Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)

  Deutscher Philosoph, der seine durch und durch pessimistische und weitgehend nihilistische Weltanschauungs-Philosophie mit sarkastischer und stilistischer Brillanz zum Besten gab. Erkenntnistheoretisch interpretiert Schopenhauer die gesamte Welt als »Vorstellung« oder »Erscheinung« des Subjekts, das metaphysisch in dem ihr zugrunde liegenden Wesen nichts anderes als ein blinder »Wille« ist, der sich in seinem sinnfreien Daseinsdrang zwanghaft in der Erscheinungswelt als »Wille zum Leben« und zur Fortpflanzung« artikuliert und »objektiviert«. Auf höherer Bewusstseins-Stufe erkennt der »blinde Wille«, dass er in seinem tiefsten Wesen von Natur aus unvernünftig und böse ist. Dadurch wird er fähig, sich von seinem blinden Drang zu erlösen, in dem er sich als Wille verneint. Dies geschieht nach Schopenhauer zeitweise in der Kunst sowie im Handeln aus Mitleid, das die Vereinzelung teilweise aufhebt und das Fundament der Moral darstellt. Eine dauernde Erlösung vom Daseinsdrang ist demgemäß allein durch Selbstabtötung und Übergang ins Nichtsein (Nirwana) möglich. Hierin hielt er seine Philosophie mit der Erlösungslehre des Buddhismus für weitgehend identisch, während er das Christentum und jegliche Art von Pantheismus ablehnte. Jesus Christus reduziert Schopenhauer zu einem Symbol, das die personifizierte Verneinung des Willens zum Leben ausdrückt.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Die Welt besteht nur in unserem Kopfe
Der Wille zum Leben
Was gegen das Sein einer allgütigen und allweisen göttlichen Allmacht spricht

Die Welt ist so schlecht, wie sie sein kann, wenn sie überhaupt sein soll
Die Welt als Strafkolonie
Das Teuflische in der Welt ist, dass einer der Teufel des andern sein muss
Leben ist Leiden
WWI, § 57 - 59
Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens
WW II, Kapitel 46
Die Heilsordnung
WW II, Kapitel 49
Religion ist Volksmetaphysik
WW II, Kapitel 17
Alle Liebe ist Mitleid
Das Große Mysterium der Ethik
Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer
Die Absurdität in der Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung
Daseins- und Weltzweck
Das endlose Streben des grundlosen Willens ist ziellos

Unser Grundirrtum ist, dass wir einander gegenseitig Nicht-Ich sind

  Die ewige Gerechtigkeit
Ablehnung des Pantheismus aus ethisch-moralischen Gründen

Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens

Selbstmord
Erlösung durch Verneinung des Willens

Die »geheime und unerklärliche Macht«


Christus
Alles, was wir eigentlich von Jesus Christus wissen . . .
Sogar Jesus Christus hat ein Mal die Unwahrheit gesagt
Die Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben im Christentum
Ist Christus der ALLERVERNÜNFTIGSTE Mensch gewesen . . .
Ähnlichkeiten zwischen Budhismus und Christentum

Die Welt besteht nur in unserem Kopfe

»Die Welt ist meine Vorstellung«
- dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtsein bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist [...] Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, daß Alles, was für die Erkenntniß da ist, also diese ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung.
Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S..31. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Die Welt als Vorstellung ist, wie nur durch den Verstand, auch nur für den Verstand da.
Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S..42. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Man muß schon von allen Göttern verlassen seyn, um zu wähnen, daß die anschauliche Welt da draußen, wie sie den Raum in seinen drei Dimensionen füllt, im unerbittlich strengen Gange der Zeit sich fortbewegt, bei jedem Schritte durch das ausnahmslose Gesetz der Kausalität geregelt wird, in allen diesen Stücken aber nur die Gesetze befolgt, welche wir, vor aller Erfahrung davon, angeben können, - daß eine solche Welt da draußen ganz objektiv-real und ohne unser Zuthun vorhanden wäre, dann aber, durch die bloße Sinnesempfindung, in unseren Kopf hineingelangte, woselbst sie nun, wie da draußen, noch ein Mal dastände. [...] Denn durch sie allein (gemeint ist die Verstandesoperation), mithin im Verstande und für den Verstand, stellt sich die objektive, reale, den Raum in drei Dimensionen füllende Körperwelt dar, die alsdann in der Zeit, demselben Kausalitätsgesetze gemäß, sich ferner verändert und im Raume bewegt. - Demnach hat der Verstand die objektive Welt erst selbst zu schaffen: nicht aber kann sie, schon vorher fertig, durch die Sinne und die Öffnungen ihrer Organe, bloß in den Kopf hineinspazieren.
Aus: Arthur Schopenhauer: Kleinere Schriften, S.64, 65. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Daß der Kopf im Raume sei hält ihn nicht ab, einzusehn, daß der Raum doch nur im Kopfe ist.
Aus: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, S.49. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Der Wille zum Leben


Der Wille, welcher rein an sich betrachtet, erkenntnißlos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen, wie auch im vegetativen Theil unseres eigenen Lebens erscheinen sehen, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntniß von seinem Wollen und von dem was es sei, das er will, daß es nämlich nichts Anderes sei, als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht. Wir nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektität: und da was der Wille will immer das Leben ist, eben weil dasselbe nichts weiter, als die Darstellung jenes Wollens für die Vorstellung ist; so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus , wenn wir statt schlechthin zu sagen, »der Wille«, sagen »der Wille zum Leben«.
Da der Wille das Ding an sich, der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtbare Welt, die Erscheinung, aber nur der Spiegel des Willens; so wird diese den Willen so unzertrennlich begleiten, wie den Körper sein Schatten: und wenn Wille da ist, wird auch Leben, Welt daseyn. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß, und solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Daseyn nicht besorgt seyn, auch nicht beim Anblick des Todes. Wohl sehen wir das Individuum entstehen und vergehen: aber das Individuum ist nur Erscheinung, ist nur da für die im Satz vom Grunde, dem principio individuationis, befangene Erkenntniß: für diese freilich empfängt es sein Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zurück. Aber wir wollen ja eben das Leben philosophisch, d.h. seinen Ideen nach betrachten, und da werden wir finden, daß weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, noch das Subjekt des Erkennens, der Zuschauer aller Erscheinungen, von Geburt und von Tod irgend berührt werden. Geburt und Tod gehören eben zur Erscheinung des Willens, also zum Leben, und es ist diesem wesentlich, sich in Individuen darzustellen, welche entstehen und vergehen, als flüchtige, in der Form der Zeit auftretende Erscheinungen. [...]
Vor Allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntniß da, sofern sie dem Satz vom Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. Die Gegenwart ist immer da, sammt ihrem Inhalt: Beide stehen fest, ohne zu wanken; wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiß.
S.365
Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Viertes Buch, §54, S..362f. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivierte Hunger, die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb, die greifenden Hände und raschen Füße entsprechen schon mehr dem mittelbaren Streben, welches sie darstellen.
Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweites Buch, S..162. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Als die entschiedene, stärkste Bejahung des Lebens bestätigt sich der Geschlechtstrieb auch dadurch, daß er dem natürlichen Menschen, wie dem Thier, der letzte Zweck, das höchste Ziel seines Lebens ist. Selbsterhaltung ist sein erstes Streben, und sobald er für diese gesorgt hat, strebt er nur nach Fortpflanzung des Geschlechts: mehr kann er als bloß natürliches Wesen nicht anstreben. Auch die Natur, deren inneres Wesen der Wille zum Leben selbst ist, treibt mit aller ihrer Kraft den Menschen, wie das Thier, zur Fortpflanzung. Danach hat sie mit dem Individuum ihren Zweck erreicht und ist ganz gleichgültig gegen dessen Untergang, da ihr, als dem Willen zum Leben, nur an der Erhaltung der Gattung gelegen, das Individuum ihr nichts ist. - Weil im Geschlechtstrieb das innere Wesen der Natur, der Wille zum Leben, sich am stärksten ausspricht, sagten die alten Dichter und Philosophen - Hesiodos und Parmenides - sehr bedeutungsvoll, der Eros sei das Erste, das Schaffende, das Princip, aus dem alle Dinge hervorgiengen. (Man sehe Aristot. Metaph., I, 4.) Pherekydes hat gesagt: Eis erôta metabeblêsthai ton Dia, mellonta dêmiourgein. (Jovem, cu mundum fabricare vellet, in cupidinem sese transformasse.) »Zeus habe sich in Eros verwandelt als er die Welt erschaffen wollte« Proclus ad Plat. Tim., l. III. - Eine ausführliche Behandlung dieses Gegenstandes haben wir neuerlich erhalten von G.F. Schoemann, »De cupidine cosmogonico«, 1852. Auch die Maja der Inder, deren Werk und Gewebe die ganze Scheinwelt ist, wird durch amor paraphrasirt.
Die Genitalien sind viel mehr als irgend ein anderes äußeres Glied des Leibes bloß dem Willen und gar nicht der Erkenntniß unterworfen: ja, der Wille zeigt sich hier fast so unabhängig von der Erkenntniß, wie in den, auf Anlaß bloßer Reize, dem vegetativen Leben, der Reproduktion, dienenden Theilen, in welchen der Wille blind wirkt, wie in der erkenntnißlosen Natur. Denn die Zeugung ist nur die auf ein neues Individuum übergehende Reproduktion, gleichsam die Reproduktion auf der zweiten Potenz, wie der Tod nur die Exkretion auf der zweiten Potenz ist. - Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten der Erkenntniß, d.i. der andern Seite der Welt, der Welt als Vorstellung. Jene sind das lebenerhaltende, der Zeit endloses Leben zusichernde Princip; in welcher Eigenschaft sie bei den Griechen im Phallus, bei den Hindu im Lingam verehrt wurden, welche also das Symbol der Bejahung des Willens sind. Die Erkenntniß dagegen giebt die Möglichkeit der Aufhebung des Wollens, der Erlösung durch Freiheit, der Ueberwindung und Vernichtung der Welt.

Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Viertes Buch, §60, S.429 Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Wenn der Wille zum Leben sich bloß darstellte als Trieb zur Selbsterhaltung; so würde dies nur eine Bejahung der individuellen Erscheinung, auf die Spanne Zeit ihrer natürlichen Dauer seyn. Die Mühen und Sorgen eines solchen Lebens würden nicht groß, mithin das Daseyn leicht und heiter ausfallen. Weil hingegen der Wille das Leben schlechthin und auf alle Zeit will, stellt er sich zugleich dar als Geschlechtstrieb, der es auf eine endlose Reihe von Generationen abgesehen hat. S.660 [...]
Das Leben eines Menschen, mit seiner endlosen Mühe, Noth und Leiden, ist anzusehen als die Erklärung und Paraphrase des Zeugungsaktes, d.i. der entschiedenen Bejahung des Willens zum Leben: zu derselben gehört auch noch, daß er der Natur einen Tod schuldig ist, und er denkt mit Beklemmung an diese Schuld. - Zeugt dies nicht davon, daß unser Daseyn eine Verschuldung enthält? - Allerdings aber sind wir, gegen den periodisch zu entrichtenden Zoll, Geburt und Tod, immerwährend da, und genießen successiv alle Leiden und Freuden des Lebens; sodaß uns keine entgehen kann: dies eben ist die Frucht der Bejahung des Willens zum Leben.
Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Viertes Buch, Kapitel 45, S..661. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Da nun also der Brennpunkt des Willens, d.h. die Koncentration und der höchste Ausdruck desselben, der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung ist; so ist es sehr bezeichnend und in der symbolischen Sprache der Natur naiv ausgedrückt, daß der individualisirte Wille, also der Mensch und das Thier, seinen Eintritt in die Welt durch die Pforte der Geschlechtstheile macht. -
Die Bejahung des Willens zum Leben, welche demnach ihr Centrum im Generationsakt hat, ist beim Thiere unausbleiblich. Denn allererst im Menschen kommt der Wille, welcher die natura naturans ist, zur Besinnung

Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Viertes Buch, Kapitel 45, S..664. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Was gegen das Sein einer allgütigen und allweisen göttlichen Allmacht spricht
KANT hat, um das Anstößige seiner Kritik aller spekulativen Theologie zu mildern, derselben nicht nur die Moraltheologie, sondern auch die Versicherung beigefügt, daß, wenngleich das Daseyn Gottes unbewiesen bleiben müßte, es doch ebenso unmöglich sei, das Gegentheil davon zu beweisen; wobei sich Viele beruhigt haben, indem sie nicht merkten, daß er, mit verstellter Einfalt, das affirmanti incumbit probatio (»dem, der eine Behauptung aufstellt, obliegt der Beweis«) ignorirte, wie auch, daß die Zahl der Dinge, deren Nichtseyn sich nicht beweisen läßt, unendlich ist. (siehe Kant) Nochmehr hat er natürlich sich gehütet, die Argumente nachzuweisen, deren man zu einem apagogischen Gegenbeweise sich wirklich bedienen könnte, wenn man etwan nicht mehr sich bloß defensiv verhalten, sondern ein Mal aggressiv verfahren wollte. Dieser Art wären etwan folgende:

1) Zuvördest ist es die traurige Beschaffenheit einer Welt, deren lebende Wesen dadurch bestehn, daß sie einander auffressen, die hieraus hervorgehende Noth und Angst alles Lebenden, die Menge und kolossale Größe der Uebel, die Mannigfaltigkeit und Unvermeidlichkeit der oft zum Entsetzlichen anwachsenden Leiden, die Last des Lebens selbst und sein Hineilen zum bittern Tode, ehrlicherweise nicht damit zu vereinigen, daß sie das Werk vereinter Allgüte, Allweisheit und Allmacht seyn sollte. Hiergegen ein Geschrei zu erheben, ist eben so leicht, wie es schwer ist, der Sache mit triftigen Gründen zu begegnen.

2) Zwei Punkte sind es, die nicht nur jeden denkenden Menschen beschäftigen, sondern auch den Anhängern jeder Religionen zumeist am Herzen liegen, daher Kraft und Bestand der Religion auf ihnen beruht:

erstlich die transccendente moralische Bedeutung unsers Handelns, und

zweitens unsre Fortdauer nach dem Tode.

Wenn eine Religion für diese beiden Punkte gut gesorgt hat; so ist alles Uebrige Nebensache. Ich werde daher hier den Theismus in Beziehung auf den ersten, unter der folgenden Nummer aber in Beziehung auf den zweiten Punkt prüfen: Mit der Moralität unsers Handelns also hat der Theismus einen zwiefachen Zu-sammenhang nämlich einen a parte ante [»hinsichtlich des Vorher«] und einen a parte post [»hinsichtlich des Nachher«], d. h. hinsichtlich der Gründe und hinsichtlich der Folgen unsers Thuns. Den letztern Punkt zuerst zu nehmen; so giebt der Theismus zwar der Moral eine Stütze, jedoch eine von der rohesten Art, ja, eine, durch welche die wahre und reine Moralität des Handelns im Grunde aufgehoben wird. Der Gott nämlich, welcher Anfangs der Schöpfer war, tritt zuletzt als Rächer und Vergelter auf. Rücksicht auf einen solchen kann allerdings tugendhafte Handlungen hervorrufen: allein diese werden, da Furcht vor Strafe, oder Hoffnung auf Lohn ihr Motiv ist, nicht rein moralisch seyn; vielmehr wird das Innere einer solchen Tugend auf klugen und wohl überlegenden Egoismus zurücklaufen. In letzter Instanz kommt es dabei allein auf die Festigkeit des Glaubens an unerweisliche Dinge an: ist diese vorhanden, so wird man allerdings nicht anstehen, eine kurze Frist Leiden für eine Ewigkeit Freuden zu übernehmen, und der eigentlich leitende Grundsatz der Moral wird seyn: »warten können«. Allein Jeder, der einen Lohn seyner Thaten, sei es in dieser Welt, oder in einer künftigen, ist ein Egoist: entgeht ihm der erhoffte Lohn; so ist es gleichviel, ob Dies durch den Zufall geschehe, der diese Welt beherrscht, oder durch die Leerheit des Wahns, der ihm die künftige erbaute. Dieserwegen untergräbt auch KANTS Moraltheologie eigentlich die Moral.

Kant
hat dieses Problem durchaus erkannt und Gott zur unbeweisbaren Glaubenssache deklariert?!

