Carl Hilty (1833 – 1909)

  Schweizer Philosoph und Staatsrechtlehrer, der zum Chef der schweizerischen Militärjustiz avancierte sowie zum Mitglied des schweizerischen Nationalrats und des Haager Schiedshofs berufen wurde. In seinen religiös-schriftstellerischen Arbeiten wusste er biblische Überlieferung mit seinen – durch tiefsinnige Lebens- und mystische Gotteserfahrung geprägten Gedanken - in philosophisch einleuchtender Manier zu verbinden.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis

Im Licht der Ewigkeit
Der wirkliche Glaube
Durch den Tod muss jeder einmal durch
Gottesnähe und Gottesferne
Was das menschliche Leben eigentlich ist
Der König der Schrecken ist nicht der Tod
Die Vermehrung der Liebeskraft

Glück
Die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichts
Was bedeutet der Mensch, woher kommt er, wohin geht er

  Trost für schlaflose Nächte
Das Licht der Wahrheit
Formeln und Geist
Weltübel
Christi Opfer – unser Hoffnungsgrund
Überwindung der Todesfurcht
Das wertvolle Leben
Wahres Christentum
Der Pessimist
Berufung zum Dienste Gottes
Praktisches Christentum
 
Glaubensschwierigkeiten
Du und die Tadler
Vorsätze
Die Macht des Bösen
Heilung durch den Geist
Innere Entwicklung

Im Licht der Ewigkeit
Der wirkliche Glaube
Der erste Glaubensartikel einer künftigen, lebenskräftig wiederhergestellten christlichen Kirche wird mutmaßlich lauten müssen:

»Ich glaube an ein e w i g e s Leben«.

Der wirkliche Glaube an Gott, der überhaupt allem wahrhaft guten zugrunde, ist eigentlich gar nichts anderes als die sukzessive Erfahrung seiner Existenz und Gnade.

Die »Nähe Gottes« ist nicht bloß als eine Möglichkeit an manchen Stellen der Heiligen Schrift ausdrücklich zugesichert, sondern sie ist von vielen Menschen schon in ihrem Lebensgange wohltätig erfahren worden und bewiest sich auch heute noch an jedem, der sie erfahren will . . .

Es ist eine herrliche Tatsache, dass man diesen freudigen und kräftigen Geist gewissermaßen von außen her haben kann, ohne ihn in sich erzwingen zu müssen. Freilich nicht auf ein bloß halbes, vorübergehendes Verlangen hin oder mit unredlicher Seele. Wo aber ein ernsthaftes Begehren, ein wirklicher Entschluss, die Wahrheit zu finden und ihr dann auch zu gehorchen, vorhanden ist, da braucht es keine Opfer, keine Priester und keine andere Tat als diese »Wendung« zu Gott, so tritt innerer Friede, wenigstens in einem gewissen Grade ein, der immer mehr zunehmen kann.

»Ach, dass sie ein Herz hätten, mich zu fürchten, so dass es ihnen wohl ginge und ihren Kindern ewiglich«, wünscht Gott selbst durch den Mund eines seiner Verkündiger. Er kann nicht zwingen dazu – obwohl seine Anregung durch äußere und innere Vorkommnisse oft hart bis an die Grenze der sanften Nötigung geht, der aber doch noch Widerstand geleistet werden kann -, und wir können es noch weniger. Aber wir wünschen es dringend für alle, die wir lieben, dass sie nicht ohne das Allerbeste, was dieses Leben bietet, das Gefühl der beständigen Nähe Gottes und des Friedens mit ihm, aus demselben scheiden müssten.

Ist die Erfahrung einmal gemacht, was kaum wieder vergessen werden kann, so handelt es sich darum, sie festzuhalten, mit anderen Worten, sich so zu verhalten, dass sich dieser Geist nicht wieder zurückziehen muss . . .

Für die, welche der besseren Stimme gehorchen, bewegt sich das Leben fortan in einem ganz einfachen Syllogismus (Schlussfolgerung). So wie sie sich innerlich von Gott entfernen, oft unbewusst, sind sie nicht glücklich, es ist etwas zwischen sie und die göttliche Nähe getreten, das wieder entfernt werden muss; sind sie aber freudigen Geistes, so wissen sie, dass sie auf dem richtigen Wege sind, auf dem ihnen nie etwas wahrhaft Übles begegnen kann.

So entsteht Sonnenschein im trüben Leben, freudiger Geist statt eines beständig traurigen Herzens, das nur äußerlich eine wohlgemute Maske trägt, bis die Vorstellung zu Ende ist. Wer diesen freudigen Geist hat, geht fortan leichteren Schritts durch alle Schwierigkeiten dieses Lebens, bekommt zunächst Lust zu seiner Arbeit, die sein »irdisches Teil«ist, und bekommt meistens auch alles andere überschwänglich, als Gabe und mühelos, was er früher mit viel Angst und Sorge sich anzueignen oder festzuhalten strebte, mit der Macht und Kraft dazu, es in wahrhaft königlicher Art zu genießen . . .

Die Worte des Evangeliums Mtth. 6, 33. 34 sind fortan die höchst einfache Lebensweisheit und das Rezept für ein glückliches Dasein. Aber der feste Glaube an Gott und seine beständige Nähe gehört dazu; ohne das wäre das Nichtsorgen eine Torheit, das wenden alle Nichtglaubenden mit vollkommen richtigen Menschenverstande ein, und viele, die diesen Glauben bloß zu haben meinen, weil er ihr äußerliches Bekenntnis ist, gleichfalls. Es ist nicht möglich, das zu befolgen ohne einen wirklichen Glauben an Gott und ohne seine reelle Nähe.

Die Hindernisse müssen erst fort, die zwischen dir und Gottes Kraft stehen. Gott kann dir nicht recht nahe kommen, solange sie da sind, und das musst du, dem Willen nach, selbst tun. Dafür gibt es keine Stellvertretung. Welche Hindernisse es gerade bei dir vorzugsweise sind, weißt du selbst ganz genau, wenn du es sehen willst. Die gewöhnlichsten sind: Sorge, Geiz, Eitelkeit, Ehrgeiz, Genusssucht, Menschenfurcht, Hass oder ungehörige Liebe und noch andere Nuancen der blinden Selbstsucht, welche die gemeinsame Grundlage von dem allem ist. Das muss also fort. Sage nicht, du wolltest es wohl, könntest es aber nicht. Das letztere wäre an sich ganz richtig; sonst, wenn wir uns selbst von alle dem befreien könnten, brauchten wir nur eine vernünftige Philosophie und keinerlei Religion. Das ist die Ansicht und der große praktische Irrtum aller »Ethiker«.

Aber es liegt eben doch nicht am Können, sondern am Wollen, und sehr richtig sagt eine berühmte Heilige des 16. Jahrhunderts, dass Gott alles selber tue, sobald wir ihm unseren Willen dazu gegeben haben. Damit fängt der bessere Weg an; dann kommt auch der Glaube, soweit er jeweilen erforderlich ist, ganz von selbst.

Durch den Tod muss jeder einmal durch
Frage dich einmal ernstlich, ob das bei dir der Fall ist, ob du wirklich bereit bist, dich von allem , was dich an größerer Gottesnähe hindert, befreien zu lassen von jemand, der es könnte. Du wirst bald sehen, wie aufrichtig du bist und dass du doch davor, wie vor einem schwersten Tode, dich noch fürchtest.

Durch diesen Tod im Leben musst du einmal durch; sonst ist dir nicht zu helfen.

Soviel ist ganz gewiss, dass zwar Zustände voller Licht und Freudigkeit und wieder von Dunkelheit und Selbstvernichtung in unserer Seele abwechseln, solange wir leben, und dass unser inneres Leben nicht gesund wächst, sondern leicht in einer Täuschung befangen ist, wenn allzu lange nur der eine Zustand herrscht. Aber der auf Gott gerichtete Wille und die in der tiefsten Seele festgewurzelte Übereinstimmung mit ihm ist dennoch eine Vollkommenheit, die möglich ist und aus der die immer zunehmende Ruhe des Geistes erwächst, welche der Prophet Jesaias das »Land der Vermählung« genannt hat, in das, nach großen Wüstenwanderungen, die Seele endlich doch dauernd eingeht. Es ist ein Seelenzustand, in welchen sich der sich stufenweise läuternde Mensch noch auf der letzten Stufe seines irdischen Daseins gelangen kann und welcher dann den völlig natürlichen Übergang zu einem fernen, höher organisierten Leben bildet. Es ist dies der Zustand, in welchem kein Widerstreit gegen das Gute und Wahre in ihm selbst mehr besteht, sondern alles Widrige nur noch von außen her an ihn gelangt, im Innern aber bereits der volle Friede mit Gott und dadurch auch mit sich selbst eingetreten ist, welchen die »Gottlosen« nicht kennen und nicht genießen können. In dieses Land gelangt man nach der letzten großen Schmelzung in einem »feurigen Ofen« des Unglücks und der Anfechtung, sofern sie im Glauben an Gott überwunden worden ist und alle Bestandteile menschlicher »Eigenheit« so vollkommen ausgeschieden und verzehrt hat, als es in diesem Leben überhaupt möglich ist.

Gottesnähe und Gottesferne
Die letzte erreichbare Stufe aller Lebensweisheit ist es, voll einzusehen, dass Gottesnähe und Gottesferne eigentlich dasjenige ist, worauf es im Menschenleben allein ankommt, womit dann auch die sonst kaum lösbaren Fragen über Gut und Böse, Lohn und Strafe, Zeit und Ewigkeit in ein richtiges Licht gestellt werden. Weiter in der theoretischen Erkenntnis kann niemand gelangen. Die Gottesnähe ist aber tatsächlich kein Zustand, der für uns auf Erden immer in gleicher Weise unverändert fortdauert, sondern ein Sonnenschein, der bald heller, bald getrübter sein kann, je nachdem die Wolken oder wenigstens Nebel dazwischentreten. Was feststehen muss, ist allein, dass diese geistige Sonne existiert und beständig leuchtet, wenn nicht etwas zwischen ihr und uns sich befindet, und dass dieses Etwas nichts anderes sein kann als unser eigener, dem Willen Gottes entgegenstehender Wille, das, was die bisherige Theologie »Sünde« genannt hat. Wie einfach ist eigentlich diese grundlegende Wahrheit und wie spät gelangt man dennoch dazu, nicht etwa wegen zu wenig, sondern weit eher wegen viel zu viel Gelehrsamkeit! Es musste ein ganz natuwissenschaftliches-materialistisches Zeitalter kommen, um uns zuerst von einer leblos gewordenen Dogmatik einigermaßen zu emanzipieren und wieder ein Verlangen nach einer wirklichen Verbindung mit Gott in vielen Seelen zu wecken, denen er entweder eine konventionelle Redensart oder dann etwas geworden war, das sie weit eher fürchteten und im Grunde hassten als liebten.

Was das menschliche Leben eigentlich ist
Es liegt hier (bei der Einstellung zum Alter) eben diese große und größte aller Fragen zugrunde, was das menschliche Leben eigentlich ist.

Ob eine bloße, fast zufällige Tatsache, ohne weitere Erklärung und ohne dauernden Zweck für den einzelnen, oder eine großartige Schulzeit für seine sittliche Entwicklung und eine Vorstufe zu einem anderen Geisteszustand. Wenn das Letztere die Wahrheit ist, so dass jeder, sogar der Selbstmörder z. B., fortleben muss, er mag wollen oder nicht, so gibt es kein anderes Mittel, ein solches unaufhörliches Dasein erträglich zu machen, als es zu veredeln und mit einem guten Inhalt zu versehen. Es muss dann eben alles innerlich verarbeitet und überwunden werden, nicht bloß äußerlich abgetan oder ausgelebt. Und das Alter erscheint in diesem Lichte nicht als das letzte Stück des Lebens, sondern als ein Stück, und zwar eher als das beste, weil das ausgebildete: jedenfalls als das wichtigste, weil es entscheidend für die Art der nächsten Fortsetzung sein muss.

Weshalb misslingen so viele gut gemeinte Dinge in der Welt? Etwa, weil sie nicht klug angefangen sind oder nicht »den Verhältnissen genügende Rechnung tragen«, heißt mit anderen Worten, nicht die Schwäche und die geringeren Eigenschaften der jeweilen lebenden Menschen mit in Rechnung ziehen?

Das würde bedeuten, dass doch nicht Gott die Welt regiert, wenigstens nicht allein, sondern dass er einen Mitregenten hätte, der die menschliche Klugheit ist, wenn nicht gar noch einen andern.

Vielleicht misslingen sie deshalb, weil sie nicht ganz nach Gottes Intention sind und weil Gott denen, die ihm dienen wollen, das noch weniger nachsieht als den anderen.

Wir werden zu nichts gezwungen; wir sollen Gottes Willen aus freien Stücken tun und von unsrigen nichts dazutun. Das ist der Grundgedanke der christlichen Religion.

Und fast zu jedem Menschen, der das aufrichtig will, geschieht an irgendeinem Punkte seines Lebens wohl das ernste Wort: »Da du jung warst, gürtest du dich selbst und gingest, wohin du wolltest. Wenn du aber alt wirst, wird dich ein anderer gürten und führen, wo du nicht hinwillst«. Der reine Gotteswille ist unwiderstehlich und siegt stets, sooft er von Menschen frei gewollt und getragen ist: sonst wenn das nicht wäre, könnte man gar nicht wirklich an Gott glauben. Denn ein Gott, der keinen bestimmten Willen hat oder seinen willen nicht durchsetzen kann oder es nicht will, ist weder denkbar noch akzeptierbar.

. . . Selten zu jeder Zeit sind Menschen, die sich führen lassen und wissen dass »die göttliche Torheit weiser ist als die Weisheit der Menschen«. Diese allein haben mitunter dem Laufe der Welt eine neue Richtung gegeben, denn durch sie allein kann und will Gott ausführen, was er eigentlich haben will. Das andere steht unter seiner Geduld.

Der König der Schrecken ist nicht der Tod
Der König der Schrecken ist nicht der Tod, sondern die unvergebene Schuld und das daherige unbereite Sinken in eine düstere trostlose Gottesferne.

Der Tod ist an sich gar nichts Schreckliches, nicht einmal etwas nicht Wünschbares, und wer ihn noch so sehr fürchtet, ist sicher auch noch nicht auf dem rechten Wege des Lebens. Furchtbar ist allein der Rückblick im Alter auf ein ganz verfehltes und nutzloses Leben oder auf eine aufgehäufte große Schuld ohne Vergebung.

Auch vergehen ja nicht wir, sondern die jetzige Welt vergeht, das ist der eine große Gedanke, der uns über alle Schrecken der Ungewissheit erheben muss. Der andere glanzhelle Punkt in diesem, rein verstandesmäßig angeschaut, unaufhellbaren Dunkel ist der Gedanke, dass der Herr alles Daseins, den wir bereits hier als einen zuverlässigen Freund kennen gelernt haben, uns auch dort ganz das nämliche sein muss, was er hier war, bloß näher verbunden und klarer erkannt.

