Carl Hilty (1833 – 1909)
Schweizer
Philosoph und Staatsrechtlehrer, der zum Chef der schweizerischen
Militärjustiz avancierte sowie zum Mitglied des schweizerischen Nationalrats und des Haager Schiedshofs berufen wurde. In seinen religiös-schriftstellerischen
Arbeiten wusste er biblische Überlieferung mit seinen – durch
tiefsinnige Lebens- und mystische Gotteserfahrung geprägten Gedanken - in philosophisch einleuchtender Manier zu verbinden. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Im
Licht der Ewigkeit
Der wirkliche
Glaube
Der erste Glaubensartikel einer künftigen,
lebenskräftig wiederhergestellten christlichen Kirche wird mutmaßlich
lauten müssen:
»Ich glaube an ein e w i g e s Leben«.
Der wirkliche Glaube an Gott, der überhaupt allem wahrhaft guten zugrunde,
ist eigentlich gar nichts anderes als die sukzessive
Erfahrung seiner Existenz und Gnade.
Die »Nähe Gottes« ist nicht bloß
als eine Möglichkeit an manchen Stellen der Heiligen Schrift ausdrücklich
zugesichert, sondern sie ist von vielen Menschen schon in ihrem Lebensgange
wohltätig erfahren worden und bewiest sich auch heute noch an
jedem, der sie erfahren will . . .
Es ist eine herrliche Tatsache, dass
man diesen freudigen und kräftigen Geist gewissermaßen von außen
her haben kann, ohne ihn in sich erzwingen zu müssen. Freilich nicht auf
ein bloß halbes, vorübergehendes Verlangen hin oder mit unredlicher
Seele. Wo aber ein ernsthaftes Begehren, ein wirklicher Entschluss, die Wahrheit
zu finden und ihr dann auch zu gehorchen, vorhanden ist, da braucht es keine
Opfer, keine Priester und keine andere Tat als diese »Wendung«
zu Gott, so tritt innerer Friede, wenigstens in einem gewissen Grade
ein, der immer mehr zunehmen kann.
»Ach, dass sie ein Herz hätten, mich zu fürchten,
so dass es ihnen wohl ginge und ihren Kindern ewiglich«, wünscht
Gott selbst durch den Mund eines seiner Verkündiger. Er kann nicht zwingen
dazu – obwohl seine Anregung durch äußere und innere Vorkommnisse
oft hart bis an die Grenze der sanften Nötigung geht, der aber doch noch
Widerstand geleistet werden kann -, und wir können es noch weniger. Aber
wir wünschen es dringend für alle, die wir lieben, dass sie nicht
ohne das Allerbeste, was dieses Leben bietet, das Gefühl
der beständigen Nähe Gottes und des Friedens mit ihm, aus demselben
scheiden müssten.
Ist die Erfahrung einmal gemacht, was
kaum wieder vergessen werden kann, so handelt es sich darum, sie festzuhalten,
mit anderen Worten, sich so zu verhalten, dass sich dieser Geist nicht
wieder zurückziehen muss . . .
Für die, welche der besseren Stimme gehorchen, bewegt sich das Leben fortan
in einem ganz einfachen Syllogismus (Schlussfolgerung).
So wie sie sich innerlich von Gott entfernen, oft unbewusst,
sind sie nicht glücklich, es ist etwas zwischen sie und die göttliche
Nähe getreten, das wieder entfernt werden muss; sind sie aber freudigen
Geistes, so wissen sie, dass sie auf dem richtigen Wege sind, auf dem ihnen
nie etwas wahrhaft Übles begegnen kann.
So entsteht Sonnenschein im trüben
Leben, freudiger Geist statt eines beständig traurigen Herzens, das nur
äußerlich eine wohlgemute Maske trägt, bis die Vorstellung zu
Ende ist. Wer diesen freudigen Geist hat, geht fortan leichteren Schritts durch
alle Schwierigkeiten dieses Lebens, bekommt zunächst Lust zu seiner Arbeit,
die sein »irdisches Teil«ist, und bekommt
meistens auch alles andere überschwänglich, als Gabe und mühelos,
was er früher mit viel Angst und Sorge sich anzueignen oder festzuhalten
strebte, mit der Macht und Kraft dazu, es in wahrhaft königlicher Art zu
genießen . . .
Die Worte des Evangeliums Mtth. 6, 33. 34 sind
fortan die höchst einfache Lebensweisheit und das Rezept für ein glückliches
Dasein. Aber der feste Glaube an Gott und seine beständige
Nähe gehört dazu; ohne das wäre das Nichtsorgen eine Torheit,
das wenden alle Nichtglaubenden mit vollkommen richtigen Menschenverstande ein,
und viele, die diesen Glauben bloß zu haben meinen, weil er ihr äußerliches
Bekenntnis ist, gleichfalls. Es ist nicht möglich, das zu befolgen ohne
einen wirklichen Glauben an Gott und ohne seine reelle Nähe.
Die Hindernisse müssen erst fort, die
zwischen dir und Gottes Kraft stehen. Gott kann dir nicht recht nahe kommen,
solange sie da sind, und das musst du, dem Willen nach,
selbst tun. Dafür gibt es keine Stellvertretung. Welche Hindernisse
es gerade bei dir vorzugsweise sind, weißt du selbst ganz genau, wenn
du es sehen willst. Die gewöhnlichsten
sind: Sorge, Geiz, Eitelkeit, Ehrgeiz, Genusssucht, Menschenfurcht,
Hass oder ungehörige Liebe und noch
andere Nuancen der blinden Selbstsucht, welche die gemeinsame Grundlage von
dem allem ist. Das muss also fort. Sage nicht, du wolltest es wohl, könntest
es aber nicht. Das letztere wäre an sich ganz richtig; sonst, wenn wir
uns selbst von alle dem befreien könnten, brauchten wir nur eine vernünftige
Philosophie und keinerlei Religion. Das ist die Ansicht und der große
praktische Irrtum aller »Ethiker«.
Aber es liegt eben doch nicht am Können, sondern am Wollen, und sehr richtig
sagt eine berühmte Heilige des 16. Jahrhunderts, dass Gott alles selber
tue, sobald wir ihm unseren Willen dazu
gegeben haben. Damit fängt der bessere Weg an; dann kommt auch der Glaube,
soweit er jeweilen erforderlich ist, ganz von selbst.
Durch
den Tod muss jeder einmal durch
Frage dich einmal ernstlich, ob das bei dir der Fall ist, ob du wirklich bereit
bist, dich von allem , was dich an größerer
Gottesnähe hindert, befreien zu lassen von
jemand, der es könnte. Du wirst bald
sehen, wie aufrichtig du bist und dass du doch davor, wie vor einem schwersten
Tode, dich noch fürchtest.
Durch diesen Tod im Leben musst du einmal durch; sonst
ist dir nicht zu helfen.
Soviel ist ganz gewiss, dass zwar Zustände voller Licht und Freudigkeit
und wieder von Dunkelheit und Selbstvernichtung in unserer Seele abwechseln,
solange wir leben, und dass unser inneres Leben nicht gesund wächst,
sondern leicht in einer Täuschung befangen ist, wenn allzu lange nur der
eine Zustand herrscht. Aber der auf Gott gerichtete Wille und die
in der tiefsten Seele festgewurzelte Übereinstimmung mit ihm ist dennoch
eine Vollkommenheit, die möglich ist
und aus der die immer zunehmende Ruhe des Geistes
erwächst, welche der Prophet Jesaias das »Land
der Vermählung« genannt hat, in das, nach großen Wüstenwanderungen,
die Seele endlich doch dauernd eingeht. Es ist ein Seelenzustand, in welchen
sich der sich stufenweise läuternde Mensch noch auf der letzten Stufe seines
irdischen Daseins gelangen kann und welcher dann den völlig natürlichen
Übergang zu einem fernen, höher organisierten Leben bildet. Es ist
dies der Zustand, in welchem kein Widerstreit gegen
das Gute und Wahre in ihm selbst mehr
besteht, sondern alles Widrige nur noch von außen her an ihn gelangt,
im Innern aber bereits der volle Friede
mit Gott und dadurch auch mit sich selbst eingetreten ist, welchen die »Gottlosen«
nicht kennen und nicht genießen können.
In dieses Land gelangt man nach der letzten großen Schmelzung in einem
»feurigen Ofen« des Unglücks und
der Anfechtung, sofern sie im Glauben an Gott überwunden worden ist und
alle Bestandteile menschlicher »Eigenheit«
so vollkommen ausgeschieden und verzehrt hat, als es in diesem Leben überhaupt
möglich ist.
Gottesnähe
und Gottesferne
Die letzte erreichbare Stufe aller Lebensweisheit ist
es, voll einzusehen, dass Gottesnähe und Gottesferne
eigentlich dasjenige ist, worauf es im Menschenleben allein ankommt,
womit dann auch die sonst kaum lösbaren Fragen über Gut und Böse,
Lohn und Strafe, Zeit und Ewigkeit in ein richtiges Licht gestellt werden. Weiter
in der theoretischen Erkenntnis kann niemand gelangen. Die
Gottesnähe ist aber tatsächlich kein Zustand, der für
uns auf Erden immer in gleicher Weise unverändert fortdauert, sondern ein
Sonnenschein, der bald heller, bald getrübter sein kann, je nachdem die
Wolken oder wenigstens Nebel dazwischentreten. Was feststehen muss, ist allein,
dass diese geistige Sonne existiert und beständig leuchtet, wenn nicht
etwas zwischen ihr und uns sich befindet, und dass dieses Etwas nichts anderes
sein kann als unser eigener, dem Willen Gottes entgegenstehender Wille,
das, was die bisherige Theologie »Sünde«
genannt hat. Wie einfach ist eigentlich diese grundlegende Wahrheit und wie
spät gelangt man dennoch dazu, nicht etwa wegen zu wenig, sondern weit
eher wegen viel zu viel Gelehrsamkeit! Es musste ein ganz
natuwissenschaftliches-materialistisches Zeitalter kommen, um uns zuerst
von einer leblos gewordenen Dogmatik einigermaßen zu emanzipieren und
wieder ein Verlangen nach einer wirklichen
Verbindung mit Gott in vielen Seelen zu wecken, denen er entweder eine konventionelle
Redensart oder dann etwas geworden war, das sie weit eher fürchteten und
im Grunde hassten als liebten.
Was das
menschliche Leben eigentlich ist
Es liegt hier (bei der Einstellung zum Alter) eben
diese große und größte aller Fragen zugrunde, was
das menschliche Leben eigentlich ist.
Ob eine bloße, fast zufällige Tatsache,
ohne weitere Erklärung und ohne dauernden Zweck für
den einzelnen, oder eine
großartige Schulzeit für seine sittliche Entwicklung
und eine Vorstufe zu einem anderen Geisteszustand. Wenn das Letztere
die Wahrheit ist, so dass jeder, sogar der Selbstmörder z. B., fortleben
muss, er mag wollen oder nicht, so gibt es kein anderes Mittel, ein solches
unaufhörliches Dasein erträglich zu machen, als es zu veredeln und
mit einem guten Inhalt zu versehen. Es muss dann eben alles innerlich verarbeitet
und überwunden werden, nicht bloß äußerlich abgetan oder
ausgelebt. Und das Alter erscheint in diesem Lichte nicht als das
letzte Stück des Lebens, sondern als ein
Stück, und zwar eher als das beste, weil das
ausgebildete: jedenfalls als das wichtigste,
weil es entscheidend für die Art der nächsten Fortsetzung sein muss.
Weshalb misslingen so viele gut gemeinte Dinge in der Welt? Etwa, weil sie nicht
klug angefangen sind oder nicht »den Verhältnissen
genügende Rechnung tragen«, heißt mit anderen Worten,
nicht die Schwäche und die geringeren Eigenschaften der jeweilen lebenden
Menschen mit in Rechnung ziehen?
Das würde bedeuten, dass doch nicht Gott die
Welt regiert, wenigstens nicht allein, sondern
dass er einen Mitregenten hätte, der die menschliche
Klugheit ist, wenn nicht gar noch einen andern.
Vielleicht misslingen sie deshalb, weil sie nicht ganz
nach Gottes Intention sind und weil Gott denen, die ihm dienen wollen, das noch
weniger nachsieht als den anderen.
Wir werden zu nichts gezwungen; wir sollen Gottes Willen
aus freien Stücken tun und von unsrigen nichts dazutun. Das ist
der Grundgedanke der christlichen Religion.
Und fast zu jedem Menschen, der das aufrichtig will, geschieht an irgendeinem
Punkte seines Lebens wohl das ernste Wort: »Da du
jung warst, gürtest du dich selbst und gingest, wohin du wolltest. Wenn
du aber alt wirst, wird dich ein anderer gürten und führen, wo du
nicht hinwillst«. Der reine Gotteswille ist
unwiderstehlich und siegt stets, sooft er von Menschen frei gewollt und getragen
ist: sonst wenn das nicht wäre, könnte man gar nicht wirklich an Gott
glauben. Denn ein Gott, der keinen bestimmten Willen hat oder seinen willen
nicht durchsetzen kann oder es nicht will, ist weder denkbar noch akzeptierbar.
. . . Selten zu jeder Zeit sind Menschen, die sich führen lassen und wissen
dass »die göttliche Torheit weiser ist als
die Weisheit der Menschen«. Diese allein haben mitunter dem Laufe
der Welt eine neue Richtung gegeben, denn durch sie allein kann und will Gott
ausführen, was er eigentlich haben will. Das andere steht unter seiner
Geduld.
Der
König der Schrecken ist nicht der Tod
Der König der Schrecken ist nicht der Tod,
sondern die unvergebene Schuld und das
daherige unbereite Sinken in eine düstere trostlose
Gottesferne.
Der Tod ist an sich gar nichts Schreckliches, nicht
einmal etwas nicht Wünschbares, und wer ihn noch so sehr fürchtet,
ist sicher auch noch nicht auf dem rechten Wege
des Lebens. Furchtbar ist allein der Rückblick im Alter auf ein ganz verfehltes
und nutzloses Leben oder auf eine aufgehäufte große Schuld ohne Vergebung.
Auch vergehen ja nicht wir, sondern die
jetzige Welt vergeht, das ist der eine
große Gedanke, der uns über alle Schrecken
der Ungewissheit erheben muss. Der andere glanzhelle Punkt in diesem,
rein verstandesmäßig angeschaut, unaufhellbaren Dunkel ist der Gedanke,
dass der Herr alles Daseins, den wir bereits hier als
einen zuverlässigen Freund kennen gelernt haben, uns auch dort ganz das
nämliche sein muss, was er hier war, bloß näher verbunden und
klarer erkannt.
Seine Stimme werden wir, das wissen
sogar alle, die schon einmal nahe an der an der dunklen Ausgangspforte
dieses Lebens gestanden haben, zuletzt
noch vernehmen können, wenn alles
andere bereits hinter uns versunken ist.
Der Mensch bedarf überhaupt keines Endgerichts, sondern
er richtet sich selber, indem er nur in dem Zustand leben kann, dessen
er fähig ist. Sein Himmel und seine Hölle ist
der verschiedene Grad der Entfernung von Gott, der nun offenbar
wird. Was wir sind, das bl eiben wir;
der sogenannte Tod löst nur eine körperliche
Umhüllung der geistigen Persönlichkeit, sei sie nun stark oder schwach
entwickelt, auf, und dieselbe muss sich nun selbst und allein in den neuen Bedingungen
einer Fortexistenz zurechtfinden.
