche Form und weiter noch etwas anderes Äußeres — der Vater nämlich — und neben alledem die Sonne und ihre schiefe Kreisbahn, die weder Stoff noch Form sind, noch Privation oder Gleichartiges, sondern bewegende Ursachen.

Man muß weiter noch beachten, daß man einige Ursachen als allgemeine ansprechen kann, einige aber nicht. Also sind die ersten Prinzipien von allen Dingen dasjenige, was der Verwirklichung nach ein erstes Dieses-da ist, und ein anderes, das es dem Vermögen nach ist. Jene allgemeinen Ursachen existieren demnach nicht. Denn das Prinzip des einzelnen Dinges ist das einzelne Ding. Denn der Mensch ist zwar allgemein Prinzip des Menschen, aber es gibt keinen allgemeinen Menschen; sondern Peleus ist Prinzip des Achill, dein Prinzip ist dein Vater, und dieses B da ist Prinzip dieses BA da — und überhaupt ist B Prinzip für ein BA schlechthin.

Es sind also die Ursachen und Elemente der Wesen, die nicht zur selben Gattung gehören — zum Beispiel Farben, Töne, Wesen, Quantität —, jeweils andere bei anderen, wie schon erörtert wurde nur der Analogie nach sind sie dieselben. Auch bei denen, die zu ein und derselben Art gehören, sind sie verschieden, nicht der Art nach, sondern nur als Ursache anderer einzelner Dinge. So sind dein Stoff, deine Form und dein Bewegendes andere als meine, und doch sind sie ihrem allgemeinen Begriff nach dieselben. Untersucht man nun, welches die Prinzipien oder Elemente der Wesen, des Bezüglichen und der Qualia sind, ob sie identisch sind oder verschieden, so ist es klar, daß sie, wenn man die Mehrheit der Bedeutungen berücksichtigt, jeweils identisch sind. Wenn man aber die Bedeutungen unterscheidet, sind sie nicht identisch, sondern verschieden, außer auf die angegebene Weise. In bestimmtem Sinne sind sie allerdings der Analogie nach bei allem identisch, weil sich Stoff, Form, Privation und Bewegendes vorfinden. Und im bestimmten Sinne sind die Ursachen der Wesen die Ursachen von allem, weil mit ihrer Aufhebung das Übrige aufgehoben wird. Weiter ist das der Vollendung nach Erste überall dasselbe. In bestimmtem Sinne wiederum sind die ersten Ursachen verschieden, nämlich die Gegenteile, die weder als Gattungen ausgesagt werden noch in mehreren Bedeutungen; und weiter die Stoffe.

Welche und wieviele Prinzipien der Sinnesdinge es gibt und inwiefern sie identisch sind und inwiefern verschieden, ist nun erörtert worden.

6. Die Notwendigkeit eines ersten Bewegenden
Da sich nun drei Wesen ergeben haben, einerseits zwei natürliche Wesen und andererseits ein unbewegliches Wesen, so muß man hinsichtlich des letzteren sagen, daß es ein ewiges, unbewegliches Wesen geben muß. Denn die Wesen sind die ersten von den Dingen und wenn alle Wesen vergänglich sind, so sind alle Dinge vergänglich. Doch unmöglich kann Bewegung entstanden sein oder vergehen - denn sie war immer —, ebensowenig die Zeit. Es ist nämlich nicht möglich, daß es ein Früher oder Später gibt, wenn es keine Zeit gibt. Füglich ist Bewegung ebenso zusammenhängend wie die Zeit. Denn Zeit ist entweder dasselbe wie Bewegung oder eine Affektion der Bewegung. Es gibt aber keine zusammenhängende Bewegung außer der örtlichen, und von dieser die Kreisbewegung.

Wenn es nun aber etwas gäbe, das fähig wäre, zu bewegen oder zu bewirken, das aber tatsächlich nicht verwirklicht, so müßte es keine Bewegung geben. Denn das, was über ein Vermögen verfügt, braucht nicht zu verwirklichen. Es bedeutete füglich keinen Nutzen, wenn wir ewige Wesen ansetzten, wie es die tun, die die Formen annehmen, wenn nicht in ihnen ein Prinzip enthalten wäre, das zu verändern vermögend ist. Doch auch dies würde nicht hinreichen, aber auch nicht ein anderes Wesen neben den Formen; denn sofern es nicht verwirklicht, kann es auch keine Bewegung geben. Weiter kann es dies selbst dann nicht geben, wenn es zwar verwirklicht, sein Wesen aber Vermögen wäre; es gäbe nämlich auch dann keine ewige Bewegung. Denn das dem Vermögen nach Seiende kann auch nicht sein. Demnach muß es ein derartiges Prinzip geben, dessen Wesen Verwirklichung ist. Weiter müssen diese Wesen ohne Stoff existieren; sie müssen nämlich ewig sein, wenn irgend etwas anderes ewig sein soll. Also müssen sie Verwirklichung sein.

Doch hier gibt es eine Schwierigkeit. Denn es hat den Anschein, daß das Verwirklichende zwar alles vermöge, das Vermögende aber nicht alles verwirkliche, so daß das Vermögen das Frühere wäre. Doch wenn dem so wäre, müßte nichts vom Seienden existieren; denn was vermögend ist zu sein, kann auch nicht sein. Und wenn man den Theologen zustimmt, die alles aus der Nacht entstehen lassen, oder den Naturphilosophen, die behaupten, »alle Dinge waren beisammen«, so ergibt sich dieselbe Unmöglichkeit, Denn wie sollte sich etwas bewegen, wenn es keine Ursache der Verwirklichung nach geben sollte? Denn der Stoff kann sich nicht selbst in Bewegung versetzen, sondern dies tut die Baukunst. Ebensowenig kann sich die Menstruation oder die Erde selbst in Bewegung versetzen, sondern dies tut der Samen und das Saatkorn.

Daher nehmen einige eine immerwährende Verwirklichung an, wie etwa Leukipp und Platon. Sie behaupten nämlich, es existiere immer Bewegung. Aber weshalb und welche Bewegung es ist, das sagen sie nicht, auch nicht die Ursache, weshalb sich dies so und jenes so bewege. Denn nichts bewegt sich doch, wie es sich gerade trifft, sondern es muß immer etwas vorhanden sein, wie sich etwas von Natur aus jetzt auf diese Weise, auf andere Weise aber durch Gewalt oder Vernunft oder etwas anderes bewegt. (Weiter, wie beschaffen soll die erste Bewegung sein? Das macht nämlich einen recht großen Unterschied aus.) Aber Platon kann da nicht das behaupten, was er bisweilen für ein Prinzip hält, nämlich das sich selbst Bewegende. Denn die Seele ist, wie er sagt, etwas Späteres und zugleich mit dem Himmel.

