Katharina von Siena (1347 – 1380)
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Italienische
Nonne, Mystikerin und Kirchenlehrerin. Caterina
Benincasa, wie sie mit bürgerlichen Namen hieß, wurde
als 24. Kind einer Färberfamilie am Himmelsfahrttag
1347 geboren. Bereits mit sieben Jahren erfuhr sie ihre erste Vision
mitten auf der Strasse. Im Alter von achtzehn Jahren wurde sie gegen
den Willen ihrer Eltern Dominikanerin. In selbst auferlegter asketischer
Strenge lebend, widmete sie sich hingebungsvoll der Pflege von Kranken
und Armen. In einer mystischen Vision will
sie mit Christus vermählt worden sein. 1376 konnte sie Papst
Gregor XI. dazu bewegen, dass er von Avignon nach Rom zurückkehrte.
Wegen ihrer Visionen und ihrer klugen Vermittlung
in kirchenpolitischen Angelegenheiten gewann sie eine historische Bedeutung, die letztlich dazu führte, dass sie im Jahre 1970 vom Vatikan zur Kirchenlehrerin ernannt wurde. |
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Inhaltsverzeichnis
Mystische
Verwandlung Mystische Herztransplantation Mystische Beichte Wer nicht vorwärts strebt, kommt zurück Nütze die Zeit |
Mystische
Lehre Liebe Buße Gebet |
Mystische
Verwandlung
Aus den Aufzeichnungen des Raimund von Capua, ihres Beichtvaters
Als sie einmal, von vielen Schmerzen belastet, auf ihrem Bettlein lag und mit
mir etliche ihr vom Herrn offenbarte Dinge zu besprechen begehrte, ließ
sie mich im Geheimen rufen. Und als ich zu ihr gekommen war und an ihrem Lager
stand, begann sie, wiewohl fiebernd, nach der gewohnten Weise von Gott zu reden
und die Dinge zu erzählen, die ihr an diesem Tage offenbart worden waren.
Da ich aber so Großes und Unerhörtes hörte, sprach ich in mir
selber, der ersten vordem empfangenen Gnade uneingedenk und undankbar: »Vermeinst
du, alle die Dinge, die sie sagt, seien wahr?« Und während
ich so dachte und mich ihr, die redete, zukehrte, verwandelte sich in einem
Augenblick ihr Angesicht in das Angesicht eines bärtigen Mannes, der, mich
mit starren Augen betrachtend, mir einen großen Schrecken gab. Und das
Antlitz war länglich, von mittlerem Alter, und hatte einen nicht langen
Bart von der Farbe des Kornes, und wies im Anblick eine solche Majestät,
daß es dadurch sich als der Erlöser offenbarte. Auch konnte ich dazumal
kein anderes Angesicht unterscheiden als dieses. Und da ich, bestürzt und
entsetzt, die Hände zu den Schultern gehoben, ausrief: »Wer
ist es, der mich anschaut?« antwortete die Jungfrau: »Er der ist.« Als dies gesagt war, verschwand dieses Angesicht
plötzlich, und ich sah deutlich die Züge der Jungfrau, die ich vorher
nicht zu unterscheiden vermocht hatte. S.206
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt
von Martin Buber, Diederichs DG 100
Mystische
Herztransplantation
Aus den Aufzeichnungen des Raimund von Capua, ihres Beichtvaters
Als sie einmal mit großer Inbrunst betete, sprechend mit dem Propheten: »Ein reines Herz schaffe mir, o Gott, und einen getreuen Geist erneuere
in meinem Innern«, und sonderlich bat, daß der Herr ihr eignes
Herz und ihren eignen Willen ihr nehme, tröstete er selber sie mit diesem
Gesichte. Es erschien ihr, der ewige Bräutigam käme in gewohnter Art
zu ihr, öffnete ihre linke Seite, nähme ihr Herz heraus und schiede
von ihr, sie aber bliebe gänzlich ohne Herz zurück. Dieses Gesicht
war so nachhaltig und dem Gefühle des Fleisches so einträchtig, daß
sie in der Beichte dem Beichtvater sagte, sie habe kein Herz mehr in der Brust;
und da er ob dieses Wortes scherzte, und scherzend sie in gewisser Weise tadelte,
wiederholte sie, was sie gesagt hatte, und bestätigte es, sprechend: »In
Wahrheit, Vater, soweit ich nach dem körperlichen Gefühle erkennen
kann, dünke ich mich, des Herzens durchaus zu entbehren, da mir der Herr
erschien, mir die linke Seite öffnete, das Herz herausnahm und schied.« Und als er erwiderte, es sei unmöglich, daß sie ohne ein Herz
leben könnte, erklärte die Jungfrau des Herrn, bei Gott sei kein Ding
unmöglich, und sie glaube gewißlich, des Herzens beraubt zu sein.