Seine Stimme werden wir, das wissen sogar alle, die schon einmal nahe an der an der dunklen Ausgangspforte dieses Lebens gestanden haben, zuletzt noch vernehmen können, wenn alles andere bereits hinter uns versunken ist.

Der Mensch bedarf überhaupt keines Endgerichts, sondern er richtet sich selber, indem er nur in dem Zustand leben kann, dessen er fähig ist. Sein Himmel und seine Hölle ist der verschiedene Grad der Entfernung von Gott, der nun offenbar wird. Was wir sind, das bl eiben wir; der sogenannte Tod löst nur eine körperliche Umhüllung der geistigen Persönlichkeit, sei sie nun stark oder schwach entwickelt, auf, und dieselbe muss sich nun selbst und allein in den neuen Bedingungen einer Fortexistenz zurechtfinden.

Wohl ihr, wenn sie es fröhlich tun kann und nur ein Hindernis eines vollkommeneren Könnens behoben ist.

Dann »ist der Tod, der tausend Menschen schreckt,
Für uns ein R u f , der uns belebt und weckt«.


Die Vermehrung der Liebeskraft
Nur mit Liebe ist alles zu überwinden, ohne sie befindet man sich lebenslang in einem Kriegszustand mit sich und anderen, ohne ein anderweitiges Resultat, als Ermüdung und zuletzt Pessimismus oder selbst Menschenhass zu erreichen. Liebe ist aber immer ein schwerer Entschluss zuerst und dann ein langes beständiges Lernen an Gottes Hand, bis man es kann, natürlich oder angeboren ist sie uns keinesfalls. Sie verleiht dem Menschen, der sie schließlich besitzt, nicht nur mehr Kraft, sondern auch mehr Intelligenz und mehr Ausdauer als irgend etwas anderes, denn sie ein Stück ewigen Wesens und Lebens, das nicht altert wie alles Irdische.

»So stark ist Liebeskraft, dass selber Gott liebeigen
Dahin, wo er geliebt sich fühlet, hin muß neigen.«
(Rückert)

Wer dieses Gefühl voll besitzt, der ist über alle Schwierigkeiten dieses Erdenlebens hinausgekommen. Das Leben wird ungemein einfach, wenn man stets nur bedenkt, was Gottes Wille und Meinung in jedem Falle ist – was man in der Regel sehr wohl wissen kann -, und das gerne tut, indem man allen Egoismus entschlossen aufgibt. Dann wird alles klar, der Weg ist offen, der Mut und die Kraft fehlen nicht; aber unser Fehler ist, dass wir meistens diesen Weg lieber nicht gehen wollen und dazu erst beständig durch schwere Erlebnisse auf dem entgegengesetzten Pfade gezwungen werden müssen.

Der Welt kann jetzt nur auf eine Weise geholfen werden. Dadurch, dass wieder mehr Liebe und damit mehr Kraft und mehr Glücksempfinden in sie hineinkommt.

Es handelt sich nicht um Glück im Leben, das überhaupt nichts Objektives ist, sondern um ein Gefühl des Glücks, und dies entsteht fast ausschließlich durch Liebe, die man besitzt oder empfängt.

Die Entwicklung und Ausbreitung der Liebe ist jetzt das Problem und das Wachstum des Lebens.

Die wahre Liebe kann einem Menschen kein Schicksal nehmen, es fehlt ihr auch nie an Gegenständen und Motiven, die ganze Welt ist voll davon und seufzt nach ihr wie nach nichts anderem, und selbst der Tod kann sie nicht aufheben; sie ist vielmehr die reellste Bürgschaft für die Unsterblichkeit.

Aus der Gottesliebe entsteht dann unfehlbar die wirkliche Liebe zu allen seinen Geschöpfen, die keine Form der Selbstliebe und noch weniger eine bloße Denkform ohne tatsächliche Wirkungen ist.

Die Probe lässt sich leicht machen. Zunächst in sich selbst durch das Kraftgefühl, das die nächste Wirkung dieser Liebe ist, mittels welchem der Mensch nun nicht nur sich selbst und seine schlechtere Natur zu überwinden vermag, sondern auch allen, selbst den größten Schwierigkeiten des äußeren Lebens ohne Schrecken begegnen imstande ist. Sodann durch das Glück und den Frieden, den er in dieser Liebe empfindet, die nicht entfernt ähnlich irgendeinem andern Glücke sind . . .

Außerhalb des Menschen sind die Zeichen und Folgen der Gottesliebe zunächst die Natürlichkeit der Menschenliebe, die nun selbstverständlich wird und daher auch von anderen instinktiv empfunden wird. Namentlich die Armen und Kleinen täuschen sich darin nie, und selbst die Tiere haben ein gewisses Gefühl davon. Auch das, was man die »Geistesgaben der ersten Christenheit« nennt und nun teilweise wieder zu erwecken strebt, ist, soweit es nichts Gemachtes ist, sondern Realität besitzt, nur ein Ausfluss dieser Liebe Gottes, die eben in der Lage ist, dessen Kraft in dieses ohne ihn immer noch mehr verarmende Leben herabzuziehen.

Das ist das, was wir gegenwärtig am nötigsten hätten. Dazu gehören aber zuerst wieder einzelne Menschen, die »bei der ewigen Glut wohnen« können (Jes. 33, 14).

Es handelt sich heute gar nicht bloß um Reform von Kircheneinrichtungen oder um neue philosophische oder naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sonder wir stehen jetzt vor der Aufgabe einer Vermehrung der Liebeskraft in der Welt.

Wenn man einmal ganz in das Reich der Liebe eingetreten ist, dann wird die Welt, so mangelhaft sie ist, dennoch schön und reich: denn sie besteht aus lauter Gelegenheiten zur Liebe. S.35ff.
Aus: Carl Hilty, Vom Sinn dieser Zeit im Licht der Ewigkeit. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Im Furche-Verlag / Berlin

Glück
Die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichts (Lukas 16, 8)
Wir wagen es nicht, die volle Wahrheit dieses Worts zu bezweifeln, können aber doch nicht umhin zu bemerken, dass sich darauf mehr, als auf jede andere Autorität, die oft gehörte Anklage gegen den Idealismus begründen lässt, wonach er in der Theorie zwar recht schön, in der Praxis aber undurchführbar sei.

Wenn das einmal feststeht, dass Lebensklugheit und Idealismus unvereinbar sind, so werden weitaus die meisten Menschen, die auf Erden zu leben und durch dieses Leben zu kommen gezwungen sind, zu der ersteren als dem Notwendigen greifen, selbst wenn sie den letzteren nur mit einem Seitenblick tiefen Bedauerns im Stiche lassen. Klugheit ist für diese, Licht eben nur für eine andere Welt! An diesem Stein des Anstoßes scheitern daher noch Manche, die die gewöhnliche Klippe des gemeinen Menschentums, des genusssüchtigen Egoismus, längst überwunden haben. Mangel an Klugheit, oder sogar Dummheit lässt sich überhaupt auch der nicht gewöhnliche Mensch sehr ungern nachsagen. Dazu gehört schon eine große innere Sicherheit und selbstüberwindende Kraft. Siehe auch Jesaias XLII, 19 und XLIII, 8.

Was zu allernächst in diesem gefährlichen* Worte liegt, ist eine große Anerkennung der Weltkinder. Dieselben werden überhaupt nirgends in den Worten Christi so scharf behandelt, wie die Geistlichen von Beruf und die pharisäischen Frommen. […] Es sind Leute, die meist wissen, was sie wollen, und das, was sie sich vorgenommen haben, auch mit Fleiß und Ausdauer, unter Beiseitesetzung alles Entgegenstehenden verfolgen, - worin es ihnen die »Kinder des Lichts«, wenigstens in ihren Anfangsstadien, nur selten gleichtun. Sei sind auch gar nicht unempfänglich gegen etwas Höheres und Besseres; ihr Herz ist nicht der harte Fels, auf den der Same des Guten ganz vergeblich fällt, sondern bloß der auch noch mit anderem Gestrüpp überwachsene Boden, auf dem er zwar keimt, aber nicht recht gedeihen kann, und jedenfalls können sie sich darauf mit Grund berufen, dass nicht sie es vorzugsweise gewesen sind, die in der Geschichte Kreuze und Scheiterhaufen für die Bekenner der Wahrheit errichtet haben.
*Das Kapitel XVI des Ev. Lukas ist überhaupt eigentlich das gefährlichste Schriftstück, welches gegen die öffentliche Ordnung im Sinne unseres modernen Polizeistaates geschrieben worden ist. Welche Konsequenzen würde das hervorrufen, wenn man einmal ernstlich und allgemein glaubte, dass der Mammon ungerecht sei und durch seinen bloßen Gebrauch, ohne irgend welche sonstige Schlechtigkeit (die ja dem reichen Mann keineswegs nachgesagt wird), zur Verwerfung führe. Oder dass Alles, was hoch ist unter den Menschen ein Gräuel sei vor Gott. Und welche tiefe Ironie liegt in dem Lob des ungerechten Haushalters gegen das, was Eigentum heißt und oft sogar mit dem Prädikat der »Heiligkeit« versehen wird.

Man muss sich also unter Weltkindern keineswegs ohne weiteres schlechte oder für das, was man Tugend nennt, unempfängliche Leute vorstellen. Sie sind im Gegenteil meistens besser, als sie sich den Anschein geben zu sein, und es gibt unter ihnen sogar sehr viele »umgekehrte Heuchler«, die ihre besten Gedanken verbergen. Was ihnen fehlt, ist gemeinhin bloß der Mut, gut zu sein, das hinreichende Vertrauen auf eine sittliche Weltordnung, die sicher genug bestehe, um den ihr sich Anvertrauenden auch über die Schwierigkeiten des »Kampfes um das Dasein« hinwegzuhelfen. In der Tat ist diese Sicherheit keineswegs augenscheinlich vorhanden; im Gegenteil, wer die Wege aller Welt verlässt, hat zunächst die Sicherheit vor Augen, dass er von ihr auch verlassen wird und vielleicht den größten Teil seines ferneren Lebensweges im Dunkel über diese Frage zubringen muss, ob er wirklich das bessere Teil erwählt habe. So wenigstens beschreiben alle diesen Weg, die ihn wirklich gegangen sind, nicht bloß davon gehört oder gepredigt haben. Es sind also die Weltkinder einfach Leute, die lieber den gewöhnlichen und bekannten Weg gehen wollen, weil ihnen ein außergewöhnlicher zwar theoretisch recht schön und großartig, aber praktisch nicht hinreichend gangbar vorkommt.

Noch schwieriger ist zu sagen, was die »Kinder des Lichts« sind. Zwar enthalten die Evangelien einige Andeutungen darüber, z. B.:

Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. (Joh. 3, 19-21)
Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh 8, 12).
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt (Joh 9, 5)
Glaubt an das Licht, solange Ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet. (Joh 12, 36).
Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer man mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe (Joh 12, 46).
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme (Joh 18, 37).


Aber was ist überhaupt das »Licht« in diesem Sinne selber? Und wo ist seine Quelle? Und wie kommt es in den Menschen hinein? Da stehen wir sofort vor dem größten der »sieben ungelösten Welträtsel.«

»Woher kommt der Mensch, wohin geht er, wer wohnt über den goldenen Sternen?«

Allgemein verständlich kann man nur sagen, es seien wohl die suchenden und für das Ungewöhnliche empfänglichen Menschen gemeint, welche zunächst wünschen, dass es etwas Besseres auf der Erde gäbe, als zu essen, zu trinken und morgen tot zu sein, und die aus diesem beharrlichen Wunsch und Willen heraus allmählich zum Glauben und zuletzt zur Überzeugung gelangen.
Gelzer sagt darüber in seiner Schweizergeschichte der ersten zwei Jahrhunderte. »Niemals wird es an Tausenden fehlen, welche in lobenswerter Art auf den gewohnten Lebensgleisen fortschreiten und mit sicherem, angeborenem Takt sich in der praktischen Welt bewegen. Es ist aber in der Weltordnung von jeher auch auf die Wenigen gezählt, die, über alles Einzelne und Äußere, Zerstreuende wegblickend, mit der ganzen Energie ihres Gemütes nur nach dem geistigen, ewigen Grunde des Daseins fragen. Durch alle Verhüllungen der Sinnenwelt hindurch haben sie … die Harmonie der Welt erkannt oder doch etwas von ihr, wie Töne einer fernen Musik, geahnt. Solche Naturen müssen, wenn sie in der Welt etwas leisten wollen (und zwar gerade das, wozu sie berufen sind), sich um dieses Zweckes willen einigermaßen von der Welt zurückziehen; nur auf diesem Standpunkte könne sie – jenen Bergpflanzen ähnlich, die auch in der Niederung nicht gedeihen, den reinen Atem ihres Wesens erhalten und miteilen.« Mit andern Worten: »Das ist ein gutes Ding«; wenn es aber selbst kraftlos wird, dann kann man es zu gar nichts brauchen, dann ist die Kraft der Welt bei weitem vorzüglicher. Da ist der Grund, warum die heutige Kirche so wenig Einfluss besitzt, trotz aller Agitation. Dieselbe kann das fehlende gewordene Salz nicht ersetzen.

Eine gewisse weitere Andeutung dieses Wegs zum Licht steht in Math. 5, 8:

»Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen«


und besonders in Lukas 11, 36, einer Stelle, die noch Niemand recht erklärt hat:

»Wenn nun dein Leib ganz licht ist und kein Teil an ihm finster ist, dann wird er ganz licht sein, wie wenn dich das Licht erleuchtet mit hellem Schein«.