Die Ansicht allerdings, das Vermögen sei früher als die Verwirklichung, ist einerseits richtig, andererseits nicht richtig
(wie das gemeint ist, haben wir schon erörtert). Dass aber die Verwirklichung früher ist, davon legen Anaxagoras Zeugnis ab (die Vernunft nämlich ist Verwirklichung) und Empedokles, der Freundschaft annimmt und Hass, und diejenigen, die behaupten, es gäbe immer Bewegung, wie etwa Leukipp. Danach gab es nicht unbegrenzte Zeit hindurch Chaos oder Nacht, sondern immer dasselbe, entweder im Kreislauf oder sonst irgendwie, sofern allerdings die Verwirklichung früher ist als das Vermögen. Wenn sich also dasselbe immer im Kreislauf bewegt, so muss immer etwas beharren, das in gleicher Weise verwirklicht. Wenn es aber Entstehung und Vergehen geben soll, muss etwas anderes vorhanden sein, das bald auf die eine, bald auf die andere Weise verwirklicht. Es muss also in der einen Weise im Hinblick auf sich selbst und in der anderen Weise im Hinblick auf anderes verwirklichen; und dies also im Hinblick auf ein verschiedenes Drittes oder im Hinblick auf das Erste. Notwendig ist aber die Verwirklichung im Hinblick auf das Erste. Dies nämlich ist wiederum Ursache für sich selbst und jenes andere. Es ist also besser, im Hinblick auf das Erste zu sprechen. Denn das Erste war ja Ursache des ewigen Sichgleichbleibens, das Zweite aber Ursache des Andersseins. Dass das Erste und das Zweite zusammen Ursachen sind des ewig gleichen Andersseins, ist klar. Also verhalten sich auch die Bewegungen. Weshalb soll man nun noch nach anderen Prinzipien suchen?

7. Das erste Bewegende und seine Tätigkeit
Da es nun möglich ist, dass die Sache sich so verhalte, und da, wenn sie sich nicht so verhielte, alles aus der Nacht und dem »Beisammensein aller Dinge« und aus dem Nicht-seienden hervorgehen müsste, so dürften diese Schwierigkeiten gelöst sein. Es gibt also etwas, das sich in unaufhörlicher Bewegung bewegt, diese Bewegung aber ist eine kreisförmige (und dies geht nicht nur aus dem Begriff, sondern auch aus der Tatsache klar hervor). Demnach ist wohl der erste Himmel ewig. Es gibt also auch etwas, das bewegt. Da aber dasjenige, das bewegt wird und das selbst bewegt, ein Mittleres ist, gibt es also etwas, das, wiewohl es nicht bewegt wird, anderes bewegt, also etwas, das ewig ist, ein Wesen und eine Verwirklichung. In dieser Weise aber bewegt das Begehrte und das Gedachte; es bewegt, wiewohl es nicht bewegt wird. Von diesen ist das Erste identisch. Denn das, was begehrt wird, ist das schön Scheinende, das aber, was zuerst gewollt wird, ist das schön Seiende. Wir begehren aber etwas viel mehr, weil es schön erscheint, als dass es schön erscheint, weil wir es begehren. Denn Prinzip ist das Denken. Die Vernunft aber wird vom Gedachten bewegt, doch gedacht an sich ist eine der beiden Reihen [der Gegensatzpaare]. In ihr ist das Wesen Erstes und unter diesem wiederum das einfache Wesen und das, was der Verwirklichung nach existiert. (Das Eine aber und das Einfache sind nicht dasselbe; das Eine nämlich bezeichnet ein Maß, das Einfache aber ein bestimmtes Verhalten.) Aber auch das Schöne und das um seiner selbst willen Erwählte gehören in dieselbe Reihe. Das Erste ist immer das Beste oder dem Besten analog.

Daß es das Weswegen bei den unbeweglichen Dingen gibt, das macht die Zerlegung
[der Bedeutungen] offenbar. Denn es gibt das Weswegen für etwas und von etwas; letzteres kann in unbeweglichen Dingen sein, ersteres nicht. Das unbewegliche Weswegen bewegt wie etwas, das geliebt wird, alles andere bewegt, indem es selbst bewegt wird. Wenn nun etwas bewegt wird, so kann es sich auch anders verhalten. Also kann die erste Ortsbewegung, wenn sie auch der Verwirklichung nach existiert, insofern sie bewegt wird, sich auch anders verhalten: nämlich dem Ort nach, wenn auch nicht dem Wesen nach. Nun aber gibt es etwas, das, ohne selbst bewegt zu werden, anderes bewegt und der Verwirklichung nach existiert; dies kann sich in keiner Weise anders verhalten. Die Ortsbewegung nämlich ist die erste unter den Veränderungen, und unter dieser die Kreisbewegung; diese Kreisbewegung aber wird vom bewegenden Unbeweglichen ausgelöst. Füglich ist das bewegende Unbewegliche mit Notwendigkeit seiend; und insofern es mit Notwendigkeit existiert, existiert es auch schön; in diesem Sinne ist es auch Prinzip. Denn vom Notwendigen spricht man in folgenden Bedeutungen: einmal im Sinne eines Gewaltsamen, so etwas gegen den Trieb gerichtet ist, ein andermal im Sinne von etwas, ohne das das Gute nicht existieren kann, und schließlich im Sinne von etwas, das nicht anders sein kann, sondern schlechthin so ist.

Von einem derartigen Prinzip also hängt der Himmel ab und die Natur. Sein Leben aber verläuft so, wie es in seiner besten Form uns nur kurze Zeit zuteil wird. Bei ihm herrscht immerwährend dieser Zustand (bei uns nämlich wäre das unmöglich), da die Verwirklichung ihm Freude bedeutet (und deshalb ist Wachen, Sinneswahrnehmung und Denken das Angenehmste, und deshalb auch Hoffnung und Erinnerung). Das Denken an sich geht auf das, was an sich das Beste ist, und Denken im höchsten Sinne an sich auf das, was im höchsten Sinne das Beste an sich ist. Sich selbst -denkt die Vernunft, indem sie am Gedachten Anteil hat.