Und so wiederholte sie viele Tage das Gleiche und sagte, sie lebe ohne Herz.
Da sie aber eines Tages in der Kapelle der Brüder Predigerordens zu Siena,
wo sich die Schwestern zu versammeln pflegten, nach dem Fortgehen der anderen
im Gebete verblieben war und sodann, aus dem Schlafe der gewohnten Ablösung
erwachend, sich erhob, um nach Hause zurückzukehren, erglänzte plötzlich
rings um sie ein Licht des Himmels, und in dem Licht erschien ihr der Herr,
der in seinen geweihten Händen ein rötliches und leuchtendes Menschenherz
trug. Und da sie bei der Ankunft des Urhebers des Lichtes zitternd zur Erde
fiel, nahte ihr der Herr, öffnete von neuem ihre linke Seite, legte jenes
Herz hinein, das er in seinen Händen trug, und sprach: »Siehe, vielliebes Töchterlein, wie ich am andern Tage dir dein Herz
genommen habe, so gebe ich dir jetzt mein Herz, mit dem du fortan leben wirst.«
S.206ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt
von Martin Buber, Diederichs DG 100
Mystische
Beichte
Am l. April (1377), besonders in der Nacht, enthüllte mir Gott seine Geheimnisse
und offenbarte seine Wunderwerke in solcher Weise, daß meine Seele nicht
in dem Leibe zu sein schien und solcher Freude und Fülle teilhaft wurde,
daß keine Zunge es auszusprechen vermöchte. Denn das Geheimnis der
gegenwärtigen Verfolgung der Kirche wurde mir da Stück um Stück
erläutert und erklärt, sowie auch das Geheimnis der Erneuerung und
Erhöhung, die sie in der Zukunft erfahren werde, und daß die Gegenwart
zugelassen sei, um sie ihrem wahren Zustand zuzuführen. . . Und das Feuer
nahm in mir zu, und ich gewahrte schauend das christliche Volk, wie auch das
ungläubige eingehend in die Seite des gekreuzigten Christus. Und von Verlangen
und Liebeseifer getrieben, schloß ich mich ihnen an und trat mit ihnen
ein in Christus Jesus, begleitet von meinem Vater, dem heiligen Dominikus, und
von Giovanni Singolare und meinen Söhnen allen. Und er gab mir das Kreuz
auf die Schulter und den Ölzweig in die Hand, wie ich es wünschte,
und sagte dabei, ich solle es hinbringen zu den einen wie zu den anderen:
»Sage ihnen, ich verkündige euch eine große
Freude!« Da ward meine Seele immer mehr erfüllt und eins mit
den wahren Teilhabern ewiger Wesenheit durch Vereinigung und Liebesdrang. Und
so groß ward die Freude meiner Seele, daß die Pein über die
Gott zugefügten Beleidigungen meinem Bewußtsein entschwand und ich
sprach: »O selige, heilbringende Schuld!« ... Denn aus der Sünde, die die schlechten Christen begehen, indem
sie die Braut Christi verfolgen, entsteht die Erhöhung, Erleuchtung und
der Wohlgeruch der Tugenden in dieser Braut.