A parte ante nun wieder ist der Theismus ebenfalls mit der Moral im Widerstreit; weil er Freiheit und Zurechnungsfähigkeit aufhebt. Denn an einem Wesen, welches, seiner existentia und essentia nach, das Werk eines andern ist, läßt sich weder Schuld noch Verdienst denken. Kann es doch, gleich jedem andern, nur irgend denkbaren Wesen, nicht anders, als SEINER BESCHAFFENHEIT GEMÄSS wirken und dadurch diese kund geben: wie es aber BEschaffen ist, so ist es hier GEschaffen. Handelt es nun schlecht, so kommt dies daher, daß es schlecht IST, und dann ist die Schuld nicht seine, sondern Dessen, der es gemacht hat. Unvermeidlich ist der Urheber seines Daseyns und seiner Beschaffenheit, dazu auch noch der Umstände, in die es gesetzt worden, auch der Urheber seines Wirkens und seiner Thaten, als welche durch dies Alles so sicher bestimmt sind, wie durch zwei Winkel und einer Linie der Triangel. S.124f.
Aus: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena (PP I), Kleinere Philosophische Schriften, Erster Band. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Ueberhaupt aber schreiet gegen eine solche Ansicht der Welt, als des gelungenen Werkes eines allweisen, allgütigen und dabei allmächtigen Wesens, zu laut einerseits das Elend, dessen sie voll ist, und andrerseits die augenfällige Unvollkommenheit und selbst burleske Verzerrung der vollendetesten ihrer Erscheinungen, der menschlichen. Hier liegt eine nicht aufzulösende Dissonanz. Hingegen werden eben jene Instanzen zu unsrer Rede stimmen und als Belege derselben dienen, wenn wir die Welt auffassen als das Werk unserer eigenen Schuld, mithin als etwas, das besser nicht wäre. Während dieselben unter jener ersten Annahme, zu einer bittern Anklage gegen den Schöpfer werden und zu Sarkasmen Stoff geben, treten sie, unter der andern, als eine Anklage unsers eigenen Wesens und Willens auf, geeignet uns zu demüthigen. Denn sie leiten uns zu der Einsicht hin, daß wir, wie die Kinder liederlicher Väter, schon verschuldet auf die Welt gekommen sind und daß nur, weil wir fortwährend diese Schuld abzuverdienen haben, unser Daseyn so elend ausfällt und den Tod zum Finale hat. Dieser Ansicht gemäß ist es allein die Geschichte vom Sündenfall, die mich mit dem A. T. aussöhnt: sogar ist sie in meinen Augen die einzige metaphysische, wenn auch im Gewande der Allegorie auftretende Wahrheit in demselben. Denn nichts Anderm sieht unser Daseyn so völlig ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Ich kann mich nicht entbrechen, dem denkenden Leser eine populare, aber überaus innige Betrachtung über diesen Gegenstand, von CLAUDIUS zu empfehlen, welche den wesentlich pessimistischen Geist des Christenthums an den Tag legt: sie steht, unter dem Titel »Verflucht sei der Acker um deinetwillen«, im 4. Theile des Wandsbecker Boten. S.272f.
Aus: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena (PP II), Kleinere Philosophische Schriften, Zweiter Band. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Gegen den Pantheismus habe ich hauptsächlich nur Dieses, daß er nichts besagt. Ob ihr sagt »die Welt ist Gott«, oder »die Welt ist die Welt« läuft auf Eins hinaus. Zwar wenn man dabei vom Gott, als wäre Er das Gegebene und zu Erklärende, ausgeht, also sagt: »Gott ist die Welt«; da giebt es gewissermaaßen eine Erklärung, sofern es doch ignotum (»Unbekanntes«) auf notius (»Bekannteres«) zurückführt: doch ist es nur eine Worterklärung. Allein wenn man von dem wirklich Gegebenen, also der Welt, ausgeht, und nun sagt »die Welt ist Gott«, da liegt am Tage, daß damit nichts gesagt, oder wenigstens ignotum per ignotius (»Unbekanntes durch noch Unbekannteres«) erklärt ist.

Daher eben setzt der Pantheismus den Theismus, als ihm vorhergegangen, voraus: denn nur sofern man von einem Gotte ausgeht, also ihn schon vorweg hat und mit ihm vertraut ist, kann man zuletzt dahin kommen, ihn mit der Welt zu identifiziren, eigentlich um ihn auf eine anständige Art zu beseitigen. Hingegen von vorne herein und unbefangenerweise diese Welt für einen Gott anzusehn, wird Keinem einfallen. Denn offenbar müßte es ein übel berathener Gott seyn, der sich keinen bessern Spaaß zu machen verstände, als sich in eine Welt, wie die vorliegende, zu verwandeln, in so eine hungrige Welt, um daselbst in Gestalt zahlloser Millionen lebender, aber geängstigter und gequälter Wesen, die sämmtlich nur dadurch eine Weile bestehn, daß eines das andere auffrißt, Jammer, Noth und Tod, ohne Maaß und Ziel zu erdulden, z. B. in Gestalt von 6 Millionen Negersklaven, täglich, im Durchschnitt, 6o Millionen Peitschenhiebe auf bloßem Leibe zu empfangen, und in Gestalt von 3 Millionen Europäischer Weber unter Hunger und Kummer in dumpfigen Kammern oder trostlosen Fabriksälen schwach zu vegetiren u. dgl. m. Das wäre mir eine Kurzweil für einen Gott! der als solcher es doch besser gewohnt seyn müßte.

Demnach ist der vermeinte große Fortschritt vom
Theismus zum Pantheismus, wenn man ihn ernstlich und maskirte Negation, wie oben angedeutet, nimmt, ein Uebergang vom Unerwiesenen und schwer Denkbaren zum geradezu Absurden. Denn so undeutlich, schwankend und verworren der Begriff auch seyn mag, den man mit dem Worte Gott verbindet; so sind doch zwei Prädikate davon unzertrennlich: die höchste Macht und die höchste Weisheit. Daß nun ein mit diesen ausgerüstetes Wesen .ich selbst in die oben beschriebene Lage versetzt haben sollte, ist geradezu ein absurder Gedanke: denn unsre Lage in der Welt ist offenbar eine solche, in die sich kein intelligentes, geschweige ein allweises Wesen versetzen wird. — Der Theismus hingegen ist bloß unerwiesen, und wenn es auch schwer zu denken fällt, daß die unendliche Welt das Werk eines persönlichen, mithin individuellen Wesens, dergleichen wir nur aus der animalischen Natur kennen, sei; so ist es doch nicht geradezu absurd. Denn daß ein allmächtiges und dabei allweises Wesen eine gequälte Welt schaffe, läßt sich immer noch denken, wenngleich wir das Warum dazu nicht kennen: daher, selbst wenn man demselben auch noch die Eigenschaft der höchsten Güte beilegt, die Unerforschlichkeit seines Rathschlusses die Ausflucht wird, durch welche eine solche Lehre immer noch dem Vorwurf der Absurdität entgeht. Aber bei der Annahme des Pantheismus ist der schaffende Gott selbst der endlos Gequälte und, auf dieser kleinen Erde allein, in jeder Sekunde ein Mal Sterbende, und solches ist er aus freien Stücken: das ist absurd.

Der heut zu Tage oft gehörte Ausdruck
»die Welt ist Selbstzweck« läßt unentschieden, ob man sie durch Pantheismus oder durch bloßen Fatalismus erkläre, gestattet aber jedenfalls nur eine physische, keine moralische Bedeutung derselben, indem, bei Annahme dieser letzteren, die Welt allemal sich als MITTEL darstellt zu einem höhern Zweck. Aber eben jener Gedanke, daß die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der heilloseste Irrthum, entsprungen aus der größten Perversität des Geistes.
PP II, S.96f.

Ueberdies ist Pantheismus ein sich selbst aufhebender Begriff; weil der Begriff eines Gottes eine von ihm verschiedene Welt, als wesentliches Korrelat desselben, voraussetzt. Soll hingegen die Welt selbst seine Rolle übernehmen; so bleibt eben eine absolute Welt, ohne Gott; daher Pantheismus nur eine Euphemie (beschönigende Umschreibung) für Atheismus ist. Dieser letztere Ausdruck aber enthält seinerseits eine Erschleichung, indem er vorweg annimmt, der Theismus verstehe sich von selbst, wodurch er das affirmanti incumbit probatio (»dem, der eine Behauptung aufstellt, obliegt der Beweis«) schlau umgeht; während vielmehr der sogenannte Atheismus das jus primi occupantis (»das Recht der ersten Besitzergreifung«) hat und erst vom Theismus aus dem Felde geschlagen werden muß. Ich erlaube mir hiezu die Bemerkung, daß die Menschen unbeschnitten, folglich nicht als Juden auf die Welt kommen. — Aber sogar auch die Annahme irgend einer von der Welt verschiedenen Ursache derselben ist noch kein Theismus. Dieser verlangt nicht nur eine von der Welt verschiedene, sondern eine intelligente, d.h. erkennende und wollende, also persönliche, mithin auch individuelle Weltursache: eine solche ist es ganz allein, die das Wort Gott bezeichnet. Ein unpersönlicher Gott ist gar kein Gott, sondern bloß ein mißbrauchtes Wort, ein Unbegriff, eine contradictio in adjecto, ein Schiboleth (Losungswort) Für Phiosophieprofessoren, welche, nachdem sie die Sache haben aufgeben müssen, mit dem Worte durchzuschleichen bemüht sind.
PP I, S.119f.

Wie der Polytheismus die Personifikation einzelner Theile und Kräfte der Natur ist; so ist der
Monotheismus die der ganzen Natur, — mit Einem Schlage. — Wenn ich aber suche, mir vorstellig zu machen, daß ich vor einem individuellen Wesen stände, zu dem ich sagte: »mein Schöpfer! ich bin einst nichts gewesen: du aber hast mich hervorgebracht, so daß ich jetzt etwas und zwar ich bin;« — und dazu noch: »ich danke dir für diese Wohlthat; « — und am Ende gar: »wenn ich nichts getaugt habe, so ist das MEINE Schuld;« — so muß ich gestehn, daß in Folge philosophischer und Indischer Studien mein Kopf unfähig geworden ist, einen solchen Gedanken auszuhalten. Derselbe ist übrigens das Seitenstück zu dem, welchen KANT uns vorführt in der Kritik der reinen Vernunft (im Abschnitt »von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises«): »man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: »Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne Das, was bloß durch meinen Willen etwas ist: ABER WOHER BIN ICH DENN?« — Beiläufig gesagt, hat so wenig diese letzte Frage, als der ganze eben angeführte Abschnitt, die Philosophieprofessoren seit Kant abgehalten, zum beständigen Hauptthema alles ihres Philosophirens das ABSOLUTUM zu machen, d.h. plan geredet, Das, was keine Ursach hat. Das ist so recht ein Gedanke für sie.
PP II, S331f.