Gedacht nämlich wird sie selbst, indem sie Gedachtes berührt und denkt, so daß Vernunft und Gedachtes dasselbe sind. Denn die Vernunft ist das, was für das Gedachte und das Wesen aufnahmefähig ist, und sie verwirklicht, indem sie über das Gedachte verfügt. Also ist der Besitz des Gedachten in höherem Maße göttlich als das, was die Vernunft als Göttliches zu beinhalten scheint; und die Betrachtung ist das Angenehmste und Beste. Wenn sich aber der Gott immer so wohl befindet, wie wir uns nur zuweilen, so ist dies bewundernswert. Wenn er sich aber in noch höherem Maße wohlbefindet, so ist dies noch bewundernswerter. So aber befindet er sich. Und auch Leben kommt ihm zu; denn die Verwirklichung der Vernunft ist Leben, jener aber ist die Verwirklichung. Seine Verwirklichung aber an sich ist bestes und ewiges Leben. Wir sagen also, daß der Gott ein lebendes, ewiges und bestes Wesen sei. Dem Gott kommt demnach ununterbrochenes, fortdauerndes und ewiges Leben zu; denn das ist eben der Gott.

Alle diejenigen aber, die wie die Pyrhagoreer und Speusippos der Auffassung sind, dass das Schönste und Beste nicht im Prinzip enthalten sei, weil bei Pflanzen und Tieren die Prinzipien zwar Ursachen seien, das Schönste aber und das Vollendete in dem beinhaltet sei, was daraus hervorgeht, vertreten nicht die richtige Meinung. Denn der Same geht aus einem von ihm Verschiedenen, das früher und vollendet ist, hervor, und das Erste ist nicht der Same, sondern das Vollendete; wie man etwa sagen darf, dass ein Mensch früher ist als der Same — nicht der Mensch, der aus dem Samen hervorgeht, sondern ein von ihm verschiedener Mensch, aus dem der Same hervorgeht.

Daß es nun ein ewiges, unbewegliches und von den Sinnesdingen abgetrenntes Wesen gibt, ist aus dem Gesagten klar ersichtlich.
Es ist aber auch gezeigt worden, daß dieses Wesen über keine Größe verfügen kann, sondern ohne Teile und unzerlegbar ist. Denn es bewegt unbegrenzte Zeit hindurch; nichts Begrenztes aber verfügt über ein unbegrenztes Vermögen. Da aber jede Größe unbegrenzt oder begrenzt ist, kann das Wesen aus dem angeführten Grund wohl nicht über eine begrenzte Größe verfügen, aber auch nicht über eine unbegrenzte Größe, weil es überhaupt keine unbegrenzte Größe gibt. Es ist außerdem gezeigt worden, daß das Wesen unaffizierbar und unverwandelbar ist. Denn alle anderen Bewegungen sind später als die örtliche. Es ist nun davon klar, warum es sich so verhält.

8. Die Anzahl bewegender Wesen
Ob man nur ein derartiges Wesen annehmen muss oder mehrere, und wenn, wie viele, das darf man nicht unerörtert lassen. Vielmehr muß man auch an die Äußerungen der anderen Philosophen erinnern, daß sie nämlich hinsichtlich der Menge dieser Wesen nichts aussagten, was eine deutliche Behauptung darstellte. Denn die Auffassung von den Ideen erweist dieser Sache keine eigene Untersuchung. (Denn die Vertreter der Ideenlehre nennen die Ideen Zahlen, über die Zahlen aber sprechen sie bald so, als seien sie unbegrenzt, bald so, als seien sie mit der Zehnzahl begrenzt; infolge welcher Ursache die Menge der Zahlen aber gerade so groß ist, dafür liefert man keinen ernst zu nehmenden Beweis.) Wir aber müssen darüber handeln, indem wir von den bisher erreichten Grundlagen und Bestimmungen ausgehen.

Das Prinzip nämlich und das Erste der Dinge ist unbeweglich, sowohl an sich als auch in akzidenteller Weise, es bewegt aber die erste, ewige und eine Bewegung. Da aber das Bewegte von etwas bewegt werden muß und da das erste Bewegende an sich unbeweglich sein muß und die ewige Bewegung von einem Ewigen und die eine Bewegung von einem Einen bewegt werden muß und da wir ferner außer der einfachen Ortsbewegung des Alls, die, wie wir behaupten, vom ersten und unbeweglichen Wesen bewegt wird, noch andere ewige Ortsbewegungen, nämlich die der Planeten, sehen (denn ewig und ohne Stillstand ist der im Kreis bewegte Körper, wie dies in den Abhandlungen über die Natur erwiesen worden ist), so muss jede dieser Ortsbewegungen von einem an sich unbeweglichen und ewigen Wesen bewegt werden. Denn die Natur der Gestirne ist als eine bestimmte Art Wesen ewig, und das Bewegende ist ewig und früher als das Bewegte, und das, was früher als ein Wesen ist, mu
ss ebenso ein Wesen sein. Es ist also offenbar, daß es ebenso viele Wesen wie Ortsbewegungen der Gestirne geben muss, die ihrer Natur nach ewig und an sich unbeweglich und ohne Größe sind — wie aus der vorher erörterten Ursache ersichtlich ist.

Dass also diese Wesen existieren und unter ihnen eines das erste und ein anderes das zweite ist — nach derselben Ordnung wie die Ortsbewegungen der Gestirne —, ist offenbar. Die Menge dieser Ortsbewegungen aber muß man der mathematischen Wissenschaft entnehmen, die der Philosophie am nächsten steht, nämlich der Astronomie. Denn diese Wissenschaft stellt Betrachtungen zwar über das sinnlich erfaßbare, aber doch ewige Wesen an, während die anderen mathematischen Wissenschaften überhaupt nicht von einem Wesen handeln, wie etwa die Arithmetik oder die Geometrie. Daß nun die Zahl der Ortsbewegungen größer ist als die der bewegten Körper, ist auch denen klar, die sich nur mittelmäßig mit der Sache befaßt haben (denn jedes von den Planetengestirnen hat ja mehr als eine Ortsbewegung). Wie viele solcher Ortsbewegungen aber wohl vorzufinden sind, davon führen wir nun der Übersicht halber die Ansichten einiger Mathematiker an, damit wir in unserer Überlegung eine bestimmte Zahl [von Ortsbewegungen] annehmen können. Im übrigen muss man teils selbst die Forschung vorantreiben, teils bei denen anfragen, die die Sache untersuchen, und wenn sich bei denen, die sich mit der Sache beschäftigt haben, etwas ergeben sollte, das von dem jetzt Erörterten abweicht, dann muss man zwar beide Meinungen schätzen, aber doch den Genauesten folgen.