Und so freute ich mich und frohlockte und ward von Zuversicht erfüllt über
die künftigen Zeiten. . ., und mit Simeon rief ich aus: »Nun
entlässest du, Herr, deinen Diener nach deinem Wort in Frieden!«
15. Februar 1380. Vater, mein süßester Vater und Sohn! Wunderbare
Geheimnisse hat Gott seit dem Fest der Beschneidung bis zum heutigen Tag mir
gezeigt, so daß die Zunge nicht hinreicht, es zu sagen. Doch reden wir
nicht über die ganze Zeit und kommen wir gleich auf den Sonntag Sexagesima, wo sich jene Mysterien zutrugen, die ich euch in Kürze berichten will.
Nie glaubte ich etwas Ähnliches zu ertragen, denn so groß war das
Weh des Herzens, daß die Tunika mir zerriß, soviel ich davon in
Händen hatte ... Wenn einer mich gehalten hätte, wäre ich wirklich
gestorben.
Als dann der Montagabend kam, zwang es mich, an den Stellvertreter Christi (Papst
Urban VI) zu schreiben und an drei Kardinäle, wobei ich mir helfen
lassen mußte, und ich ging in das Arbeitszimmer. Als ich an den Papst
geschrieben hatte, war ich zu Weiterem nicht mehr imstande, so groß waren
die Schmerzen in Sachen des Kirchenfriedens, die in meinem Leibe anwuchsen.
Und kurz darauf begannen die Schrecken der Dämonen in einer Weise, daß
ich ganz betäubt davon war. Sie wüteten gegen mich, als sei ich Armselige
die Ursache, daß ihren Händen entrissen sei, was sie seit langem
in der Kirche besaßen. Und so groß war die Angst und der körperliche
Schmerz, daß ich aus dem Arbeitszimmer fliehen und in die Kapelle gehen
wollte, wie wenn das Zimmer die Ursache meiner Schmerzen gewesen wäre.
So erhob ich mich denn, und da ich nicht gehen konnte, stützte ich mich
auf meinen Sohn Bordaccio. Allein alsbald stürzte ich zu Boden, und es
war, als sei die Seele aus dem Leibe geschieden und sehe ihn an wie etwas Fremdes.
Aber nicht wie damals, als sie von ihm schied. Denn damals genoß die Seele
das Glück der Unsterblichen und ward mit ihnen teilhaft jenes höchsten
Gutes. Jetzt aber erschien es wie etwas ganz Besonderes. Es kam mir vor, als
sei ich nicht in meinem Leibe, sondern ich sehe ihn, als sei ich ein Fremder.
Und wie meine Seele das Leiden dieses Körpers erschaute, da wollte sie
wissen, ob ich nichts mit ihm zu tun habe, um ihm zu sagen: »Mein
Sohn, fürchte nichts!« Allein ich sah, daß weder die
Zunge noch ein anderes Glied sich bewegen konnte und daß er wie ein entseelter
Körper war.
So ließ ich ihn denn, wie er war, und mein Geist versenkte sich in den Abgrund der Dreieinigkeit. Das Gedächtnis
ward ganz erfüllt von der Not der heiligen Kirche und der ganzen Christenheit.
Und mein Herz schrie auf vor Gottes Angesicht, und mit Zuversicht bat ich um
seinen Beistand, ihm darbringend alle Wünsche und ihn bestürmend mit
dem Hinweis auf das Blut des Lammes und auf die Leiden, die es ertragen. Und
so dringend flehte ich, daß mir schien, er werde meine Bitte nicht verschmähen.
Dann bat ich für euch und die anderen, daß sein Wille und meine Wünsche
sich an euch erfüllen möchten. Und schließlich bat ich um Rettung
vor der ewigen Verdammnis.