Wohl ihr, wenn sie es fröhlich tun
kann und nur ein Hindernis eines vollkommeneren
Könnens behoben ist.
Dann »ist der Tod, der tausend Menschen schreckt,
Für uns ein R u f , der uns belebt und weckt«.
Die
Vermehrung der Liebeskraft
Nur mit Liebe ist alles zu überwinden, ohne
sie befindet man sich lebenslang in einem Kriegszustand mit sich und anderen,
ohne ein anderweitiges Resultat, als Ermüdung und zuletzt Pessimismus oder
selbst Menschenhass zu erreichen. Liebe ist aber immer
ein schwerer Entschluss zuerst und dann ein langes beständiges Lernen an
Gottes Hand, bis man es kann, natürlich oder angeboren ist sie uns keinesfalls.
Sie verleiht dem Menschen, der sie schließlich besitzt, nicht nur
mehr Kraft, sondern auch mehr Intelligenz und mehr Ausdauer als irgend etwas
anderes, denn sie ein Stück ewigen Wesens und Lebens, das nicht altert
wie alles Irdische.
»So stark ist Liebeskraft, dass selber Gott liebeigen
Dahin, wo er geliebt sich fühlet, hin muß neigen.« (Rückert)
Wer dieses Gefühl voll besitzt, der ist über
alle Schwierigkeiten dieses Erdenlebens hinausgekommen. Das Leben wird
ungemein einfach, wenn man stets nur bedenkt, was Gottes
Wille und Meinung in jedem Falle ist – was man in der Regel sehr
wohl wissen kann -, und das gerne tut, indem man allen Egoismus entschlossen
aufgibt. Dann wird alles klar, der Weg ist offen, der Mut und die Kraft fehlen
nicht; aber unser Fehler ist, dass wir meistens diesen
Weg lieber nicht gehen wollen und dazu erst beständig durch schwere Erlebnisse
auf dem entgegengesetzten Pfade gezwungen werden müssen.
Der Welt kann jetzt nur auf eine Weise geholfen werden. Dadurch, dass wieder
mehr Liebe und damit mehr Kraft und mehr Glücksempfinden
in sie hineinkommt.
Es handelt sich nicht um Glück im Leben, das überhaupt nichts Objektives
ist, sondern um ein Gefühl des Glücks, und dies entsteht fast ausschließlich
durch Liebe, die man besitzt oder empfängt.
Die Entwicklung und Ausbreitung der Liebe ist jetzt das
Problem und das Wachstum des Lebens.
Die wahre Liebe kann einem Menschen kein Schicksal nehmen, es fehlt ihr auch
nie an Gegenständen und Motiven, die ganze Welt ist voll davon und seufzt
nach ihr wie nach nichts anderem, und selbst der Tod kann
sie nicht aufheben; sie ist vielmehr die reellste Bürgschaft für die
Unsterblichkeit.
Aus der Gottesliebe entsteht dann unfehlbar die wirkliche Liebe zu allen seinen
Geschöpfen, die keine Form der Selbstliebe und noch weniger eine bloße
Denkform ohne tatsächliche Wirkungen ist.
Die Probe lässt sich leicht machen. Zunächst in sich selbst durch
das Kraftgefühl, das die nächste Wirkung dieser Liebe ist, mittels
welchem der Mensch nun nicht nur sich selbst und seine schlechtere Natur zu
überwinden vermag, sondern auch allen, selbst den größten Schwierigkeiten
des äußeren Lebens ohne Schrecken begegnen imstande ist. Sodann
durch das Glück und den Frieden, den er in dieser Liebe empfindet, die
nicht entfernt ähnlich irgendeinem andern Glücke sind . . .
Außerhalb des Menschen sind die Zeichen und Folgen der Gottesliebe zunächst
die Natürlichkeit der Menschenliebe, die nun selbstverständlich wird
und daher auch von anderen instinktiv empfunden wird. Namentlich die Armen und
Kleinen täuschen sich darin nie, und selbst die Tiere haben ein gewisses
Gefühl davon. Auch das, was man die »Geistesgaben
der ersten Christenheit« nennt und nun teilweise wieder zu erwecken
strebt, ist, soweit es nichts Gemachtes ist, sondern Realität besitzt,
nur ein Ausfluss dieser Liebe Gottes, die eben
in der Lage ist, dessen Kraft in dieses ohne ihn immer noch mehr verarmende
Leben herabzuziehen.
Das ist das, was wir gegenwärtig am nötigsten hätten. Dazu gehören
aber zuerst wieder einzelne Menschen, die »bei der
ewigen Glut wohnen« können (Jes. 33,
14).
Es handelt sich heute gar nicht bloß um Reform von Kircheneinrichtungen
oder um neue philosophische oder naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sonder
wir stehen jetzt vor der Aufgabe einer Vermehrung
der Liebeskraft in der Welt.
Wenn man einmal ganz in das Reich der Liebe eingetreten ist, dann wird die
Welt, so mangelhaft sie ist, dennoch schön und reich: denn sie besteht
aus lauter Gelegenheiten zur Liebe.
S.35ff.
Aus: Carl Hilty, Vom Sinn dieser Zeit im Licht der
Ewigkeit. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Im Furche-Verlag / Berlin
Glück
Die
Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichts (Lukas
16, 8)
Wir wagen es nicht, die volle Wahrheit dieses Worts zu bezweifeln, können
aber doch nicht umhin zu bemerken, dass sich darauf mehr, als auf jede andere
Autorität, die oft gehörte Anklage gegen den Idealismus begründen
lässt, wonach er in der Theorie zwar recht schön, in der Praxis aber
undurchführbar sei.
Wenn das einmal feststeht, dass Lebensklugheit und Idealismus unvereinbar sind,
so werden weitaus die meisten Menschen, die auf Erden zu leben und durch dieses
Leben zu kommen gezwungen sind, zu der ersteren als dem Notwendigen
greifen, selbst wenn sie den letzteren nur mit einem Seitenblick
tiefen Bedauerns im Stiche lassen. Klugheit ist für
diese, Licht eben nur für eine andere Welt! An diesem Stein des
Anstoßes scheitern daher noch Manche, die die gewöhnliche Klippe
des gemeinen Menschentums, des genusssüchtigen Egoismus, längst überwunden
haben. Mangel an Klugheit, oder sogar Dummheit lässt sich überhaupt
auch der nicht gewöhnliche Mensch sehr ungern nachsagen. Dazu gehört
schon eine große innere Sicherheit und selbstüberwindende Kraft.
Siehe auch Jesaias XLII, 19 und XLIII,
8.
Was zu allernächst in diesem gefährlichen* Worte liegt, ist eine große
Anerkennung der Weltkinder. Dieselben werden überhaupt
nirgends in den Worten Christi so scharf behandelt, wie die Geistlichen von
Beruf und die pharisäischen Frommen. […] Es sind Leute, die meist
wissen, was sie wollen, und das, was sie sich vorgenommen haben, auch mit Fleiß
und Ausdauer, unter Beiseitesetzung alles Entgegenstehenden verfolgen, - worin
es ihnen die »Kinder des Lichts«, wenigstens in ihren Anfangsstadien,
nur selten gleichtun. Sei sind auch gar nicht unempfänglich gegen etwas
Höheres und Besseres; ihr Herz ist nicht der harte Fels, auf den der Same
des Guten ganz vergeblich fällt, sondern bloß der auch noch mit anderem
Gestrüpp überwachsene Boden, auf dem er zwar keimt, aber nicht recht
gedeihen kann, und jedenfalls können sie sich darauf mit Grund berufen,
dass nicht sie es vorzugsweise gewesen sind, die in der Geschichte Kreuze und
Scheiterhaufen für die Bekenner der Wahrheit errichtet haben.
*Das Kapitel XVI des Ev. Lukas ist
überhaupt eigentlich das gefährlichste Schriftstück, welches
gegen die öffentliche Ordnung im Sinne unseres modernen Polizeistaates
geschrieben worden ist. Welche Konsequenzen würde das hervorrufen, wenn
man einmal ernstlich und allgemein glaubte, dass der Mammon ungerecht sei und
durch seinen bloßen Gebrauch, ohne irgend welche sonstige Schlechtigkeit
(die ja dem reichen Mann keineswegs nachgesagt wird), zur Verwerfung führe.
Oder dass Alles, was hoch ist unter den Menschen ein Gräuel
sei vor Gott. Und welche tiefe Ironie liegt in dem Lob des
ungerechten Haushalters gegen das, was Eigentum heißt und oft sogar mit
dem Prädikat der »Heiligkeit«
versehen wird.
Man muss sich also unter Weltkindern keineswegs ohne weiteres schlechte oder
für das, was man Tugend nennt, unempfängliche Leute vorstellen. Sie
sind im Gegenteil meistens besser, als sie sich den Anschein geben zu sein,
und es gibt unter ihnen sogar sehr viele »umgekehrte
Heuchler«, die ihre besten Gedanken verbergen. Was ihnen fehlt,
ist gemeinhin bloß der Mut, gut zu sein, das hinreichende Vertrauen auf
eine sittliche Weltordnung, die sicher genug bestehe, um den ihr sich Anvertrauenden
auch über die Schwierigkeiten des »Kampfes
um das Dasein« hinwegzuhelfen. In der Tat ist diese Sicherheit
keineswegs augenscheinlich vorhanden; im Gegenteil, wer die Wege aller Welt
verlässt, hat zunächst die Sicherheit vor Augen, dass er von ihr auch
verlassen wird und vielleicht den größten
Teil seines ferneren Lebensweges im Dunkel über diese Frage
zubringen muss, ob er wirklich das bessere Teil erwählt habe. So wenigstens
beschreiben alle diesen Weg, die ihn wirklich gegangen sind, nicht bloß
davon gehört oder gepredigt haben. Es sind also die Weltkinder einfach
Leute, die lieber den gewöhnlichen und bekannten Weg gehen wollen, weil
ihnen ein außergewöhnlicher zwar theoretisch recht schön und
großartig, aber praktisch nicht hinreichend gangbar vorkommt.
Noch schwieriger ist zu sagen, was die »Kinder des
Lichts« sind. Zwar enthalten die Evangelien einige Andeutungen
darüber, z. B.:
Das ist aber das Gericht, dass das
Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr
als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst
das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.
Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass
seine Werke in Gott getan sind. (Joh. 3, 19-21)
Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der
Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh
8, 12).
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt (Joh
9, 5)
Glaubt an das Licht, solange Ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet.
(Joh 12, 36).
Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer man mich glaubt, nicht
in der Finsternis bleibe (Joh 12, 46).
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen
soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme (Joh
18, 37).
Aber was ist überhaupt das »Licht«
in diesem Sinne selber? Und wo ist seine Quelle? Und wie
kommt es in den Menschen hinein? Da stehen wir sofort vor dem größten
der »sieben ungelösten Welträtsel.«
»Woher kommt der Mensch, wohin geht er, wer wohnt
über den goldenen Sternen?«
Allgemein verständlich kann man nur sagen, es seien wohl die suchenden
und für das Ungewöhnliche empfänglichen Menschen gemeint, welche
zunächst wünschen, dass
es etwas Besseres auf der Erde gäbe, als zu essen, zu trinken und morgen
tot zu sein, und die aus diesem beharrlichen Wunsch und Willen heraus allmählich
zum Glauben und zuletzt zur Überzeugung gelangen.
Gelzer
sagt darüber in seiner Schweizergeschichte der ersten zwei Jahrhunderte.
»Niemals wird es an Tausenden fehlen, welche in lobenswerter Art auf den
gewohnten Lebensgleisen fortschreiten und mit sicherem, angeborenem Takt sich
in der praktischen Welt bewegen. Es ist aber in der Weltordnung von jeher auch
auf die Wenigen gezählt, die, über alles Einzelne und Äußere,
Zerstreuende wegblickend, mit der ganzen Energie ihres Gemütes nur nach
dem geistigen, ewigen Grunde des Daseins fragen. Durch alle Verhüllungen
der Sinnenwelt hindurch haben sie … die Harmonie der Welt erkannt oder
doch etwas von ihr, wie Töne einer fernen Musik, geahnt. Solche Naturen
müssen, wenn sie in der Welt etwas leisten wollen (und zwar gerade das,
wozu sie berufen sind), sich um dieses Zweckes willen einigermaßen
von der Welt zurückziehen; nur auf diesem Standpunkte könne sie –
jenen Bergpflanzen ähnlich, die auch in der Niederung
nicht gedeihen, den reinen Atem ihres Wesens erhalten und miteilen.« Mit
andern Worten: »Das ist ein gutes Ding«; wenn es aber selbst kraftlos
wird, dann kann man es zu gar nichts brauchen, dann ist die Kraft der Welt bei
weitem vorzüglicher. Da ist der Grund, warum die heutige Kirche so wenig
Einfluss besitzt, trotz aller Agitation. Dieselbe kann das fehlende gewordene
Salz nicht ersetzen.
Eine gewisse weitere Andeutung dieses Wegs zum Licht
steht in Math. 5, 8:
»Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen«
und besonders in Lukas 11, 36, einer Stelle, die
noch Niemand recht erklärt hat:
»Wenn nun dein Leib ganz licht ist und kein Teil an ihm finster ist, dann
wird er ganz licht sein, wie wenn dich das Licht erleuchtet mit hellem Schein«.
Weiter darf man aber gewöhnlich in der Beweisführung gar nicht gehen,
sonst sprechen die Kinder der Welt, die in der Tat nicht vorbereitet sind und
denen es das alles mindestens als Überspanntheit vorkommt im besten Falle
mit dem Landpfleger Felix und den Athenern: »Wir
wollen dich ein anderes Mal weiter hören«(Ap.-Gesch.
17, 32; 24, 25), hüten sich aber wie ihre Vorgänger, wohl,
solche unangenehme, die Gemütsruhe störenden,
»die doch zu nichts Gewissem führen können«, wieder
auf das Tapet kommen zu lassen. Es ist in der Tat, so traurig es klingt, die
religiöse Belehrung offenbar
äußerst wenig fruchtbar. Man kann das, was man Religion nennt, und
was eigentlich ganz auf einem Vertrauen auf etwas nicht Wissbares und einer
Neigung zu den Vertretern dieser Anschauung* beruht, gar nicht wirklich
lehren, sondern höchstens bei den Menschen eine Art von
Disposition, wenigstens Abwesenheit von Abneigung und positiver Unfähigkeit
erzeugen und durch Belehrung unterhalten. Diese Unfähigkeit entsteht aber
nicht allein durch eine Lebensweise, die der Empfänglichkeit für Ideales
überhaupt entgegensteht, sondern ebensosehr
gerade durch die Auffassung, welche die Religion als ein Lehre,
ja sogar als eine Art von Wissenschaft ansieht, die vorgetragen und gelernt
werden kann.
* Wie viele ihn aber aufnahmen, denen
gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die
nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches och aus dem Willen eines
Mannes, sondern von Gott geboren sind. (Joh 1, 12-13)
Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist.
(Joh 3, 27)
Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. (Joh
6, 29)
Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. Wenn jemand
dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder
ob ich von mir selbst aus rede. (Joh 7, 16-17)
Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der
Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh
8, 12)
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn
durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen.
Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. (Joh
14, 6 - 7)
Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und
wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer mich aber nicht liebt,
der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht
mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. (Joh
14, 23-24)
Worin besteht denn nun aber, werden Sie fragen, der Vorteil
dieses sogenannten Lichts vor der
Klugheit der Welt, die doch immer etwas Sicheres ist und eine Summe von Lebensgütern
erzielt, die auf dem anderen Wege nicht so leicht zu haben sind? Zunächst
darin, dass man die Wahrheit besitzt
und dabei innerlich vollständig beruhigt ist. Das ist gegenüber einem
solchen Lebensglück, wie es Lessing in dem
bekannten Worte vorschwebte, wonach die
Wahrheit gar nicht für Menschen wünschbar sein soll, eine Fülle
von wahrem Glück, die unaussprechlich
ist und kein Mensch, der je auch die kleinste Partikel davon besessen hat, fortan
mit allen Gütern der Erde vertauschen wollte. Denn am Ende kommt es nicht
auf den Besitz irgend eines Gutes an, sondern ob man sich in diesem Besitze
glücklich fühlt. Auch
die Habsüchtigen, Ehrgeizigen, Schwelger wollen nicht das, was sie suchen,
als Zweck, sondern als in ihren Augen unerlässliches
Mittel zum Zweck, welcher das Glücksempfinden ist.
Darin täuschen sie sich aber, und das ist das wahrhaft Großartige
in der Weltordnung, durch das sie sich jedem unbefangen Beobachtenden enthüllt,
dass ihnen zwar alles gelingt, was sie recht wollen, aber nicht zur Befriedigung
gereicht. Dass es ihnen gelingt,
ihr Erfolg selbst, ist ihre Strafe.
Es ist vielleicht etwas schwer zu verstehen, aber überlege es noch einmal,
lieber Leser, oder nimm es gewissermaßen als wissenschaftliche Hypothese
vorläufig an und beobachte dann
im Leben, ob es wahr ist. Das ist ja die Art, wie man auch in der Naturwissenschaft
auf die Wahrheiten am leichtesten kommt.
Der zweite Vorteil ist, dass dieser Geist der Wahrheit,
wie wir das »Licht« paraphrasieren
können, doch etwas viel Klügeres ist als alle Klugheit, weil er allein
mit den wirklichen Gesetzen der Welt übereinstimmt. Daher kommt es, dass
diese Unklugen doch durch die Welt kommen, meist sogar viel besser und unbeschädigter
als die Klugen, d. h. mit weniger Unruhe des Gewissens, die doch ein sehr unangenehmes
Gefühl ist, welches die besten Freuden des Daseins vergällt, und jedenfalls
mit viel weniger Hast, Furcht und
Sorge vor Menschen und Ereignissen, die ohne diese Gesinnung
ganz unausweichlich sind. Endlich
mit viel mehr Friede nicht bloß
in sich selbst, sondern auch mit den Menschen, weil ohne Zorn, Hass und Neid,
die das Leben ständig verbittern. Sogar die Menschen, die dieser Gesinnung
nicht folgen wollen oder können, lieben eigentlich im Grunde diese »Idealisten«
doch mehr als Ihresgleichen. Sobald sie sehen, dass es ihnen Ernst damit und
nicht bloß ein Mäntelchen ist, hinter dem sich Entgegengesetztes
verbirgt, und auch kein beleidigender Hochmut sich damit verbindet. Eine solche
Liebe, wie sie seinerzeit Niklaus von Flüe,
oder Franz von Assisi, oder Caterina
von Siena oder in unserer Zeit Gordon Pascha in
ganzen Ländern gefunden haben, wo Tausende ihren Tod tief beklagten und
als ein Nationalunglück betrachteten, die nicht entfernt daran dachten,
ihrem Leben nachzufolgen, ist gar nicht zu vergleichen mit der Achtung etwa,
die der größte Staatsmann unserer Zeit genießt. Sie sind, eben
weil sie auf die meisten Güter dieses Lebens verzichtet und die Konkurrenz
darin aufgegeben hatten, die wahren Könige
ihrer Völker und die Helden der ganzen Menschheit geworden.
Wahrheit, Glück, Furcht- und Sorglosigkeit, Friede mit sich und allen Menschen,
aufrichtige Achtung und Zuneigung derselben – wir sollten denken, das
wären doch auch Güter, die
gegenüber mehr Reichtum, mehr Ehre, mehr äußerlichem Genuss
stark in die Wagschale fallen können, selbst wenn die letzteren Erfolge
ebenfalls sicher und ohne die oben genannten bitteren Zutaten der Furcht, der
Sorge und der allgemeinen Konkurrenz erreichbar wären, was sie tatsächlich
niemals sind.
Das Gute haben ferner die ideellen
Güter jedenfalls voraus, dass sie ganz sicher
und Jedermann
zugänglich sind. Man braucht sie nur zu wollen,
aber ernstlich und allein zu wollen,
sich nicht halb und halb doch auf die Klugheit und den Wettlauf auf der Welt
Bahnen zu verlegen, so werden sie, wie viele Zeugen aus eigener Lebenserfahrung
sagen, unfehlbar erreicht; - wenn
auch allerdings nicht in einem Anlaufe
und in den meisten Fällen nur nach einer ein- oder mehrmaligen Krise im
Lebensgang, die in der Tat mehr, als irgend etwas anderem, einem Tode
gleicht, in welchem der Mensch jeder bisherigen Lebensauffassung
entsagt. Das ist aber auch das Schwerste
dabei. Im übrigen ist dieser Lebensweg unendlich viel leichter und angenehmer
als der Weg der Welt, und man begegnet darauf sicherlich besserer
Gesellschaft. Ein Joch (womit
ihn Christus vergleicht) bleibt er wohl immer; aber dass er ein vergleichsweise
sanftes und sehr leichtes Joch sei, das bestätigen in der Tat wieder
Alle ohne Ausnahme, die es je selbst getragen haben, und noch
kein Einziger ist entdeckt worden,
der am Ende eines solchen Lebens,
mochte es daneben äußerlich ausgesehen haben wie es wollte, reuevoll
den anderen Weg als den besseren
und glücklicheren erklärt hätte. Wie Viele hingegen
seit König Salomos Tagen fanden am Schlusse
eines erfolgreichsten und mühelosesten Lebens im gewöhnliche Sinne
der Lebensklugheit, dass doch Alles nur »Eitelkeit
der Eitelkeiten« gewesen sei.
Der Moment, in welchem dies der gereiften
Lebenserfahrung sich deutlich macht, welcher gewöhnlich, verbunden mit
einer entschiedenen Abnahme der physischen Kräfte, nach dem fünfzigsten
Lebensjahre eintritt, ist einer der bittersten des menschlichen Lebens, und
Viele gehen von da ab zum Skeptizismus und Pessimismus über, wenn sie gar
nicht noch einmal versuchen, trotz ihrer bereits ergrauten Haare, einige flüchtige
Freuden des Lebens rasch am Wege zu erhaschen. Diese »alten
Jünglinge« haben zuletzt wohl die schlechteste von allen Lebensrollen
gewählt, die ihnen noch zu allen Enttäuschungen hinzu den Respekt
vor sich selber kostete. Einer der Romane von Monpassant
sogar schließt daher sehr richtig mit dem Bekenntnis
der Heldin (sit venia verbo), sie habe
sich das Laster doch amüsanter vorgestellt.
Man sollte denken, diese einzige Erfahrungstatsache
schon müsste entscheidend wirken, wenn man nicht wüsste, wie sehr
gerade die gewöhnliche Klugheit der Menschen sie an dieser höheren
Klugheit, die ein größeres
Spiel mit höherem Einsatz dem gewöhnlichen vorzieht,
verhindert.
Wir haben nicht den Mut, die einfach Klugen zu tadeln, und wollten es ganz dem
Leser anheimgeben, ob er, nach reiflicher Erwägung der angeführten
Gründe und Betrachtung der ganzen Situation, in welche der Mensch durch
die gewöhnlichen Bedingungen seines Daseins gestellt ist, besser tue, die
einfache oder die etwas sublimierte Klugheit zu wählen. Die Dümmsten
sind unstreitig die, welche siebzig oder achtzig Jahre lang durch das menschliche
Leben pilgern, ohne jemals mit sich einig geworden zu sein, ob sie das eine
oder das andere wollen. Und zu diesen Unweisen, die denn auch gewöhnlich
zu gar nichts kommen, gehört merkwürdigerweise ein sehr
großer Teil der heutigen »gebildeten«
Gesellschaft. S.137-148
Aus: Carl Hilty, Glück . 1896 . Frauenfeld J. Hubers Verlag, Leipzig J.E.
Hinrich’sche Buchhandlung
Was
bedeutet der Mensch, woher kommt er, wohin geht er, wer wohnt über den
goldenen Sternen?
Das ist die Frage der Fragen,
auf die jeder nicht ganz oberflächliche,
oder tierische Mensch wenigstens einmal in seinem Leben eine Antwort
sucht, und – es ist traurig, es gleich sagen zu müssen –
die Meisten gehen heute aus demselben, ohne sie
gefunden zu haben.
Die Einen gelangen wohl etwa zeitweise bis zu dem melancholisch forschenden
Ausdruck eines mittelalterlichen Denkers:
»Ich lebe, ich weiß nicht wie lang, ich sterbe,
ich weiß nicht wann, ich gehe, ich weiß nicht wohin, wie ist es
möglich, dass ich noch so fröhlich bin!«
Andere schlagen sich alle solche traurig stimmenden Gedanken, »die
doch zu nichts führen«, bald und ein
für alle Male aus dem Kopfe und sprechen: »Lasset
uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.«
Ihrer ist heute eine große Zahl, auch in den so genannten gebildeten Kreisen,
denen doch eine gewisse Kenntnis tieferer Lebensauffassungen infolge ihrer Erziehung
zugänglich war. Sie sind dessen ungeachtet schließlich – oft
schon frühzeitig genug – nach einigen vergeblichen oberflächlichen
Rettungsversuchen bei diesem kläglichen Schlussprogramm für ihr weiteres
Leben angelangt.
Dasselbe suchen sie dann möglichst lange durchzuführen. Aber es fehlt
ihnen auf die Dauer sehr oft die unumgänglich dazu nötige Gesundheit,
und sie wallfahrten dann in ungezählten Scharen – die Weiblein, wie
immer, an der Spitze – zu Pfarrer Kneipp, Dr. Metzger oder zu irgend einem
anderen Medizinalheiligen des Tages, um sie so bald als möglich wieder
herzustellen und von neuem zu missbrauchen.
Anderen fehlen die Mittel zur Ausführung dieses Lebensplans; diese werfen
dann, wenn sie sich dieselben nicht durch sonstige »Streberei«
irgend einer Art bald verschaffen zu können glauben, die »Magenfrage«,
als die einzig »reelle« des menschlichen
Daseins, auf, die durch eine neue »Sozialpolitik«
zu einer befriedigenden Lösung für Alle gebracht werden müsse.
Weitaus der größte Teil
der »sozialen Frage« unserer Zeit hat diesen philosophischen Unterbau.
Sie ist auch auf demselben die berechtigtste, ja die allein berechtigte Frage
des Tages.
Noch andere, etwas tiefsinnigere Grübler, welche die Unmöglichkeit
einer Heilung aller menschlichen Leiden auf allen diesen Wegen einsehen gelernt
haben, kommen, nachdem sie vieles halbwegs versucht, zu dem Ausspruche des weisesten
aller Könige, »es sei alles eitel«,
und wenden sich von dort ab zu der Verzweiflung am Sein und Leben selbst, zu
der Anbetung des Nichts.
Nirwana, Vernichtung,
Vergessen des Lebens ist ihnen der Zweck desselben, und sie glauben etwas sehr
Großes erreicht zu haben, wenn sie endlich, nach langen Jahren und schweren
Kämpfen mit ihrem gesunden Menschenverstande, der gegen diese seine offenbare
Negation beständig protestiert, dem indischen Hauptweisen nachsprechen
können:
»Geburtenkreislauf zahllos stünde
mir bevor, hätt’ ich
Gefunden nicht des Baues Meister, welchen ich gesucht.
Fürwahr, Geborenwerden ohne End’ ist schmerzenvoll!
Du bist erschaut, des Baues Meister, nun wirst du
Das Haus nicht wieder bau’n, zerbrochen sind
Die Balken dir, der Giebel eingestürzt;
Der Geist, der eingegangen zur Vernichtung ist,
Hat des Begehrens Durst mir gänzlich ausgelöscht.«
So genanntes Dankgebet Buddhas.
Auch das lebensfrohe Griechenland sogar hat solche Anflüge von tiefem Weltschmerz,
die sich z.B. in dem Worte »Jung stirbt, wen die
Götter lieben« ausdrücken.
Das ist dann also das Schlusswort der Philosophie: Es
gibt weder Licht noch Hoffnung
für das menschliche Dasein; das Beste ist, dies frühzeitig einzusehen
und es baldmöglichst zu beenden.
So lebenskräftig und lebensdurstig aber ist der menschliche Geist, dass
er sich auf die Dauer, und abgesehen von vorübergehenden Schwächezuständen
… niemals mit einer solchen Bankrott-Erklärung begnügt, sondern
es wird stets als die fortdauernde Aufgabe der Philosophie betrachtet werden,
in dieses Dunkel dennoch Licht zu bringen. Sie hat es
freilich allzu oft nur mit Worten getan, die nichts Reelles
bedeuten und keinen wirklichen Trost für das gedrückte Gemüt
enthielten. Daher kommt vorläufig ihre nicht ganz unverdiente Missachtung,
seitdem der moderne Höhepunkt dieses bloßen Formalismus in Hegel
erreicht worden ist.
Die Philosophie hat seit jeher vorzugsweise eine Erklärung
der Welt aus sich selbst heraus versucht, und es gilt
noch gegenwärtig im Ganzen als einer ihrer Fundamentalsätze, gegen
die nicht opponiert werden darf, dass dies auch ihre notwendige Voraussetzung
sei, indem jede Herbeiziehung anderer Erklärungsgründe sie als selbständige
Wissenschaft beseitigen müsste. Es mag das letztere vielleicht logisch
richtig sein, wäre aber in diesem Falle nicht als ein Unglück zu beklagen.
Denn der Mensch sucht Licht
über sich selbst, seinen Lebenszweck, seine Vergangenheit und seine Zukunft
um seiner selbst, nicht um der Existenz irgend einer Wissenschaft willen;
er ist im Gegenteil berechtigt, jede Wissenschaft
gering zu schätzen, welche diesen Zweck, die menschlichen Lebensverhältnisse
aufzuklären und zu verbessern, dauernd nicht erfüllt.
In der gleichen Lage befinden sich
heute auch die Jurisprudenz, die Medizin und die Theologie. Wir verlangen von
ihnen Leistungen für das geistige oder körperliche Wohl der Menschheit,
nicht bloß Existenz als Wissenschaft.
Somit darf er auch von der Philosophie beanspruchen, dass sie zweckentsprechend
und sogar bis zu einem gewissen Grade gemeinverständlich sei und es nicht
versuche, den Hunger seiner Seele nach Wahrheit und Aufschluss
über die höchsten Fragen des Daseins bloß mit leeren und deshalb
dunklen Worten abzuspeisen. Das ist aber, von dem »göttlichen
Plato« angefangen bis auf den Hegel
oder Schopenhauer dieses Jahrhunderts, öfter
ihr wesentliches Geschäft gewesen, und es bedurfte nur der Übersetzung
einer willkürlich erfundenen Terminologie, die sie, wie ein undurchdringlicher
Zaun, von dem Gebiet des gewöhnlichen Menschen- und Sprachverstandes abschloss,
in die gewöhnliche Sprechweise des Tages, in der das Wort die Bezeichnung
für ein bestimmtes Etwas und nicht auch für ein Nichts ist, um der
verschleierten Göttin den Schleier abzuheben, in welchem mitunter ihre
ganze Kraft und Hoheit steckte.