Eudoxos nun nahm an, dass die Ortsbewegung der Sonne und des Mondes in drei Sphären vor sich gehe hiervon sei die erste die Sphäre der Fixsterne, die zweite habe ihre Richtung mitten durch den Tierkreis, die dritte verlaufe in geneigter Richtung durch die Breite des Tierkreises (geneigter aber durchlaufe den Tierkreis die Sphäre, in welcher sich der Mond, als die, in welcher sich die Sonne bewegt). Die Bewegung der Planetengestirne erfolge in je vier Sphären; und davon seien die erste und die zweite dieselben wie die ersten beiden Sphären von Sonne und Mond (denn die Sphäre der Fixsterne führe alle anderen herum, und die Sphäre, die unter ihr angeordnet ist und die in der Richtung der Mittellinie des Tierkreises bewegt wird, sei allen gemeinsam); die Pole der dritten Sphäre jedes Planeten befänden sich in der Mittellinie des Tierkreises; die Bewegung der vierten Sphäre verlaufe aber nach der Richtung eines gegen die Mitte der dritten Sphäre schrägen Kreises; es seien aber die Pole der dritten Sphäre für alle Planeten jeweils andere, nur Venus und Merkur hätten dieselben.

Kallippos setzte dieselbe Lage der Sphären an wie Eudoxos; er schrieb auch dem Jupiter und Saturn dieselbe Menge von Sphären zu; er war aber der Meinung, dass man der Sonne und dem Mond zwei Sphären hinzufügen müsse, wenn man die Erscheinungen erklären wolle, und jedem der übrigen Planeten eine Sphäre.

Wenn aber die Sphären, alle zusammengenommen, die Erscheinungen erklären sollen, so muss es für jeden Planeten noch weitere Sphären geben, deren Menge um eins hinter der bisher angenommenen Anzahl der Sphären zurückbleibt; diese Sphären müssen den anderen entgegenlaufen und die äußerste Sphäre des jeweils unteren Gestirnes in dieselbe Lage zurückbringen; denn nur auf diese Weise ist es möglich, dass die Ortsbewegung der Planeten alle Erscheinungen darstellt. Da nun die Anzahl der Sphären, in denen die Planeten bewegt werden, 8 und 25 ist, und von denen nur die nicht entgegenlaufen brauchen, in denen der unterste Planet sich bewegt, so ergeben sich 6 Sphären, die den ersten beiden Planeten entgegenlaufen, und 16 für die folgenden vier Planeten. Die Anzahl der gesamten Sphären — der vorwärtslaufenden und der entgegenlaufenden — beträgt 55. Wenn man aber der Sonne und dem Mund die Bewegungen, von denen wir sprachen, nicht hinzufügen sollte, dann ergäbe die Anzahl aller Sphären 47.

So groß mag die Anzahl der Sphären sein; also kann man mit Wahrscheinlichkeit auch dieselbe Anzahl von unbeweglichen Wesen und Prinzipien annehmen (denn hier von einer Notwendigkeit zu sprechen mag Berufeneren überlassen sein). Wenn es aber keine Ortsbewegung geben kann, die nicht auf die Ortsbewegung eines Gestirns abzielt, wenn es weiter notwendig ist, jede Natur und jedes Wesen, das unaffizierbar und an sich des Besten teilhaftig geworden ist, für ein Ziel zu halten, so kann es wohl außer diesen keine davon verschiedene Natur geben, sondern dies müßte die Zahl der Wesen sein. Denn falls es noch weitere gäbe, so würden diese als Ziel einer Ortsbewegung Bewegungen auslösen. Doch es ist unmöglich, daß es neben den erwähnten noch andere Ortsbewegungen gibt. Das ist aber auch als wahrscheinlich der Betrachtung der bewegten Körper zu entnehmen. Denn wenn jedes Bewegende von Natur aus eines Bewegten wegen da ist und jede Ortsbewegung Bewegung eines Bewegten ist, so kann es wohl keine Ortsbewegung um ihrer selbst oder einer anderen Ortsbewegung willen geben, sondern nur der Bewegung der Gestirne willen. Denn wenn es eine Ortsbewegung einer anderen Ortsbewegung wegen gäbe, so müßte eben jene andere Ortsbewegung um einer weiteren Ortsbewegung willen da sein; da es aber keinen Fortschritt ins Unbegrenzte geben kann, so muß wohl das Ziel jeder Ortsbewegung von Bewegtem einer der göttlichen Körper am Himmel sein.

Dass es nur einen Himmel gibt, ist offenbar. Wenn es nämlich mehrere Himmel — wie Menschen — gäbe, so würde zwar das Prinzip eines jeden einzelnen Himmels der Form nach eines sein, der Zahl nach jedoch viele. Aber all das, was der Zahl nach viel ist, verfügt über Stoff. Denn ein und derselbe Begriff gilt für vieles — zum Beispiel »Mensch« —, Sokrates aber ist einer. Das erste Was-es-ist-dies-zu-sein verfügt über keinen Stoff, denn es ist Vollendung. Eines also ist sowohl dem Begriff als auch der Zahl nach das erste Bewegende, das unbeweglich ist; so auch dasjenige, das immer und ununterbrochen bewegt wird. Füglich gibt es auch nur einen Himmel.

Von den Alten aber und den Urahnen ist in Gestalt des Mythos den Späteren überliefert worden, daß diese Himmelskörper Götter seien und das Göttliche die ganze Natur umfasse. Das Übrige ist dann in mythischer Weise zur Überredung der Volksmenge und zum gesetzlichen und allgemeinen Nutzen hinzugefügt worden. Sie meinen nämlich, diese Götter seien menschengestaltig und anderen Lebewesen ähnlich, und anderes, was dem entspricht und dem Gesagten nahekommt. Wenn man davon absieht und nur das Erste nimmt, daß sie nämlich die ersten Wesen für Götter hielten, so könnte man wohl glauben, dies sei göttlich gesprochen, und da wahrscheinlich jede Kunst und jede Philosophie nach Möglichkeit oftmals erfunden und wieder verloren wurde, so können diese Ansichten gleichsam deren Reste sein, die sieh bis heute erhalten haben. Nur insoweit also ist uns die Ansicht der Väter und die der Urahnen klar.