In frühern Jahrhunderten war die Religion ein Wald, hinter welchem Heere halten und sich decken konnten. Aber nach so vielen Fällungen ist sie nur noch ein Buschwerk, hinter welchem gelegentlich Gauner sich verstecken. Man hat dieserhalb sich vor Denen zu hüten, die sie in Alles hineinziehn möchten, und begegne ihnen mit dem oben angezogenen Sprichwort: detras de la cruz està el diablo (»Hinterm Kreuze steht der Teufel«). PP II, S.345

Die Welt ist so schlecht, wie sie sein kann, wenn sie überhaupt sein soll

Man hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie: es liegt jedoch bloß darin, daß ich, statt als Aequivalent der Sünden eine künftige Hölle zu fabeln, nachwies, daß wo die Schuld liegt, in der Welt, auch schon etwas Höllenartiges sei: wer aber dieses leugnen wollte, — kann es leicht ein Mal erfahren.

Und dieser Welt, diesem
Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser Welt hat man das System des OPTIMISMUS anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. — Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Strömen, Pflanzen, Thieren u. s. f.
S.675
Aus: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (WW II), Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält.
Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verla
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Sogar aber läßt sich den handgreiflich sophistischen Beweisen LEIBNITZENS, daß diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis entgegenstellen, daß sie die SCHLECHTESTE unter den möglichen sei. Denn Möglich heißt nicht was Einer sich etwan sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich existiren und bestehen kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie seyn mußte, um mit knapper Noth bestehen zu können: wäre sie noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen, Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste. Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie möglicherweise seyn kann, wenn sie überhaupt noch seyn soll. S.678
Aus: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (WW II), Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält.
Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Wenn auch die Leibnitzische Demonstration, daß unter den MÖGLICHEN Welten diese immer noch die beste sei, richtig wäre, so gäbe sie doch noch keine THEODICEE. Denn der Schöpfer hat ja nicht bloß die Welt, sondern auch die Möglichkeit selbst geschaffen: er hätte demnach diese darauf einrichten sollen, daß sie eine bessere Welt zuließe. PP II, S.272

Die Welt als Strafkolonie
Das menschliche Daseyn, weit entfernt den Charakter eines GESCHENKS zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahirten SCHULD. Die Einforderung derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Daseyn gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Noth. Auf Abzahlung dieser Schuld wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die Zinsen getilgt. Die Kapitalabzahlung geschieht durch den Tod.

— Und wann wurde diese Schuld kontrahirt? — Bei der
Zeugung. —

Wenn man demgemäß den Menschen ansieht als ein Wesen, dessen Daseyn eine Strafe und Buße ist; — so man ihn in einem schon richtigeren Lichte. Der Mythos vom Sündenfall
(obwohl wahrscheinlich, wie das ganze Judenthum, dem Zend-Avesta entlehnt: Bun-Dehesch, 15) ist das Einzige im A.T., dem ich eine metaphysische, wenngleich nur allegorische Wahrheit zugestehen kann; ja, er ist es allein, was mich mir dem A.T. aussöhnt. Nichts Anderem nämlich sieht unser Daseyn so ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Das neutestamentliche Christenthum, dessen ethischer Geist der des Brahmanismus und Buddhaismus, daher dem übrigens optimistischen des Alten Testaments sehr fremd ist, hat auch, höchst weise, gleich an jenen Mythos angeknüpft: ja, ohne diesen hätte es im Judenthum gar keinen Anhaltspunkt gefunden. — Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Daseyn selbst behaftet ist, ermessen; so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft ist. Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was wir verdienen: denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten. Daß auch das Christenthum unser Daseyn in diesem Lichte erblickt, bezeugt eine Stelle aus Luther‘s Kommentar zu Galat., c. 3, die mir nur lateinisch vorliegt: Sumus autem nos omnes corporibus et rebus subjecti Diabolo, et hospites sumus in mundo, cujus ipse princeps et Deus est. Ideo panis, quem edimus, potus, quem bibimus, vestes, quibus utimur, imo aer et totum quo vivimus in carne, sub ipsius imperio est. —

(»Wir alle aber sind mit unseren Körpern und unseren Dingen dem Teufel unterworfen und sind Fremdlinge auf der Welt, deren Fürst und Gott er ist. Darum steht alles unter seiner Herrschaft, das Brot, das wir essen, das Getränk, das wir trinken, die Kleider, die wir anziehen, ja selbst die Luft und alles, wodurch wir im Fleische leben.« (Luther, zum Galaterbrief, 3. Kapitel))
WW II S.674f.

Um allezeit einen sichern Kompaß, zur Orientirung im Leben, bei der Hand zu haben, und um dasselbe, ohne je irre zu werden, stets im richtigen Lichte zu erblicken, ist nichts tauglicher, als daß man sich angewöhne, diese Welt zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleichsam als eine Strafanstalt, a penal colony [»Strafkolonie«]; — welche Ansicht derselben auch ihre theoretische und objektive Rechtfertigung findet, nicht bloß in meiner Philosophie, sondern in der Weisheit aller Zeiten, nämlich im Brahmanismus, im Buddhaismus und selbst im ächten und wohlverstandenen Christenthum, als welche sämmtlich unser Daseyn auffassen als die Folge einer Schuld, eines Fehltritts. Hat man jene Gewohnheit angenommen; so wird man seine Erwartungen vom Leben so stellen, wie sie der Sache angemessen sind, und demnach die Widerwärtigkeiten, Leiden, Plagen und Noth desselben, im Großen und im Kleinen, nicht mehr als etwas Regelwidriges und Unerwartetes ansehn, sondern ganz in der Ordnung finden.Zu den Uebeln einer Strafanstalt gehört denn auch die Gesellschaft, welche man daselbst antrifft. Wie es um diese hieselbst stehe, wird wer irgendwie einer bessern würdig wäre auch ohne mein Sagen wissen. Der schönen Seele nun gar, wie auch dem Genie, mag bisweilen darin zu Muthe seyn, wie einem edlen Staatsgefangenen, auf der Galeere, unter gemeinen Verbrechern; daher sie, wie dieser, suchen werden, sich zu isoliren. Ueberhaupt jedoch wird die besagte Auffassung uns befähigen, die sogenannten Unvollkommenheiten, d.h. die moralisch und intellektuell und dem entsprechend auch physiognomisch nichtswürdige Beschaffenheit der meisten Menschen ohne Befremden, geschweige mit Entrüstung, zu betrachten: denn wir werden stets im Sinne behalten, wo wir sind. PP II, S.273

Das Teuflische in der Welt ist, dass einer der Teufel des andern sein muss
Man sehe sie doch nur ein Mal darauf an, diese Welt beständig bedürftiger Wesen, die bloß dadurch, daß sie einander auffressen, eine Zeitlang bestehn, ihr Daseyn unter Angst und Noth durchbringen und oft entsetzliche Quaalen erdulden, bis sie endlich dem Tode in die Arme stürzen: wer dies deutlich ins Auge faßt, wird dem Aristoteles den Rat geben, wenn er sagt: hê physis daimonia, all' ou theia esti (natura daemonia est, non divina); de divinat., c. 2, p. 463; [»Die Natur ist dämonisch, nicht göttlich«] ja, er wird gestehn müssen, daß einen Gott, der sich hätte beigehn lassen, sich in eine solche Welt zu verwandeln, doch wahrlich der Teufel geplagt haben müßte. WW II, S.409

Die Wahrheit ist: wir sollen elend seyn, und sind's. Dabei ist die Hauptquelle der ernstlichsten Uebel, die den Menschen treffen, der Mensch selbst: homo homini lupus [der Mensch dem Menschen ein Wolf]. Wer dies Letztere recht ins Auge faßt, erblickt die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß Einer der Teufel des Andern seyn muß; wozu denn freilich Einer vor dem Andern geeignet ist, vor Allen wohl ein Erzteufel, in Gestalt eines Eroberers auftretend, der einige Hundert Tausend Menschen einander gegenüberstellt und ihnen zuruft: »Leiden und Sterben ist euere Bestimmung: jetzt schießt mit Flinten und Kanonen auf einander los!« und sie thun es. WW II, S.671

Leben ist Leiden (§ 57 – 59)
(§. 57.) Auf jeder Stufe, welche die Erkenntniß beleuchtet, erscheint sich der Wille als Individuum. Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes WANN und WO seines Daseyns: denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. -

Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart, deren ungehemmte Flucht in die Vergangenheit ein steter Uebergang in den Tod, ein stetes Sterben ist;
da sein vergangenes Leben, abgesehen von dessen etwanigen Folgen für die Gegenwart, wie auch von dem Zeugniß über seinen Willen, das darin abgedrückt ist, schon völlig abgethan, gestorben und nichts mehr ist: daher auch es ihm vernünftigerweise gleichgültig seyn muß, ob der Inhalt jener Vergangenheit Quaalen oder Genüsse waren. Die Gegenwart aber wird beständig unter seinen Händen zur Vergangenheit: die Zukunft ist ganz ungewiß und immer kurz.