Wir glauben, dass sehr wenige Leute
aus den Dialogen Platos, aus der Ethik Spinozas,
der Phänomenologie des Geistes Hegels, oder
aus der »Welt als Wille und Vorstellung« Schopenhauers
eine erhöhte Klarheit ihrer eigenen Gedanken davongetragen haben. Die Philosophie
aller Zeiten antwortet vielmehr eigentlich dem sie Fragenden gar nicht auf das
, was er von ihr erfahren will, sondern überschüttet ihn stattdessen
mit einer Fülle von Definitionen, von denen er die größere Hälfte
nicht versteht und die kleinere zu nichts Rechtem gebrauchen kann.
Die abstrakte Philosophie hat in der Tat bisher weder das »Sein«
noch das »Werden«
befriedigend erklären können und noch viel weniger diese beiden Grundbegriffe
mit einander in Verbindung bringen und aus einem einheitlichen Grunde heraus
aufhellen können, sondern sie stattdessen stets bloß mit Worten umschrieben,
die gar keine wirkliche Erklärung enthielten. Diese Aufgabe musste sie
aber in den Jahrtausenden ihres Bestehens als menschliche Wissenschaft lösen
könne, oder dann bekennen, dass sie über diese Urbegriffe
ein weiteres Licht zu verbreiten nicht im Stande sei, sondern hier auf
den Endpunkt ihres Vermögens stoße, an welchem ein dem menschlichen
Wissen überhaupt unzugänglicher
Urgrund alles Seins und Werdens angenommen
werden müsse.
Statt dieser Erklärung finden wir vielmehr stets an der Spitze der philosophischen
Gedankenreihen irgend ein bloße Annahme,
die nicht bewiesen ist und nicht bewiesen werden kann; entweder eine
»belebte Substanz«, sei es eine
und unveränderliche, oder eine unendliche Masse von kleinen Bestandteilen
(Atomen) bildend – Dinge, die so unfassbar
als nur möglich und vor allem gar keine Antwort auf die Frage sind, indem
man eben wissen möchte, woher dieser
Stoff , sei er groß oder klein, komme, und wie ein Stoff belebt sein und
Leben erzeugen könne.
Den Sprung vollends von einer
bloßen Bewegung der Atome zu einer Empfindung,
einem Gedanken und einem
Willen hat noch Niemand begreiflich zu machen auch nur entfernt
versucht. Da fehlt jede Verbindung und steht stattdessen in den Schriften der
berühmtesten Forscher ein melancholisches »ignoramus
ignorabismus«. –
Oder wir erfahren, mit vielen und großen Worten zwar, schon seit alter
Zeit, dass ein, wenigstens gedachter und denkmöglicher
Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein bestehe;
wir möchten aber stattdessen lieber wissen, wie das
Sein, das uns allein bekümmern kann, die Welt, wie sie
vor unseren Augen liegt, entstanden ist, wenn sie nicht etwa ein bloßer
Schein, ein Trugbild unseres eigenen Denkens ist, etwas, das bloß in unserer
Einbildung existiert, zu welchem verzweifelten Ausweg in der Tat auch schon
gegriffen worden ist. Für das »Nichtsein«
haben wir gar kein vernünftiges Interesse; es ist dies bloß ein nicht
einmal recht fasslicher Gedanke, der Begriff eines Gegensatzes,
den man wohl aufstellen, aber nicht weiter begründen, noch viel weniger
für das Leben nutzbar gestalten kann.
Gehen wir aber mit anderen Philosophen statt von den Dingen, die wir um uns
herum erblicken und deren letzten Grund wir gar nicht
entdecken konnten, von unserem eigenen , unzweifelhaften, selbstbewussten
Ich aus, dessen wir doch unmittelbar und ohne weitere Philosophie sicher sein
zu dürfen glauben, so weiß eben diese arme Ich, wenn es nun von diesem
Selbstbewusstsein aus einen Schritt in die Welt hinaus versuchen, oder aus sich
heraus die Rätsel derselben ergründen will, am allerbesten, wie
sehr es selber nach einem besseren, außer ihm liegenden
Erklärungsgrunde verlangt.
Oder wenn sich die Philosophie vollends vor der bloßen Naturwissenschaft
bis zu Erde verneigt, alles Leben durch »Entwicklung,
Evolution, Deszendenz, natürliche Zuchtwahl«
und dergleichen erklären und behaupten will, dass sämtliches
Bestehendes von selbst aus einem Urschleim, wahrscheinlich gar aus einer einzigen
Urzelle entstanden sei, so bleibt doch immer wieder die alte Frage übrig,
wer denn diese Zelle geschaffen und in sie diese unendliche Lebens- und Entwicklungskraft
gelegt habe.
Es ist die Frage des allzeit scharf und praktisch denkenden
Napoleon, die er vor nahezu hundert Jahren bei dem zauberhaften Anblick
des ägyptischen Sternenhimmels an den Gelehrten Monge
richtete: »Qui a fait tout cela?«,
worauf sowohl die abstrakte Philosophie, wie die positive Naturgeschichte noch
bis heute niemals geantwortet hat und wahrscheinlich niemals antworten wird.
Eine Erklärung der Welt aus sich heraus und durch
sich selber ist unmöglich, indem sie keinen letzten Grund
findet. Und die sich selbst vergötternden,
oder von Anderen vergötternden Menschen*,
die das einstweilige Schlussresultat der heutigen Philosophie sind, finden,
wenn sie nur einigermaßen klug sind, eine beständig wirksame Schranke
gegen diese Überhebung an dem quälenden Bewusstsein ihrer höchst
beschränkten Kraft und Lebensdauer, an dem unabweisbaren ihrer eigenen
Mangelhaftigkeit, das durch Menschenlohn nicht beseitigt wird, und an der baren
Unmöglichkeit, sich selbst aus dem eigenen Lebensinhalte heraus zu verstehen.
*Die nächste praktische
Folge des naturwissenschaftlichen Atheismus
ist Menschenvergötterung und Verlass auf Menschen, die
aber beide bei einigermaßen welterfahrenen Leuten mit tiefem Pessimismus
enden. Die Menschen liebt nur dauernd und fest, wer sich nicht auf sie verlässt,
sondern eine andere, zuverlässigere Hilfe besitzt. Das Ende aller bloßen
Humanitätsbegeisterung ist daher bei klugen
Menschen leicht tiefe Menschenverachtung.
Dies letzte, gewöhnlich pantheistische
Form der philosophischen Lebensauffassung, die seit Spinoza
die philosophischen und seit Hegel, Schopenhauer
und Goethe die gebildeten Kreise überhaupt beherrscht,
soweit dieselben mit abstrakter Philosophie sich noch befassen*, ist sogar die
moralisch verderblichste von allen.
*Das ist im Ganzen jetzt viel weniger
der Fall, als im ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Das einzige philosophische
Buch, das noch immer einen großen Eindruck zurücklässt,
ist die »Kritik der reinen Vernunft«
von Kant. Damit hat eigentlich die abstrakte Philosophie
abgeschlossen für immer. Die philosophischen Werke werden von verhältnismäßig
sehr wenigen Gebildeten (abgesehen von denen,
die sich berufsmäßig damit befassen müssen) selbst
gelesen; die weitaus größere Zahl begnügt sich mit
einer philosophischen Literaturgeschichte, »damit
man doch auch nötigenfalls darüber mitsprechen könne«,
geht ihnen aber sonst respektvoll aus dem Wege. Man darf es heute in den meisten
Fällen geradezu darauf ankommen lassen, dass sie selbst die moderne
Philosophie, Descartes, Spinoza,
Kant, Hegel, auch Schopenhauers Hauptwerk,
nicht aus eigenen Studien kennen, so wenig als die Bibel; sie reden über
beides nur nach Urteilen Dritter. Im Ganzen ist es nun zwar ein Zeichen von
dem praktischen Menschenverstand unserer Epoche, dass die Welt bloße Tüfteleien
von Stubengelehrten, die mitunter nicht einmal die Welt, mit der sie selber
lebten, ordentlich kannten, sondern sich sorgfältigst von der Berührung
mit derselben abschlossen, nicht mehr allzu hoch taxiert, sondern als Denkübungen
ansieht, die auf die Gestaltung der Lebensverhältnisse großer Massen
keine wesentlichen Einflusshaben, sondern nur zu Schulzwecken,
nämlich zur Schärfung des Verstandes an abstrakten Begriffen, brauchbar
sind. Dagegen ist doch nicht zu verkennen, dass einige Beschäftigung mit
Philosophie zur Bildung gehört, und dass es im praktischen Leben stehenden
und dabei wenig religiös angelegten Personen äußerst schwer
wird, nicht allmählich alle weiteren Gesichtspunkte ganz zu verlieren.
Sie »verflüchtigt die ethische Kraft«,
den Willen, das Gute zu verwirklichen und das Böse
zu bekämpfen.*
*Wie sollte sie es bekämpfen,
da alles, was ist und geschieht, nach dieser Philosophie Gott
ist?
Früher oder später folgt ihr dann in irgend einer Form ein roher,
aber kräftiger Aberglaube, dem wir im Hypnotismus oder Spiritismus
und einigen anderen ausschreitenden Kirchlichkeiten bereits sichtbar wieder
entgegen gehen, und womit die Reihenfolge der philosophischen Spekulation von
neuem beginnt, um nach einigen Jahrhunderten wieder an dem ganz gleichen Punkte
zu enden.
Die letzte Form der Wahrheit wird daher überhaupt wahrscheinlich
nicht die abstrakt-philosophische oder theologische Spekulation einzelner
Menschen sein, die stets trügerisch und unbefriedigend bleibt, sondern
die historische Erfahrung,
wie sie sich in den Schicksalen ganzer Völker klar und deutlich ausgeprägt
hat. Und in dieser Form ist in der Tat eine bessere
Philosophie, als die abstrakte, neben ihr schon längst vorhanden
gewesen.
Die Philosophie, die den Urgrund aller Dinge nicht
spekulierend aus ihnen selbst erklären will, ist die israelitische und
nunmehr die christliche, welche ihn stattdessen,
geleitet von Lebenserfahrungen, in ein wirklich lebendiges Geisteswesen hineinverlegt,
welcher der Schöpfer und Erhalter der Welt im Ganzen, als jedes einzelnen
Menschen ist. Eine philosophische Erklärung
allerdings ist das nach der herrschenden Auffassung nicht, sonst müsste
eben auch dieser Grund erklärt
werden können.
Die Wissenschaft, die speziell eine »Gotteswissenschaft«
zu heißen sich erkühnte, scheitert in der Tat an der Unmöglichkeit,
Gott zu beweisen, gerade so gut, wie die Philosophie an dem Versuch, die Welt
oder den Menschen aus sich zu erklären. Das, was man Ontologie, oder Beweise
von dem Dasein Gottes überhaupt nennt, ist wirklich sehr schwach und überzeugt
Niemand, der es nicht gerne sein will. Es ist von vornherein sehr viel natürlicher,
zu sagen: die Unerklärlichkeit gehört zum Wesen Gottes, der sonst
nicht Gott wäre, und der Mensch, der ihn erklären könnte, nicht
Mensch.
Mein Angesicht kannst du nicht sehen,
denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. (2. Mose 33, 20)
Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters
Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt. (Joh 1, 18)
Nicht Gott zu schauen,* sondern das Irdische und Menschliche in richtiger Weise,
gewissermaßen mit den Augen Gottes zu schauen, ist offenbar unser Lebensziel.
*Zur Gottesschau
auf Erden und zur wirklichen Erkenntnis des
Zusammenhangs aller Dinge gibt es nur einen einzigen Weg, den
aber lange nicht alle Philosophen gegangen sind, den in Matthäus
5, 8 angegebenen:
Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott
schauen. (Matth 5, 8)
Den versuche, wenn du durchaus mehr, als eine bloße Kunde, von Gott haben
willst. Damit und damit allein, ohne Ausnahme, kann
das göttliche Wesen der menschlichen Seele,
die ihm dann einigermaßen ähnlich wird, so nahe treten,
dass aller Zweifel aufhört. Denn Gleiches wird nur von Gleichem erfasst.
Wenn ein Philosoph sagt, er könne in seinem Erkenntnisvermögen keinerlei
Spur von Gott finden, so spricht er sich ein Urteil.
Es ist daher auch längst der Zweifel geäußert worden, ob es
überhaupt eine wissenschaftliche Theologie
im Wortsinne geben könne. Christus z.
B. ist nicht der Ansicht, dass es eine solche gäbe,
Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als
nur der Vater und wem es der Sohn offenbaren will. (Matth 11, 27; Luk 10,22)
und die theologischen Spekulationen datieren und wirklich nicht eigentlich auf
ihn zurück, sondern auf Paulus, der viel zu
viel spezifisch jüdischen Scharfsinn und im Judentum bereits ausgebildeten
Dogmatismus an eine Begründung des
Christentums verwandte, bei der es ihm offenbar mitunter um die Überredung
seiner stark theologisch veranlagten Volksgenossen zu tun war.
Gott als Urgrund alles Seins und Werdens kann
und soll nicht
erklärt und bewiesen werden, sondern zuerst geglaubt und sodann persönlich
erfahren werden.
So du glauben würdest, sagt Christus,
würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen. »Gottesfurcht« ist
kein bloßes Gefühl, sondern ein geistiges Wissen und sittliches Können,
das allerdings klein anfängt. Hat man dagegen den Entschluss der
Abwendung von Gott vollzogen, so ruht, wie ein tiefer Forscher sagt,
die nicht schweigende Selbstanklage nicht, bis man, um sich vor sich selber
zu rechtfertigen, diesen Abfall sophistisch in Fortschritt übersetzt und
die Treue als einen überwundenen Standpunkt auch zu verachten bemüht.
(Vergl. Hirsch, Pentaeuch, zum Leviticus, S.698)
Das ist der Satz, der somit wieder deutlich ausgesprochen werden muss; allerdings
ist er damit auch der Stein des Anstoßes und Ärgernisses, an welchem
viele umkehren, die eine bessere, wissenschaftlichere Erklärung aller Dinge
suchen. Es ist ihnen nicht zu helfen, noch weiter entgegen zu kommen.
Wir können sie höchstens
noch etwa fragen: Kannst du dir die Welt als endlich vorstellen,
aufhörend räumlich und zeitlich? Nein, wird die Antwort sein. –
Oder kannst du sie dir als unendlich in Raum und Zeit vorstellen?
Ebenfalls nein. – Kannst du aber den Prozess des Lebens erklären,
seinen Uranfang und sein Aufhören? Ebenfalls nein. – Kannst du das
Denken selber erklären? Alles nein.
Nur denn, wenn du diese allernächsten
und wesentlichsten Dinge nicht weißt und nicht wissen kannst, so wirst
du sehr gleichgültig werden müssen, oder das Glauben doch nicht gänzlich
entbehren können.