9. Die göttliche Vernunft
Im Hinblick auf die Vernunft aber erheben sich einige Schwierigkeiten. Denn sie scheint unter den Erscheinungen das Göttlichste zu sein; wie sie sich aber als derartige verhalte, das bietet einige Schwierigkeiten. Wenn die Vernunft nämlich nichts denkt, sondern sich wie ein Schlafender verhält, was wäre dann wohl ihre Würde? Wenn sie aber denkt, etwas anderes aber dafür, was sie denkt, ausschlaggebend ist, so wäre sie, da das, was ihr Wesen ausmacht, nicht das Denken ist, sondern ein Vermögen, nicht das beste Wesen. Denn durch das Denken kommt ihr die Würde zu. Weiter, mag nun die Vernunft oder das Denken ihr Wesen sein: was denkt sie? Entweder nämlich sich selbst oder etwas Verschiedenes; und wenn etwas Verschiedenes, so entweder stets dasselbe oder etwas anderes. Macht es nun einen Unterschied aus oder keinen, ob sie das Schöne denkt oder das gerade Zutreffende? Oder ist es unsinnig, wenn sie einiges zum Gegenstande ihres Denkens macht? Es ist also offenbar, daß sie das Göttlichste und Würdigste denkt und dass sie sich nicht verändert. Veränderung nämlich ginge zum Schlechteren, und so etwas bedeutete schon eine Art Bewegung. Erstens nun, wenn die Vernunft nicht Denken ist, sondern Vermögen, so ist es wahrscheinlich, daß ihr das ununterbrochene Denken Mühe macht. Zweitens ist klar, daß es etwas anderes Würdigeres gäbe als die Vernunft, nämlich das Gedachte. Denn das Denken und die Tätigkeit des Denkens wird auch dem zukommen, der das Schlechteste denkt. Wenn man aber das vermeiden muß (es ist nämlich besser, manches nicht zu sehen, als es zu sehen), so dürfte Denken nicht das Beste sein. Füglich denkt sich die Vernunft selbst, wenn sie das Vorzüglichste ist, und ihr Denken ist Denken des Denkens.

Es scheinen aber die Wissenschaft, die Sinneswahrnehmung, die Meinung und Überlegung immer auf ein anderes zu gehen, auf sich selbst nur nebenbei. Wenn ferner Denken und Gedacht-werden etwas anderes sind, in bezug auf welches von beiden kommt der Vernunft das Gute zu? Denn das Denken-sein und das Gedacht-sein sind doch nicht dasselbe. Doch in manchen Fällen ist die Wissenschaft die Sache selbst; bei den bewirkenden Wissenschaften ist die Sache — vom Stoff abgesehen —
das Wesen und das Was-es-ist-dies-zu-sein, bei den betrachtenden Wissenschaften ist die Sache der Begriff und das Denken. Da das Gedachte und die Vernunft nicht verschieden sind bei alledem, was über keinen Stoff verfügt, so werden sie dasselbe sein und das Denken mit dem Gedachten eines.

Es bleibt aber noch eine Schwierigkeit: ob das Gedachte zusammengesetzt ist. Denn es würde sich dann das Denken in den Teilen des Ganzen verändern. Doch alles, was über keinen Stoff verfügt, ist doch unzerlegbar — wie sich die menschliche Vernunft, also die Vernunft des Zusammengesetzten, in einer ganz bestimmten Zeit verhält (denn sie verfügt nicht in diesem oder jenem Zeitpunkt über das Gute, sondern erfasst im Ganzen das Beste, das doch etwas anderes ist als sie), so verhält sich selbst das Denken seiner selbst die ganze Ewigkeit hindurch.

10. Das Gute und Beste in der Natur des Ganzen
Man muss aber auch untersuchen, in welcher von beiden Weisen die Natur des Ganzen über das Gute und das Beste verfügt, ob als etwas Abgetrenntes, an sich Existierendes oder als Ordnung seiner Teile. Oder doch auf beide Arten zugleich, wie das beim Heer der Fall ist? Denn auch dort liegt das Gute sowohl in der Ordnung als auch im Feldherrn, in höherem Grade aber im Feldherrn. Denn dieser existiert nicht durch die Ordnung, sondern die Ordnung durch ihn. In gewisser Hinsicht aber sind alle Dinge zusammengeordnet, doch nicht in gleicher Weise, etwa Fische, Vögel und Pflanzen. Und es verhalten sich die Dinge nicht so, daß das eine zum anderen in keiner Beziehung stünde, sondern es gibt wohl eine. Denn es sind alle Dinge auf Eines hin zusammengeordnet; aber es ist so wie in einem Hauswesen, wo es den Freien am wenigsten gestattet ist, das zu tun, was sich gerade so trifft, vielmehr ist alles oder doch das meiste wohl geordnet; für die Sklaven hingegen und die Tiere gibt es nur weniges, das auf das Gemeinsame bezüglich ist, und sie leben meistenteils so, wie es sich gerade trifft. So nämlich ist die Natur Prinzip eines jeden von ihnen. Ich meine das so, daß alle Dinge zur Trennung voneinander kommen müssen; und so verhält es sich auch mit anderen Dingen, wo alle sich zum Ganzen hin vereinigen.

Welche Unmöglichkeiten aber und Unsinnigkeiten sich für diejenigen ergeben, die anderer Meinung sind, und welche Unmöglichkeiten diejenigen vertreten, die schon angemessenere Ansichten verfechten, und bei welchen Meinungen sich die wenigsten Schwierigkeiten ergeben, das darf man nicht übergehen. Alle nämlich lassen alle Dinge aus Gegenteilen hervorgehen. Doch sie behalten weder darin recht, daß sie alle Dinge, noch darin, daß sie diese aus Gegenteilen hervorgehen lassen; und sie sagen auch darüber nichts aus, wie diejenigen Dinge, bei denen sich die Gegenteile finden, aus den Gegenteilen entstehen sollen. Denn Gegenteile können nicht voneinander eine Affektion erfahren. Für uns aber löst sich dieses Problem recht einleuchtend durch die Annahme eines Dritten. Jene aber machen das eine von den Gegenteilen zum Stoff, wie etwa das Ungleiche zum Stoff für das Gleiche oder die Vielen für das Eine. Auch dies löst sich auf dieselbe Weise. Denn der Stoff bildet für uns zu nichts ein Gegenteil. Weiter würden danach alle Dinge am Schlechten teilhaben, ausgenommen das Eine; das Schlechte nämlich ist selbst das eine der beiden Elemente. Andere nehmen nicht einmal das Gute und Schlechte als Prinzipien an; und doch ist in allen Dingen im höchsten Grade das Gute Prinzip. Jene behalten zwar darin recht, daß sie das Gute als Prinzip annehmen, doch inwiefern
das Gute Prinzip ist, das sagen sie nicht; ob nämlich als Ziel oder als Bewegendes oder als Form.