Indes ich so verharrte in schrecklicher Furcht, beweinten mich die Meinen als
tot. Doch war jetzt aller Schrecken vor den Dämonen von mir gewichen. Ich
sah meine Seele in Gegenwart des Lammes, das sprach: »Zweifle
nicht, ich werde deine Wünsche erfüllen wie auch die meiner andern
Diener! Ich will dir zeigen, daß ich ein guter Meister bin, ein Töpfer,
der die Gefäße zusammenfügt und wieder zerschlägt —
zerschlägt und wieder zusammenfügt, wie es ihm gefällt. Und darum
nehme ich die Schale deines Körpers und bilde sie neu im Garten der heiligen
Kirche, auf andere Weise als bisher!« Indem nun diese Wahrheit
so auf mich eindrang mit lieblichen Worten und Weisen, fing mein Körper
leise zu atmen an und verriet, daß die Seele zurückgekehrt war in
ihre Hülle. Ich war von Staunen erfüllt. Aber im Herzen war mir ein
so tiefer Schmerz zurückgeblieben, daß ich ihn auch jetzt noch empfinde. S.78ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto
Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München
Wer
nicht vorwärts strebt, kommt zurück
Mit allem Eifer strebe, auf dem Weg der Wahrheit zu gehen und von Tugend zu
Tugend fortzuschreiten; denn wer nicht vorwärts strebt, kommt zurück,
da die Seele nie im gleichen Zustand beharren kann. Welches Mittel sollen wir
aber anwenden, dass das Feuer des heiligen Verlangens sich in uns immer mehr
entflammt?
Lege Holz ins Feuer! Rufe dir die unzähligen und unermesslich großen
Wohltaten, die du schon von Gott empfangen hast, namentlich die Wohltat des
Blutes Christi, ins Gedächtnis. Auch überdenke aufmerksam die unzähligen
Fehler und Sünden, die du schon gegen ihn begingest und bereue sie in bitterem
Schmerz.
Beim Gedanken an Gottes Wohltaten wird die Liebe
zur Tugend
in uns erwachen, beim Blick auf unsere Verfehlungen der Hass
gegen die Sünde und unsere Eigenliebe, die an ihr schuld war. So werden wir täglich Fortschritte
machen und bis zum Tode beharrlich bleiben. S.
326f.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz &
Wasmuth Verlag AG. Zürich
Nütze
die Zeit
Warte nicht auf eine spätere, gelegenere Zeit, denn du bist nicht sicher,
dass du sie haben wirst. Die Zeit entschwindet dir unvermerkt. Mancher hat sich
noch Hoffnung auf ein längeres Leben gemacht, da kam der Tod. Darum versäumt,
wer klug ist, keine Zeit und gibt die gegenwärtige Stunde, die ihm gehört,
nicht unbenützt weg für eine andere, die doch nicht sein eigen ist.
S. 349f.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz &
Wasmuth Verlag AG. Zürich
Mystische
Lehre
Liebe
Sehen wir nicht jeden Tag, mein teuerster Bruder, daß alle Dinge dieser
Welt verfliegen wie der Wind und daß nichts sich halten läßt
nach unserem Willen? Denn nichts ist unser, außer der göttlichen
Gnade, die uns nicht kann genommen werden, wenn wir nicht wollen. Denn die Gnade
geht nicht verloren außer durch Schuld der Sünde. Weder Teufel noch
Kreatur können uns auch nur zur kleinsten Sünde zwingen.
Darum, sagte ich, kann uns die Gnade nicht genommen werden. Die Dinge dieser
Welt jedoch, die uns leihweise gegeben sind zu unserem Gebrauche, die können
uns genommen werden, und sie werden uns auch genommen, wenn es der Güte
Gottes, die sie uns gab, beliebt.