Die entschlossenen Atheisten müssen wir philosophisch
aufgeben;* das ist eine Forderung, die nicht
nur auf dem philosophisch-religiösen, sondern auch auf dem praktisch-politischen
in Bälde noch viel mehr als bisher in den Vordergrund treten wird.
*Aufgeben im gewöhnlichen Sinne
keineswegs, wie es heute viele Christen tun (2. Thess 3,15).Es gibt,
seitdem die Glaubensbekenntnisse frei geworden sind, offene Atheisten, die dennoch
edle und denkende Menschen sind und sich viele Mühe zum Guten geben, auf
die vielleicht sogar das weitherzige Wort des Evangeliums Matthäus 21,
28-31) anwendbar ist. Der Atheismus ist etwas so Natürliches, dass Niemand,
der denkt, zu allen Zeiten seines Lebens davon ganz frei gewesen ist, und selbst
die frömmsten Leute sind oft genug noch praktische Atheisten, d. h. sie
handeln so, als ob kein Gott wäre. Glückliche Atheisten aber gibt
es nicht, zum vollkommenen inneren Frieden und der Furchtlosigkeit vor allen
Übeln des Lebens gelangen sie niemals. Diesen Unterschied kann Jeder an
allen ihm zugänglichen Beispielen selbst beobachten.
Hier und hier allein liegt die unübersteigliche Scheidewand, die die Menschen
der gleichen Nation, des gleichen Bildungsgrades, der gleichen Zeit, oft selbst
der gleichen Familie in ihren Grundanschauungen trennt. Alle anderen Differenzen
sind ausgleichbar und werden ihre
Ausgleichung finden.
Gewöhnlich handelt der Mensch
nicht nur nach seinen Prinzipien, sonst wäre die praktische
Differenz viel größer, als sie es ist.
Diese Differenz bleibt bestehen, weil sie in der Natur der
menschlichen Willensfreiheit liegt. Das Wort des Tertullian,
dass »die menschliche Seele von Natur aus eine Christin sei«, ist,
wenn es wörtlich genommen wird, ganz falsch; jedes bedeutende Leben ist
ein Gegenbeweis. Sie ist nur dazu berufen und in der Lage, es durch eigene Lebenserfahrung
zu werden, was er auch wahrscheinlich damit meinte; von Natur aus ist sie indifferent
und keineswegs dem Atheismus abgeneigt. Könnte man
Gott auch nicht erfahren, so wenig als wissen, so wäre
umgekehrt der Glaube in der Tat eine Überspanntheit
des Nervensystems, und es würde der römische Prokurator gegen
Paulus recht behalten (Ap.-Gesch
26, 24)*, ebenso seine sehr zahlreichen Nachfolger aller
Perioden, die sich durch Vernunft und Gewissen verpflichtet
hielten, gegen das Unbegreifliche sich zu wehren.
*Auch die hätten ganz recht,
welche heute sagen, dass das Beten eine Folge von Wahnsinn
sei, wenn der Erfolg nicht erfahrbar wäre.
Gott verlangt aber gar nicht einen
Glauben von den Menschen anders, als auf Grund eigener
Erfahrung*, sondern er bezeugt ihnen in der eigenen und der gesamten
Geschichte ihres Geschlechtes auf das reichlichste, so dass die die Schuld
ihres Nichtglaubens selber tragen müssen, die eine wirkliche
Schuld ist, gewöhnlich sogar weit mehr, als irgend Jemand,
außer ihnen selber es wissen kann.
Siehe , das alles tut Gott zwei- oder
dreimal mit einem jeden, dass er sein Leben zurückhole von den Toten und
erleuchte ihn mit dem Licht der Lebendigen. (Hiob, 33, 29-30) Hiob
sagt wohl mit Recht, diese genügende innere Erfahrung
gebe Gott jedem Menschen, sogar zwei und drei
Male im Leben.
*Es gibt wohl Menschen, die, sei es zufolge ihrer geistigen
Anlage, oder ihrer Erziehung schwerer als andere zu dem Glauben
an Gott kommen; aber wenn sie gar nicht dazu kommen, so ist
immer ein Haken dabei, sie wollen von irgend etwas in ihrer Lebensweise nicht
lassen, oder die Probe überhaupt nicht ehrlich machen.
Diesen einen
Schritt, den Entschluss zu prüfen
und der Erfahrung eventuell zu gehorchen, welcher ein Willensakt
des Menschen ist, von dem ihn Niemand dispensieren und dem ihn
auch Niemand durch mehrere Überzeugungsmomente, als sie in seiner eigenen
Lebenserfahrung liegen, erleichtern kann, schon die israelitische Prophetie
unter dem ganz richtigen Ausdrucke einer »Wendung«,
verspricht dann aber sofort danach derselben die volle innere Befriedigung und
Überzeugung, die nun von selbst eintreten werde.
Wendet euch zu mir, so werdet ihr
gerettet, aller Welt Enden; denn ich bin Gott, und sonst keiner mehr (Jesaja
45. 22). Die
Erfahrung beweist dann nachträglich die Hypothese, was bei der Philosophie
nicht der Fall ist. Es genügt, dass der Mensch mit dem Antlitz Gott zu
und nicht von ihm ab sich wende; es ist sein großes Gut der Willensfreiheit,
dass er das letztere auch tun kann und selbst von dem allmächtigen
Gott nicht als Sklave gezwungen werden will. Diese Zuwendung und Abwendung hat
übrigens, wie jeder Menschenkenner weiß, mehr andere, als bloße
Verstandesgründe; der einfältigste Mensch fühlt wohl, dass er
sich mit der Zuwendung der Freiheit zu Manchem begibt, was er nicht oder noch
nicht lassen will. Heine sagt zwar in seinem »Buch
der Lieder« auf unsere Frage, die daselbst aufgeworfen wird, am
Schluss: »Ein Narr wartet auf Antwort«.
Das ist aber die Rede derer, die eine Antwort nicht um jeden
Preis wollen. Den Aufrichtigen lässt es Gott gelingen.
Und viele Tausende, die seither diese Wendung vollzogen, haben diese Wirkung
auch bestätigt, während bisher kein
Beispiel bekannt ist, dass Jemand, der sich aufrichtig an Gott übergeben
hätte, von ihm dauernd im Dunkel gelassen, oder überhaupt verlassen
worden wäre. Darin, in diesem freien Entschluss,
liegt auch die »Gerechtigkeit« des
Menschen, durch die allein er nach dem Ausspruche des nämlichen Propheten
befreit werden kann. (Jesaja 1, 27). Er
muss auch etwas dazu tun, hat dann aber auch einen
Anspruch, der ihm nirgends in der Bibel auf eine bloße
Gnade, die dann eintreten wird oder auch nicht, sondern positiv
zugesagt wird.
Deshalb vergleicht das alte Testament dieses Verhältnis auch stets mit
einem Bündnis, worin gegenseitige
Rechte bestehen. Es hat auch kaum Not, dass ein Mensch, der es seinerseits aufrichtig
zu halten gewillt ist, etwa zu übermütig auf sein Recht poche; er
weiß vielmehr recht gut, dass er immer weit
unter seinem Teil der Leistung sich
befindet, wenn sie auch bloß aus ungeteiltem
und unerschütterlichem Vertrauen auf den Verbündeten besteht
(Hebr 11), und dass er daher stets noch
dessen reine Gnade bedürfen
wird. Die lutherische Betonung dieser Gnade, die noch über
den Urtext hinausgeht (Röm 3, 28),
lähmt mitunter sogar ein wenig die beständige
Energie der Wendung und der willensfreien Behauptung
dieses Bodens, die seitens des Menschen zu seiner
vollkommenen Erlösung vom Bösen auch notwendig ist.
Er muss doch wenigstens immer wieder
kräftig umkehren wollen, wenn er falschen Göttern nachgehangen hat,
und wird dann auch immer wieder Aufnahme finden. (Jer.
24, 13. Jes. 1, 18. 40, 31. 43, 25. 51, 22. Ezech. 16, 63. 18, 23. 31. Hosea
14, 4-6. Matth. 9, 13. Joh. 6, 37). Darum sagt auch der Apostel
Paulus, dass bei denen, in welchen die Predigt von Christo kräftig
geworden sei (das ist aber etwas anderes, als
das bloße passive Anhören), kein Mangel mehr an irgend
einer zum Leben notwendigen Gabe bestehe
(1. Kor. 7.8). Umgekehrt hilft oft Alles bei einzelnen ursprünglich
gut beanlagten und wohlerzogenen Menschen nichts (Jer.
6, 29). Auch das lassen wir gelten, dass der Mensch nicht von sich
selbst zu der für ihn entscheidenden Wendung kommt, sondern irgend einen
kräftigen Anstoß, einen Ruf
von Gott erfahren muss; aber muss ihn doch hören
und befolgen. Alles das sagt die Theologie auch, aber mit sehr
viel unserer Generation unverständlich gewordenen dogmatischen Worten,
statt es einfacher psychologisch zu begründen.
Von diesem Punkte ab wird die Welt, wie das Einzelleben, hell und verständlich.
Allerdings die Welt verständlicher
als das Einzelleben, das, um des Wachstümlichen willen, das sein Grundwesen
ist, sich der jeweiligen vollen Kenntnis entzieht. Gott allein kennt den Menschen.
Er kennt sich selbst nicht. Die berühmte Forderung der alten Philosophie:
»Erkenne dich selbst« ist eine Torheit, wie alle Selbstbiographien
und tagebüchlichen Selbstbetrachtungen. Der Mensch sieht nie sich selbst,
wie er ist, sondern nur seinen Weg vor sich, und diesen auch nur stufenweise
und auf kurze Distanzen, wie bei einer Bergbesteigung: will er weiter voraussehen,
so gerät er in Irrtümer.
Ein freier Wille, der sie schafft und regiert und seinerseits an keine so genannten
»Naturgesetze« gebunden sein kann, welcher aber ein »Gott
der Ordnung« ist, als Regel, nicht willkürlich regieren will.
Ein freier Wille ihm gegenüber, der sich ihm ergeben kann, oder auch nicht,
dem die volle
Freiheit gelassen ist, auch das Böse, d. h.
das Gottwidrige, zu tun auf seine Verantwortung hin, aber nicht die Macht,
Gottes Ordnungen zu zerstören, die vielmehr alles
Böse zum Guten wenden, nur nicht für den, der es vorsätzlich
und ohne Reue verübt. Das menschliche Leben in seiner
richtigen Ausgestaltung, ein den ewigen, unabänderlichen Gottesgesetzen
zugewandter freier Gehorsam und dadurch eine Selbsterziehung zu immer höheren
geistigen Lebensordnungen, oder ein selbstverschuldeter allmählicher
Verfall der Fähigkeit dazu, eine Selbstverurteilung.
Des Lebens Glück die innere Übereinstimmung
mit der göttlichen Weltordnung und damit das Gefühl
der Gottesnähe, das Unglück die Entfernung von Gott, der beständige
innere Unfriede und die schließliche Fruchtlosigkeit des ganzen Lebenslaufes.
Und wenn dann immer noch etwas in uns bleibt, das zuweilen
den Einwand erhebt, es sei vielleicht doch alles nicht sinnlich Wahrnehmbare
bloße »Metaphysik«, d. h. für
den Menschen und seine Lebenszwecke Einbildung, so muss man das ruhig
ablehnen, so, wie
man auch die allmählich schwächer werdenden Versuchungen zum Egoismus
und zur kleinlichen Denkungsart ablehnt. Ein Glaube
bleibt diese höhere Welt immer, aber ein zuversichtlicher und trostreicher
Glaube wird sie allmählich, der mit einem inneren Schauen verwandt ist,
während die niedere, auf der bloßen Sinnentätigkeit aufgebaute
Welt im besten Falle auch kein vollständiges Wissen ermöglicht und
in jedem Falle kein zuversichtliches, der Seele Ruhe verschaffendes, sondern
bei allen edlen und nachdenklichen Menschen
ein mit friedlosem Zweifel unauflöslich verbundenes und verbittertes.
So einfach war auch wirklich die historisch erkennbare Religion der ursprünglichen
Inhaber der besten Gotteserkenntnis, bevor sie von den vielen Formsachen
überwuchert wurde, die anfangs bloß »Zaungesetze«
zur leichten Verhinderung des Unheils waren, nicht Lebensvorschriften, nachmals
aber dasjenige mechanisch zu erzwingen
beabsichtigten, was ganz Freiheit, Geist und Leben sein
und bleiben sollte.
Vergleiche Jeremias
7, 22.23. 8, 8.; Jesaias 1, 11-18; Psalm 50, 7-23; Micha 6, 6-8; Hosea 6, 6;
Joh. 4, 23.24; Markus 7, 6-13. Das Gesetz war nicht das Erste, sondern
die Freiheit.
Das ist die historische Erklärung des Christentums,
das Werk Christi, das (wie auch jede seitherige Reform)
eine Rückkehr zum ursprünglichen Wesen des Gottesglaubens
war, zu welcher das jüdische Volk als Ganzes sich nicht entschließen
konnte, während es sonst die erste, durch ihren hervorragenden Geist weltbeherrschende
Nation geworden wäre. Es ist vielleicht die größte Tragik der
Weltgeschichte und zugleich der größte Beweis des freien Willens
der Menschen in derselben, dass selbst Christus sein Volk, zu dem er sich doch
ausschließlich gesandt
zu sein erklärte,* nicht aus diesen Banden eines allmählich entstandenen
Formalismus, zu dem der Mensch immer mehr neigt und der seither nur noch weiter
ausgebildet worden ist,** zu einem rein
geistigen Gottesdienst emporheben konnte.
*Matthäus
15, 24. 8, 11.12.. Auch das Werk Christi war,
historisch genommen, ein von der freien Annahme der Menschen abhängiges
und infolge dessen ein gebrochenes, wie die Werke Gottes öfter sind; es
ging nicht ganz so, wie es gehen sollte und, mit Übereinstimmung der menschlichen
Freiheit gehen konnte. Matthäus 23, 37.
**Der Lebenslauf eines ganz orthodoxen Israeliten ist infolge dessen jetzt nicht
allein durch die schon sehr komplizierten Vorschriften des Gesetzes (der fünf
Bücher Mosis) mit einer Masse von äußeren Lebensregeln umgeben,
die er sich jeden Augenblick im Gedächtnis erhalten muss, um nicht eine
schwere Sünde zu begehen, sondern es haben denselben die 36 Traktate des
Talmud nebst ihren weiteren Exegesen und Erläuterungen noch eine Fülle
von Auslegungen beigefügt, die zur Zeit Christi noch nicht vorhanden waren.
Und dass auch die übrigen Völker, die »wilden
Zweige, die in diesen ursprünglichen, zahmen Ölbaum aufgepfropft sind«,*
fast den nämlichen Formalismus in etwas anderer Art verfallen mussten,
von dem sie nun immer wieder in jeder einzelnen Seele, die nur auf diesem historischen
Boden zur Kenntnis der Philosophie Christi** gelangt,
einen Prozess der Befreiung durchmachen müssen.
*Röm.
11, 17. Der alte Stamm bleibt deshalb aber immer doch der Stamm,
unverloren, bis die Zeit seiner Befreiung vorhanden ist
(3. Mos. 26, 44 und Matth. 21, 42-44), und darf daher nicht ungestraft
verachtet, oder verfolgt werden. Wir Anderen sind eigentlich doch alles Leute,
die nicht geladen waren, sondern nochmals auf allen Heerstrassen gefunden worden
sind (Matth.22, 7-9).