Auch Empedokles vertritt eine unsinnige Ansicht. Er macht nämlich die Freundschaft zum »Guten«; sie ist aber Prinzip sowohl als Bewegendes (denn sie führt zusammen) als auch als Stoff; sie ist nämlich ein Teil der Mischung. Wenn es nun auch ein Akzidens zu ein und demselben Ding sein kann, Prinzip sowohl im Sinne eines Stoffes als auch im Sinne eines Bewegenden zu sein, so ist doch das Sein [des Stoffes und des Bewegenden] nicht dasselbe. In welchem Sinn ist also die Freundschaft Prinzip? Unsinnig ist auch, dass der Streit unvergänglich sein soll; denn er ist ja selbst die Natur des Schlechten.

Anaxagoras aber nimmt das Gute als Prinzip im Sinne eines Bewegenden an. Denn die »Vernunft« bewegt bei ihm. Doch sie bewegt »wegen etwas«, also wegen eines von ihr Verschiedenen; es sei denn, dass er es so meine wie wir: denn in gewisser Hinsicht ist die Heilkunst Gesundheit. Unsinnig ist bei ihm auch, zum Guten und zur Vernunft kein Gegenteil anzunehmen. Alle aber, die Gegenteile annehmen, machen von den Gegenteilen gar keinen Gebrauch, wenn man sie nicht in den richtigen Rhythmus bringt. Und weshalb einige Dinge vergänglich sind, einige aber unvergänglich, sagt keiner. Denn sie lassen alle Dinge aus denselben Prinzipien entstehen. Weiter lassen einige die Dinge aus dem Nichtseienden entstehen; andere setzen, um nicht hierzu gezwungen zu werden, alles als Eines.

Weiter, weshalb es immer Entstehung geben soll und was die Ursache der Entstehung sein soll, sagt niemand. Für diejenigen, die zwei Prinzipien annehmen, ergibt sich die Notwendigkeit noch eines anderen, bedeutsameren Prinzips. Und auch für die, die Formen annehmen, gibt es noch ein anderes, bedeutsameres Prinzip. Denn weshalb gab oder gibt es denn eine Teilhabe [an den Formen]? Und für die anderen besteht die Notwendigkeit, dass es zur Weisheit und zur würdigsten Wissenschaft ein Gegenteil gibt, für uns jedoch nicht. Denn zu dem Ersten gibt es ja kein Gegenteil. Alle Gegenteile nämlich verfügen über Stoff, und der Stoff ist dem Vermögen nach Gegenteil. Die Unwissenheit aber als Gegenteil der Weisheit ginge dann auf das, was Gegenteil des Ersten ist; doch zum Ersten gibt es kein Gegenteil.

Wenn es aber neben den Sinnesdingen
keine anderen gäbe, so gäbe es auch kein Prinzip, keine Ordnung, keine Entstehung und keine Himmelskörper, sondern für jedes Prinzip gäbe es immer ein weiteres Prinzip, wie man das bei allen Theologen und Naturphilosophen bemerkt. Wenn es aber neben den Sinnesdingen die Formen oder Zahlen gibt, so sind sie von nichts Ursache; wenn aber, so doch nicht von der Bewegung. Weiter, wie soll aus Größenlosem Größe und Zusammenhängendes hervorgehen? Denn die Zahl wird ja nicht Zusammenhängendet hervorbringen, weder als Bewegendes noch als Form. Aber es wird auch keines von den Gegenteilen geben, das Bewirkendes wäre oder Bewegendes. Denn es ist ja möglich, daß es auch nicht sei. Aber sein Bewirken wäre später als sein Vermögen. Füglich wären die Dinge nicht ewig. Es gibt aber ewige. Man muß demnach etwas von diesen Ansichten aufheben. Wie dies zu tun ist, ist bereits erörtert worden. Ferner sagt niemand etwas darüber, wodurch die Zahlen Eines sind oder die Seele und der Körper und überhaupt die Form und die Sache; auch kann niemand sagen, es sei denn, er spricht wie wir, daß dies die bewegende Ursache bewirkt. Diejenige aber, die die mathematische Zahl als das Erste annehmen und so immer ein Wesen an das andere anschließen lassen und für jedes andere Wesen Prinzipien ansetzen, die machen das Wesen des Alls zu etwas, das aus Episoden besteht (denn das eine Wesen hat auf das andere Wesen keinen Einfluß, gleich, ob es existiert oder nicht existiert), und nehmen viele Prinzipien an. Die Dinge aber wollen nicht schlecht beherrscht werden:

»Vielherrschaft ist nicht gut; nur einer sei Herrscher.« [Hom., Ilias 2, 204]
Aus: Aristoteles, Metaphysik . Schriften zur ersten Philosophie Übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz
Reclams Universalbibliothek Nr. 7913 (S.307-324) © 1970 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Glückseligkeit (Nikomachische Ethik X. Buch)
Das vollendete Glück der Denktätigkeit (Siebentes Kapitel).
Ist aber die Glückseligkeit eine der Tugend gemäße Tätigkeit, so muss dieselbe natürlich der vorzüglichsten Tugend gemäß sein, und das ist wieder die Tugend des Besten in uns. Mag das nun der Verstand oder etwas anderes sein, was da seiner Natur nach als das Herrschende und Leitende auftritt und das wesentlich Gute und Göttliche zu erkennen vermag, sei es selbst auch göttlich oder das Göttlichste in uns: immer wird seine seiner eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein.

Dass diese Tätigkeit theoretischer oder betrachtender Art ist, haben wir bereits gesagt. Man sieht aber auch, dass das sowohl mit unseren früheren Ausführungen wie mit der Wahrheit übereinstimmt.

Denn zunächst ist diese Tätigkeit die vornehmste. Der Verstand oder die Vernunft ist nämlich das Vornehmste in uns, und die Objekte der Vernunft sind wieder die vornehmsten im ganzen Felde der Erkenntnis.

Sodann ist sie die anhaltendste. Anhaltend betrachten oder denken können wir leichter, als irgend etwas Äußerliches anhaltend tun.

Ferner geht die gemeine Meinung dahin, daß die Glückseligkeit mit Lust verpaart sein muss. Nun ist aber unter allen tugendgemäßen Tätigkeiten die der Weisheit zugewandte eingestandenermaßen die genussreichste und seligste. Und, in der Tat bietet das Studium der Weisheit Genüsse von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit, selbstredend ist aber der Genuss noch größer, wenn man schon weiß, als wenn man erst sucht.

Auch was man Selbstgenüge nennt, findet sich am meisten bei der Betrachtung. Was zum Leben erforderlich ist, dessen bedarf auch der Weise und der Gerechte und die Inhaber der anderen sittlichen Tugenden. Sind sie aber mit dergleichen ausreichend versehen, so bedarf der Gerechte noch solcher, gegen die und mit denen er gerecht handeln kann, und das gleiche gilt von dem Mäßigen, dem Mutigen und jedem anderen; der Weise dagegen kann, auch wenn er für sich ist, betrachten, und je weiser er ist, desto mehr; (1177b) vielleicht kann er es besser, wenn er Mitarbeiter hat, aber immerhin ist er sich selbst am meisten genug.