Weiter darf man aber gewöhnlich in der Beweisführung gar nicht gehen, sonst sprechen die Kinder der Welt, die in der Tat nicht vorbereitet sind und denen es das alles mindestens als Überspanntheit vorkommt im besten Falle mit dem Landpfleger Felix und den Athenern: »Wir wollen dich ein anderes Mal weiter hören«(Ap.-Gesch. 17, 32; 24, 25), hüten sich aber wie ihre Vorgänger, wohl, solche unangenehme, die Gemütsruhe störenden, »die doch zu nichts Gewissem führen können«, wieder auf das Tapet kommen zu lassen. Es ist in der Tat, so traurig es klingt, die religiöse Belehrung offenbar äußerst wenig fruchtbar. Man kann das, was man Religion nennt, und was eigentlich ganz auf einem Vertrauen auf etwas nicht Wissbares und einer Neigung zu den Vertretern dieser Anschauung* beruht, gar nicht wirklich lehren, sondern höchstens bei den Menschen eine Art von Disposition, wenigstens Abwesenheit von Abneigung und positiver Unfähigkeit erzeugen und durch Belehrung unterhalten. Diese Unfähigkeit entsteht aber nicht allein durch eine Lebensweise, die der Empfänglichkeit für Ideales überhaupt entgegensteht, sondern ebensosehr gerade durch die Auffassung, welche die Religion als ein Lehre, ja sogar als eine Art von Wissenschaft ansieht, die vorgetragen und gelernt werden kann.
* Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches och aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind. (Joh 1, 12-13)
Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. (Joh 3, 27)
Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. (Joh 6, 29)
Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich von mir selbst aus rede. (Joh 7, 16-17)
Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh 8, 12)
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. (Joh 14, 6 - 7)
Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer mich aber nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. (Joh 14, 23-24)


Worin besteht denn nun aber, werden Sie fragen, der Vorteil dieses sogenannten Lichts vor der Klugheit der Welt, die doch immer etwas Sicheres ist und eine Summe von Lebensgütern erzielt, die auf dem anderen Wege nicht so leicht zu haben sind? Zunächst darin, dass man die Wahrheit besitzt und dabei innerlich vollständig beruhigt ist. Das ist gegenüber einem solchen Lebensglück, wie es Lessing in dem bekannten Worte vorschwebte, wonach die Wahrheit gar nicht für Menschen wünschbar sein soll, eine Fülle von wahrem Glück, die unaussprechlich ist und kein Mensch, der je auch die kleinste Partikel davon besessen hat, fortan mit allen Gütern der Erde vertauschen wollte. Denn am Ende kommt es nicht auf den Besitz irgend eines Gutes an, sondern ob man sich in diesem Besitze glücklich fühlt. Auch die Habsüchtigen, Ehrgeizigen, Schwelger wollen nicht das, was sie suchen, als Zweck, sondern als in ihren Augen unerlässliches Mittel zum Zweck, welcher das Glücksempfinden ist.

Darin täuschen sie sich aber, und das ist das wahrhaft Großartige in der Weltordnung, durch das sie sich jedem unbefangen Beobachtenden enthüllt, dass ihnen zwar alles gelingt, was sie recht wollen, aber nicht zur Befriedigung gereicht. Dass es ihnen gelingt, ihr Erfolg selbst, ist ihre Strafe. Es ist vielleicht etwas schwer zu verstehen, aber überlege es noch einmal, lieber Leser, oder nimm es gewissermaßen als wissenschaftliche Hypothese vorläufig an und beobachte dann im Leben, ob es wahr ist. Das ist ja die Art, wie man auch in der Naturwissenschaft auf die Wahrheiten am leichtesten kommt.

Der zweite Vorteil ist, dass dieser Geist der Wahrheit, wie wir das »Licht« paraphrasieren können, doch etwas viel Klügeres ist als alle Klugheit, weil er allein mit den wirklichen Gesetzen der Welt übereinstimmt. Daher kommt es, dass diese Unklugen doch durch die Welt kommen, meist sogar viel besser und unbeschädigter als die Klugen, d. h. mit weniger Unruhe des Gewissens, die doch ein sehr unangenehmes Gefühl ist, welches die besten Freuden des Daseins vergällt, und jedenfalls mit viel weniger Hast, Furcht und Sorge vor Menschen und Ereignissen, die ohne diese Gesinnung ganz unausweichlich sind. Endlich mit viel mehr Friede nicht bloß in sich selbst, sondern auch mit den Menschen, weil ohne Zorn, Hass und Neid, die das Leben ständig verbittern. Sogar die Menschen, die dieser Gesinnung nicht folgen wollen oder können, lieben eigentlich im Grunde diese »Idealisten« doch mehr als Ihresgleichen. Sobald sie sehen, dass es ihnen Ernst damit und nicht bloß ein Mäntelchen ist, hinter dem sich Entgegengesetztes verbirgt, und auch kein beleidigender Hochmut sich damit verbindet. Eine solche Liebe, wie sie seinerzeit Niklaus von Flüe, oder Franz von Assisi, oder Caterina von Siena oder in unserer Zeit Gordon Pascha in ganzen Ländern gefunden haben, wo Tausende ihren Tod tief beklagten und als ein Nationalunglück betrachteten, die nicht entfernt daran dachten, ihrem Leben nachzufolgen, ist gar nicht zu vergleichen mit der Achtung etwa, die der größte Staatsmann unserer Zeit genießt. Sie sind, eben weil sie auf die meisten Güter dieses Lebens verzichtet und die Konkurrenz darin aufgegeben hatten, die wahren Könige ihrer Völker und die Helden der ganzen Menschheit geworden.

Wahrheit, Glück, Furcht- und Sorglosigkeit, Friede mit sich und allen Menschen, aufrichtige Achtung und Zuneigung derselben – wir sollten denken, das wären doch auch Güter, die gegenüber mehr Reichtum, mehr Ehre, mehr äußerlichem Genuss stark in die Wagschale fallen können, selbst wenn die letzteren Erfolge ebenfalls sicher und ohne die oben genannten bitteren Zutaten der Furcht, der Sorge und der allgemeinen Konkurrenz erreichbar wären, was sie tatsächlich niemals sind.

Das Gute haben ferner die ideellen Güter jedenfalls voraus, dass sie ganz sicher und Jedermann zugänglich sind. Man braucht sie nur zu wollen, aber ernstlich und allein zu wollen, sich nicht halb und halb doch auf die Klugheit und den Wettlauf auf der Welt Bahnen zu verlegen, so werden sie, wie viele Zeugen aus eigener Lebenserfahrung sagen, unfehlbar erreicht; - wenn auch allerdings nicht in einem Anlaufe und in den meisten Fällen nur nach einer ein- oder mehrmaligen Krise im Lebensgang, die in der Tat mehr, als irgend etwas anderem, einem Tode gleicht, in welchem der Mensch jeder bisherigen Lebensauffassung entsagt. Das ist aber auch das Schwerste dabei. Im übrigen ist dieser Lebensweg unendlich viel leichter und angenehmer als der Weg der Welt, und man begegnet darauf sicherlich besserer Gesellschaft. Ein Joch (womit ihn Christus vergleicht) bleibt er wohl immer; aber dass er ein vergleichsweise sanftes und sehr leichtes Joch sei, das bestätigen in der Tat wieder Alle ohne Ausnahme, die es je selbst getragen haben, und noch kein Einziger ist entdeckt worden, der am Ende eines solchen Lebens, mochte es daneben äußerlich ausgesehen haben wie es wollte, reuevoll den anderen Weg als den besseren und glücklicheren erklärt hätte. Wie Viele hingegen seit König Salomos Tagen fanden am Schlusse eines erfolgreichsten und mühelosesten Lebens im gewöhnliche Sinne der Lebensklugheit, dass doch Alles nur »Eitelkeit der Eitelkeiten« gewesen sei.
Der Moment, in welchem dies der gereiften Lebenserfahrung sich deutlich macht, welcher gewöhnlich, verbunden mit einer entschiedenen Abnahme der physischen Kräfte, nach dem fünfzigsten Lebensjahre eintritt, ist einer der bittersten des menschlichen Lebens, und Viele gehen von da ab zum Skeptizismus und Pessimismus über, wenn sie gar nicht noch einmal versuchen, trotz ihrer bereits ergrauten Haare, einige flüchtige Freuden des Lebens rasch am Wege zu erhaschen. Diese »alten Jünglinge« haben zuletzt wohl die schlechteste von allen Lebensrollen gewählt, die ihnen noch zu allen Enttäuschungen hinzu den Respekt vor sich selber kostete. Einer der Romane von Monpassant sogar schließt daher sehr richtig mit dem Bekenntnis der Heldin (sit venia verbo), sie habe sich das Laster doch amüsanter vorgestellt.

Man sollte denken, diese einzige Erfahrungstatsache schon müsste entscheidend wirken, wenn man nicht wüsste, wie sehr gerade die gewöhnliche Klugheit der Menschen sie an dieser höheren Klugheit, die ein größeres Spiel mit höherem Einsatz dem gewöhnlichen vorzieht, verhindert.

Wir haben nicht den Mut, die einfach Klugen zu tadeln, und wollten es ganz dem Leser anheimgeben, ob er, nach reiflicher Erwägung der angeführten Gründe und Betrachtung der ganzen Situation, in welche der Mensch durch die gewöhnlichen Bedingungen seines Daseins gestellt ist, besser tue, die einfache oder die etwas sublimierte Klugheit zu wählen. Die Dümmsten sind unstreitig die, welche siebzig oder achtzig Jahre lang durch das menschliche Leben pilgern, ohne jemals mit sich einig geworden zu sein, ob sie das eine oder das andere wollen. Und zu diesen Unweisen, die denn auch gewöhnlich zu gar nichts kommen, gehört merkwürdigerweise ein sehr großer Teil der heutigen »gebildeten« Gesellschaft. S.137-148
Aus: Carl Hilty, Glück . 1896 . Frauenfeld J. Hubers Verlag, Leipzig J.E. Hinrich’sche Buchhandlung


Was bedeutet der Mensch, woher kommt er, wohin geht er, wer wohnt über den goldenen Sternen?
Das ist die Frage der Fragen, auf die jeder nicht ganz oberflächliche, oder tierische Mensch wenigstens einmal in seinem Leben eine Antwort sucht, und – es ist traurig, es gleich sagen zu müssen – die Meisten gehen heute aus demselben, ohne sie gefunden zu haben.

Die Einen gelangen wohl etwa zeitweise bis zu dem melancholisch forschenden Ausdruck eines mittelalterlichen Denkers:

»Ich lebe, ich weiß nicht wie lang, ich sterbe, ich weiß nicht wann, ich gehe, ich weiß nicht wohin, wie ist es möglich, dass ich noch so fröhlich bin!«

Andere schlagen sich alle solche traurig stimmenden Gedanken,
»die doch zu nichts führen«, bald und ein für alle Male aus dem Kopfe und sprechen: »Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.«


Ihrer ist heute eine große Zahl, auch in den so genannten gebildeten Kreisen, denen doch eine gewisse Kenntnis tieferer Lebensauffassungen infolge ihrer Erziehung zugänglich war. Sie sind dessen ungeachtet schließlich – oft schon frühzeitig genug – nach einigen vergeblichen oberflächlichen Rettungsversuchen bei diesem kläglichen Schlussprogramm für ihr weiteres Leben angelangt.

Dasselbe suchen sie dann möglichst lange durchzuführen. Aber es fehlt ihnen auf die Dauer sehr oft die unumgänglich dazu nötige Gesundheit, und sie wallfahrten dann in ungezählten Scharen – die Weiblein, wie immer, an der Spitze – zu Pfarrer Kneipp, Dr. Metzger oder zu irgend einem anderen Medizinalheiligen des Tages, um sie so bald als möglich wieder herzustellen und von neuem zu missbrauchen.

Anderen fehlen die Mittel zur Ausführung dieses Lebensplans; diese werfen dann, wenn sie sich dieselben nicht durch sonstige »Streberei« irgend einer Art bald verschaffen zu können glauben, die »Magenfrage«, als die einzig »reelle« des menschlichen Daseins, auf, die durch eine neue »Sozialpolitik« zu einer befriedigenden Lösung für Alle gebracht werden müsse.
Weitaus der größte Teil der »sozialen Frage« unserer Zeit hat diesen philosophischen Unterbau. Sie ist auch auf demselben die berechtigtste, ja die allein berechtigte Frage des Tages.

Noch andere, etwas tiefsinnigere Grübler, welche die Unmöglichkeit einer Heilung aller menschlichen Leiden auf allen diesen Wegen einsehen gelernt haben, kommen, nachdem sie vieles halbwegs versucht, zu dem Ausspruche des weisesten aller Könige, »es sei alles eitel«, und wenden sich von dort ab zu der Verzweiflung am Sein und Leben selbst, zu der Anbetung des Nichts. Nirwana, Vernichtung, Vergessen des Lebens ist ihnen der Zweck desselben, und sie glauben etwas sehr Großes erreicht zu haben, wenn sie endlich, nach langen Jahren und schweren Kämpfen mit ihrem gesunden Menschenverstande, der gegen diese seine offenbare Negation beständig protestiert, dem indischen Hauptweisen nachsprechen können:

»Geburtenkreislauf zahllos stünde mir bevor, hätt’ ich
Gefunden nicht des Baues Meister, welchen ich gesucht.
Fürwahr, Geborenwerden ohne End’ ist schmerzenvoll!
Du bist erschaut, des Baues Meister, nun wirst du
Das Haus nicht wieder bau’n, zerbrochen sind
Die Balken dir, der Giebel eingestürzt;
Der Geist, der eingegangen zur Vernichtung ist,
Hat des Begehrens Durst mir gänzlich ausgelöscht.«


So genanntes Dankgebet Buddhas. Auch das lebensfrohe Griechenland sogar hat solche Anflüge von tiefem Weltschmerz, die sich z.B. in dem Worte »Jung stirbt, wen die Götter lieben« ausdrücken.

Das ist dann also das Schlusswort der Philosophie: Es gibt weder Licht noch Hoffnung für das menschliche Dasein; das Beste ist, dies frühzeitig einzusehen und es baldmöglichst zu beenden.

So lebenskräftig und lebensdurstig aber ist der menschliche Geist, dass er sich auf die Dauer, und abgesehen von vorübergehenden Schwächezuständen … niemals mit einer solchen Bankrott-Erklärung begnügt, sondern es wird stets als die fortdauernde Aufgabe der Philosophie betrachtet werden, in dieses Dunkel dennoch Licht zu bringen. Sie hat es freilich allzu oft nur mit Worten getan, die nichts Reelles bedeuten und keinen wirklichen Trost für das gedrückte Gemüt enthielten. Daher kommt vorläufig ihre nicht ganz unverdiente Missachtung, seitdem der moderne Höhepunkt dieses bloßen Formalismus in Hegel erreicht worden ist.

Die Philosophie hat seit jeher vorzugsweise eine Erklärung der Welt aus sich selbst heraus versucht, und es gilt noch gegenwärtig im Ganzen als einer ihrer Fundamentalsätze, gegen die nicht opponiert werden darf, dass dies auch ihre notwendige Voraussetzung sei, indem jede Herbeiziehung anderer Erklärungsgründe sie als selbständige Wissenschaft beseitigen müsste. Es mag das letztere vielleicht logisch richtig sein, wäre aber in diesem Falle nicht als ein Unglück zu beklagen. Denn der Mensch sucht Licht über sich selbst, seinen Lebenszweck, seine Vergangenheit und seine Zukunft um seiner selbst, nicht um der Existenz irgend einer Wissenschaft willen; er ist im Gegenteil berechtigt, jede Wissenschaft gering zu schätzen, welche diesen Zweck, die menschlichen Lebensverhältnisse aufzuklären und zu verbessern, dauernd nicht erfüllt.
In der gleichen Lage befinden sich heute auch die Jurisprudenz, die Medizin und die Theologie. Wir verlangen von ihnen Leistungen für das geistige oder körperliche Wohl der Menschheit, nicht bloß Existenz als Wissenschaft.