So sehen wir den Menschen bald reich, bald arm. Heute ist er auf erhabener Höhe
und morgen in Erniedrigung. Von der Gesundheit fallen wir in Krankheit und vom
Leben in Tod. So vergehen uns alle Dinge. Wollte der Mensch sie halten, so vermag
er‘s nicht, denn sie sind nicht sein. Wären sie sein, so würde
er sie halten können, wie er wollte. Allein sie sind ihm verliehen worden,
auf daß er sie nütze nach seinem Bedarf, nicht aber daß er
sie maßlos liebe und sie liebe außerhalb Gottes.
Nicht daß wir Geschaffenes überhaupt nicht lieben dürften. Wer
Kinder hat, liebt seine Kinder und seine Gattin und die anderen, die ihm nahe
stehen. Doch liebt er sie mit einer geordneten und nicht ungeordneten Liebe:
daß er um ihretwillen seiner Seele nicht aufbürden will, zu sündigen
wider Gott. Denn das heißt geordnet lieben und nicht ungeordnet.
Gott verbietet uns nicht, daß wir lieben. Vielmehr will er, daß
wir den Nächsten lieben wie uns selbst. Doch untersagt er uns die ungeordnete
Art zu lieben. Die ist es auch, die die Seele nicht will, weil sie erkennt,
daß es ihr von Gott verboten ist und ihr eigener Schaden.
Indem so die Seele einen Haß schöpft gegen das, was sie hassen soll,
liebt sie alsbald — denn die Seele kann ohne Liebe nicht bestehen —
den Nächsten und alles Irdische mit einer geordneten und heiligen Liebe.
Sie stellt dem Auge des Geistes im Licht des heiligen Glaubens den gekreuzigten
Christus vor, und in ihm sieht und erkennt sie, was sie lieben soll.
O glorreiches und kostbares Blut des sanftmütigen, unbefleckten Lammes!
Wer wäre so unwissend und verhärtet, daß er nicht die Schale
seines Herzens hebend hinhielte an die Seite des gekreuzigten Christus, die
enthält und vergießt die Fülle des Blutes? In ihm finden wir
Gott, die göttliche Natur vereint mit der menschlichen. Wir finden das
Feuer der Liebe, das durch die Öffnung der Seite uns dartut das Geheimnis
des Herzens — uns offenbarend, daß es durch seine endliche Pein
das Maß seiner Liebe nicht bezeugen konnte: so viel größer
war sein Verlangen und sein Wille. Denn nicht zu vergleichen ist seine endliche
Pein mit seiner unendlichen Liebe.
Da also die Seele im Blute Christi die unendliche Liebe Gottes zu uns erkennt — denn durch dies Blut offenbarte sich uns die göttliche Liebe mehr
als durch irgend etwas — so schickt sie sich an, alsbald ihn zu lieben
von ganzem Herzen und mit allen Kräften.
Es ist aber eine Bedingung der Liebe, daß man, wenn man liebt, alles liebt,
was der Geliebte liebt. Sowie denn die Seele die Liebe des Schöpfers zu
ihr erkennt, liebt sie ihn wieder, und ihn hebend liebt sie auch alles, was
er liebt. Und weil sie erkennt, daß Gott am höchsten liebt das vernunftbegabte
Geschöpf — denn so sehr liebte er es, daß er uns hingab sein
ewiges Wort, den Sohn, auf daß er sein Leben für uns darbringe und
in seinem Blute abwische den Aussatz unserer Sünde — weil, sage ich,
Gott so sehr die Menschen liebt, deshalb schenkt auch der Mensch seine Liebe
dem Nächsten und wendet ihm seine Neigung und sein Mitgefühl zu. Er
will dem Nächsten erweisen, was er Gott nicht kann: nämlich ihm zu
nützen. Denn Gott bedarf unser nicht. Und deshalb erzeigt der Mensch den
Nutzen, den er Gott nicht geben kann, seinem Nächsten. Im Nächsten
hat Gott uns ein Mittel gegeben, daß wir die Liebe, die wir ihm entgegenbringen,
bezeugen können. . . S.82ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto
Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München
Buße
Das göttliche Licht gibt auch Regeln dem Leibe, ihn abtötend durch
Wachen, Fasten und andere Übungen, die alle bezwecken, den Leib zu zügeln.