**Hier erst beginnt für sehr viele Menschen unserer Tage
der offene Widerspruch. Sie wollen wohl etwa noch an eine sittliche Weltordnung
glauben, deren logische Notwendigkeit ihnen doch annähernd klar ist, aber
sie kommen nicht über das Verhältnis dieser Person zu derselben heraus;
das ist der »Stein des Anstoßes«
noch heutzutage, wie damals, als die Juden die Lehre allein,
ohne die Person, auch angenommen hätten.(Matth.
13, 54; Joh. 10, 33). Das Wort Christi, das er selbst seiner Zeit
zu seiner Legimitation gegenüber den Jüngern des Johannes
aussprach, ist noch heute die Legimitation für seine Person und sein Werk
(Matth. 11, 4-6). Im übrigen sind die Spekulationen über
die Natur Christi, die in der
Kirche mehr Zank als Glück herbeigeführt haben, und in denen noch
heute bei Manchen das ganze Christentum aufgeht, gar nicht die Hauptsache (wofür
man sich auch wieder auf seine eigenen Worte berufen darf), sondern etwas,
was zwar nicht bei allen Menschen gleich zuerst, wohl aber später sich
ganz von selber erledigt, wenn einmal erst die menschliche
Seele, aus eigener guter Erfahrung, seinen Worten Glauben zu schenken gelernt
hat. (Matth. 11, 25-27. 28. 12, 32. 16, 17. Lukas
10, 22. 11, 27.28. 12, 10.Joh. 5, 24. 6, 29. 37. 7, 15-16. 8, 47. 9, 25. 39.
18, 37).
Es ist dagegen auch ein Beweis von der unerschütterlichen
Wahrheit und ungeheuren Lebenskraft des Christentums, nicht sowohl, dass
es seine direkten Gegner immer siegreich überwunden hat – das ist
das Geringere und versteht sich bei einer jeden wirklichen Wahrheit ganz von
selber* - , sondern dass es immer wieder mit seiner goldenen Klarheit und herzerquickenden
Kraft** durch den dichten Nebel von allmählich sich ansammelnden
menschlichen Lehrmeinungen, überflüssigen Erklärungen, ungesunden
Vermutungen und die darauf basierte Menschenknechtschaft
jeder Art hindurchbricht***, als die Lehre der politischen Freiheit,
ohne die keine wahre und dauernde menschliche Gemeinschaft besteht, als die
wahre Philosophie, die allein alle Fragen des menschlichen Daseins wirklich
löst, und als der stets bereite Trost jedes einzelnen Herzens, dem kein
noch so großes menschliches Unglück irgend einer Art auch nur entfernt
gewachsen ist (Lukas 11, 31. 36. Matth. 6, 33. 11,
29)
*Vergl.
Psalm 2 und 37 und Matth. 21, 42-44. Dafür braucht man nicht
ängstlich zu sorgen; wer es tut, glaubt nicht recht an die Wahrheit.
** Das wirkt wie Alpenluft in der durch Unglück
gebeugten, oder von dem Geschwätz des Tages und der Last des materiellen
Denkens in den dumpfigen Ebenen des Alltagsdaseins ermüdeten Seele. Man
muss sich nur die Mühe geben, selbst und ohne einen »Bädeker«,
sondern nur mit dem Evangelium in der Hand und offenem Auge und Herzen dafür,
auf diese Höhen zu steigen, statt davon bloß dann und wann Andere
etwas zu predigen hören. Diese großartig friedvolle Stimmung, die
allein diesen Worten innewohnt und die sie Jedem mitteilen,
welcher sie mit Aufmerksamkeit liest, ist in der altsächsischen Evangelienharmonie
Heliand vielleicht am vollkommsten beschrieben (Eingang
der Bergpredigt, Vers 1286): »da saß des Landes Hirte angsichts
der Männer….Er saß da und schwieg und sah sie lange an und
war ihnen hold im Herzen, der heilige König, milde in seinem Gemüte.
Seinen Mund erschloss dann des Waltenden Sohn, mit Worten lehrend viel herrlicher
Dinge.« Hätten wir diese Botschaft direkt aus israelischem
Geiste in deutsches Gemüt empfangen können, statt durch das spitzfindige
Literatenvolk der Griechen hindurch, sie hätte noch tiefere Wurzel bei
und gefasst.
***Selbstsucht und Hingebung an das Göttliche sind die zwei stets sich
gleich bleibenden Prinzipien jedes menschlichen Lebens. Die
Selbstsucht kann aber auch ganz gut neben einer sehr eifrigen Kirchlichkeit
bestehen, die dann oft in völlige Blasiertheit ausläuft.
Das Gesetz Gottes, das nur im Gedächtnis vorhanden ist,
hat gar keine Kraft und erscheint bloß als eine unerträgliche
Last, während es, innerlich erfasst, sich als ein köstliches
Präservativ gegen alles Schädliche erweist und allmählich sehr
leicht wird.
Da liegt also »der Weg, die Wahrheit und
das Leben« (Joh. 3, 36. 6, 68. 14, 6), die reale
geschichtlich begründete Philosophie,
die nicht bloß auf Hirngespinst beruht, und er wäre wohl leichter,
beiläufig gesagt, wenn es nicht zu viele Reiseführer und Begleiter
gäbe; die einzelne Seele würde ihn oft besser finden ohne die allzu
komplizierten »Anleitungen« (Lukas
18, 17. 9, 46.20, 46), die sie von Jugend auf dazu erhält und
die oft etwas eher Abschreckendes haben. Erführt zu allernächst zur
inneren Sicherheit (Sprüche 14, 26. Jesaias 40,
31), die den Mut zur eigenen weiteren
Forschung gibt und die große Zuversicht, dass das Leben
jedenfalls nicht umsonst gelebt sein werde; sodann zur geistigen*
und oft genug dadurch auch zur körperlichen Gesundheit, die von der geistigen
mehr abhängt, als umgekehrt, wie die heutige Medizin es noch annimmt,**
welche mit bloß materiellen Mitteln ihrer Aufgabe, den Menschen gesund
zu machen und zu erhalten, nimmermehr gerecht werden kann.
*Die vielen Liebhabereien unserer
Zeit, Sammlungen, Agitationen und Sport jeder Art sind immer auch ein Beweis
eines mit den eigentlichen Aufgaben des Lebens nicht beschäftigten und
daher mit sich selbst uneinigen Gemüts (Jeremias
2, 13).
**Das ist wenigstens die Anschauung des Christentums von der
Verbindung zwischen Geist und Körper, dass der erstere von dem letzteren
durchaus nicht unbedingt abhängig sei, sondern im Gegenteil auf denselben
einen sehr energischen Einfluss ausübe (vergl.Markus
9, 23. 29. Lukas 6, 19. Ap.-Gesch. 28, 6).
Daher sagt auch ein altes Kirchenlied:
»Keine größ’re Freud kann sein,
Davon grünen die Gebein,
Als des Geistes Fröhlichkeit;
Die mehr’ uns Herre Gott allezeit.«
Das wird wohl allmählich wieder etwas mehr auch in der Wissenschaft zu
Ehren kommen, sobald die rein materialistische Übergangsperiode mit einem
starken Defizit abgeschlossen hat.
Er führt auch zur sozialen Gesundheit;
nicht durch die beständige Agitation der Massen für irgend einen Zweck*,
sondern durch Gesundwerden der Einzelnen, aus denen die Masse besteht, woher
allein die wirkliche »Sanierung« des Ganzen
kommt, die sonst in den meisten Fällen auch nur eine äußere
Heilung ist.
*Der gerade durch die Agitation mit
Sicherheit alteriert und oft genug gänzlich verdorben wird (Lukas 17, 20-21).
Und er bezeugt sich fortwährend selbst ganz unbestreitbar, durch innere
Befriedigung, Jedem, der die Wahrheit
will und aufrichtig um jeden Preis sucht (vergl.
Joh. 1, 12; 4, 14; 6, 35.37; 7, 17; 8, 12; 9, 25.39)
Es wollen sie aber lange nicht Alle, die scheinbar eifrig danach streben (Joh.
3, 19. Lukas16, 14-15).
Nur bei dieser Auffassung der
Welt ist ferner Gerechtigkeit und Friede im Großen möglich.
Das ist das fünfte Weltreich,
das alle anderen überwindet, in dem die Menschen friedlich nebeneinander
leben können (Daniel 4, Jesaias 2 und 4),
sonst ist jeder »ewige Friede« eine Illusion.
Ohne sie wäre in der Tat ein beständiger erbitterter
Kampf ums Dasein und eine natürliche Geltendmachung des nationalen
Egoismus notwendig, bei der immer nur die Stärksten siegen und eine zeitlang
gewalttätig herrschen können; eine Hölle
für die Armen und Schwachen – kein Himmel für die Starken,
die auch in beständiger Furcht vor der Abnahme
ihrer Kräfte leben müssen, in welchem Falle sie sofort, nach
Art der Wölfe, von ihren Zunächststehenden beseitigt werden.
Ob der Stärkste ein einzelner
Tyrann, wie die römischen Kaiser und Napoleon I.,
ist, oder eine Gesellschaft von Tyrannen, wie sie der Sozialismus notwendig
an die Spitze stellen wird, ist sehr gleichgültig; übrigens endet
jede Kollektivherrschaft notwendig in Einzelherrschaft.
Dass dem aber nicht also ist,
das zeigt Gott deutlich auf jeder neuen Seite seiner Weltgeschichte, und man
kann es auch im täglichen Leben beobachten, wie alles Schlechte zuletzt
doch seinen Meister in seiner eigenen Mitte findet und immer wieder »die
Sanftmütigen des Erdreich besitzen« und im Segen stehen (Matthäus
5, 5; Hoseas 14, 10; Psalm 37,11). Dass in der Menschheit doch ein
beständiger Fortschritt zum Bessern vor sich
geht, das ist überhaupt der stärkste Beweis
für das Dasein eines Gottes, ohne das sie in der Tat nur
durch einen intelligenten Despotismus
in der Weise der besseren römischen Cäsaren zu regieren
wäre, aber einer fortschreitenden Verschlechterung
durch denselben notwendig anheim fallen müsste.
Ein historisch gebildeter Freund der Freiheit
ohne Gottesglauben ist daher eine etwas unlogische Erscheinung. Nur mit diesem
kann er fest an einen Fortschritt der Menschheit auf freiheitlichem
Wege glauben und jedem beginnenden Tage freudig ins Auge sehen;
sonst ist Furcht vor den Massen und infolge dessen Ergebung an irgend eine menschliche
Regierungsmacht* in Kirche oder Staat sein wahrscheinlicher Lebensausgang.
* Das ist daher gegenwärtig neuerdings
in hohem Grade der Fall, wie zu Anfang des Jahrhunderts. Geistvolle Atheisten
sind meistens Anhänger einer absoluten Staatsgewalt. Beispiele sind Hobbes,
Hegel, Schopenhauer, Goethe. Sehr viele heutige Bismarckfreunde und Sozialistenfürchter
sind es ebenfalls nur aus innerem Atheismus. Würden sie mit einem naiven
alten kirchlichen Sänger denken: »Was ist des Satans Reich und Stand?
Wenn Gottes Geist erhebt die Hand, fällt alles über’n Haufen«,
so würden sie viel ruhiger der Zeit, die allerlei Dinge gebiert, deren
Ende schon bestimmt ist, ihren Lauf lassen. Die politischen Anschauungen sind
überhaupt weit mehr, als man allgemein glaubt, ein Prüfstein
für die Aufrichtigkeit und Tiefgründigkeit des religiösen
Bekenntnisses.
Eine demokratische Republik vollends
mitten unter autokratischen Monarchien wäre, wenn kein Gott bestünde,
ein Ding der Unmöglichkeit, heute mehr noch, als früher, und es ist
ein tief wahres Wort in seiner schlichten Einfachheit, mit dem die moderne Eidgenossenschaft
in Aarau eröffnet worden Ist: »Unsere
Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«
Ohne die politische Freiheit erhält
sich übrigens auch die religiöse
nicht lange, sondern es geht ebenfalls in Menschenknechtschaft über. »Kirche
und Staat« sind ein unlösbarer
Widerspruch; kirchlich und bürgerlich freie, sich selbst regierende
Gemeinden dagegen ergänzen sich auf das beste und sind die allein
ganz passende und sicherlich die Zukunfts-Form des Christentums.
Die Welt muss überhaupt in jeder Richtung durch Freiheit
zur Vollendung gelangen, nicht durch Zwang und Gewalt irgend einer Art.
Der freiwillige Gehorsam jedes
Einzelnen und allmählich ganzer Nationen gegenüber der großartigen
sittlichen Weltordnung ist der Zweck und das Ziel der Weltgeschichte.
Aber eben auch historisch, durch
das Leben, und nicht
philosophisch, durch das bloße Denken, vollzieht sich
dieser alleinige wahre Fortschritt der
Menschheit.
Du hast nun inzwischen, bis das erfolgt, die Wahl vor dir, lieber Leser, unter
all den Wegen – zu deiner persönlichen
Erkenntnis der Wahrheit und zu deinem persönlichen
wahren Wohlergehen, wie zu demjenigen der Gesellschaft, unter
die du gestellt bist -, welche man Philosophien oder Religionen nennt und die
alle keinen reellen Wert haben, wenn sie nicht dazu anleiten. Beklage dich nicht
über dein Geschick und komme dir nicht interessant vor, wenn du den
richtigen Weg verfehlst und dann
der inneren Befriedigung ermangelst. Verachte im Gegenteil gründlich den
modernen Pessimismus, der in den allermeisten Fällen auf sittlichen Mängeln,
oder moralischer Schwäche überhaupt, beruht und keineswegs etwas Großartiges
ist. Wenn du an den hier empfohlenen Weg vielleicht noch nicht recht glauben
kannst, so ist mir das sehr begreiflich, denn du hast ihn noch nicht ernstlich
versucht und willst dich wahrscheinlich auch noch nicht dazu entschließen,
seine Konsequenzen in allen Stücken auf dich zu nehmen.
Leichter ist es schon, bloß gelegentlich ein wenig zu philosophieren und
irgend einem derartigen »System« anzugehören,
was heutzutage keinerlei schwierige moralische Verpflichtungen nach sich zieht,*
oder bei voller Gesundheit das Leben zu genießen,
oder auch endlich irgend einer Kirchengenossenschaft sich oberflächlich
und ohne Widerspruch anzuschließen, wie es heute Viele tun, statt
selbst über alle großen Fragen des Lebens reiflich nachzudenken und
darin eine selbständige Überzeugung sich zu verschaffen.
Aber Alle, die diesen letzteren
Weg mit Ausdauer gegangen sind, sagen, dass auf ihm zuletzt Freudigkeit,
Kraft zum Leben und Sterben, die volle Übereinstimmung mit sich selbst
(Jesaias 40, 31. Jeremias 17, 5-8) und die richtige Stellung zu der ganzen Welt
gefunden haben, die sie suchten – das, was auch deine Seele, bewusst oder
unbewusst, sucht und ohne das sie sich mit keinen
anderen Gütern und Genüssen dieser Welt befriedigen lässt.