Somit darf er auch von der Philosophie beanspruchen, dass sie zweckentsprechend und sogar bis zu einem gewissen Grade gemeinverständlich sei und es nicht versuche, den Hunger seiner Seele nach Wahrheit und Aufschluss über die höchsten Fragen des Daseins bloß mit leeren und deshalb dunklen Worten abzuspeisen. Das ist aber, von dem »göttlichen Plato« angefangen bis auf den Hegel oder Schopenhauer dieses Jahrhunderts, öfter ihr wesentliches Geschäft gewesen, und es bedurfte nur der Übersetzung einer willkürlich erfundenen Terminologie, die sie, wie ein undurchdringlicher Zaun, von dem Gebiet des gewöhnlichen Menschen- und Sprachverstandes abschloss, in die gewöhnliche Sprechweise des Tages, in der das Wort die Bezeichnung für ein bestimmtes Etwas und nicht auch für ein Nichts ist, um der verschleierten Göttin den Schleier abzuheben, in welchem mitunter ihre ganze Kraft und Hoheit steckte.
Wir glauben, dass sehr wenige Leute aus den Dialogen Platos, aus der Ethik Spinozas, der Phänomenologie des Geistes Hegels, oder aus der »Welt als Wille und Vorstellung« Schopenhauers eine erhöhte Klarheit ihrer eigenen Gedanken davongetragen haben. Die Philosophie aller Zeiten antwortet vielmehr eigentlich dem sie Fragenden gar nicht auf das , was er von ihr erfahren will, sondern überschüttet ihn stattdessen mit einer Fülle von Definitionen, von denen er die größere Hälfte nicht versteht und die kleinere zu nichts Rechtem gebrauchen kann.

Die abstrakte Philosophie hat in der Tat bisher weder das »Sein« noch das »Werden« befriedigend erklären können und noch viel weniger diese beiden Grundbegriffe mit einander in Verbindung bringen und aus einem einheitlichen Grunde heraus aufhellen können, sondern sie stattdessen stets bloß mit Worten umschrieben, die gar keine wirkliche Erklärung enthielten. Diese Aufgabe musste sie aber in den Jahrtausenden ihres Bestehens als menschliche Wissenschaft lösen könne, oder dann bekennen, dass sie über diese Urbegriffe ein weiteres Licht zu verbreiten nicht im Stande sei, sondern hier auf den Endpunkt ihres Vermögens stoße, an welchem ein dem menschlichen Wissen überhaupt unzugänglicher Urgrund alles Seins und Werdens angenommen werden müsse.

Statt dieser Erklärung finden wir vielmehr stets an der Spitze der philosophischen Gedankenreihen irgend ein bloße Annahme, die nicht bewiesen ist und nicht bewiesen werden kann; entweder eine »belebte Substanz«, sei es eine und unveränderliche, oder eine unendliche Masse von kleinen Bestandteilen (Atomen) bildend – Dinge, die so unfassbar als nur möglich und vor allem gar keine Antwort auf die Frage sind, indem man eben wissen möchte, woher dieser Stoff , sei er groß oder klein, komme, und wie ein Stoff belebt sein und Leben erzeugen könne.

Den Sprung vollends von einer bloßen Bewegung der Atome zu einer Empfindung, einem Gedanken und einem Willen hat noch Niemand begreiflich zu machen auch nur entfernt versucht. Da fehlt jede Verbindung und steht stattdessen in den Schriften der berühmtesten Forscher ein melancholisches »ignoramus ignorabismus«. –

Oder wir erfahren, mit vielen und großen Worten zwar, schon seit alter Zeit, dass ein, wenigstens gedachter und denkmöglicher Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein bestehe; wir möchten aber stattdessen lieber wissen, wie das Sein, das uns allein bekümmern kann, die Welt, wie sie vor unseren Augen liegt, entstanden ist, wenn sie nicht etwa ein bloßer Schein, ein Trugbild unseres eigenen Denkens ist, etwas, das bloß in unserer Einbildung existiert, zu welchem verzweifelten Ausweg in der Tat auch schon gegriffen worden ist. Für das »Nichtsein« haben wir gar kein vernünftiges Interesse; es ist dies bloß ein nicht einmal recht fasslicher Gedanke, der Begriff eines Gegensatzes, den man wohl aufstellen, aber nicht weiter begründen, noch viel weniger für das Leben nutzbar gestalten kann.

Gehen wir aber mit anderen Philosophen statt von den Dingen, die wir um uns herum erblicken und deren letzten Grund wir gar nicht entdecken konnten, von unserem eigenen , unzweifelhaften, selbstbewussten Ich aus, dessen wir doch unmittelbar und ohne weitere Philosophie sicher sein zu dürfen glauben, so weiß eben diese arme Ich, wenn es nun von diesem Selbstbewusstsein aus einen Schritt in die Welt hinaus versuchen, oder aus sich heraus die Rätsel derselben ergründen will, am allerbesten, wie sehr es selber nach einem besseren, außer ihm liegenden Erklärungsgrunde verlangt.

Oder wenn sich die Philosophie vollends vor der bloßen Naturwissenschaft bis zu Erde verneigt, alles Leben durch »Entwicklung, Evolution, Deszendenz, natürliche Zuchtwahl« und dergleichen erklären und behaupten will, dass sämtliches Bestehendes von selbst aus einem Urschleim, wahrscheinlich gar aus einer einzigen Urzelle entstanden sei, so bleibt doch immer wieder die alte Frage übrig, wer denn diese Zelle geschaffen und in sie diese unendliche Lebens- und Entwicklungskraft gelegt habe.

Es ist die Frage des allzeit scharf und praktisch denkenden Napoleon, die er vor nahezu hundert Jahren bei dem zauberhaften Anblick des ägyptischen Sternenhimmels an den Gelehrten Monge richtete: »Qui a fait tout cela?«, worauf sowohl die abstrakte Philosophie, wie die positive Naturgeschichte noch bis heute niemals geantwortet hat und wahrscheinlich niemals antworten wird.

Eine Erklärung der Welt aus sich heraus und durch sich selber ist unmöglich, indem sie keinen letzten Grund findet. Und die sich selbst vergötternden, oder von Anderen vergötternden Menschen*, die das einstweilige Schlussresultat der heutigen Philosophie sind, finden, wenn sie nur einigermaßen klug sind, eine beständig wirksame Schranke gegen diese Überhebung an dem quälenden Bewusstsein ihrer höchst beschränkten Kraft und Lebensdauer, an dem unabweisbaren ihrer eigenen Mangelhaftigkeit, das durch Menschenlohn nicht beseitigt wird, und an der baren Unmöglichkeit, sich selbst aus dem eigenen Lebensinhalte heraus zu verstehen.
*Die nächste praktische Folge des naturwissenschaftlichen Atheismus ist Menschenvergötterung und Verlass auf Menschen, die aber beide bei einigermaßen welterfahrenen Leuten mit tiefem Pessimismus enden. Die Menschen liebt nur dauernd und fest, wer sich nicht auf sie verlässt, sondern eine andere, zuverlässigere Hilfe besitzt. Das Ende aller bloßen Humanitätsbegeisterung ist daher bei klugen Menschen leicht tiefe Menschenverachtung.

Dies letzte, gewöhnlich pantheistische Form der philosophischen Lebensauffassung, die seit Spinoza die philosophischen und seit Hegel, Schopenhauer und Goethe die gebildeten Kreise überhaupt beherrscht, soweit dieselben mit abstrakter Philosophie sich noch befassen*, ist sogar die moralisch verderblichste von allen.
*Das ist im Ganzen jetzt viel weniger der Fall, als im ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Das einzige philosophische Buch, das noch immer einen großen Eindruck zurücklässt, ist die »Kritik der reinen Vernunft« von Kant. Damit hat eigentlich die abstrakte Philosophie abgeschlossen für immer. Die philosophischen Werke werden von verhältnismäßig sehr wenigen Gebildeten (abgesehen von denen, die sich berufsmäßig damit befassen müssen) selbst gelesen; die weitaus größere Zahl begnügt sich mit einer philosophischen Literaturgeschichte, »damit man doch auch nötigenfalls darüber mitsprechen könne«, geht ihnen aber sonst respektvoll aus dem Wege. Man darf es heute in den meisten Fällen geradezu darauf ankommen lassen, dass sie selbst die moderne Philosophie, Descartes, Spinoza, Kant, Hegel, auch Schopenhauers Hauptwerk, nicht aus eigenen Studien kennen, so wenig als die Bibel; sie reden über beides nur nach Urteilen Dritter. Im Ganzen ist es nun zwar ein Zeichen von dem praktischen Menschenverstand unserer Epoche, dass die Welt bloße Tüfteleien von Stubengelehrten, die mitunter nicht einmal die Welt, mit der sie selber lebten, ordentlich kannten, sondern sich sorgfältigst von der Berührung mit derselben abschlossen, nicht mehr allzu hoch taxiert, sondern als Denkübungen ansieht, die auf die Gestaltung der Lebensverhältnisse großer Massen keine wesentlichen Einflusshaben, sondern nur zu Schulzwecken, nämlich zur Schärfung des Verstandes an abstrakten Begriffen, brauchbar sind. Dagegen ist doch nicht zu verkennen, dass einige Beschäftigung mit Philosophie zur Bildung gehört, und dass es im praktischen Leben stehenden und dabei wenig religiös angelegten Personen äußerst schwer wird, nicht allmählich alle weiteren Gesichtspunkte ganz zu verlieren.

Sie »verflüchtigt die ethische Kraft«, den Willen, das Gute zu verwirklichen und das Böse zu bekämpfen.*
*Wie sollte sie es bekämpfen, da alles, was ist und geschieht, nach dieser Philosophie Gott ist?

Früher oder später folgt ihr dann in irgend einer Form ein roher, aber kräftiger Aberglaube, dem wir im Hypnotismus oder Spiritismus und einigen anderen ausschreitenden Kirchlichkeiten bereits sichtbar wieder entgegen gehen, und womit die Reihenfolge der philosophischen Spekulation von neuem beginnt, um nach einigen Jahrhunderten wieder an dem ganz gleichen Punkte zu enden.

Die letzte Form der Wahrheit wird daher überhaupt wahrscheinlich nicht die abstrakt-philosophische oder theologische Spekulation einzelner Menschen sein, die stets trügerisch und unbefriedigend bleibt, sondern die historische Erfahrung, wie sie sich in den Schicksalen ganzer Völker klar und deutlich ausgeprägt hat. Und in dieser Form ist in der Tat eine bessere Philosophie, als die abstrakte, neben ihr schon längst vorhanden gewesen.

Die Philosophie, die den Urgrund aller Dinge nicht spekulierend aus ihnen selbst erklären will, ist die israelitische und nunmehr die christliche, welche ihn stattdessen, geleitet von Lebenserfahrungen, in ein wirklich lebendiges Geisteswesen hineinverlegt, welcher der Schöpfer und Erhalter der Welt im Ganzen, als jedes einzelnen Menschen ist. Eine philosophische Erklärung allerdings ist das nach der herrschenden Auffassung nicht, sonst müsste eben auch dieser Grund erklärt werden können.

Die Wissenschaft, die speziell eine »Gotteswissenschaft« zu heißen sich erkühnte, scheitert in der Tat an der Unmöglichkeit, Gott zu beweisen, gerade so gut, wie die Philosophie an dem Versuch, die Welt oder den Menschen aus sich zu erklären. Das, was man Ontologie, oder Beweise von dem Dasein Gottes überhaupt nennt, ist wirklich sehr schwach und überzeugt Niemand, der es nicht gerne sein will. Es ist von vornherein sehr viel natürlicher, zu sagen: die Unerklärlichkeit gehört zum Wesen Gottes, der sonst nicht Gott wäre, und der Mensch, der ihn erklären könnte, nicht Mensch.
Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. (2. Mose 33, 20)
Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt. (Joh 1, 18)


Nicht Gott zu schauen,* sondern das Irdische und Menschliche in richtiger Weise, gewissermaßen mit den Augen Gottes zu schauen, ist offenbar unser Lebensziel.
*Zur Gottesschau auf Erden und zur wirklichen Erkenntnis des Zusammenhangs aller Dinge gibt es nur einen einzigen Weg, den aber lange nicht alle Philosophen gegangen sind, den in Matthäus 5, 8 angegebenen:

Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
(Matth 5, 8)


Den versuche, wenn du durchaus mehr, als eine bloße Kunde, von Gott haben willst. Damit und damit allein, ohne Ausnahme, kann das göttliche Wesen der menschlichen Seele, die ihm dann einigermaßen ähnlich wird, so nahe treten, dass aller Zweifel aufhört. Denn Gleiches wird nur von Gleichem erfasst. Wenn ein Philosoph sagt, er könne in seinem Erkenntnisvermögen keinerlei Spur von Gott finden, so spricht er sich ein Urteil.


Es ist daher auch längst der Zweifel geäußert worden, ob es überhaupt eine wissenschaftliche Theologie im Wortsinne geben könne. Christus z. B. ist nicht der Ansicht, dass es eine solche gäbe,

Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater und wem es der Sohn offenbaren will. (Matth 11, 27; Luk 10,22)


und die theologischen Spekulationen datieren und wirklich nicht eigentlich auf ihn zurück, sondern auf Paulus, der viel zu viel spezifisch jüdischen Scharfsinn und im Judentum bereits ausgebildeten Dogmatismus an eine Begründung des Christentums verwandte, bei der es ihm offenbar mitunter um die Überredung seiner stark theologisch veranlagten Volksgenossen zu tun war.

Gott als Urgrund alles Seins und Werdens kann und soll nicht erklärt und bewiesen werden, sondern zuerst geglaubt und sodann persönlich erfahren werden.
So du glauben würdest, sagt Christus, würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen. »Gottesfurcht« ist kein bloßes Gefühl, sondern ein geistiges Wissen und sittliches Können, das allerdings klein anfängt. Hat man dagegen den Entschluss der Abwendung von Gott vollzogen, so ruht, wie ein tiefer Forscher sagt, die nicht schweigende Selbstanklage nicht, bis man, um sich vor sich selber zu rechtfertigen, diesen Abfall sophistisch in Fortschritt übersetzt und die Treue als einen überwundenen Standpunkt auch zu verachten bemüht. (Vergl. Hirsch, Pentaeuch, zum Leviticus, S.698)

Das ist der Satz, der somit wieder deutlich ausgesprochen werden muss; allerdings ist er damit auch der Stein des Anstoßes und Ärgernisses, an welchem viele umkehren, die eine bessere, wissenschaftlichere Erklärung aller Dinge suchen. Es ist ihnen nicht zu helfen, noch weiter entgegen zu kommen.
Wir können sie höchstens noch etwa fragen: Kannst du dir die Welt als endlich vorstellen, aufhörend räumlich und zeitlich? Nein, wird die Antwort sein. – Oder kannst du sie dir als unendlich in Raum und Zeit vorstellen? Ebenfalls nein. – Kannst du aber den Prozess des Lebens erklären, seinen Uranfang und sein Aufhören? Ebenfalls nein. – Kannst du das Denken selber erklären? Alles nein.
Nur denn, wenn du diese allernächsten und wesentlichsten Dinge nicht weißt und nicht wissen kannst, so wirst du sehr gleichgültig werden müssen, oder das Glauben doch nicht gänzlich entbehren können.