Doch achte wohl, daß du dies alles nicht unterscheidungslos tuest, sondern
in dem milden Lichte der Besonnenheit! Und worin zeigt es sich? — Darin,
daß niemals irgend eine Übung der Buße zu einer Hauptangelegenheit
deines Eifers werde.
Damit du nicht in diesen Fehler verfallest, versorge dich mit der Leuchte der
Besonnenheit und halte die Seele umhüllt mit dem Mantel wahren Eifers für
innere Tugend! Die Abtötung magst du wohl als ein Mittel benutzen,
zu vorgeschriebenen Zeiten und Orten je nach Bedarf. Wenn der Leib durch allzu
üppige Kraft dem Geist widerstrebt, so magst du die Geißel gebrauchen
und das Fasten und den vielknotigen Bußgürtel mit strengen Nachtwachen,
und magst ihn beschweren mit mancherlei Gewichten, auf daß er sich mürbe
erzeige. Ist aber der Leib schwach und kränklich, so will die Besonnenheit
nicht, daß du also verfahrest. Auch sollst du dann nicht nur das Fasten
lassen, sondern auch Fleisch essen, und wenn einmal des Tages nicht genügt,
iß viermal davon! Wenn du nicht stehen kannst, halte dich zu Bett! Kannst
du nicht knien, so sitze oder liege, wie du es brauchst! Dies fordert die Besonnenheit.
Sie verlangt, daß du die Abtötungen als Mittel, nicht als Zweck betrachtest.
Und weißt du, warum sie es so will? Auf daß die Seele Gott diene
mit dem, was ihr nicht kann genommen werden und was nicht endlich ist, sondern
grenzenlos: Das aber ist das heilige Verlangen, das unendlich ist durch seine
Vereinigung mit dem unendlichen Verlangen Gottes; das sind die Tugenden, die
weder Teufel, noch Kreatur, noch Krankheit uns rauben können, wenn wir
nicht wollen. Vielmehr kannst du gerade in Krankheit die Tugend der Geduld erweisen,
und in den Kämpfen und Anfechtungen der Teufel zeige Standhaftigkeit und
Ausdauer, und in den Unannehmlichkeiten, die du von Mitmenschen erfährst,
zeige Demut, Geduld und Liebe! Und so auch bei andern Tugenden: Gott läßt
sie durch viele Anfechtungen erprobt, nie aber uns genommen werden, wenn wir
nicht wollen.
Hierin also müssen wir unser Fundament legen und nicht in die Abtötungen.
Zwei Fundamente kann die Seele nicht brauchen; eines oder das andere muß
verworfen werden. Was also nicht das Wichtige ist, das benutze nur als Mittel!
Wenn ich leibliche Abtötung als Grundlage nehme, so erbaue ich die Seelenburg
auf Sand, und jeder kleine Windstoß wird sie zu Boden werfen. Darauf kann
kein Gebäude bestehen. Wenn ich sie aber auf
innere Tugenden baue, so ist sie gegründet
auf dem lebendigen Felsen, Christus, dem liebreichen Jesus. Und es ist kein
Gebäude so groß, daß es nicht fest darauf stünde, noch
ein Sturm so heftig, daß er es stürze ...