So ist sein Daseyn, schon von der formellen Seite allein betrachtet, ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in die todte Vergangenheit, ein stetes Sterben. Sehen wir es nun aber auch von der physischen Seite an; so ist offenbar. daß wie bekanntlich unser Gehen nur ein stets gehemmtes Fallen ist, das Leben unseres Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod ist: endlich ist eben so die Regsamkeit unseres Geistes eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile.

Jeder Athemzug wehrt den beständig eindringenden Tod ab, mit welchem wir auf diese Weise in jeder Sekunde kämpfen, und dann wieder, in größeren Zwischenräumen, durch jede Mahlzeit, jeden Schlaf, jede Erwärmung u. s. w. Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir schon durch die Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit großem Antheil und vieler Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und so groß als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewißheit, daß sie platzen wird.

Sahen wir schon in der erkenntnißlosen Natur das innere Wesen derselben als ein beständiges Streben, ohne Ziel und ohne Rast; so tritt uns bei der Betrachtung des Thieres und des Menschen dieses noch viel deutlicher entgegen. Wollen und Streben ist sein ganzes Wesen, einem unlöschbaren Durst gänzlich zu vergleichen. Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d. h. sein Wesen und sein Da¬seyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind. Dieses hat sich sehr seltsam auch dadurch aussprechen müssen, daß, nachdem der Mensch alle Leiden und Quaalen in die Hölle versetzt hatte, für den Himmel nun nichts übrig blieb, als eben Langeweile.

Das stete Streben aber, welches das Wesen jeder Erscheinung des Willens ausmacht, erhält auf den höheren Stufen der Objektivation seine erste und allgemeinste Grundlage dadurch, daß hier der Wille sich erscheint als ein lebendiger Leib, mit dem eisernen Gebot, ihn zu nähren: und was diesem Gebote die Kraft giebt, ist eben, daß dieser Leib nichts Anderes, als der objektivirte Wille zum Leben selbst ist. Der Mensch, als die vollkommenste Objektivation jenes Willens, ist demgemäß auch das bedürftigste unter allen Wesen: er ist konkretes Wollen und Bedürfen durch und durch, ist ein Konkrement von tausend Bedürfnissen. Mit diesen steht er auf der Erde, sich selber überlassen, über Alles in Ungewißheit, nur nicht über seine Bedürftigkeit und seine Noth: demgemäß füllt die Sorge für die Erhaltung jenes Daseyns, unter so schweren, sich jeden Tag von Neuem meldenden Forderungen, in der Regel, das ganze Menschenleben aus. An sie knüpft sich sodann unmittelbar die zweite Anforderung, die der Fortpflanzung des Geschlechts. Zugleich bedrohen ihn von allen Seiten die verschiedenartigsten Gefahren, denen zu entgehen es beständiger Wachsamkeit bedarf. Mit behutsamem Schritt und ängstlichem Umherspähen verfolgt er seinen Weg, denn tausend Zufälle und tausend Feinde lauern ihm auf. So gieng er in der Wildniß, und so geht er im civilisirten Leben; es giebt für ihn keine Sicherheit:

Qualibus in tenebris vitae, quantisque periclis
Degitur hocc' aevi, quodcunque est!


Ach,in welchem Dunkel des Seins, in wie großen Gefahren,
Wird dies Leben verbracht, solang’ es dauert!

Lukrez, De rerum natura, II, 15.

Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber in diesem so mühsäligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl die Liebe zum Leben, als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als unausweichbar im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. —

Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen Fahrt und für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.

Nun ist es aber sogleich sehr bemerkenswerth, daß einerseits die Leiden und Quaalen des Lebens leicht so anwachsen können, daß selbst der Tod, in der Flucht vor welchem das ganze Leben besteht, wünschenswerth wird und man freiwillig zu ihm eilt; und andererseits wieder, daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendig bedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält, ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, was sie in Bewegung setzt, das Streben, die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen, »die Zeit zu tödten«, d.h. der Langenweile zu entgehen.

Demgemäß sehen wir, daß fast alle vor Noth und Sorgen geborgene Menschen, nachdem sie nun endlich alle anderen Lasten abgewälzt haben, jetzt sich selbst zur Last sind und nun jede durchgebrachte Stunde für Gewinn achten, also jeden Abzug von eben jenem Leben, zu dessen möglichst langer Erhaltung sie bis dahin alle Kräfte aufboten. Die Langeweile aber ist nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel: sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht. Sie macht, daß Wesen, welche einander so wenig lieben, wie die Menschen, doch so sehr einander suchen, und wird dadurch die Quelle der Geselligkeit. Auch werden überall gegen sie, wie gegen andere allgemeine Kalamitäten, öffentliche Vorkehrungen getroffen, schon aus Staatsklugheit; weil dieses Uebel, so gut als sein entgegengesetztes Extrem, die Hungersnoth, die Menschen zu den größten Zügellosigkeiten treiben kann: panem et Circenses braucht das Volk. Das strenge Philadelphische Pönitenziarsystem macht, mittelst Einsamkeit und Unthätigkeit, bloß die Langeweile zum Strafwerkzeug: und es ist ein so fürchterliches, daß es schon die Züchtlinge zum Selbstmord geführt hat. Wie die Noth die beständige Geissel des Volkes ist, so die Langeweile die der vornehmen Welt. Im bürgerlichen Leben ist sie durch den Sonntag, wie die Noth durch die sechs Wochentage repräsentirt.

Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Noth. —

Daß Wunsch und Befriedigung sich ohne zu kurze und ohne zu lange Zwischenräume folgen, verkleinert das Leiden, welches Beide geben, zum geringsten Maaße und macht den glücklichsten Lebenslauf aus. Denn Das, was man sonst den schönsten Theil, die reinsten Freuden des Lebens nennen möchte, eben auch nur, weil es uns aus dem realen Daseyn heraushebt und uns in antheilslose Zuschauer desselben verwandelt, also das reine Erkennen, dem alles Wollen fremd bleibt, der Genuß des Schönen, die ächte Freude an der Kunst, dies ist, weil es schon seltene Anlagen erfordert, nur höchst Wenigen und auch diesen nur als ein vorübergehender Traum vergönnt: und dann macht eben diese Wenigen die höhere intellektuelle Kraft für viel größere Leiden empfänglich, als die Stumpferen je empfinden können, und stellt sie überdies einsam unter merklich von ihnen verschiedene Wesen: wodurch sich denn auch Dieses ausgleicht.

Dem bei weitem größten Theile der Menschen aber sind die rein intellektuellen Genüsse nicht zugänglich; der Freude, die im reinen Erkennen liegt, sind sie fast ganz unfähig: sie sind gänzlich auf das Wollen verwiesen. Wenn daher irgend etwas ihnen Antheil abgewinnen, ihnen interessant seyn soll, so muß es (dies liegt auch schon in der Wortbedeutung) irgendwie ihren Willen anregen, sei es auch nur durch eine ferne und nur in der Möglichkeit liegende Beziehung auf ihn; er darf aber nie ganz aus dem Spiele bleiben, weil ihr Daseyn bei Weitem mehr im Wollen als im Erkennen liegt: Aktion und Reaktion ist ihr einziges Element. Die |naiven Aeußerungen dieser Beschaffenheit kann man aus Kleinigkeiten und alltäglichen Erscheinungen abnehmen: so z.B. schreiben sie an sehenswerthen Orten, die sie besuchen, ihre Namen hin, um so zu reagiren, um auf den Ort zu wirken, da er nicht auf sie wirkte: ferner können sie nicht leicht ein fremdes, seltenes Thier bloß betrachten, sondern müssen es reizen, necken, mit ihm spielen, um nur Aktion und Reaktion zu empfinden; ganz besonders aber zeigt jenes Bedürfniß der Willensanregung sich an der Erfindung und Erhaltung des Kartenspieles, welches recht eigentlich der Ausdruck der kläglichen Seite der Menschheit ist.

Aber was auch Natur, was auch das Glück gethan haben mag; wer man auch sei, und was man auch besitze; der dem Leben wesentliche Schmerz läßt sich nicht abwälzen:

Des Peleus’ Sohn wehklagte, den Blick zum Himmel erhebend.

Homer, Ilias, XXI, 272

Und wieder:

Sohn zwar war ich des Zeus, des Kroniden, und duldete dennoch
Unaussprechlichen Jammer.