Die entschlossenen Atheisten müssen wir philosophisch aufgeben;* das ist eine Forderung, die nicht nur auf dem philosophisch-religiösen, sondern auch auf dem praktisch-politischen in Bälde noch viel mehr als bisher in den Vordergrund treten wird.
*Aufgeben im gewöhnlichen Sinne keineswegs, wie es heute viele Christen tun (2. Thess 3,15).Es gibt, seitdem die Glaubensbekenntnisse frei geworden sind, offene Atheisten, die dennoch edle und denkende Menschen sind und sich viele Mühe zum Guten geben, auf die vielleicht sogar das weitherzige Wort des Evangeliums Matthäus 21, 28-31) anwendbar ist. Der Atheismus ist etwas so Natürliches, dass Niemand, der denkt, zu allen Zeiten seines Lebens davon ganz frei gewesen ist, und selbst die frömmsten Leute sind oft genug noch praktische Atheisten, d. h. sie handeln so, als ob kein Gott wäre. Glückliche Atheisten aber gibt es nicht, zum vollkommenen inneren Frieden und der Furchtlosigkeit vor allen Übeln des Lebens gelangen sie niemals. Diesen Unterschied kann Jeder an allen ihm zugänglichen Beispielen selbst beobachten.

Hier und hier allein liegt die unübersteigliche Scheidewand, die die Menschen der gleichen Nation, des gleichen Bildungsgrades, der gleichen Zeit, oft selbst der gleichen Familie in ihren Grundanschauungen trennt. Alle anderen Differenzen sind ausgleichbar und werden ihre Ausgleichung finden.
Gewöhnlich handelt der Mensch nicht nur nach seinen Prinzipien, sonst wäre die praktische Differenz viel größer, als sie es ist.

Diese Differenz bleibt bestehen, weil sie in der Natur der menschlichen Willensfreiheit liegt.
Das Wort des Tertullian, dass »die menschliche Seele von Natur aus eine Christin sei«, ist, wenn es wörtlich genommen wird, ganz falsch; jedes bedeutende Leben ist ein Gegenbeweis. Sie ist nur dazu berufen und in der Lage, es durch eigene Lebenserfahrung zu werden, was er auch wahrscheinlich damit meinte; von Natur aus ist sie indifferent und keineswegs dem Atheismus abgeneigt. Könnte man Gott auch nicht erfahren, so wenig als wissen, so wäre umgekehrt der Glaube in der Tat eine Überspanntheit des Nervensystems, und es würde der römische Prokurator gegen Paulus recht behalten (Ap.-Gesch 26, 24)*, ebenso seine sehr zahlreichen Nachfolger aller Perioden, die sich durch Vernunft und Gewissen verpflichtet hielten, gegen das Unbegreifliche sich zu wehren.
*Auch die hätten ganz recht, welche heute sagen, dass das Beten eine Folge von Wahnsinn sei, wenn der Erfolg nicht erfahrbar wäre.

Gott verlangt aber gar nicht einen Glauben von den Menschen anders, als auf Grund eigener Erfahrung*, sondern er bezeugt ihnen in der eigenen und der gesamten Geschichte ihres Geschlechtes auf das reichlichste, so dass die die Schuld ihres Nichtglaubens selber tragen müssen, die eine wirkliche Schuld ist, gewöhnlich sogar weit mehr, als irgend Jemand, außer ihnen selber es wissen kann.
Siehe , das alles tut Gott zwei- oder dreimal mit einem jeden, dass er sein Leben zurückhole von den Toten und erleuchte ihn mit dem Licht der Lebendigen. (Hiob, 33, 29-30) Hiob sagt wohl mit Recht, diese genügende innere Erfahrung gebe Gott jedem Menschen, sogar zwei und drei Male im Leben.
*Es gibt wohl Menschen, die, sei es zufolge ihrer geistigen Anlage, oder ihrer Erziehung schwerer als andere zu dem Glauben an Gott kommen; aber wenn sie gar nicht dazu kommen, so ist immer ein Haken dabei, sie wollen von irgend etwas in ihrer Lebensweise nicht lassen, oder die Probe überhaupt nicht ehrlich machen.

Diesen einen Schritt, den Entschluss zu prüfen und der Erfahrung eventuell zu gehorchen, welcher ein Willensakt des Menschen ist, von dem ihn Niemand dispensieren und dem ihn auch Niemand durch mehrere Überzeugungsmomente, als sie in seiner eigenen Lebenserfahrung liegen, erleichtern kann, schon die israelitische Prophetie unter dem ganz richtigen Ausdrucke einer »Wendung«, verspricht dann aber sofort danach derselben die volle innere Befriedigung und Überzeugung, die nun von selbst eintreten werde.
Wendet euch zu mir, so werdet ihr gerettet, aller Welt Enden; denn ich bin Gott, und sonst keiner mehr (Jesaja 45. 22). Die Erfahrung beweist dann nachträglich die Hypothese, was bei der Philosophie nicht der Fall ist. Es genügt, dass der Mensch mit dem Antlitz Gott zu und nicht von ihm ab sich wende; es ist sein großes Gut der Willensfreiheit, dass er das letztere auch tun kann und selbst von dem allmächtigen Gott nicht als Sklave gezwungen werden will. Diese Zuwendung und Abwendung hat übrigens, wie jeder Menschenkenner weiß, mehr andere, als bloße Verstandesgründe; der einfältigste Mensch fühlt wohl, dass er sich mit der Zuwendung der Freiheit zu Manchem begibt, was er nicht oder noch nicht lassen will. Heine sagt zwar in seinem »Buch der Lieder« auf unsere Frage, die daselbst aufgeworfen wird, am Schluss: »Ein Narr wartet auf Antwort«. Das ist aber die Rede derer, die eine Antwort nicht um jeden Preis wollen. Den Aufrichtigen lässt es Gott gelingen.

Und viele Tausende, die seither diese Wendung vollzogen, haben diese Wirkung auch bestätigt, während bisher kein Beispiel bekannt ist, dass Jemand, der sich aufrichtig an Gott übergeben hätte, von ihm dauernd im Dunkel gelassen, oder überhaupt verlassen worden wäre. Darin, in diesem freien Entschluss, liegt auch die »Gerechtigkeit« des Menschen, durch die allein er nach dem Ausspruche des nämlichen Propheten befreit werden kann. (Jesaja 1, 27). Er muss auch etwas dazu tun, hat dann aber auch einen Anspruch, der ihm nirgends in der Bibel auf eine bloße Gnade, die dann eintreten wird oder auch nicht, sondern positiv zugesagt wird.

Deshalb vergleicht das alte Testament dieses Verhältnis auch stets mit einem Bündnis, worin gegenseitige Rechte bestehen. Es hat auch kaum Not, dass ein Mensch, der es seinerseits aufrichtig zu halten gewillt ist, etwa zu übermütig auf sein Recht poche; er weiß vielmehr recht gut, dass er immer weit unter seinem Teil der Leistung sich befindet, wenn sie auch bloß aus ungeteiltem und unerschütterlichem Vertrauen auf den Verbündeten besteht (Hebr 11), und dass er daher stets noch dessen reine Gnade bedürfen wird. Die lutherische Betonung dieser Gnade, die noch über den Urtext hinausgeht (Röm 3, 28), lähmt mitunter sogar ein wenig die beständige Energie der Wendung und der willensfreien Behauptung dieses Bodens, die seitens des Menschen zu seiner vollkommenen Erlösung vom Bösen auch notwendig ist.
Er muss doch wenigstens immer wieder kräftig umkehren wollen, wenn er falschen Göttern nachgehangen hat, und wird dann auch immer wieder Aufnahme finden. (Jer. 24, 13. Jes. 1, 18. 40, 31. 43, 25. 51, 22. Ezech. 16, 63. 18, 23. 31. Hosea 14, 4-6. Matth. 9, 13. Joh. 6, 37). Darum sagt auch der Apostel Paulus, dass bei denen, in welchen die Predigt von Christo kräftig geworden sei (das ist aber etwas anderes, als das bloße passive Anhören), kein Mangel mehr an irgend einer zum Leben notwendigen Gabe bestehe (1. Kor. 7.8). Umgekehrt hilft oft Alles bei einzelnen ursprünglich gut beanlagten und wohlerzogenen Menschen nichts (Jer. 6, 29). Auch das lassen wir gelten, dass der Mensch nicht von sich selbst zu der für ihn entscheidenden Wendung kommt, sondern irgend einen kräftigen Anstoß, einen Ruf von Gott erfahren muss; aber muss ihn doch hören und befolgen. Alles das sagt die Theologie auch, aber mit sehr viel unserer Generation unverständlich gewordenen dogmatischen Worten, statt es einfacher psychologisch zu begründen.

Von diesem Punkte ab wird die Welt, wie das Einzelleben, hell und verständlich.
Allerdings die Welt verständlicher als das Einzelleben, das, um des Wachstümlichen willen, das sein Grundwesen ist, sich der jeweiligen vollen Kenntnis entzieht. Gott allein kennt den Menschen. Er kennt sich selbst nicht. Die berühmte Forderung der alten Philosophie: »Erkenne dich selbst« ist eine Torheit, wie alle Selbstbiographien und tagebüchlichen Selbstbetrachtungen. Der Mensch sieht nie sich selbst, wie er ist, sondern nur seinen Weg vor sich, und diesen auch nur stufenweise und auf kurze Distanzen, wie bei einer Bergbesteigung: will er weiter voraussehen, so gerät er in Irrtümer.

Ein freier Wille, der sie schafft und regiert und seinerseits an keine so genannten »Naturgesetze« gebunden sein kann, welcher aber ein »Gott der Ordnung« ist, als Regel, nicht willkürlich regieren will. Ein freier Wille ihm gegenüber, der sich ihm ergeben kann, oder auch nicht, dem die volle Freiheit gelassen ist, auch das Böse, d. h. das Gottwidrige, zu tun auf seine Verantwortung hin, aber nicht die Macht, Gottes Ordnungen zu zerstören, die vielmehr alles Böse zum Guten wenden, nur nicht für den, der es vorsätzlich und ohne Reue verübt. Das menschliche Leben in seiner richtigen Ausgestaltung, ein den ewigen, unabänderlichen Gottesgesetzen zugewandter freier Gehorsam und dadurch eine Selbsterziehung zu immer höheren geistigen Lebensordnungen, oder ein selbstverschuldeter allmählicher Verfall der Fähigkeit dazu, eine Selbstverurteilung.

Des Lebens Glück die innere Übereinstimmung mit der göttlichen Weltordnung und damit das Gefühl der Gottesnähe, das Unglück die Entfernung von Gott, der beständige innere Unfriede und die schließliche Fruchtlosigkeit des ganzen Lebenslaufes. Und wenn dann immer noch etwas in uns bleibt, das zuweilen den Einwand erhebt, es sei vielleicht doch alles nicht sinnlich Wahrnehmbare bloße »Metaphysik«, d. h. für den Menschen und seine Lebenszwecke Einbildung, so muss man das ruhig ablehnen, so, wie man auch die allmählich schwächer werdenden Versuchungen zum Egoismus und zur kleinlichen Denkungsart ablehnt. Ein Glaube bleibt diese höhere Welt immer, aber ein zuversichtlicher und trostreicher Glaube wird sie allmählich, der mit einem inneren Schauen verwandt ist, während die niedere, auf der bloßen Sinnentätigkeit aufgebaute Welt im besten Falle auch kein vollständiges Wissen ermöglicht und in jedem Falle kein zuversichtliches, der Seele Ruhe verschaffendes, sondern bei allen edlen und nachdenklichen Menschen ein mit friedlosem Zweifel unauflöslich verbundenes und verbittertes.

So einfach war auch wirklich die historisch erkennbare Religion der ursprünglichen Inhaber der besten Gotteserkenntnis, bevor sie von den vielen Formsachen überwuchert wurde, die anfangs bloß »Zaungesetze« zur leichten Verhinderung des Unheils waren, nicht Lebensvorschriften, nachmals aber dasjenige mechanisch zu erzwingen beabsichtigten, was ganz Freiheit, Geist und Leben sein und bleiben sollte.
Vergleiche Jeremias 7, 22.23. 8, 8.; Jesaias 1, 11-18; Psalm 50, 7-23; Micha 6, 6-8; Hosea 6, 6; Joh. 4, 23.24; Markus 7, 6-13. Das Gesetz war nicht das Erste, sondern die Freiheit.

Das ist die historische Erklärung des Christentums, das Werk Christi, das (wie auch jede seitherige Reform) eine Rückkehr zum ursprünglichen Wesen des Gottesglaubens war, zu welcher das jüdische Volk als Ganzes sich nicht entschließen konnte, während es sonst die erste, durch ihren hervorragenden Geist weltbeherrschende Nation geworden wäre. Es ist vielleicht die größte Tragik der Weltgeschichte und zugleich der größte Beweis des freien Willens der Menschen in derselben, dass selbst Christus sein Volk, zu dem er sich doch ausschließlich gesandt zu sein erklärte,* nicht aus diesen Banden eines allmählich entstandenen Formalismus, zu dem der Mensch immer mehr neigt und der seither nur noch weiter ausgebildet worden ist,** zu einem rein geistigen Gottesdienst emporheben konnte.
*Matthäus 15, 24. 8, 11.12.. Auch das Werk Christi war, historisch genommen, ein von der freien Annahme der Menschen abhängiges und infolge dessen ein gebrochenes, wie die Werke Gottes öfter sind; es ging nicht ganz so, wie es gehen sollte und, mit Übereinstimmung der menschlichen Freiheit gehen konnte. Matthäus 23, 37.
**Der Lebenslauf eines ganz orthodoxen Israeliten ist infolge dessen jetzt nicht allein durch die schon sehr komplizierten Vorschriften des Gesetzes (der fünf Bücher Mosis) mit einer Masse von äußeren Lebensregeln umgeben, die er sich jeden Augenblick im Gedächtnis erhalten muss, um nicht eine schwere Sünde zu begehen, sondern es haben denselben die 36 Traktate des Talmud nebst ihren weiteren Exegesen und Erläuterungen noch eine Fülle von Auslegungen beigefügt, die zur Zeit Christi noch nicht vorhanden waren.