Viele Büßer habe ich schon erlebt, die weder geduldig, noch gehorsam
sind, weil sie sich darauf verlegten, ihren Leib abzutöten, statt ihren
Willen. Dazu kam es durch Unbesonnen¬heit. Und weißt du, was darauf
folgt? Ihr ganzer Trost und Eifer geht dahin, daß sie Buße tun auf
ihre besondere Weise und nicht so wie andere Leute. Durch ihre Buße ziehen
sie den eigenen Willen groß. Indem sie diesen erfüllen, sind sie
heiter und getrost und wähnen sich von Gott erfüllt, als hätten
sie Wunder was vollbracht. Und sie merken nicht, daß sie ihrer eigenen
Willkür und ihrem eigenen Ermessen folgten. Und wer nicht denselben Weg
betritt, der gilt ihnen als Sünder und außer der göttlichen
Huld. Unbesonnen wollen sie alle Leiber nach einem Maßstab messen, mit
dem nämlich, den sie für sich selbst setzen. Und wer sie davon abhalten
will, sei es um ihren Willen zu brechen, sei es weil die Notwendigkeit es verlangte,
dem setzen sie einen Willen entgegen, der härter ist als Diamant. Und ihr
Leben ist so, daß sie zur Zeit der Versuchung oder eines Unrechts, das
ihnen widerfährt, sich schwächer erweisen als ein Strohhalm ...
Darum befreien wir uns von solcher Unvollkommenheit und eifern wir nach den
wahren Tugenden! Die bringen auch so große Fröhlichkeit und Freudigkeit
ins Herz, daß Worte es nicht zu schildern vermögen.
Keiner ist, der Leid der Seele zufügen könnte, die in der Tugend gründet,
keiner, der ihr die Hoffnung des Himmels rauben könnte. Denn der Eigenwille
ist in ihr erstorben, sowohl in geistlichen wie in zeitlichen Dingen. Und weil
ihr Eifer nicht die Abtötung zum Ziele hat, noch die eigenen Tröstungen
und Offenbarungen, sondern das Ausharren um des gekreuzigten Christus willen
und aus Liebe zum Guten, so ist sie geduldig und treu, baut auf Gott und nicht
auf sich selbst und auf die eigenen Werke. Demütig ist sie und bereit,
anderen mehr zu vertrauen als sich, weil kein Eigendünkel an ihr haftet.
Aber weit atmet sie auf in den Armen der Barmherzigkeit und besiegt darin alle
Unruhe des Gemütes.
In den Finsternissen und Drangsalen zieht sie hervor die Leuchte des Glaubens
und übt sich mannhaft in wahrer und tiefer Demut. In der Freude zieht sie
sich in sich selbst zurück, damit das Herz sich nicht ausgieße in
eitler Lust . . . Den Ort des Gebetes findet sie überall. Denn sie trägt
ihn stets in sich, darin zu beten, im Schrein unserer Seele, wo stets das heilige
Verlangen lebt . . . S.85ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto
Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München
Gebet
Nicht daran liegt es, daß wir eine große Zahl Vaterunser beten.
Wir sollen unser Gebet zu einem fortwährenden, gläubigen machen. Wir
wissen ja durch das Licht der Gnade, daß Gott uns geben kann, was wir
ersehnen. Wir wissen, daß eine ewige Weisheit ist, die zu geben und zu
erkennen versteht, was uns gut ist. Wir wissen, daß ein milder und mitfühlender
Vater ist, der uns mehr schenken will, als wir verlangen können, und mehr,
als wir brauchen.
Es gibt zweierlei Arten des Gebetes: Die eine Art ist das immerwährende
Beten — immerwährend durch das Verlangen, das stets zu Gott sich
emporhebt in allem, was du tust. Ein solches Verlangen läßt all dein
Tun, dein geistiges wie dein leibliches, ihm zur Ehre geschehen. Und darum heißt
es ein immerwährendes Gebet.
Von diesem scheint der glorwürdige heilige Paulus zu reden, da er spricht: »Betet ohne Unterlaß!«
Das andere Gebet ist das mündliche, wenn das Offizium oder andere Gebete
verrichtet werden. Es soll aber so sein, daß es von selbst in ein anderes
Beten übergeht, nämlich das geistige, und zu diesem gelangt man, wenn
man das mündliche Gebet gesammelt und demütig verrichtet. Da ist das
Herz nicht fern von Gott, indes die Lippen zu ihm beten; es weiß sich
vielmehr in der Liebe Gottes zu bestärken und zu befestigen.