*Die moderne Philosophie ist darin
in der Regel sehr indulgent und von dem alten Stoizismus weit entfernt; dazu
braucht man bloß Schopenhauers kleine Schriften
zu lesen, um von den eigentlichen Materialisten gar nicht zu sprechen. Das Erhebende
in Schopenhauer, das mitunter selbst von Frauen
betont wird, denen doch seine ganze Art widerwärtig sein muss, liegt bloß
in dem Abscheu vor Scheinwesen, denen er in seinen kleinen Aufsätzen oft
sehr gelungen und ohne allen Respekt vor den Götzen seines Tages äußert.
So sehr auf Wahrheit angelegt ist eben eine bessere Seite, dass jeder
solche kräftige Protest gegen Schein und Lüge in ihr ein Echo findet
und befreiend auf sie wirkt. Die Menschen müssen sich
mit ihrem eigenen Mund verurteilen, durch das, was
sie selbst als ihren Lebenszweck proklamieren; sie können nicht
anders; vollkommene, erfolgreiche Heuchelei, die auf alle Zeit täuscht,
gibt es sehr wenig auf der Welt.
Wie Vieles versuchst du nicht,
schon bloß um der äußeren Gesundheit, vollends um deines gesamten
äußeren und inneren Glückes willen? Barfuß laufen und
in nassen Tüchern zu Bette gehen, oder Pilgerfahrten, Gebetswochen und
andere so leicht auszuhaltende, »geistliche Exerzitien«
sind noch das Allerwenigste von gläubiger Einfalt, das du dir zumuten
lässest; es gibt auch keine wirkliche Mühsal, keine wahre Torheit,
keine geistige und körperliche höchste Anstrengung und keine Marter
und Todesgefahr, die nicht schon Tausende um des Heiles ihrer Seele willen über
sich genommen haben. Der Weg dazu liegt näher und ist viel einfacher. Höre
zum Schluss, was ein gelehrter Mann aus der Reformationszeit dir darüber
sagt, der ihn selbst nicht ganz zu Ende gegangen ist, zum rechten Zeichen und
Denkmal dafür, dass es nicht am Wissen des
Weges, sondern am Gehen
desselben liegt.
(Christus spricht:)
»Wie seid ihr Menschen so betort,
Dass ihr nicht glaubet Gottes Wort!
Mein Zusag ich gar treulich halt
Und hab des Macht und vollen Gwalt.
Wie seid ihr denn so toricht Leut,
Die mir mißtrauen allezeit?
G’neigt bin ich mit Erbärmend
zu dir,
Warum fliehst du denn nit zu mir
Als einer sich’ren freien Statt,
Da jede Schuld Vergebung hat?
Darum, o Mensch, vergißt du mich,
Und führt zum Tod dein Blindheit dich,
Gib mir kein Schuld, klag’ mich nit an,
Du hast’s dir selbst mutwillig tan.« S.
212-244
Aus: Carl Hilty, Glück . 1896 . Frauenfeld J. Hubers Verlag, Leipzig J.E.
Hinrich’sche Buchhandlung
Trost
für Schlaflose Nächte
Das Licht
der Wahrheit
Kapitel 3 des Ev. Joh. enthält noch zwei weitere
sehr merkwürdige Sprüche, 19 und 21.
Es fehlt auch heute nicht an Belehrung in der Welt; auch nicht daran, dass die
Menschen wegen ihres aufgeklärten Verstandes den Worten Gottes nicht mehr
glauben könnten, sondern sie wollen dieses Licht nicht um ihrer Taten willen,
die das volle Licht nicht vertragen. Wollten sie diese ändern, so würden
sie den Glauben sehr leicht und natürlich finden. Daher nützt auch
alle Predigt so wenig, und daher suchen alle Kirchen durch ihre gemalten Glasfenster
nicht gar zu viel Licht in ihre Räume zuzulassen, weil es ihnen viele ihrer
jetzigen Besucher vertreiben würde.
Der andere Spruch sagt, dass dem, welcher wirklich der
Wahrheit dient, um Bedeutung und Wirksamkeit bei der Welt nicht bange zu sein
braucht. Denn das Licht beleuchtet ihn dann; er kann nicht im Dunkel bleiben.
Für nichts haben die Menschen in der Tat, trotz ihrer Fehler, ein so feines
und geneigtes Ohr wie für die Wahrheit. Wenn dieselbe auch heute noch im
fernsten Winkel der Welt redet, wie z. B. in dem unbedeutenden und im Sinne
der damaligen Zivilisation »zurückgebliebenen«
Judäa und Galiläa, so wird es rasch bekannt und gelangt von selbst
zu tausend Ohren, ohne alle Reklame. Ob es dann aber Boden findet und Wurzel
fasst, ist eine andere Frage, die Christus in dem bekannten Gleichnis
Lukas VIII, 5-15 auseinandersetzt. S.324
Aus: Carl Hilty, Für schlaflose Nächte, 1901 Frauenfeld J. Hubers
Verlag
Formeln
und Geist
Nicht jeder, der zu mir sagt
»Herr, Herr . . . « Mt 7,24
Es gibt ein verkümmertes, eingeengtes Christentum, das nicht gerade dem
Geist Jesu entspricht und sich schon viele hochgemute Menschen entfremdet hat.
Wenn dir am Reiche Gottes liegt, so laß dir das Religiöse nicht durch
ein Begriffssystem ersetzen, sondern suche es an der Quelle, im Evangelium!
Die Geschichte des Christentums zeigt, daß seine echtesten Repräsentanten
die wirklich frommen und heiligen Menschen sind, auch wenn sie nicht besonders
bekannt wurden. Die kirchliche Institution ist gewiß unentbehrlich, aber
bei vielen Offiziellen wäre zu fragen, wieweit sie wirklich die Religion
Jesu Christi darstellen. Wahres Christentum hat seinen Prüfstein darin,
daß es sich im täglichen Leben bewährt, liebevoller zu den Mitmenschen,
unabhängiger von den Dingen, froher und hoffnungsvoller für die Zukunft
macht — und eben damit ist es nicht Partei, sondern ist einfachhin Christi
Religion. Ich glaube, daß Christus anzuhangen das Beste und daß
es der Sinn des Lebens ist, im innersten Wesen ihm ähnlich, Gott gehorsam
und gütig zu den Mitmenschen zu werden. S.29
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Weltübel
Wie kann gegen Gott ein Mensch
im Rechte sein und rein erscheinen der Sterbliche? Hiob
25, 4
Daß uns an der gegenwärtigen Weltordnung manches mangelhaft erscheinen
muß, ist namentlich angesichts des physischen und moralischen Elends zahlloser
Menschen unbezweifelbar. Manche recht gut veranlagte Menschen werden darüber
zu Atheisten, und wir erfahren gelegentlich von einem, daß ihn die atheistische
Überzeugung mit der nämlichen unwiderstehlichen Gewalt einer Offenbarung
überfallen habe wie den Paulus bei Damaskus die christliche. Was uns darüber
beruhigen kann, ist zweierlei: Wir sehen erstens nicht alles, was für ein
wirklich abschließendes Urteil maßgebend wäre, namentlich nicht,
was auf dieses doch recht kurze Erdenleben folgt und dessen Ausgleich bildet.
Dann aber liegt die Liebe, der Hauptteil unseres Glückes, doch stets und
unter allen Umständen in unserer Hand. Ohne Liebe gibt es kein wirkliches
Glück, mit ihr niemals ein vollständiges Unglück.
Den Menschen zuerst zu einem Glauben bringen zu wollen, wie es unsere Bekehrer
anfangen, ist meist ganz vergeblich: man muß ihn erst zur Erkenntnis der
Liebe bringen. Dann kommt der Glaube an das, was man liebt, ganz von selbst
in den Menschen hinein. Das meint Christus im Evangelium: »Wenn jemand
mich liebt, so wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben«
(Joh 14,23). Die Liebe hat auch immer
noch einen Platz in Menschen, denen ein Glaube unfaßlich ist; mit der
Liebe kann man sie noch anfassen und ihnen zu einem Zusammenhang mit dem göttlichen
Wesen verhelfen. S.43
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Christi
Opfer – unser Hoffnungsgrund
In diesem seinem Willen, durch
die Darbietung des Leibes Jesu Christi, sind wir ein für allemal geheiligt.
Heb 40,40
Christus kam nicht bloß, am Schluß zu leiden und zu sterben, sondern
auch vorher zu leben und zu zeigen, daß und wie ein besseres Leben möglich
sei. In diesem Leben sollen wir ihm nachfolgen und dabei auch unser Teil leiden
und Glaubensprüfungen geduldig annehmen und im Anschluß an ihn überwinden.
Er hat das Größte tun und das Schwerste leiden müssen, damit
wir das viel Geringere, was uns treffen mag, auch für möglich halten
und tun, zumal wir auch seine Kraft und Verheißung besitzen.
Die feste und eigentliche Grundlage des Lebens ist die, daß das Böse
in der Welt und im einzelnen von rechtswegen schon besiegt ist und daß
es sich bloß darum handelt, diesen Sieg auch tatsächlich für
den einzelnen Fall geltend zu machen. Die Erlösung ist durch Christus ein
für allemal geschehen. Ohne dies wäre es allerdings möglich,
an dem Sieg des Guten zu verzweifeln; so aber ist diese Verzweiflung stets ein
Mangel an persönlichem Mut und ein Verrat an der Sache der Menschheit.
S.102
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Überwindung
der Todesfurcht
Das ist die Verheißung, die
er uns selbst verkündet hat, das ewige Leben.
1. Joh 2,25
Ein Fortleben der Persönlichkeit haben von jeher die edelsten Menschen
geglaubt. Ohne dies würde das kurze irdische Dasein für niemand gänzlich
der Mühe, gelebt zu werden, wert, für die meisten aber eine völlig
unnötige und widersinnige Summe von mannigfachem Elend sein, die sich mit
einer göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit nicht vereinbaren ließe.
Deshalb ist der Gottesglaube mit der Vorstellung eines ewigen Lebens eng verknüpft.
Über die Art des Fortlebens läßt sich wenig sagen. Jedenfalls
wird es Tätigkeit und Fortentwicklung zu größerer Vollkommenheit
namentlich in der Liebe sein.
Die nächste Folge eines zuversichtlichen Glaubens an ein ewiges Leben ist
das Verschwinden der Furcht im Leben und im Tode: wozu denn Todesfurcht, wenn
er nur rasche Befreiung von allen Hindernissen ist, die unserem höheren
Leben noch im Wege stehen? Eine weitere Folge des Unsterblichkeitsglaubens wird
die verminderte Wichtigkeit aller körperlichen Dinge gegenüber den
geistigen sein. Auch die Leiden, das Rätselhafte, was es in der Welt gibt,
verlieren ihre große Bedeutung in einem Leben, das eine unendliche Fortsetzung
hat. Sonst ist eine beständige Empörung gegen die »Ungleichheit
und Ungerechtigkeit« nur zu begreifen. Selbstverständlich verlieren
auch ihre große Bedeutung in einem Leben, alle äußeren Vorzüge
wie Reichtum sofort an Bedeutung, wenn sie im Licht der Ewigkeit betrachtet
werden.
Schließlich ist wirklich empfundene Nähe Gottes in der Menschenseele
für die, welche sie erleben, der lebendigste Beweis sowohl von dem Dasein
Gottes als von einem späteren Fortleben in einer dauernden Nähe Gottes.
S.117
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Das
wertvolle Leben
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so bittet, um
was ihr wollt, und es wird euch geschehen. Joh 45,7
Was Jesus hier sagt, ist vielleicht der merkwürdigste Ausspruch der ganzen
Bibel. Wenn es wahr ist, so ist ja eine stets bereite Hilfe für alle die
Übel vorhanden, welche den Menschen während seines Erdenlebens bedrohen.
In den Reichen der Welt Friede und Freude für alle oder auch nur für
die Mehrzahl zu suchen, ist trotz aller fortschreitenden »Kultur«
eine Illusion, die wenige mehr haben. Was diese Kultur im besten Falle hervorbringt,
ist eine Philosophie der möglichst wohlwollenden Weltklugheit, nach der
jetzt noch die Bessern unter den gebildeten Menschen zu leben versuchen. Sie
ist annähernd durchführbar, sofern sie von sehr glücklichen und
geordneten äußeren Verhältnissen getragen ist, sonst aber in
starker Gefahr, gelegentlich in Pessimismus umzuschlagen, und sie endet ganz
regelmäßig nur in Resignation, nicht in Freudigkeit.
Der andere Lebenslauf ist der in Gottes Führung, welcher verheißt:
»Ja, ich will euch tragen bis in das Alter« — »Euer
Herz soll sich freuen, und euer Gebein soll grünen« (Is46,4;66,14).
Der Unterschied zwischen einem Leben dieser Art und dem, wie es sonst gewöhnlich
besteht, ist der, daß es dabei weder Angst noch Notwendigkeit von Zerstreuung
oder von viel Erholung, noch endlich von Selbsttäuschung gibt, sondern
daß man stets den Dingen, so wie sie sind, ins Auge schauen kann. Sodann
braucht man dabei nicht einmal notwendig Gesundheit und ungebrochene Kraft,
sondern die Schwachen und Leidenden können noch immer fröhlich wirken
und leisten oft genug für die Menschheit mehr als die Gesündesten
auf dem anderen Wege. S.159
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Wahres
Christentum
Jetzt ist die Stunde da, da die
wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden.
Joh 4,23
Das wahre Christentum hat eine Größe, von der viele Christen keine
rechte Einsicht haben. Sie behandeln es als eine bloße Lehre, verbunden
mit allerlei kleinlichen Anschauungen und äußeren Vorschriften, von
denen Christus sehr weit entfernt war. Ein weitherziges Christentum ist gar
nicht lax in der Auffassung der Lehre, aber anerkennend, daß es Menschen
gibt, die besser sind als ihre Doktrin und daß überhaupt die Doktrin
nicht die Hauptsache ist, sondern das Leben, die Liebe zu Christus, durch die
man zur wirklichen Wahrheit gelangt. —
»Wer die Wahrheit tut, kommt an das Licht, und von
seinen Taten wird offenbar, daß sie in Gott getan sind« (Joh
3,21). Es fehlt auch heute nicht an Belehrung in der Welt; auch
liegt es nicht daran, daß die Menschen wegen ihres aufgeklärten Verstandes
den Worten Gottes nicht mehr glauben könnten, sondern sie wollen dieses
Licht nicht, weil ihre Taten das volle Licht nicht ertragen. Wollten sie diese
ändern, so würden sie den Glauben sehr leicht und natürlich finden.
—
Es fehlt (auch) an uns, wenn das Christentum keinen Kredit hat und die Wahrheit
als solche nicht zur Geltung kommt. — Das Gesetz der Liebe, von dem Christus
spricht: »Ein neues Gebot gebe ich euch, daß
ihr einander liebet« (Joh 13,34), ist auch seither ein
»neues« Gesetz geblieben. Im allgemeinen
gilt als Grundsatz des Verhaltens der Menschen gegeneinander höchstens
das Gesetz des Rechtes. Je nach dem, ob du das grundlegende Statut des Christentums
als dein Lebensgesetz anerkennst und aufrichtig annimmst oder nicht, bist du
ein Christ und darfst auch auf den übernatürlichen Schutz und Segen
hoffen, der daran gebunden ist. S.185
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Der
Pessimist
Nach Weisheit sucht der Spötter,
doch vergeblich. Spr 14,6
Die Menschen, die sich entschuldigen wollen, daß sie nicht mehr Liebe
haben, oder Pessimisten und Weltverächter geworden sind, reden beständig
von den schlechten Erfahrungen, die sie mit der Liebe gemacht hätten. Angenommen,
es sei so, und sie hätten es wirklich ernstlich mit der Liebe versucht—
haben sie seither bessere Erfahrungen mit der Verachtung und dem Haß gemacht?