Und dass auch die übrigen Völker, die »wilden Zweige, die in diesen ursprünglichen, zahmen Ölbaum aufgepfropft sind«,* fast den nämlichen Formalismus in etwas anderer Art verfallen mussten, von dem sie nun immer wieder in jeder einzelnen Seele, die nur auf diesem historischen Boden zur Kenntnis der Philosophie Christi** gelangt, einen Prozess der Befreiung durchmachen müssen.
*Röm. 11, 17. Der alte Stamm bleibt deshalb aber immer doch der Stamm, unverloren, bis die Zeit seiner Befreiung vorhanden ist (3. Mos. 26, 44 und Matth. 21, 42-44), und darf daher nicht ungestraft verachtet, oder verfolgt werden. Wir Anderen sind eigentlich doch alles Leute, die nicht geladen waren, sondern nochmals auf allen Heerstrassen gefunden worden sind (Matth.22, 7-9).
**Hier erst beginnt für sehr viele Menschen unserer Tage der offene Widerspruch. Sie wollen wohl etwa noch an eine sittliche Weltordnung glauben, deren logische Notwendigkeit ihnen doch annähernd klar ist, aber sie kommen nicht über das Verhältnis dieser Person zu derselben heraus; das ist der »Stein des Anstoßes« noch heutzutage, wie damals, als die Juden die Lehre allein, ohne die Person, auch angenommen hätten.(Matth. 13, 54; Joh. 10, 33). Das Wort Christi, das er selbst seiner Zeit zu seiner Legimitation gegenüber den Jüngern des Johannes aussprach, ist noch heute die Legimitation für seine Person und sein Werk (Matth. 11, 4-6). Im übrigen sind die Spekulationen über die Natur Christi, die in der Kirche mehr Zank als Glück herbeigeführt haben, und in denen noch heute bei Manchen das ganze Christentum aufgeht, gar nicht die Hauptsache (wofür man sich auch wieder auf seine eigenen Worte berufen darf), sondern etwas, was zwar nicht bei allen Menschen gleich zuerst, wohl aber später sich ganz von selber erledigt, wenn einmal erst die menschliche Seele, aus eigener guter Erfahrung, seinen Worten Glauben zu schenken gelernt hat. (Matth. 11, 25-27. 28. 12, 32. 16, 17. Lukas 10, 22. 11, 27.28. 12, 10.Joh. 5, 24. 6, 29. 37. 7, 15-16. 8, 47. 9, 25. 39. 18, 37).


Es ist dagegen auch ein Beweis von der unerschütterlichen Wahrheit und ungeheuren Lebenskraft des Christentums, nicht sowohl, dass es seine direkten Gegner immer siegreich überwunden hat – das ist das Geringere und versteht sich bei einer jeden wirklichen Wahrheit ganz von selber* - , sondern dass es immer wieder mit seiner goldenen Klarheit und herzerquickenden Kraft** durch den dichten Nebel von allmählich sich ansammelnden menschlichen Lehrmeinungen, überflüssigen Erklärungen, ungesunden Vermutungen und die darauf basierte Menschenknechtschaft jeder Art hindurchbricht***, als die Lehre der politischen Freiheit, ohne die keine wahre und dauernde menschliche Gemeinschaft besteht, als die wahre Philosophie, die allein alle Fragen des menschlichen Daseins wirklich löst, und als der stets bereite Trost jedes einzelnen Herzens, dem kein noch so großes menschliches Unglück irgend einer Art auch nur entfernt gewachsen ist (Lukas 11, 31. 36. Matth. 6, 33. 11, 29)
*Vergl. Psalm 2 und 37 und Matth. 21, 42-44. Dafür braucht man nicht ängstlich zu sorgen; wer es tut, glaubt nicht recht an die Wahrheit.
** Das wirkt wie Alpenluft in der durch Unglück gebeugten, oder von dem Geschwätz des Tages und der Last des materiellen Denkens in den dumpfigen Ebenen des Alltagsdaseins ermüdeten Seele. Man muss sich nur die Mühe geben, selbst und ohne einen »Bädeker«, sondern nur mit dem Evangelium in der Hand und offenem Auge und Herzen dafür, auf diese Höhen zu steigen, statt davon bloß dann und wann Andere etwas zu predigen hören. Diese großartig friedvolle Stimmung, die allein diesen Worten innewohnt und die sie Jedem mitteilen, welcher sie mit Aufmerksamkeit liest, ist in der altsächsischen Evangelienharmonie Heliand vielleicht am vollkommsten beschrieben (Eingang der Bergpredigt, Vers 1286): »da saß des Landes Hirte angsichts der Männer….Er saß da und schwieg und sah sie lange an und war ihnen hold im Herzen, der heilige König, milde in seinem Gemüte. Seinen Mund erschloss dann des Waltenden Sohn, mit Worten lehrend viel herrlicher Dinge.« Hätten wir diese Botschaft direkt aus israelischem Geiste in deutsches Gemüt empfangen können, statt durch das spitzfindige Literatenvolk der Griechen hindurch, sie hätte noch tiefere Wurzel bei und gefasst.
***Selbstsucht und Hingebung an das Göttliche sind die zwei stets sich gleich bleibenden Prinzipien jedes menschlichen Lebens. Die Selbstsucht kann aber auch ganz gut neben einer sehr eifrigen Kirchlichkeit bestehen, die dann oft in völlige Blasiertheit ausläuft. Das Gesetz Gottes, das nur im Gedächtnis vorhanden ist, hat gar keine Kraft und erscheint bloß als eine unerträgliche Last, während es, innerlich erfasst, sich als ein köstliches Präservativ gegen alles Schädliche erweist und allmählich sehr leicht wird.


Da liegt also »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh. 3, 36. 6, 68. 14, 6), die reale geschichtlich begründete Philosophie, die nicht bloß auf Hirngespinst beruht, und er wäre wohl leichter, beiläufig gesagt, wenn es nicht zu viele Reiseführer und Begleiter gäbe; die einzelne Seele würde ihn oft besser finden ohne die allzu komplizierten »Anleitungen« (Lukas 18, 17. 9, 46.20, 46), die sie von Jugend auf dazu erhält und die oft etwas eher Abschreckendes haben. Erführt zu allernächst zur inneren Sicherheit (Sprüche 14, 26. Jesaias 40, 31), die den Mut zur eigenen weiteren Forschung gibt und die große Zuversicht, dass das Leben jedenfalls nicht umsonst gelebt sein werde; sodann zur geistigen* und oft genug dadurch auch zur körperlichen Gesundheit, die von der geistigen mehr abhängt, als umgekehrt, wie die heutige Medizin es noch annimmt,** welche mit bloß materiellen Mitteln ihrer Aufgabe, den Menschen gesund zu machen und zu erhalten, nimmermehr gerecht werden kann.
*Die vielen Liebhabereien unserer Zeit, Sammlungen, Agitationen und Sport jeder Art sind immer auch ein Beweis eines mit den eigentlichen Aufgaben des Lebens nicht beschäftigten und daher mit sich selbst uneinigen Gemüts (Jeremias 2, 13).
**Das ist wenigstens die Anschauung des Christentums von der Verbindung zwischen Geist und Körper, dass der erstere von dem letzteren durchaus nicht unbedingt abhängig sei, sondern im Gegenteil auf denselben einen sehr energischen Einfluss ausübe (vergl.Markus 9, 23. 29. Lukas 6, 19. Ap.-Gesch. 28, 6).
Daher sagt auch ein altes Kirchenlied:
»Keine größ’re Freud kann sein,
Davon grünen die Gebein,
Als des Geistes Fröhlichkeit;
Die mehr’ uns Herre Gott allezeit.«

Das wird wohl allmählich wieder etwas mehr auch in der Wissenschaft zu Ehren kommen, sobald die rein materialistische Übergangsperiode mit einem starken Defizit abgeschlossen hat.


Er führt auch zur sozialen Gesundheit; nicht durch die beständige Agitation der Massen für irgend einen Zweck*, sondern durch Gesundwerden der Einzelnen, aus denen die Masse besteht, woher allein die wirkliche »Sanierung« des Ganzen kommt, die sonst in den meisten Fällen auch nur eine äußere Heilung ist.
*Der gerade durch die Agitation mit Sicherheit alteriert und oft genug gänzlich verdorben wird (Lukas 17, 20-21).

Und er bezeugt sich fortwährend selbst ganz unbestreitbar, durch innere Befriedigung, Jedem, der die Wahrheit will und aufrichtig um jeden Preis sucht (vergl. Joh. 1, 12; 4, 14; 6, 35.37; 7, 17; 8, 12; 9, 25.39)

Es wollen sie aber lange nicht Alle, die scheinbar eifrig danach streben (Joh. 3, 19. Lukas16, 14-15).

Nur bei dieser Auffassung der Welt ist ferner Gerechtigkeit und Friede im Großen möglich.
Das ist das fünfte Weltreich, das alle anderen überwindet, in dem die Menschen friedlich nebeneinander leben können (Daniel 4, Jesaias 2 und 4), sonst ist jeder »ewige Friede« eine Illusion.

Ohne sie wäre in der Tat ein beständiger erbitterter Kampf ums Dasein und eine natürliche Geltendmachung des nationalen Egoismus notwendig, bei der immer nur die Stärksten siegen und eine zeitlang gewalttätig herrschen können; eine Hölle für die Armen und Schwachen – kein Himmel für die Starken, die auch in beständiger Furcht vor der Abnahme ihrer Kräfte leben müssen, in welchem Falle sie sofort, nach Art der Wölfe, von ihren Zunächststehenden beseitigt werden.
Ob der Stärkste ein einzelner Tyrann, wie die römischen Kaiser und Napoleon I., ist, oder eine Gesellschaft von Tyrannen, wie sie der Sozialismus notwendig an die Spitze stellen wird, ist sehr gleichgültig; übrigens endet jede Kollektivherrschaft notwendig in Einzelherrschaft.

Dass dem aber nicht also ist, das zeigt Gott deutlich auf jeder neuen Seite seiner Weltgeschichte, und man kann es auch im täglichen Leben beobachten, wie alles Schlechte zuletzt doch seinen Meister in seiner eigenen Mitte findet und immer wieder »die Sanftmütigen des Erdreich besitzen« und im Segen stehen (Matthäus 5, 5; Hoseas 14, 10; Psalm 37,11). Dass in der Menschheit doch ein beständiger Fortschritt zum Bessern vor sich geht, das ist überhaupt der stärkste Beweis für das Dasein eines Gottes, ohne das sie in der Tat nur durch einen intelligenten Despotismus in der Weise der besseren römischen Cäsaren zu regieren wäre, aber einer fortschreitenden Verschlechterung durch denselben notwendig anheim fallen müsste.

Ein historisch gebildeter Freund der Freiheit ohne Gottesglauben ist daher eine etwas unlogische Erscheinung. Nur mit diesem kann er fest an einen Fortschritt der Menschheit auf freiheitlichem Wege glauben und jedem beginnenden Tage freudig ins Auge sehen; sonst ist Furcht vor den Massen und infolge dessen Ergebung an irgend eine menschliche Regierungsmacht* in Kirche oder Staat sein wahrscheinlicher Lebensausgang.
* Das ist daher gegenwärtig neuerdings in hohem Grade der Fall, wie zu Anfang des Jahrhunderts. Geistvolle Atheisten sind meistens Anhänger einer absoluten Staatsgewalt. Beispiele sind Hobbes, Hegel, Schopenhauer, Goethe. Sehr viele heutige Bismarckfreunde und Sozialistenfürchter sind es ebenfalls nur aus innerem Atheismus. Würden sie mit einem naiven alten kirchlichen Sänger denken: »Was ist des Satans Reich und Stand? Wenn Gottes Geist erhebt die Hand, fällt alles über’n Haufen«, so würden sie viel ruhiger der Zeit, die allerlei Dinge gebiert, deren Ende schon bestimmt ist, ihren Lauf lassen. Die politischen Anschauungen sind überhaupt weit mehr, als man allgemein glaubt, ein Prüfstein für die Aufrichtigkeit und Tiefgründigkeit des religiösen Bekenntnisses.

Eine demokratische Republik vollends mitten unter autokratischen Monarchien wäre, wenn kein Gott bestünde, ein Ding der Unmöglichkeit, heute mehr noch, als früher, und es ist ein tief wahres Wort in seiner schlichten Einfachheit, mit dem die moderne Eidgenossenschaft in Aarau eröffnet worden Ist: »Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«

Ohne die politische Freiheit erhält sich übrigens auch die religiöse nicht lange, sondern es geht ebenfalls in Menschenknechtschaft über. »Kirche und Staat« sind ein unlösbarer Widerspruch; kirchlich und bürgerlich freie, sich selbst regierende Gemeinden dagegen ergänzen sich auf das beste und sind die allein ganz passende und sicherlich die Zukunfts-Form des Christentums.

Die Welt muss überhaupt in jeder Richtung durch Freiheit zur Vollendung gelangen, nicht durch Zwang und Gewalt irgend einer Art. Der freiwillige Gehorsam jedes Einzelnen und allmählich ganzer Nationen gegenüber der großartigen sittlichen Weltordnung ist der Zweck und das Ziel der Weltgeschichte.

Aber eben auch historisch, durch das Leben, und nicht philosophisch, durch das bloße Denken, vollzieht sich dieser alleinige wahre Fortschritt der Menschheit.

Du hast nun inzwischen, bis das erfolgt, die Wahl vor dir, lieber Leser, unter all den Wegen – zu deiner persönlichen Erkenntnis der Wahrheit und zu deinem persönlichen wahren Wohlergehen, wie zu demjenigen der Gesellschaft, unter die du gestellt bist -, welche man Philosophien oder Religionen nennt und die alle keinen reellen Wert haben, wenn sie nicht dazu anleiten. Beklage dich nicht über dein Geschick und komme dir nicht interessant vor, wenn du den richtigen Weg verfehlst und dann der inneren Befriedigung ermangelst. Verachte im Gegenteil gründlich den modernen Pessimismus, der in den allermeisten Fällen auf sittlichen Mängeln, oder moralischer Schwäche überhaupt, beruht und keineswegs etwas Großartiges ist. Wenn du an den hier empfohlenen Weg vielleicht noch nicht recht glauben kannst, so ist mir das sehr begreiflich, denn du hast ihn noch nicht ernstlich versucht und willst dich wahrscheinlich auch noch nicht dazu entschließen, seine Konsequenzen in allen Stücken auf dich zu nehmen.

Leichter ist es schon, bloß gelegentlich ein wenig zu philosophieren und irgend einem derartigen »System« anzugehören, was heutzutage keinerlei schwierige moralische Verpflichtungen nach sich zieht,* oder bei voller Gesundheit das Leben zu genießen, oder auch endlich irgend einer Kirchengenossenschaft sich oberflächlich und ohne Widerspruch anzuschließen, wie es heute Viele tun, statt selbst über alle großen Fragen des Lebens reiflich nachzudenken und darin eine selbständige Überzeugung sich zu verschaffen. Aber Alle, die diesen letzteren Weg mit Ausdauer gegangen sind, sagen, dass auf ihm zuletzt Freudigkeit, Kraft zum Leben und Sterben, die volle Übereinstimmung mit sich selbst (Jesaias 40, 31. Jeremias 17, 5-8) und die richtige Stellung zu der ganzen Welt gefunden haben, die sie suchten – das, was auch deine Seele, bewusst oder unbewusst, sucht und ohne das sie sich mit keinen anderen Gütern und Genüssen dieser Welt befriedigen lässt.
*Die moderne Philosophie ist darin in der Regel sehr indulgent und von dem alten Stoizismus weit entfernt; dazu braucht man bloß Schopenhauers kleine Schriften zu lesen, um von den eigentlichen Materialisten gar nicht zu sprechen. Das Erhebende in Schopenhauer, das mitunter selbst von Frauen betont wird, denen doch seine ganze Art widerwärtig sein muss, liegt bloß in dem Abscheu vor Scheinwesen, denen er in seinen kleinen Aufsätzen oft sehr gelungen und ohne allen Respekt vor den Götzen seines Tages äußert. So sehr auf Wahrheit angelegt ist eben eine bessere Seite, dass jeder solche kräftige Protest gegen Schein und Lüge in ihr ein Echo findet und befreiend auf sie wirkt. Die Menschen müssen sich mit ihrem eigenen Mund verurteilen, durch das, was sie selbst als ihren Lebenszweck proklamieren; sie können nicht anders; vollkommene, erfolgreiche Heuchelei, die auf alle Zeit täuscht, gibt es sehr wenig auf der Welt.