Und, von ihr allein lässt sich behaupten, daß sie ihrer selbst wegen geliebt wird. Sie bietet uns ja außer dem Denken und Betrachten sonst nichts; vom praktischen Handeln dagegen haben wir noch einen größeren oder kleineren Gewinn außer der Handlung.

Und, die Glückseligkeit scheint in der Muße zu bestehen. Wir opfern unsere Muße, um Muße zu haben, und wir führen Krieg, um in Frieden zu leben. Die praktischen Tugenden nun äußern ihre Tätigkeit im bürgerlichen Leben oder im Kriege. Die Aktionen auf diesen Gebieten aber dürften sich mit der Muße kaum vertragen. Die kriegerische Tätigkeit schon gar nicht. Niemand will Krieg und Kriegsrüstungen des Krieges wegen. Denn man müßte als ein ganz blutdürstiger Mensch erscheinen, wenn man sich seine Freunde zu Feinden machte, nur damit es Kampf und Blutvergießen gäbe. Aber auch die friedliche Tätigkeit im Dienste des Gemeinwesens verträgt sich nicht mit der Muße und verfolgt neben der Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten selbst den Besitz der Macht und den Genuss der Ehren oder doch das wahre Lebensglück für die eigene Person und die Mitbürger, als ein Ziel, das vom Staatsdienst verschieden ist, und das wir Menschen auch durch das Leben in der staatlichen Gemeinschaft zu erreichen suchen, selbstverständlich als etwas von diesem Leben selbst Verschiedenes. Wenn also nun zwar unter allen tugendhaften Handlungen diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, an Schönheit und Größe obenan stehen, und sie gleichwohl mit der Muße unvereinbar und auf ein außer ihnen liegendes Ziel gerichtet sind und also nicht ihrer selbst wegen begehrt werden, und wenn dagegen die Tätigkeit der Vernunft, die denkende, ebensowohl an Ernst und Würde hervorragt, als sie keinen anderen Zweck hat, als sich selbst, auch eine eigentümliche Lust und Seligkeit in sich schließt, die die Tätigkeit steigert, so sieht man klar, dass in dieser Tätigkeit, so weit es menschenmöglich ist, das Selbstgenüge, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt, sich finden muss.
Und somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen, wenn sie auch noch die volle Länge eines Lebens dauert, da nichts, was zur Glückseligkeit gehört, unvollkommen sein darf.

Aber das Leben, in dem sich diese Bedingungen erfüllen, ist höher, als es dem Menschen als Menschen zukommt. Denn so kann er nicht leben, insofern er Mensch ist, sondern nur insofern er etwas Göttliches in sich hat. So groß aber der Unterschied ist zwischen diesem Göttlichen selbst und dem aus Leib und Seele zusammengesetzten Menschenwesen, so groß ist auch der Unterschied zwischen der Tätigkeit, die von diesem Göttlichen ausgeht, und allem sonstigen tugendgemäßen Tun. Ist nun die Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so mu
ss auch das Leben nach der Vernunft im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein.

Man darf aber nicht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Menschliches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollen, so weit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zwecke tun, dem Besten, (1178a) was in uns ist, nachzuleben. Denn ob auch klein an Umfang, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. Ja, man darf sagen: dieses Göttliche in uns ist unser wahres Selbst, wenn anders es unser vornehmster und bester Teil ist. Mithin wäre es ungereimt, wenn einer nicht sein eigenes Leben leben wollte, sondern das eines anderen. Und was wir oben gesagt, paßt auch hieher. Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist im Unterschiede von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genußreichste. Also ist das für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist. Mithin ist dieses Leben auch das glückseligste.

Das Glück des praktischen Lebens (Achtes Kapitel)
An zweiter Stelle ist dasjenige Leben glückselig, das der sonstigen Tugend gemäß ist.

Denn, die dieser sonstigen Tugend entsprechenden Tätigkeiten sind menschlicher Art. Gerechtigkeit, Mut, und die anderen Tugenden üben wir gegeneinander im geschäftlichen Verkehr, in Notlagen, in Handlungen aller Art und dadurch, daß wir von Lasten jedem so viel zumessen, als sich gebührt. Das sind aber offenbar lauter menschliche Dinge. Manches, was zu diesen Tugenden gehört, beruht auch auf unserer leiblichen Natur, und die ethische Tugend hat es vielfach mit den Affekten zu tun, so daß sie in mancher Hinsicht mit den guten Affekten verwandt scheint. Auch ist mit der ethischen Tugend die Klugheit verpaart und diese mit der Klugheit, da ja die Grundsätze der Klugheit auf grund der ethischen Tugenden Richtung gebend wirken und die letzteren wieder durch jene geordnet werden. Da nun beide, ethische Tugend wie Klugheit, auch auf die Affekte bezug haben, so haben sie es ohne Zweifel mit dem Ganzen aus Leib und Seele zu tun. Die Tugenden dieses Ganzen sind aber menschliche Tugenden. Somit ist auch das auf die Übung dieser Tugenden gerichtete Leben menschlich, und menschlich denn auch die Glückseligkeit, die es gewähren kann. Dagegen diejenige, die das Leben nach der Vernunft gewährt, ist getrennt und göttlich. Weiteres sagen wir hierüber nicht. Denn wenn wir uns über des Geistes Eigenart genauer aussprechen wollten, so ginge das über die Grenzen der vorliegenden Aufgabe hinaus.