Homer, Odyssee, XI, 620

Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert. Diese ist ursprünglich Mangel, Noth, Sorge um die Erhaltung des Lebens. Ist es, was sehr schwer hält, geglückt, den Schmerz in dieser Gestalt zu verdrängen, so stellt er sogleich sich in tausend anderen ein, abwechselnd nach Alter und Umständen, als Geschlechtstrieb, leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, Neid, Haß, Angst, Ehrgeiz, Geldgeiz, Krankheit u.s.w.

Kann er endlich in keiner andern Gestalt Eingang finden, so kommt er im traurigen, grauen Gewand des Ueberdrusses und der Langenweile, gegen welche dann mancherlei versucht wird. Gelingt es endlich diese zu verscheuchen, so wird es schwerlich geschehen, ohne dabei den Schmerz in einer der vorigen Gestalten wieder einzulassen und so den Tanz von vorne zu beginnen; denn zwischen Schmerz und Langerweile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen.

So niederschlagend diese Betrachtung ist, so will ich doch nebenher auf eine Seite derselben aufmerksam machen, aus der sich ein Trost schöpfen, |ja vielleicht gar eine Stoische Gleichgültigkeit gegen das vorhandene eigene Uebel erlangen läßt. Denn unsere Ungeduld über dieses entsteht großentheils daraus, daß wir es als zufällig erkennen, als herbeigeführt durch eine Kette von Ursachen, die leicht anders seyn könnte. Denn über die unmittelbar nothwendigen und ganz allgemeinen Uebel, z.B. Nothwendigkeit des Alters und des Todes und vieler täglichen Unbequemlichkeiten, pflegen wir uns nicht zu betrüben. Es ist vielmehr die Betrachtung der Zufälligkeit der Umstände, die gerade auf uns ein Leiden brachten, was diesem den Stachel giebt. Wenn wir nun aber erkannt haben, daß der Schmerz als solcher dem Leben wesentlich und unausweichbar ist, und nichts weiter als seine bloße Gestalt, die Form unter der er sich darstellt, vom Zufall abhängt, daß also unser gegenwärtiges Leiden eine Stelle ausfüllt, in welche, ohne dasselbe, sogleich ein anderes träte, das jetzt von jenem ausgeschlossen wird, daß demnach, im Wesentlichen, das Schicksal uns wenig anhaben kann; so könnte eine solche Reflexion, wenn sie zur lebendigen Ueberzeugung würde, einen bedeutenden Grad Stoischen Gleichmuths herbeiführen und die ängstliche Besorgniß um das eigene Wohl sehr vermindern. In der That aber mag eine so viel vermögende Herrschaft der Vernunft über das unmittelbar gefühlte Leiden selten oder nie sich finden.

Uebrigens könnte man durch jene Betrachtung über die Unvermeidlichkeit des Schmerzes und über das Verdrängen des einen durch den andern und das Herbeiziehen des neuen durch den Austritt des vorigen, sogar auf die paradoxe, aber nicht ungereimte Hypothese geleitet werden, daß in jedem Individuum das Maaß des ihm wesentlichen Schmerzes durch seine Natur ein für alle Mal bestimmt wäre, welches Maaß weder leer bleiben, noch überfüllt werden könnte, wie sehr auch die Form des Leidens wechseln mag. Sein Leiden und Wohlseyn wäre demnach gar nicht von außen, sondern eben nur durch jenes Maaß, jene Anlage, bestimmt, welche zwar durch das physische Befinden einige Ab- und Zunahme zu verschiedenen Zeiten erfahren möchte, im Ganzen aber doch die selbe bliebe und nichts Anderes wäre, als was man sein Temperament nennt, oder genauer, der Grad in welchem er, wie Platon es im ersten Buch der Republik ausdrückt, leichten oder schweren Sinnes wäre. —

Für diese Hypothese spricht nicht nur die bekannte Erfahrung, daß große Leiden alle kleineren gänzlich unfühlbar machen, und umgekehrt, bei Abwesenheit großer Leiden, selbst die kleinsten Unannehmlichkeiten uns quälen und verstimmen; sondern die Erfahrung lehrt auch, daß, wenn ein großes Unglück, bei dessen bloßen Gedanken wir schauderten, nun wirklich eingetreten ist, dennoch unsere Stimmung, sobald wir den ersten Schmerz überstanden haben, im Ganzen ziemlich unverändert dasteht; und auch umgekehrt, daß nach dem Eintritt eines lang ersehnten Glückes, wir uns im Ganzen und anhaltend nicht merklich wohler und behaglicher fühlen als vorher. Bloß der Augenblick des Eintritts jener Veränderungen bewegt uns ungewöhnlich stark als tiefer Jammer, oder lauter Jubel; aber beide verschwinden bald, weil sie auf Täuschung beruhten. Denn sie entstehen nicht über den unmittelbar gegenwärtigen Genuß oder Schmerz, sondern nur über die Eröffnung einer neuen Zukunft, die darin anticipirt wird. Nur dadurch, daß Schmerz oder Freude von der Zukunft borgten, konnten sie so abnorm erhöht werden, folglich nicht auf die Dauer. —

Für die aufgestellte Hypothese, der zufolge, wie im Erkennen, so auch im Gefühl des Leidens oder Wohlseyns ein sehr großer Theil subjektiv und a priori bestimmt wäre, können noch als Belege die Bemerkungen angeführt werden, daß der menschliche Frohsinn, oder Trübsinn, augenscheinlich nicht durch äußere Umstände, durch Reichthum oder Stand, bestimmt wird; da wir wenigstens ebenso viele frohe Gesichter unter den Armen, als unter den Reichen antreffen: ferner, daß die Motive, auf welche der Selbstmord erfolgt, so höchst verschieden sind; indem wir kein Unglück angeben können, das groß genug wäre, um ihn nur mit vieler Wahrscheinlichkeit, bei jedem Charakter, herbeizuführen, und wenige, die so klein wären, daß nicht ihnen gleichwiegende ihn schon veranlaßt hätten. Wenn nun gleich der Grad unserer Heiterkeit oder Traurigkeit nicht zu allen Zeiten der selbe ist; so werden wir, dieser Ansicht zufolge, es nicht dem Wechsel äußerer Umstände, sondern dem des innern Zustandes, des physischen Befindens, zuschreiben. Denn, wann eine wirkliche, wiewohl immer nur temporäre, Steigerung unserer Heiterkeit, selbst bis zur Freudigkeit, eintritt; so pflegt sie ohne allen äußern Anlaß sich einzufinden. Zwar sehen wir oft unsern Schmerz nur aus |einem bestimmten äußern Verhältniß hervorgehen, und sind sichtbarlich nur durch dieses gedrückt und betrübt: wir glauben dann, daß wenn nur dieses gehoben wäre, die größte Zufriedenheit eintreten müßte. Allein dies ist Täuschung. Das Maaß unseres Schmerzes und Wohlseyns im Ganzen ist, nach unserer Hypothese, für jeden Zeitpunkt subjektiv bestimmt, und in Beziehung auf dasselbe ist jenes äußere Motiv zur Betrübniß nur was für den Leib ein Vesikatorium [»blasenziehendes Zugpfaster«], zu dem sich alle, sonst vertheilten bösen Säfte hinziehen.

Der in unserm Wesen, für diese Zeitperiode, begründete und daher unabwälzbare Schmerz wäre, ohne jene bestimmte äußere Ursache des Leidens, an hundert Punkten vertheilt und erschiene in Gestalt von hundert kleinen Verdrießlichkeiten und Grillen über Dinge, die wir jetzt ganz übersehen, weil unsere Kapacität für den Schmerz schon durch jenes Hauptübel ausgefüllt ist, welches alles sonst zerstreute Leiden auf einen Punkt koncentrirt hat. Diesem entspricht auch die Beobachtung, daß, wenn eine große, uns beklemmende Besorgniß endlich, durch den glücklichen Ausgang, uns von der Brust gehoben wird, alsbald an ihre Stelle eine andere tritt, deren ganzer Stoff schon vorher da war, jedoch nicht als Sorge ins Bewußtseyn kommen konnte, weil dieses keine Kapacität dafür übrig hatte, weshalb dieser Sorgestoff bloß als dunkle unbemerkte Nebelgestalt an dessen Horizonts äußerstem Ende stehen blieb. Jetzt aber, da Platz geworden, tritt sogleich dieser fertige Stoff heran und nimmt den Thron der herrschenden (prytaneuousa) Besorgniß des Tages ein: wenn er nun auch, der Materie nach, sehr viel leichter ist, als der Stoff jener verschwundenen Besorgniß; so weiß er doch sich so aufzublähen, daß er ihr an scheinbarer Größe gleichkommt und so als Hauptbesorgniß des Tages den Thron vollkommen ausfüllt.