Wie Vieles versuchst du nicht, schon bloß um der äußeren Gesundheit, vollends um deines gesamten äußeren und inneren Glückes willen? Barfuß laufen und in nassen Tüchern zu Bette gehen, oder Pilgerfahrten, Gebetswochen und andere so leicht auszuhaltende, »geistliche Exerzitien« sind noch das Allerwenigste von gläubiger Einfalt, das du dir zumuten lässest; es gibt auch keine wirkliche Mühsal, keine wahre Torheit, keine geistige und körperliche höchste Anstrengung und keine Marter und Todesgefahr, die nicht schon Tausende um des Heiles ihrer Seele willen über sich genommen haben. Der Weg dazu liegt näher und ist viel einfacher. Höre zum Schluss, was ein gelehrter Mann aus der Reformationszeit dir darüber sagt, der ihn selbst nicht ganz zu Ende gegangen ist, zum rechten Zeichen und Denkmal dafür, dass es nicht am Wissen des Weges, sondern am Gehen desselben liegt.
(Christus spricht:)

»Wie seid ihr Menschen so betort,
Dass ihr nicht glaubet Gottes Wort!
Mein Zusag ich gar treulich halt
Und hab des Macht und vollen Gwalt.
Wie seid ihr denn so toricht Leut,
Die mir mißtrauen allezeit?

G’neigt bin ich mit Erbärmend zu dir,
Warum fliehst du denn nit zu mir
Als einer sich’ren freien Statt,
Da jede Schuld Vergebung hat?

Darum, o Mensch, vergißt du mich,
Und führt zum Tod dein Blindheit dich,
Gib mir kein Schuld, klag’ mich nit an,
Du hast’s dir selbst mutwillig tan.«
S. 212-244
Aus: Carl Hilty, Glück . 1896 . Frauenfeld J. Hubers Verlag, Leipzig J.E. Hinrich’sche Buchhandlung

Trost für Schlaflose Nächte
Das Licht der Wahrheit
Kapitel 3 des Ev. Joh. enthält noch zwei weitere sehr merkwürdige Sprüche, 19 und 21. Es fehlt auch heute nicht an Belehrung in der Welt; auch nicht daran, dass die Menschen wegen ihres aufgeklärten Verstandes den Worten Gottes nicht mehr glauben könnten, sondern sie wollen dieses Licht nicht um ihrer Taten willen, die das volle Licht nicht vertragen. Wollten sie diese ändern, so würden sie den Glauben sehr leicht und natürlich finden. Daher nützt auch alle Predigt so wenig, und daher suchen alle Kirchen durch ihre gemalten Glasfenster nicht gar zu viel Licht in ihre Räume zuzulassen, weil es ihnen viele ihrer jetzigen Besucher vertreiben würde.

Der andere Spruch sagt, dass dem, welcher wirklich der Wahrheit dient, um Bedeutung und Wirksamkeit bei der Welt nicht bange zu sein braucht. Denn das Licht beleuchtet ihn dann; er kann nicht im Dunkel bleiben.

Für nichts haben die Menschen in der Tat, trotz ihrer Fehler, ein so feines und geneigtes Ohr wie für die Wahrheit. Wenn dieselbe auch heute noch im fernsten Winkel der Welt redet, wie z. B. in dem unbedeutenden und im Sinne der damaligen Zivilisation »zurückgebliebenen« Judäa und Galiläa, so wird es rasch bekannt und gelangt von selbst zu tausend Ohren, ohne alle Reklame. Ob es dann aber Boden findet und Wurzel fasst, ist eine andere Frage, die Christus in dem bekannten Gleichnis Lukas VIII, 5-15 auseinandersetzt. S.324
Aus: Carl Hilty, Für schlaflose Nächte, 1901 Frauenfeld J. Hubers Verlag

Formeln und Geist
Nicht jeder, der zu mir sagt »Herr, Herr . . . « Mt 7,24
Es gibt ein verkümmertes, eingeengtes Christentum, das nicht gerade dem Geist Jesu entspricht und sich schon viele hochgemute Menschen entfremdet hat. Wenn dir am Reiche Gottes liegt, so laß dir das Religiöse nicht durch ein Begriffssystem ersetzen, sondern suche es an der Quelle, im Evangelium!

Die Geschichte des Christentums zeigt, daß seine echtesten Repräsentanten die wirklich frommen und heiligen Menschen sind, auch wenn sie nicht besonders bekannt wurden. Die kirchliche Institution ist gewiß unentbehrlich, aber bei vielen Offiziellen wäre zu fragen, wieweit sie wirklich die Religion Jesu Christi darstellen. Wahres Christentum hat seinen Prüfstein darin, daß es sich im täglichen Leben bewährt, liebevoller zu den Mitmenschen, unabhängiger von den Dingen, froher und hoffnungsvoller für die Zukunft macht — und eben damit ist es nicht Partei, sondern ist einfachhin Christi Religion. Ich glaube, daß Christus anzuhangen das Beste und daß es der Sinn des Lebens ist, im innersten Wesen ihm ähnlich, Gott gehorsam und gütig zu den Mitmenschen zu werden. S.29
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Weltübel
Wie kann gegen Gott ein Mensch im Rechte sein und rein erscheinen der Sterbliche? Hiob 25, 4
Daß uns an der gegenwärtigen Weltordnung manches mangelhaft erscheinen muß, ist namentlich angesichts des physischen und moralischen Elends zahlloser Menschen unbezweifelbar. Manche recht gut veranlagte Menschen werden darüber zu Atheisten, und wir erfahren gelegentlich von einem, daß ihn die atheistische Überzeugung mit der nämlichen unwiderstehlichen Gewalt einer Offenbarung überfallen habe wie den Paulus bei Damaskus die christliche. Was uns darüber beruhigen kann, ist zweierlei: Wir sehen erstens nicht alles, was für ein wirklich abschließendes Urteil maßgebend wäre, namentlich nicht, was auf dieses doch recht kurze Erdenleben folgt und dessen Ausgleich bildet. Dann aber liegt die Liebe, der Hauptteil unseres Glückes, doch stets und unter allen Umständen in unserer Hand. Ohne Liebe gibt es kein wirkliches Glück, mit ihr niemals ein vollständiges Unglück.

Den Menschen zuerst zu einem Glauben bringen zu wollen, wie es unsere Bekehrer anfangen, ist meist ganz vergeblich: man muß ihn erst zur Erkenntnis der Liebe bringen. Dann kommt der Glaube an das, was man liebt, ganz von selbst in den Menschen hinein. Das meint Christus im Evangelium: »Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben« (Joh 14,23). Die Liebe hat auch immer noch einen Platz in Menschen, denen ein Glaube unfaßlich ist; mit der Liebe kann man sie noch anfassen und ihnen zu einem Zusammenhang mit dem göttlichen Wesen verhelfen. S.43
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Christi Opfer – unser Hoffnungsgrund
In diesem seinem Willen, durch die Darbietung des Leibes Jesu Christi, sind wir ein für allemal geheiligt. Heb 40,40
Christus kam nicht bloß, am Schluß zu leiden und zu sterben, sondern auch vorher zu leben und zu zeigen, daß und wie ein besseres Leben möglich sei. In diesem Leben sollen wir ihm nachfolgen und dabei auch unser Teil leiden und Glaubensprüfungen geduldig annehmen und im Anschluß an ihn überwinden.

Er hat das Größte tun und das Schwerste leiden müssen, damit wir das viel Geringere, was uns treffen mag, auch für möglich halten und tun, zumal wir auch seine Kraft und Verheißung besitzen.

Die feste und eigentliche Grundlage des Lebens ist die, daß das Böse in der Welt und im einzelnen von rechtswegen schon besiegt ist und daß es sich bloß darum handelt, diesen Sieg auch tatsächlich für den einzelnen Fall geltend zu machen. Die Erlösung ist durch Christus ein für allemal geschehen. Ohne dies wäre es allerdings möglich, an dem Sieg des Guten zu verzweifeln; so aber ist diese Verzweiflung stets ein Mangel an persönlichem Mut und ein Verrat an der Sache der Menschheit. S.102
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Überwindung der Todesfurcht
Das ist die Verheißung, die er uns selbst verkündet hat, das ewige Leben. 1. Joh 2,25
Ein Fortleben der Persönlichkeit haben von jeher die edelsten Menschen geglaubt. Ohne dies würde das kurze irdische Dasein für niemand gänzlich der Mühe, gelebt zu werden, wert, für die meisten aber eine völlig unnötige und widersinnige Summe von mannigfachem Elend sein, die sich mit einer göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit nicht vereinbaren ließe. Deshalb ist der Gottesglaube mit der Vorstellung eines ewigen Lebens eng verknüpft.

Über die Art des Fortlebens läßt sich wenig sagen. Jedenfalls wird es Tätigkeit und Fortentwicklung zu größerer Vollkommenheit namentlich in der Liebe sein.
Die nächste Folge eines zuversichtlichen Glaubens an ein ewiges Leben ist das Verschwinden der Furcht im Leben und im Tode: wozu denn Todesfurcht, wenn er nur rasche Befreiung von allen Hindernissen ist, die unserem höheren Leben noch im Wege stehen? Eine weitere Folge des Unsterblichkeitsglaubens wird die verminderte Wichtigkeit aller körperlichen Dinge gegenüber den geistigen sein. Auch die Leiden, das Rätselhafte, was es in der Welt gibt, verlieren ihre große Bedeutung in einem Leben, das eine unendliche Fortsetzung hat. Sonst ist eine beständige Empörung gegen die »Ungleichheit und Ungerechtigkeit« nur zu begreifen. Selbstverständlich verlieren auch ihre große Bedeutung in einem Leben, alle äußeren Vorzüge wie Reichtum sofort an Bedeutung, wenn sie im Licht der Ewigkeit betrachtet werden.

Schließlich ist wirklich empfundene Nähe Gottes in der Menschenseele für die, welche sie erleben, der lebendigste Beweis sowohl von dem Dasein Gottes als von einem späteren Fortleben in einer dauernden Nähe Gottes. S.117
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Das wertvolle Leben
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so bittet, um was ihr wollt, und es wird euch geschehen. Joh 45,7

Was Jesus hier sagt, ist vielleicht der merkwürdigste Ausspruch der ganzen Bibel. Wenn es wahr ist, so ist ja eine stets bereite Hilfe für alle die Übel vorhanden, welche den Menschen während seines Erdenlebens bedrohen.

In den Reichen der Welt Friede und Freude für alle oder auch nur für die Mehrzahl zu suchen, ist trotz aller fortschreitenden »Kultur« eine Illusion, die wenige mehr haben. Was diese Kultur im besten Falle hervorbringt, ist eine Philosophie der möglichst wohlwollenden Weltklugheit, nach der jetzt noch die Bessern unter den gebildeten Menschen zu leben versuchen. Sie ist annähernd durchführbar, sofern sie von sehr glücklichen und geordneten äußeren Verhältnissen getragen ist, sonst aber in starker Gefahr, gelegentlich in Pessimismus umzuschlagen, und sie endet ganz regelmäßig nur in Resignation, nicht in Freudigkeit.

Der andere Lebenslauf ist der in Gottes Führung, welcher verheißt: »Ja, ich will euch tragen bis in das Alter« — »Euer Herz soll sich freuen, und euer Gebein soll grünen« (Is46,4;66,14). Der Unterschied zwischen einem Leben dieser Art und dem, wie es sonst gewöhnlich besteht, ist der, daß es dabei weder Angst noch Notwendigkeit von Zerstreuung oder von viel Erholung, noch endlich von Selbsttäuschung gibt, sondern daß man stets den Dingen, so wie sie sind, ins Auge schauen kann. Sodann braucht man dabei nicht einmal notwendig Gesundheit und ungebrochene Kraft, sondern die Schwachen und Leidenden können noch immer fröhlich wirken und leisten oft genug für die Menschheit mehr als die Gesündesten auf dem anderen Wege. S.159
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Wahres Christentum
Jetzt ist die Stunde da, da die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden. Joh 4,23
Das wahre Christentum hat eine Größe, von der viele Christen keine rechte Einsicht haben. Sie behandeln es als eine bloße Lehre, verbunden mit allerlei kleinlichen Anschauungen und äußeren Vorschriften, von denen Christus sehr weit entfernt war. Ein weitherziges Christentum ist gar nicht lax in der Auffassung der Lehre, aber anerkennend, daß es Menschen gibt, die besser sind als ihre Doktrin und daß überhaupt die Doktrin nicht die Hauptsache ist, sondern das Leben, die Liebe zu Christus, durch die man zur wirklichen Wahrheit gelangt. —

»Wer die Wahrheit tut, kommt an das Licht, und von seinen Taten wird offenbar, daß sie in Gott getan sind« (Joh 3,21). Es fehlt auch heute nicht an Belehrung in der Welt; auch liegt es nicht daran, daß die Menschen wegen ihres aufgeklärten Verstandes den Worten Gottes nicht mehr glauben könnten, sondern sie wollen dieses Licht nicht, weil ihre Taten das volle Licht nicht ertragen. Wollten sie diese ändern, so würden sie den Glauben sehr leicht und natürlich finden. —

Es fehlt (auch) an uns, wenn das Christentum keinen Kredit hat und die Wahrheit als solche nicht zur Geltung kommt. — Das Gesetz der Liebe, von dem Christus spricht: »Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet« (Joh 13,34), ist auch seither ein »neues« Gesetz geblieben. Im allgemeinen gilt als Grundsatz des Verhaltens der Menschen gegeneinander höchstens das Gesetz des Rechtes. Je nach dem, ob du das grundlegende Statut des Christentums als dein Lebensgesetz anerkennst und aufrichtig annimmst oder nicht, bist du ein Christ und darfst auch auf den übernatürlichen Schutz und Segen hoffen, der daran gebunden ist. S.185
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Der Pessimist
Nach Weisheit sucht der Spötter, doch vergeblich. Spr 14,6
Die Menschen, die sich entschuldigen wollen, daß sie nicht mehr Liebe haben, oder Pessimisten und Weltverächter geworden sind, reden beständig von den schlechten Erfahrungen, die sie mit der Liebe gemacht hätten. Angenommen, es sei so, und sie hätten es wirklich ernstlich mit der Liebe versucht— haben sie seither bessere Erfahrungen mit der Verachtung und dem Haß gemacht? Meist aber haben sie es nie ordentlich versucht, oder ihre sogenannte Liebe ist auch bloß Egoismus gewesen. Prüfe das redlich! —

Ob die Menschen dich lieben, dir dankbar sind usf., ist an und für sich ganz und gar gleichgültig für deinen inneren Fortschritt. Du sollst es auch nicht eifrig suchen. Gott wird dir schon so viel davon zufließen lassen, als förderlich ist oder der menschlichen Schwachheit nottut. Aber verwechsle es nicht mit »Ehre«! Dafür gilt in aller Schärfe das Wort des Herrn: »Wie könnt ihr zum Glauben kommen, da ihr Ehre voneinander annehmt, hingegen die Ehre, die vom alleinigen Gott kommt, nicht sucht?« (Joh 5,44). Das sollte sogar den größten Unterschied zwischen der Welt und dir bilden, daß du darauf verzichten und es Gott überlassen kannst.