Meist aber haben sie es nie ordentlich versucht, oder ihre sogenannte Liebe
ist auch bloß Egoismus gewesen. Prüfe das redlich! —
Ob die Menschen dich lieben, dir dankbar sind usf., ist an und für sich
ganz und gar gleichgültig für deinen inneren Fortschritt. Du sollst
es auch nicht eifrig suchen. Gott wird dir schon so viel davon zufließen
lassen, als förderlich ist oder der menschlichen Schwachheit nottut. Aber
verwechsle es nicht mit »Ehre«! Dafür
gilt in aller Schärfe das Wort des Herrn: »Wie
könnt ihr zum Glauben kommen, da ihr Ehre voneinander annehmt, hingegen
die Ehre, die vom alleinigen Gott kommt, nicht sucht?« (Joh 5,44).
Das sollte sogar den größten Unterschied zwischen der Welt
und dir bilden, daß du darauf verzichten und es Gott überlassen kannst.
Welche Bedeutung und Wirkung Er dir geben will? »Meine
Gnade genügt dir« (2 Kor 12,9). Das ist
das Bessere und die beste aller Gaben überhaupt. —
Die meisten Menschen haben keine Ahnung von dem Glück und der Freudigkeit,
die auf dieser mangelhaften Erde doch, trotz allem Entgegenstehenden, zu haben
ist. Sie suchen das Glück, wo es überhaupt nicht ist. S.207
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Berufung
zum Dienste Gottes
In Gottesfurcht unsere Heiligung
zu vollenden. 2 Kor 7,1
Nicht sinnen und sorgen, sondern beten und arbeiten ist in allem, und gerade
in schwierigen Verhältnissen, das Richtige. — Man muß jeder
guten Regung sogleich folgen und sie durch Ausführung unwiderruflich machen
— auch in gleicher Weise jeder schlechten Regung sofort in Gedanken widerstehen.
Das Vorwärts kommen im Guten wie im Schlechten — der Charakter im
guten und schlechten Sinne — setzt sich weit mehr aus Kleinigkeiten zusammen,
als man es sich vorstellt; und entscheidend gewonnen oder verloren hat der Mensch
sein Leben, wenn ihm das Gute oder das Schlechte zur Gewohnheit geworden ist.
—
Die wahre Größe eines Menschen besteht darin, daß er ein vollkommenes
Instrument des Guten, oder besser gesagt, des göttlichen Geistes ist, der
durch ihn spricht und handelt. S.237
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Praktisches
Christentum
Bringt euch selbst als lebendige,
heilige, Gott wohlgefällige Opfergabe dar! Es sei dies eure von Einsicht
geleitete Gottesverehrung! Röm 12,1
Praktisch genommen, ist die Hauptsache im menschlichen Leben der einmal gefaßte
Entschluß, stets seine Pflicht zu tun und auf keine Neigungen oder Einwände
dagegen viel zu achten. Kommt dann dazu die Überzeugung, daß man,
um dies zu können, an Gott glauben und mit Ihm in steter Verbindung stehen
muß, so ist die Sache gewonnen und das Herz fest geworden. Solange aber
nicht beides vorhanden ist, ist das ganze ungeheure Gerede von Religion und
Moral fast nur ein leerer Schall. —
Ich möchte mein Leben nicht einem Gegenstand gewidmet haben, der mit der
Förderung des Menschenwohles in einer allzu geringen direkten Verbindung
steht, am allerwenigsten dem Vergnügen oder dem bloßen Gelderwerb.
Daß manche in dem tiefen, täglich zunehmenden Gefühl eines »unnützen
Daseins« nicht zu rechter Gesundheit der Seele und des Leibes gelangen,
vielmehr die vorhandene noch mit beständiger Sorge dafür verschlechtern,
ist ganz begreiflich. Ihnen sollte der Arzt vor allen Dingen sagen: Arbeitet!
Dazu seid ihr berufen und verpflichtet! Interessiert euch für etwas Größeres
als euer kleines Ich! —
Die Klagen über die Welt und ihr Treiben sind das Unnützeste, was
es gibt. Wären wir, wie wir sollten und könnten, so würde sich
vieles ganz von selber bessern. Das Christentum ist offenbar so gemeint, daß
eine Gesellschaft von Menschen im Vertrauen auf Gottes Schutz und die beständige
Nähe ihres Herrn ruhig ihren Weg geht und so viel als möglich Gutes
tut, um es mehr durch ermutigendes Beispiel als durch Lehre auszubreiten. S.238
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Glaubensschwierigkeiten
Die Weisheit läßt
sich finden von denen, die sie suchen. Weish 6, 13
So ist es nicht der Verstand, sondern in erster Linie etwas von anderer Art:
die Neigung, die zwischen dir und der Welt des Glaubens steht. Der Verstand
muß bloß rechtfertigen, was der Wille schon beschlossen hat. Im
umgekehrten Falle, wenn die Neigung zur Glaubenswelt hinweist, wird man über
die Verstandesbedenken immer hinwegkommen. Daher sagt die Bibel, das Verderben
des Menschen sei die Sünde — Sünde aber ist jede Neigung, neben
der der Gedanke an Gott nicht bestehen kann. Das steht in Wahrheit zwischen
dir und dem Glauben, der das Glück deines Lebens sein könnte. Beseitige
das Hindernis, dann kommt der Glaube ziemlich leicht und ganz von selber! S.252
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Du und die
Tadler
Mit einem Streitsüchtigen
streite nicht, zu einem Feuer trage nicht nach Holz herbei! Sir
8,3
Die Menschen kennen uns gewöhnlich besser, als wir uns selber kennen. Sie
sprechen nur ihr Lob oder ihren Tadel nicht immer aus. Bei allen Vorwürfen
oder Kritiken und Oppositionen muß man sehr gewissenhaft prüfen,
was berechtigt daran ist, und daraus Nutzen ¬für die Zukunft ziehen
— im übrigen aber, nämlich wenn man ganz recht hat, schweigen.
—Ungerechtigkeit, Verfolgung und Demütigung durch Menschen sind uns
zeitweise zu unserer Erziehung nötig. Aber alle, die mit Gott in Frieden
stehen, werden zuletzt erleben, was beim Propheten Isaias steht: »Du
sollst erfahren, daß ich dein Helfer bin und dein Befreier« (Is
60,16).
Als Regel genommen, ist es am besten, man schweigt zu Kritik. Denn die Besseren
unter denen, die dich verletzten, sagen sich dann selbst das, was man ihnen
sagen könnte, und noch schärfer — die andern aber suchen und
finden in jeder Erwiderung eine Entschuldigung für ihr Verhalten.
Gegen heimliche Neider ist die beste Abwehr die, immer wieder neues Gutes zu
produzieren. Dann stürzen sie sich schließlich in ihr eigenes Schwert
oder gehen wenigstens still auf die Seite, wie der Teufel im Buche Hiob, von
dem man gar nichts mehr hört, nachdem seine Bemühungen sich fruchtlos
erwiesen. Nur einem kann man nicht ausweichen, wenn man auf ihre Kritik wenig
achtet: für hochmütig gehalten zu werden — und manchmal ist
sogar ein Körnchen Wahrheit darin. (Es gibt aber
einen rechten Stolz: das Bewußtsein des guten Gewissens.) S.267
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Vorsätze
Nach Deinem Ratschluß
geleitest Du mich, und am Ende nimmst Du mich auf in die Herrlichkeit. Ps
72, 24
»Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle
gepflastert«, sagt ein im ganzen sehr zutreffendes Sprichwort.
Aber warum ist das so? Nicht bloß wegen der Wankelmütigkeit des menschlichen
Herzens oder der Macht der gegenteiligen Einflüsse, die uns von allen Seiten
umgeben, sondern sehr oft auch deshalb, weil unsere guten Vorsätze in der
Tat unausführbar, der Kraft, der Zeit, den äußeren Umständen
nicht angemessen sind.
Das ist in der Führung Gottes anders. Da wird dem Menschen nichts zugemutet,
was er nicht kann oder was unzeitig oder für was die Kraft noch nicht vorhanden
ist. Wenn du dich in Gottes Führung begibst, so kannst du dir alle Vorsätze
sparen: es kommt eins ums andere und In der richtigen Reihenfolge alles, in
der Form eines ganz deutlichen Anrufs und der Gelegenheiten an dich heran, und
das bringt dich wahrhaft vorwärts. Das nennt ein Prophet schön: »An
Seilen der Liebe gehen« (Os 11,4), wie ein kleines
Kind sich von der Mutter führen läßt. Das ist noch besser als
Vorsätze. Es kommt manchmal bei dem Bestreben, sich selbst zu bessern,
mehr heraus, wenn man sich vorsetzt, alles Häßliche und Ordinäre
zu meiden: man hat das mehr in seiner Gewalt als das Böse. Und der beste
Vorsatz ist — das Gebet. Gott erweckt uns selbst, daß wir um das
bitten, was ihm gefällt, und will uns dieses Gebet und den guten Willen,
den wir von ihm empfingen, unendlich belohnen. S.268
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München
Die
Macht des Bösen
Der Teufel ist zu euch niedergefahren
in grimmem Zorne, wissend, daß er nur noch kurze Zeit hat. Off
12,12
Die Macht des Bösen ist unsere Furcht: sobald wir es nicht fürchten,
wirkt es schwach.
Das Böse muß scheinbar siegen und triumphieren; dann bricht es zusammen
— vorher nicht.
Dem wahrhaft Guten in der Welt wird, bis es hinreichend erstarkt ist, stets
die Liebe und Anerkennung der Welt und ihrer Organe fehlen; es wirkt aber dennoch
und wächst in dieser einsamen Stille. Daher muß jeder Mensch, der
zu Wirksamkeit kommen soll, einmal im Leben und wohl auch mehrmals wählen
zwischen einem Leben mit Erfolg und dem wahren Glauben. Denken wir an die Versuchungsgeschichte
Jesu und jenes sein Wort: »Ehre voneinander —
oder die Ehre, die vom alleinigen Gott kommt« (Joh 5,44).
—
Vermissen Sie nicht zu sehr die Strafen der Gottlosen dieser Welt!
Die Gottverlassenheit und Dunkelheit in einer lieblosen Seele ist ein Schicksal,
das mit keiner anderen Strafe an Härte zu vergleichen ist. »Aber
die Gestraften empfinden es nicht so!« Das ist meiner Erfahrung nach nur
teilweise der Fall; sonst würden sie nicht so sehr nach Vergnügen,
Anregung, Zerstreuung jagen oder zuletzt gar zur Flasche oder zum Morphium greifen,
um ihr Elend zu vergessen. Wenn manche Menschen nicht so einfältig wären,
alles Hohe und Vornehme oder Reiche zu bewundern, so würde dieses Gefühl
des Elends bei den Gottlosen noch viel größer sein.
Die Hölle für die Bösen wird es sein, nur ihresgleichen zu finden.
In der Welt beruht die Macht des Bösen ganz auf der Furcht und Glaubenslosigkeit
der Lauen an ihre Sache. S.362
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
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Heilung
durch den Geist
Ein fröhliches Herz bringt Gesundheit, ein trübes Gemüt
läßt den Leib verkümmern. Spr 17, 22
Nach meiner Erfahrung im Leben entspringen die meisten Krankheiten nicht ohne
Mitwirkung sittlicher Gebrechen. Bei dem großen Heer der Nerven- oder
beginnenden Geisteskrankheiten ist dies sogar fast ausnahmslos die Regel. Die
Ursache wird aber sehr selten behoben, oft sogar nicht einmal gehörig ermittelt.
Manche solche Kranke schleppen sich dann ein halbes Leben lang durch Behandlungen,
in denen sie den Scharfsinn der Ärzte auf die Probe stellen, und hören
sie einmal gar von einem Wundermann, der alles heilen könne, so strömen
sie zu Tausenden hin, sind aber gewöhnlich in kurzer Frist wieder ebenso
krank wie vorher.
Die besten Heilungen, besonders von nervösen Krankheiten, erfolgen da,
wo ein kräftiger, wahrer Glaube und ein entschiedener Entschluß,
das wiedergewonnene Leben besser anwenden zu wollen als bisher, dem heilenden
Bemühen entgegenkommt.
Es kommt vor, daß kränkliche Leute ihre Pflichten viele Jahre hing
durch treu und fröhlich erfüllen, weil sie gar nicht in der äußeren
Lage sind, viele Kuren an sich wenden zu können, während andere in
beständigen Kuraufenthalten ein innerlich trostloses Leben führen.
Vielen solchen könnte geholfen werden, wenn man ihnen einfach die Pflicht,
etwas zu leisten, begreiflich machen könnte. Manchen stets kränkelnden
Menschen fehlt sogar in Wirklichkeit gar nichts weiter als eine rechte Pflicht
und Lebensaufgabe. Lege ihnen eine solche auf, nach vollstem Maßstab ihrer
Kraft, so werden sie dadurch gesünder. Das Allergesündeste ist eine
rechte, wahre Liebe: vermöge der Verleugnung alles kleinlichen Egoismus,
der darin eingeschlossen ist. S.372
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
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Innere
Entwicklung
Ich bin voll Zuversicht, daß
Er, der das gute Werk in euch begonnen hat, es auch vollenden wird. Phil
1,6
Auch die innere Entwicklung des Menschen ist eine ganz stufenweise und macht
keine auffallenden Fortschritte. Man muß lernen, Geduld mit sich selbst
zu haben. Ein sicherer Höhepunkt ist dann erreicht, wenn ein Mensch ganz
natürlich und ohne Anstrengung darauf verzichten kann, an sich selbst zu
denken und alles unwillkürlich nach dem Maßstab seines Wohlbefindens
und Behagens zu beurteilen, vielmehr sich nur als Diener einer großen
Idee betrachtet. Das nennt die Heilige Schrift einen »Knecht
Gottes« (Is 49, 1). —
Wenn die Menschen ohne eigenen Versuch es glauben könnten, wie beglückend
das Leben ist, wenn man das eigene Glück nicht sucht, sie würden alle
ohne Ausnahme zu diesem System übergehen, und die Welt wäre mit einem
Schlage geändert. —
Vielleicht muß jeder rechte Mensch in seinem Leben einmal »unter
die Übeltäter gerechnet werden« (Mk 15,28).
Hat er dann Gott zum Trost, einen Trost, der unendlich über alles
menschliche Urteil hinaus trösten kann, hat er das gute Gewissen, das aus
dem Bewußtsein der göttlichen Hilfe entsteht, dann trägt er
das Urteil der Menschen leicht. Dadurch wird er erst ein tapferer Mensch, den
Gott brauchen kann. Vielleicht ist jeder vorher ein Feigling, der sich fürchtet,
wo es gilt, für das Reich Gottes da zu sein. —
Wenn einmal die ganze Gedankenwelt dahin gerichtet ist, zu fragen:
»Was kann ich jetzt Gutes und Rechtes tun?«
statt: »Was kann ich Schönes und Angenehmes
genießen?« dann wirst du erst eigentlich wissen, was Leben
heißt. S.374
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
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