Unmäßige Freude und sehr heftiger Schmerz finden sich immer nur in der selben Person ein: denn beide bedingen sich wechselseitig und sind auch gemeinschaftlich durch große Lebhaftigkeit des Geistes bedingt. Beide werden, wie wir so eben fanden, nicht durch das rein Gegenwärtige, sondern durch Anticipation der Zukunft hervorgebracht. Da aber der Schmerz dem Leben wesentlich ist und auch seinem Grade nach durch die Natur des Subjekts bestimmt ist, daher plötzliche Veränderungen, weil sie immer äußere sind, seinen Grad eigentlich nicht ändern können: so liegt |dem übermäßigen Jubel oder Schmerz immer ein Irrthum und Wahn zum Grunde: folglich ließen jene beiden Ueberspannungen des Gemüths sich durch Einsicht vermeiden. Jeder unmäßige Jubel (exultatio, insolens laetitia) beruht immer auf dem Wahn, etwas im Leben gefunden zu haben, was gar nicht darin anzutreffen ist, nämlich dauernde Befriedigung der quälenden, sich stets neu gebärenden Wünsche, oder Sorgen. Von jedem einzelnen Wahn dieser Art muß man später unausbleiblich zurückgebracht werden und ihn dann, wann er verschwindet, mit ebenso bittern Schmerzen bezahlen, als sein Eintritt Freude verursachte. Er gleicht insofern durchaus einer Höhe, von der man nur durch Fall wieder herab kann; daher man sie vermeiden sollte: und jeder plötzliche, übermäßige Schmerz ist eben nur der Fall von so einer Höhe, das Verschwinden eines solchen Wahnes, und daher durch ihn bedingt. Man könnte folglich beide vermeiden, wenn man es über sich vermöchte, die Dinge stets im Ganzen und in ihrem Zusammenhang völlig klar zu übersehen und sich standhaft zu hüten, ihnen die Farbe wirklich zu leihen, die man wünschte, daß sie hätten. Die Stoische Ethik gieng hauptsächlich darauf aus, das Gemüth von allem solchen Wahn und dessen Folgen zu befreien, und ihm statt dessen unerschütterlichen Gleichmuth zu geben. Von dieser Einsicht ist Horatius erfüllt, in der bekannten Ode:

Aequam memento rebus in arduis
Servare mentem, non secus in bonis
Ab insolenti temperatam Laetitia. —


Denk stets in schweren Zeiten den Gleichmut dir
Zu wahren, wie in guten ein Herz,
Das klug die übermütige Freude meistert.

Horaz, Carmina, II, 3

Meistens aber verschließen wir uns der, einer bittern Arzenei zu vergleichenden Erkenntniß, daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern Jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Innern herumträgt. Wir suchen vielmehr zu dem nie von uns weichenden Schmerz stets eine äußere einzelne Ursache, gleichsam einen Vorwand; wie der Freie sich einen Götzen bildet, um einen Herrn zu haben. Denn unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch, und wenn gleich jede erlangte Befriedigung, soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, sondern meistens bald als beschämender Irrthum dasteht, sehen wir doch nicht ein, daß wir |mit dem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen:

Sed, dum abest quod avemus, id exsuperare videtur
Caetera; post aliud, quum contigit illud, avemus;
Et sitis aequa tenet vitai semper hiantes.

Denn solange uns fehlt, was wir wünschten, erscheint es an Wert uns
Alles zu übertreffen; sogleich aber, wenn es erlangt ward,
Stellt sich ein anderes ein, und so hält immer ein gleicher
Durst uns fest, die wir nach dem Leben lechzend verlangen.

Lukrez III, 1080

So geht es denn entweder ins Unendliche, oder, was seltener ist und schon eine gewisse Kraft des Charakters voraussetzt, bis wir auf einen Wunsch treffen, der nicht erfüllt und doch nicht aufgegeben werden kann: dann haben wir gleichsam was wir suchten, nämlich etwas, das wir jeden Augenblick, statt unseres eigenen Wesens, als die Quelle unserer Leiden anklagen können, und wodurch wir nun mit unserm Schicksal entzweit, dafür aber mit unserer Existenz versöhnt werden, indem die Erkenntniß sich wieder entfernt, daß dieser Existenz selbst das Leiden wesentlich und wahre Befriedigung unmöglich sei. Die Folge dieser letzten Entwickelungsart ist eine etwas melancholische Stimmung, das beständige Tragen eines einzigen, großen Schmerzes und daraus entstehende Geringschätzung aller kleineren Leiden oder Freuden; folglich eine schon würdigere Erscheinung, als das stete Haschen nach immer anderen Truggestalten, welches viel gewöhnlicher ist.

(§. 58. )
Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d.h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuß auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth: denn dahin gehört nicht nur jedes wirkliche, offenbare Leiden, sondern auch jeder Wunsch, dessen Importunität unsere Ruhe stört, ja sogar auch die ertödtende Langeweile, die uns das Daseyn zur Last macht. -

Nun aber ist es so schwer, irgend etwas zu erreichen und durchzusetzen: jedem Vorhaben stehen Schwierigkeiten und Bemühungen ohne Ende entgegen, und bei jedem Schritt häufen sich die Hindernisse. Wann aber endlich Alles überwunden und erlangt ist, so kann doch nie etwas Anderes gewonnen seyn, als daß man von irgend einem Leiden, oder einem Wunsche, befreit ist, folglich nur sich so befindet, wie vor dessen Eintritt. -

Unmittelbar gegeben ist uns immer nur der Mangel, d.h. der Schmerz. Die Befriedigung aber und den Genuß können wir nur mittelbar erkennen, durch Erinnerung an das vorhergegangene Leiden und Entbehren, welches bei seinem Eintritt aufhörte. Daher kommt es, daß wir der Güter und Vortheile, die wir wirklich besitzen, gar nicht recht inne werden, noch sie schätzen, sondern nicht anders meynen, als eben es müsse so seyn: denn sie beglücken immer nur negativ, Leiden abhaltend. Erst nachdem wir sie verloren haben, wird uns ihr Werth fühlbar: denn der Mangel, das Entbehren, das Leiden ist das Positive, sich unmittelbar Ankündigende. Daher auch freut uns die Erinnerung überstandener Noth, Krankheit, Mangel u.dgl., weil solche das einzige Mittel die gegenwärtigen Güter zu genießen ist. Auch ist nicht zu leugnen, daß in dieser Hinsicht und auf diesem Standpunkt des Egoismus, der die Form des Lebenwollens ist, der Anblick oder die Schilderung fremder Leiden uns auf eben jenem Wege Befriedigung und Genuß giebt, wie es Lukretius schön und offenherzig ausspricht, im Anfang des zweiten Buches:

Suave, mari magno, turbantibus aequora ventis,
E terra magnum alterius spectare laborem:
Non, quia vexari quemquam est jucunda voluptas;
Sed, quibus ipse malis careas, quia cernere suave est.


Freude macht es am Meer, wenn stürmische Winde es peitschen,
An dem Ufer zu stehn und zu sehn, wie der Schiffer in Not ist.
Nicht als machte es Lust zu, wie der andere gequält wird,
Sondern weil es dich freut, vom Übel befreit dich zu wissen.

Lukrez, De rerum natura, II, 1

Jedoch wird sich uns weiterhin zeigen, daß diese Art der Freude, durch so vermittelte Erkenntniß seines Wohlseyns, der Quelle der eigentlichen positiven Bosheit sehr nahe liegt.

Daß alles Glück nur negativer, nicht positiver Natur ist, daß es eben deshalb nicht dauernde Befriedigung und Beglückung seyn kann, sondern immer nur von einem Schmerz oder Mangel erlöst, auf welchen entweder ein neuer Schmerz, oder auch languor, leeres Sehnen und Langeweile folgen muß; dies findet einen Beleg auch in jenem treuen Spiegel des Wesens der Welt und des Lebens, in der Kunst, besonders in der Poesie. Jede epische, oder dramatische Dichtung nämlich kann immer nur ein Ringen, Streben und Kämpfen um Glück, nie aber das bleibende und vollendete Glück selbst darstellen. Sie führt ihren Helden durch tausend Schwierigkeiten und Gefahren bis zum Ziel: sobald es erreicht ist, läßt sie schnell den Vorhang fallen. Denn es bliebe ihr jetzt nichts übrig, als zu zeigen, daß das glänzende Ziel, in welchem der Held das Glück zu finden wähnte, auch ihn nur geneckt hatte, und er nach dessen Erreichung nicht besser daran war, als zuvor. Weil ein ächtes, bleibendes Glück nicht möglich ist, kann es kein Gegenstand der Kunst seyn. Zwar ist der Zweck des Idylls wohl eigentlich die Schilderung eines solchen: allein man sieht auch, daß das Idyll als solches sich nicht halten kann. Immer wird es dem Dichter unter den Händen entweder episch, und ist dann nur ein sehr unbedeutendes Epos, aus kleinen Leiden, kleinen Freuden und kleinen Bestrebungen zusammengesetzt: dies ist der häufigste Fall; oder aber es wird zur bloß beschreibenden Poesie, schildert die Schönheit der Natur, d.h. eigentlich das reine willensfreie Erkennen, welches freilich auch in der That das einzige reine Glück ist, dem weder Leiden noch Bedürfniß vorhergeht, noch auch Reue, Leiden, Leere, Ueberdruß nothwendig folgt: nur kann dieses Glück nicht das ganze Leben füllen, sondern bloß Augenblicke desselben. -

Was wir in der Poesie sehen, finden wir in der Musik wieder, in deren Melodie wir ja die allgemein ausgedrückte innerste Geschichte des sich selbst bewußten Willens, stdas geheime Leben, Sehnen, Leiden und Freuen, das Ebben und Fluthen des menschlichen Herzens wiedererkannt haben. Die Melodie ist immer ein Abweichen vom Grundton, durch tausend wunderliche Irrgänge, bis zur schmerzlichsten Dissonanz, darauf sie endlich den Grundton wiederfindet, der die Befriedigung und Beruhigung des Willens ausdrückt, mit welchem aber nachher weiter nichts mehr zu machen ist und dessen längeres Anhalten nur lästige und nichtssagende Monotonie wäre, der Langenweile entsprechend.