Welche Bedeutung und Wirkung Er dir geben will? »Meine Gnade genügt dir« (2 Kor 12,9). Das ist das Bessere und die beste aller Gaben überhaupt. —

Die meisten Menschen haben keine Ahnung von dem Glück und der Freudigkeit, die auf dieser mangelhaften Erde doch, trotz allem Entgegenstehenden, zu haben ist. Sie suchen das Glück, wo es überhaupt nicht ist. S.207
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Berufung zum Dienste Gottes
In Gottesfurcht unsere Heiligung zu vollenden. 2 Kor 7,1
Nicht sinnen und sorgen, sondern beten und arbeiten ist in allem, und gerade in schwierigen Verhältnissen, das Richtige. — Man muß jeder guten Regung sogleich folgen und sie durch Ausführung unwiderruflich machen — auch in gleicher Weise jeder schlechten Regung sofort in Gedanken widerstehen. Das Vorwärts kommen im Guten wie im Schlechten — der Charakter im guten und schlechten Sinne — setzt sich weit mehr aus Kleinigkeiten zusammen, als man es sich vorstellt; und entscheidend gewonnen oder verloren hat der Mensch sein Leben, wenn ihm das Gute oder das Schlechte zur Gewohnheit geworden ist. —

Die wahre Größe eines Menschen besteht darin, daß er ein vollkommenes Instrument des Guten, oder besser gesagt, des göttlichen Geistes ist, der durch ihn spricht und handelt. S.237
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Praktisches Christentum
Bringt euch selbst als lebendige, heilige, Gott wohlgefällige Opfergabe dar! Es sei dies eure von Einsicht geleitete Gottesverehrung! Röm 12,1
Praktisch genommen, ist die Hauptsache im menschlichen Leben der einmal gefaßte Entschluß, stets seine Pflicht zu tun und auf keine Neigungen oder Einwände dagegen viel zu achten. Kommt dann dazu die Überzeugung, daß man, um dies zu können, an Gott glauben und mit Ihm in steter Verbindung stehen muß, so ist die Sache gewonnen und das Herz fest geworden. Solange aber nicht beides vorhanden ist, ist das ganze ungeheure Gerede von Religion und Moral fast nur ein leerer Schall. —

Ich möchte mein Leben nicht einem Gegenstand gewidmet haben, der mit der Förderung des Menschenwohles in einer allzu geringen direkten Verbindung steht, am allerwenigsten dem Vergnügen oder dem bloßen Gelderwerb. Daß manche in dem tiefen, täglich zunehmenden Gefühl eines »unnützen Daseins« nicht zu rechter Gesundheit der Seele und des Leibes gelangen, vielmehr die vorhandene noch mit beständiger Sorge dafür verschlechtern, ist ganz begreiflich. Ihnen sollte der Arzt vor allen Dingen sagen: Arbeitet! Dazu seid ihr berufen und verpflichtet! Interessiert euch für etwas Größeres als euer kleines Ich! —

Die Klagen über die Welt und ihr Treiben sind das Unnützeste, was es gibt. Wären wir, wie wir sollten und könnten, so würde sich vieles ganz von selber bessern. Das Christentum ist offenbar so gemeint, daß eine Gesellschaft von Menschen im Vertrauen auf Gottes Schutz und die beständige Nähe ihres Herrn ruhig ihren Weg geht und so viel als möglich Gutes tut, um es mehr durch ermutigendes Beispiel als durch Lehre auszubreiten. S.238
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Glaubensschwierigkeiten
Die Weisheit läßt sich finden von denen, die sie suchen. Weish 6, 13
So ist es nicht der Verstand, sondern in erster Linie etwas von anderer Art: die Neigung, die zwischen dir und der Welt des Glaubens steht. Der Verstand muß bloß rechtfertigen, was der Wille schon beschlossen hat. Im umgekehrten Falle, wenn die Neigung zur Glaubenswelt hinweist, wird man über die Verstandesbedenken immer hinwegkommen. Daher sagt die Bibel, das Verderben des Menschen sei die Sünde — Sünde aber ist jede Neigung, neben der der Gedanke an Gott nicht bestehen kann. Das steht in Wahrheit zwischen dir und dem Glauben, der das Glück deines Lebens sein könnte. Beseitige das Hindernis, dann kommt der Glaube ziemlich leicht und ganz von selber! S.252
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München


Du und die Tadler
Mit einem Streitsüchtigen streite nicht, zu einem Feuer trage nicht nach Holz herbei! Sir 8,3
Die Menschen kennen uns gewöhnlich besser, als wir uns selber kennen. Sie sprechen nur ihr Lob oder ihren Tadel nicht immer aus. Bei allen Vorwürfen oder Kritiken und Oppositionen muß man sehr gewissenhaft prüfen, was berechtigt daran ist, und daraus Nutzen ¬für die Zukunft ziehen — im übrigen aber, nämlich wenn man ganz recht hat, schweigen. —Ungerechtigkeit, Verfolgung und Demütigung durch Menschen sind uns zeitweise zu unserer Erziehung nötig. Aber alle, die mit Gott in Frieden stehen, werden zuletzt erleben, was beim Propheten Isaias steht: »Du sollst erfahren, daß ich dein Helfer bin und dein Befreier« (Is 60,16).
Als Regel genommen, ist es am besten, man schweigt zu Kritik. Denn die Besseren unter denen, die dich verletzten, sagen sich dann selbst das, was man ihnen sagen könnte, und noch schärfer — die andern aber suchen und finden in jeder Erwiderung eine Entschuldigung für ihr Verhalten.

Gegen heimliche Neider ist die beste Abwehr die, immer wieder neues Gutes zu produzieren. Dann stürzen sie sich schließlich in ihr eigenes Schwert oder gehen wenigstens still auf die Seite, wie der Teufel im Buche Hiob, von dem man gar nichts mehr hört, nachdem seine Bemühungen sich fruchtlos erwiesen. Nur einem kann man nicht ausweichen, wenn man auf ihre Kritik wenig achtet: für hochmütig gehalten zu werden — und manchmal ist sogar ein Körnchen Wahrheit darin. (Es gibt aber einen rechten Stolz: das Bewußtsein des guten Gewissens.) S.267
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Vorsätze
Nach Deinem Ratschluß geleitest Du mich, und am Ende nimmst Du mich auf in die Herrlichkeit. Ps 72, 24
»Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert«, sagt ein im ganzen sehr zutreffendes Sprichwort. Aber warum ist das so? Nicht bloß wegen der Wankelmütigkeit des menschlichen Herzens oder der Macht der gegenteiligen Einflüsse, die uns von allen Seiten umgeben, sondern sehr oft auch deshalb, weil unsere guten Vorsätze in der Tat unausführbar, der Kraft, der Zeit, den äußeren Umständen nicht angemessen sind.

Das ist in der Führung Gottes anders. Da wird dem Menschen nichts zugemutet, was er nicht kann oder was unzeitig oder für was die Kraft noch nicht vorhanden ist. Wenn du dich in Gottes Führung begibst, so kannst du dir alle Vorsätze sparen: es kommt eins ums andere und In der richtigen Reihenfolge alles, in der Form eines ganz deutlichen Anrufs und der Gelegenheiten an dich heran, und das bringt dich wahrhaft vorwärts. Das nennt ein Prophet schön: »An Seilen der Liebe gehen« (Os 11,4), wie ein kleines Kind sich von der Mutter führen läßt. Das ist noch besser als Vorsätze. Es kommt manchmal bei dem Bestreben, sich selbst zu bessern, mehr heraus, wenn man sich vorsetzt, alles Häßliche und Ordinäre zu meiden: man hat das mehr in seiner Gewalt als das Böse. Und der beste Vorsatz ist — das Gebet. Gott erweckt uns selbst, daß wir um das bitten, was ihm gefällt, und will uns dieses Gebet und den guten Willen, den wir von ihm empfingen, unendlich belohnen. S.268
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Die Macht des Bösen
Der Teufel ist zu euch niedergefahren in grimmem Zorne, wissend, daß er nur noch kurze Zeit hat. Off 12,12
Die Macht des Bösen ist unsere Furcht: sobald wir es nicht fürchten, wirkt es schwach.

Das Böse muß scheinbar siegen und triumphieren; dann bricht es zusammen — vorher nicht.

Dem wahrhaft Guten in der Welt wird, bis es hinreichend erstarkt ist, stets die Liebe und Anerkennung der Welt und ihrer Organe fehlen; es wirkt aber dennoch und wächst in dieser einsamen Stille. Daher muß jeder Mensch, der zu Wirksamkeit kommen soll, einmal im Leben und wohl auch mehrmals wählen zwischen einem Leben mit Erfolg und dem wahren Glauben. Denken wir an die Versuchungsgeschichte Jesu und jenes sein Wort: »Ehre voneinander — oder die Ehre, die vom alleinigen Gott kommt« (Joh 5,44).

Vermissen Sie nicht zu sehr die Strafen der Gottlosen dieser Welt!

Die Gottverlassenheit und Dunkelheit in einer lieblosen Seele ist ein Schicksal, das mit keiner anderen Strafe an Härte zu vergleichen ist. »Aber die Gestraften empfinden es nicht so!« Das ist meiner Erfahrung nach nur teilweise der Fall; sonst würden sie nicht so sehr nach Vergnügen, Anregung, Zerstreuung jagen oder zuletzt gar zur Flasche oder zum Morphium greifen, um ihr Elend zu vergessen. Wenn manche Menschen nicht so einfältig wären, alles Hohe und Vornehme oder Reiche zu bewundern, so würde dieses Gefühl des Elends bei den Gottlosen noch viel größer sein.

Die Hölle für die Bösen wird es sein, nur ihresgleichen zu finden. In der Welt beruht die Macht des Bösen ganz auf der Furcht und Glaubenslosigkeit der Lauen an ihre Sache. S.362
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Heilung durch den Geist
Ein fröhliches Herz bringt Gesundheit, ein trübes Gemüt läßt den Leib verkümmern. Spr 17, 22

Nach meiner Erfahrung im Leben entspringen die meisten Krankheiten nicht ohne Mitwirkung sittlicher Gebrechen. Bei dem großen Heer der Nerven- oder beginnenden Geisteskrankheiten ist dies sogar fast ausnahmslos die Regel. Die Ursache wird aber sehr selten behoben, oft sogar nicht einmal gehörig ermittelt. Manche solche Kranke schleppen sich dann ein halbes Leben lang durch Behandlungen, in denen sie den Scharfsinn der Ärzte auf die Probe stellen, und hören sie einmal gar von einem Wundermann, der alles heilen könne, so strömen sie zu Tausenden hin, sind aber gewöhnlich in kurzer Frist wieder ebenso krank wie vorher.

Die besten Heilungen, besonders von nervösen Krankheiten, erfolgen da, wo ein kräftiger, wahrer Glaube und ein entschiedener Entschluß, das wiedergewonnene Leben besser anwenden zu wollen als bisher, dem heilenden Bemühen entgegenkommt.

Es kommt vor, daß kränkliche Leute ihre Pflichten viele Jahre hing durch treu und fröhlich erfüllen, weil sie gar nicht in der äußeren Lage sind, viele Kuren an sich wenden zu können, während andere in beständigen Kuraufenthalten ein innerlich trostloses Leben führen. Vielen solchen könnte geholfen werden, wenn man ihnen einfach die Pflicht, etwas zu leisten, begreiflich machen könnte. Manchen stets kränkelnden Menschen fehlt sogar in Wirklichkeit gar nichts weiter als eine rechte Pflicht und Lebensaufgabe. Lege ihnen eine solche auf, nach vollstem Maßstab ihrer Kraft, so werden sie dadurch gesünder. Das Allergesündeste ist eine rechte, wahre Liebe: vermöge der Verleugnung alles kleinlichen Egoismus, der darin eingeschlossen ist. S.372
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München

Innere Entwicklung
Ich bin voll Zuversicht, daß Er, der das gute Werk in euch begonnen hat, es auch vollenden wird.
Phil 1,6
Auch die innere Entwicklung des Menschen ist eine ganz stufenweise und macht keine auffallenden Fortschritte. Man muß lernen, Geduld mit sich selbst zu haben. Ein sicherer Höhepunkt ist dann erreicht, wenn ein Mensch ganz natürlich und ohne Anstrengung darauf verzichten kann, an sich selbst zu denken und alles unwillkürlich nach dem Maßstab seines Wohlbefindens und Behagens zu beurteilen, vielmehr sich nur als Diener einer großen Idee betrachtet. Das nennt die Heilige Schrift einen »Knecht Gottes« (Is 49, 1). —

Wenn die Menschen ohne eigenen Versuch es glauben könnten, wie beglückend das Leben ist, wenn man das eigene Glück nicht sucht, sie würden alle ohne Ausnahme zu diesem System übergehen, und die Welt wäre mit einem Schlage geändert. —

Vielleicht muß jeder rechte Mensch in seinem Leben einmal »unter die Übeltäter gerechnet werden« (Mk 15,28). Hat er dann Gott zum Trost, einen Trost, der unendlich über alles menschliche Urteil hinaus trösten kann, hat er das gute Gewissen, das aus dem Bewußtsein der göttlichen Hilfe entsteht, dann trägt er das Urteil der Menschen leicht. Dadurch wird er erst ein tapferer Mensch, den Gott brauchen kann. Vielleicht ist jeder vorher ein Feigling, der sich fürchtet, wo es gilt, für das Reich Gottes da zu sein. —

Wenn einmal die ganze Gedankenwelt dahin gerichtet ist, zu fragen:
»Was kann ich jetzt Gutes und Rechtes tun?« statt: »Was kann ich Schönes und Angenehmes genießen?« dann wirst du erst eigentlich wissen, was Leben heißt. S.374
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München