Auch bedarf das Leben nach dem Geiste und die entsprechende Glückseligkeit der äußeren Güter nur wenig oder doch weniger als das Leben gemäß den sittlichen Tugenden. Mögen beide das zum Unterhalt Nötige auch gleich sehr brauchen – wenn auch der Mann des öffentlichen Lebens sich um den Körper und was damit verwandt ist, mehr bemühen muß; doch trägt das nicht viel aus –, so muß sich doch ein großer Unterschied ergeben, sobald man die Bedeutung erwägt, die der Besitz oder Nichtbesitz äußerer Güter für die beiderseitigen Tätigkeiten hat. Der Freigebige braucht Geld, um freigebig zu handeln, und der Gerechte braucht es, um Empfangenes zu vergelten – denn das bloße Wollen ist nicht erkennbar, und auch wer nicht gerecht ist, tut so, als wolle er gerecht handeln –; der Mutige bedarf der Kraft, wenn er eine Tat des Mutes vollbringen will, und der Mäßige bedarf der Freiheit und Ungebundenheit. Wie könnte man sonst wissen, ob einer diese oder eine andere Tugend wirklich hat oder nicht? Man zweifelt freilich, welches von den beiden Erfordernissen der Tugend das wichtigere ist, der Wille oder das Werk. (1178b) Doch findet sie offenbar ihre Vollendung erst in beiden zugleich. Nun bedarf sie aber, um zu handeln, vieler Dinge und bedarf ihrer desto mehr, je großer und schöner ihre Handlungen sind. Der Mann des Denkens aber hat, wenigstens für diese seine Tätigkeit, keines dieser Dinge nötig, ja, sie hindern ihn eher daran. Sofern er aber Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, wird er auch wünschen, die Werke der sittlichen Tugenden auszuüben, und so wird er denn solcher Dinge bedürfen, um als Mensch unter Menschen zu leben.

Aber auch aus folgendem mag man sehen, dass die vollkommene Glückseligkeit eine Denktätigkeit ist. Von den Göttern glauben wir, daß sie die glücklichsten und seligsten Wesen sind. Aber was für Handlungen soll man ihnen beilegen? Etwa Handlungen der Gerechtigkeit? Wäre es aber nicht eine lächerliche Vorstellung, sie Verträge schließen und Depositen zurückerstatten zu lassen und dergleichen mehr? Oder Handlungen des Mutes, wobei sie vor Furchterregendem standzuhalten und Gefahren zu bestehen hätten, weil es sittlich schön ist, solches zu tun? Oder vielmehr Handlungen der Freigebigkeit? Aber wem sollen sie denn geben? Es wäre ja ungereimt, wenn sie Geld oder dergleichen zu vergeben hätten. Beobachtung der Mäßigkeit ferner, was hieße das bei den Göttern? Es wäre doch gewiß ein plumpes Lob, da
ss sie keine bösen Begierden hätten. Und so mögen wir nehmen was wir wollen, alles was zur Tugendübung gehört, muß als klein und der Götter unwürdig erscheinen. Und doch hat man immer geglaubt, daß sie leben und mithin tätig sind; denn niemand denkt doch, dass sie schlafen wie Endymion. Nimmt man aber dem Lebendigen jenes Handeln auf grund ethischer Tugend und Klugheit, und nimmt man ihm noch viel mehr das [künstlerische] Schaffen, was bleibt dann noch als das Denken? Und so muß denn die Tätigkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertrifft, die denkende Tätigkeit sein. Eben darum wird aber auch von menschlichen Tätigkeiten diejenige die seligste sein, die ihr am nächsten verwandt ist.

Ein Zeichen dessen ist endlich, daß die übrigen Sinnenwesen an der Glückseligkeit keinen Anteil haben, weil sie der gedachten Tätigkeit vollständig ermangeln. Das Leben der Götter ist seiner Totalität nach selig, das der Menschen insofern, als ihnen eine Ähnlichkeit mit dieser Tätigkeit zukommt, von den anderen Sinnenwesen aber ist keines glückselig, da sie an dem Denken in keiner Weise teil haben. So weit sich demnach das Denken erstreckt, so weit erstreckt sich auch die Glückseligkeit, und den Wesen, denen das Denken und die Betrachtung in höherem Grade zukommt, kommt auch die Glückseligkeit in höherem Grade zu, nicht mitfolgend, sondern eben auf Grund des Denkens, das seinen Wert und seine Würde in sich selbst hat. So ist denn die Glückseligkeit ein Denken.

Die Seligkeit des Lebens der Betrachtung (Neuntes Kapitel).
Der Glückselige wird aber als Mensch auch in äußeren guten Verhältnissen leben müssen. Denn die Natur genügt sich selbst zum Denken nicht; dazu bedarf es auch der leiblichen Gesundheit, der Nahrung und alles andern, was zur Notdurft des Lebens gehört.

(1179a) Indessen darf man, wenn man ohne die äußeren Güter nicht glückselig sein kann, darum nicht meinen, dass dazu viele und große Güter erforderlich wären. Denn daß einer ein volles Genüge und die Möglichkeit der Betätigung habe, liegt nicht an Reichtum und Überfluß: man kann, auch ohne über Land und Meer zu herrschen, sittlich handeln; denn auch mit mäßigen Mitteln läßt sich der Tugend gemäß handeln. Man kann das deutlich daran sehen, daß die Privatleute den Fürsten im rechten und tugendhaften Handeln nicht nachzustehen, sondern eher voraus zu sein scheinen. Es genügt also, wenn dazu die nötigen Mittel vorhanden sind. Denn das Leben muß glückselig sein, wenn es in tugendgemäßer Tätigkeit verbracht wird.

Auch Solon hat die Frage, wer glückselig sei, wohl treffend beantwortet, wenn er sagte, glückselig seien diejenigen, die, mit äußeren Gütern mäßig bedacht, die nach seiner Ansicht schönsten Taten verrichtet und mäßig gelebt hätten. Denn auch mit bescheidenen Mitteln läßt sich pflichtgemäß handeln. Und Anaxagoras scheints hat sich den glückseligen Menschen nicht als Reichen oder Fürsten gedacht, wenn er sagte, ihn würde es nicht wunder nehmen, wenn derjenige, den er selbst für glückselig hielte, der Menge als ungeeignet für solche Bezeichnung erscheinen würde. Denn die Menge urteilt nach dem Äußeren, wofür sie allein Sinn hat. So stimmen denn die Ansichten der Weisen mit den von uns dargelegten Gründen überein, und zweifellos liegt in solchen Zeugnissen auch eine gewisse Beweiskraft. Doch muss man im Gebiet des Praktischen die Wahrheit nach den Werken und dem Leben beurteilen. Denn diese sind hier entscheidend. So muss man denn auch Aussprüche der Philosophen wie die vorhin angeführten in der Art prüfen, dass man sie mit ihrem Leben und ihren Werken vergleicht, und sie, falls sie damit zusammenstimmen, für wahr halten, falls sie aber damit in Widerspruch stehen, nur als leere Worte betrachten.

Wer aber denkend tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, mag sich nicht nur der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden. Denn wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgend welche Sorge haben, muß man ja vernünftiger Weise urteilen, daß sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben – und das ist unsere Vernunft –, und daß sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln. Es ist aber unverkennbar, daß dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das, so muß er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glücklichste.

Aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik
Übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eug. Rolfes
Verlag von Felix Meiner, Leipzig, Philosophische Bibliothek Band 5