Wenn Gottes Nähe fühlbar wird dem Geiste, so
daß der Gedanke sich unmittelbar zu Gott emporgezogen fühlt,
so ist das mündliche Gebet zu unterbrechen, und der Geist soll sich gesammelt
halten in der Liebe dessen, der ihn erfüllt. Nachher, wenn es noch Zeit
ist und jene Anwandlung vorüber, mag man das mündliche Beten wieder
aufnehmen, auf daß der Geist stets erfüllt bleibe und nie in der
Leere.
Die Seele soll sich nicht beirren lassen, wenn gerade im Beten viele Anfechtungen,
Verfinsterungen und Verwirrungen des Gemütes entstehen und wenn der Teufel ihr vorspiegelt, ihr Gebet sei Gott nicht wohlgefällig. Sondern sie soll
sich fassen in Ausdauer und Festigkeit und erwägen, daß es der Teufel ist, der sie dem schützenden Gebet entreißen will, und daß
Gott es zuläßt, um die Beharrlichkeit und Kraft der Seele zu prüfen.
Sie soll sich in den Kämpfen und Versuchungen als ein Nichts erkennen,
im guten Willen aber, den sie an sich wahrnimmt, Gottes Güte. Denn er ist
es, der den guten und heiligen Willen in uns wirkt.
So also gelangt die Seele zur dritten und höchsten Art des Gebetes, dem
geistigen nämlich, wo sie den Lohn erntet der Mühe, die ihr das mündliche,
unvollkommene Beten bereitet. Da genießt sie die Labung des gläubigen
Gebetes.
Da wird sie über sich selbst erhoben, über das alltägliche persönliche
Bewußtsein, und engelsgleich vereint sich ihr Geist im Liebesdrang mit
Gott, und mit dem Lichte des Geistes schaut und ergreift und erkennt sie die
Wahrheit. Zur Genossin der Engel geworden, hält sie mit dem Bräutigam
des Himmels das himmlische Mahl des gekreuzigten Verlangens und findet ihr Glück
im Eifer für Gottes Ehre und für das Heil der Seelen. Denn dafür
ist ja der ewige Bräutigam in den schimpflichen Tod des Kreuzes geeilt
und ist der Wille des Vaters geschehen: für unsere Erlösung.
Ein solches Gebet wird zur Mutter, die in der Gottesliebe empfängt Kinder
der Tugenden, die sie zur Welt bringt durch die liebe zum Nächsten. Wo
empfängst du Liebe, Glaube, Hoffnung, den Geist der Demut? Im Gebet. Denn
was du nicht liebtest, würdest du nicht suchen; wer aber liebt, will immer
vereinigt sein mit dem Gegenstand seiner Liebe, mit Gott. Im Gebet eröffne
ihm deine Sehnsucht1 Wo wird dein Gewissen von Schmerz erfaßt? Im Gebet.
Dort wirst du jener Eigenliebe dich entäußern, aus der deine Ungeduld
stammt, wenn dir ein Unrecht oder andere Leiden widerfahren, und eine göttliche
Liebe wird dich umhüllen, daß du geduldig wirst und dein Glück
findest am Kreuze Jesu. — Wo wirst du atmen den Duft der Jungfräulichkeit
und dich sehnen, dein Leben zur Ehre Gottes und dem Heil der Seelen darzubringen
und zu opfern? Im Gebet.
Es entzieht dich dem Umgang mit Menschen und gibt dir den Umgang mit Gott. Es
füllt die Schale deines Herzens mit dem Blute des sanftmütigen Lammes
und überdeckt es mir Feuer, denn durch Liebesfeuer ward es vergossen. S.89ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto
Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München