Alles was diese Betrachtungen deutlich machen sollten, die Unerreichbarkeit dauernder Befriedigung und die Negativität alles Glückes, findet seine Erklärung in Dem, was am Schlusse des zweiten Buches gezeigt ist: daß nämlich der Wille, dessen Objektivation das Menschenleben wie jede Erscheinung ist, ein Streben ohne Ziel und ohne Ende ist. Das Gepräge dieser Endlosigkeit finden wir auch allen Theilen seiner gesammten Erscheinung aufgedrückt, von der allgemeinsten Form dieser, der Zeit und dem Raum ohne Ende an, bis zur vollendetesten aller Erscheinungen, dem Leben und Streben des Menschen. –

Man kann drei Extreme des Menschenlebens theoretisch annehmen und sie als Elemente des wirklichen Menschenlebens betrachten.

Erstlich,
das gewaltige Wollen, die großen Leidenschaften (Radscha-Guna). Es tritt hervor in den großen historischen Charakteren; es ist geschildert im Epos und Drama: es kann sich aber auch in der kleinen Sphäre zeigen, denn die Größe der Objekte mißt sich hier nur nach dem Grade, in welchem sie den Willen bewegen, nicht nach ihren äußeren Verhältnissen.

Sodann zweitens das reine Erkennen, das Auffassen der Ideen, bedingt durch Befreiung der Erkenntniß vom Dienste des Willens: das Leben des Genius (Satwa-Guna).

Endlich drittens, die größte Lethargie des Willens und damit der an ihn gebundenen Erkenntniß, leeres Sehnen, lebenerstarrende Langeweile (Tama-Guna).

Das Leben des Individuums, weit entfernt in einem dieser Extreme zu verharren, berührt sie nur selten, und ist meistens nur ein schwaches und schwankendes Annähern zu dieser oder jener Seite, ein dürftiges Wollen kleinlicher Objekte, stets wiederkehrend und so der Langenweile entrinnend. -

Es ist wirklich unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von außen gesehen, und wie dumpf und besinnungslos, von innen empfunden, das Leben der allermeisten Menschen dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken. Sie gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum; und jedes Mal, daß ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs Neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz und Takt vor Takt, mit unbedeutenden Variationen. -

Jedes Individuum, jedes Menschengesicht und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum mehr des unendlichen Naturgeistes, des beharrlichen Willens zum Leben, ist nur ein flüchtiges Gebilde mehr, das er spielend hinzeichnet auf sein unendliches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehen läßt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen. Dennoch, und hier liegt die bedenkliche Seite des Lebens, muß jedes dieser flüchtigen Gebilde, dieser schaalen Einfälle, vom ganzen Willen zum Leben, in aller seiner Heftigkeit, mit vielen und tiefen Schmerzen und zuletzt mit einem lange gefürchteten, endlich eintretenden bittern Tode bezahlt werden. Darum macht uns der Anblick eines Leichnams so plötzlich ernst.

Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages, die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Woche, die Unfälle jeder Stunde, mittelst des stets auf Schabernack bedachten Zufalls, sind lauter Komödienscenen. Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und Tode am Schlusse, geben immer ein Trauerspiel. So muß, als ob das Schicksal zum Jammer unseres Daseyns noch den Spott fügen gewollt, unser Leben alle Wehen des Trauerspiels enthalten, und wir dabei doch nicht einmal die Würde tragischer Personen behaupten können, sondern, im breiten Detail des Lebens, unumgänglich läppische Lustspielcharaktere seyn.

So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schaale des Daseyns zu verdecken, oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit ist jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden, daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auflegt, sich in der Gestalt von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar nicht empfänglich ist. Dieses ist daher auch ursprünglich am meisten der Fall bei den Völkern, welchen die Milde des Himmelsstriches und Bodens das Leben leicht macht, vor allen bei den Hindus, dann bei den Griechen, Römern, und später bei den Italiänern, Spaniern u.s.w. –

Dämonen, Götter und Heilige schafft sich der Mensch nach seinem eigenen Bilde; diesen müssen dann unablässig Opfer, Gebete, Tempelverzierungen, Gelübde und deren Lösung, Wallfahrten, Begrüßungen, Schmückung der Bilder u.s.w. dargebracht werden. Ihr Dienst verwebt sich überall mit der Wirklichkeit, ja verdunkelt diese: jedes Ereigniß des Lebens wird dann als Gegenwirkung jener Wesen aufgenommen: der Umgang mit ihnen füllt die halbe Zeit des Lebens aus, unterhält beständig die Hoffnung und wird, durch den Reiz der Täuschung, oft interessanter, als der mit wirklichen Wesen. Er ist der Ausdruck und das Symptom der doppelten Bedürftigkeit des Menschen, theils nach Hülfe und Beistand, und theils nach Beschäftigung und Kurzweil: und wenn er auch dem erstern Bedürfniß oft gerade entgegenarbeitet, indem, bei vorkommenden Unfällen und Gefahren, kostbare Zeit und Kräfte, statt auf deren Abwendung, auf Gebete und Opfer unnütz verwendet werden; so dient er dem zweiten Bedürfniß dafür desto besser, durch jene phantastische Unterhaltung mit einer erträumten Geisterwelt: und dies ist der gar nicht zu verachtende Gewinn aller Superstitionen.

(§. 59.) Haben wir nunmehr durch die allerallgemeinsten Betrachtungen, durch Untersuchung der ersten elementaren Grundzüge des Menschenlebens, uns insofern a priori überzeugt, daß dasselbe schon der ganzen Anlage nach, keiner wahren Glücksäligkeit fähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unsäliger Zustand ist; so könnten wir jetzt diese Ueberzeugung viel lebhafter in uns erwecken, wenn wir, mehr a posteriori verfahrend, auf die bestimmteren Fälle eingehen, Bilder vor die Phantasie bringen und in Beispielen den namenlosen Jammer schildern wollten, den Erfahrung und Geschichte darbieten, wohin man auch blicken und in welcher Rücksicht man auch forschen mag. Allein das Kapitel würde ohne Ende seyn und uns von dem Standpunkt der Allgemeinheit entfernen, welcher der Philosophie wesentlich ist. Zudem könnte man leicht eine solche Schilderung für eine bloße Deklamation über das menschliche Elend, wie sie schon oft dagewesen ist, halten und sie als solche der Einseitigkeit beschuldigen, weil sie von einzelnen Thatsachen ausgienge. Von solchem Vorwurf und Verdacht ist daher unsere ganz kalte und philosophische, vom Allgemeinen ausgehende und a priori geführte Nachweisung des im Wesen des Lebens begründeten unumgänglichen Leidens frei.

Die Bestätigung a posteriori aber ist überall leicht zu haben. Jeder, welcher aus den ersten Jugendträumen erwacht ist, eigene und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte der Vergangenheit und des eigenen Zeitalters, endlich in den Werken der großen Dichter umgesehen hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes Vorurtheil seine Urtheilskraft lähmt, wohl das Resultat erkennen, daß diese Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrthums ist, die unbarmherzig darin schalten, im Großen, wie im Kleinen, neben welchen aber noch Thorheit und Bosheit die Geißel schwingen: daher es kommt, daß jedes Bessere nur mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung gelangt und Wirksamkeit oder Gehör findet, aber das Absurde und Verkehrte im Reiche des Denkens, das Platte und Abgeschmackte im Reiche der Kunst, das Böse und Hinterlistige im Reiche der Thaten, nur durch kurze Unterbrechungen gestört, eigentlich die Herrschaft behaupten; hingegen das Treffliche jeder Art immer nur eine Ausnahme, ein Fall aus Millionen ist, daher auch, wenn es sich in einem dauernden Werke kund gegeben, dieses nachher, nachdem es den Groll seiner Zeitgenossen überlebt hat, isolirt dasteht, aufbewahrt wird, gleich einem Meteorstein, aus einer andern Ordnung der Dinge, als die hier herrschende ist, entsprungen. -

Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist, in der Regel, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst verbirgt, weil er weiß, daß Andere selten Theilnahme oder Mitleid, fast immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Plagen, von denen sie gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen; - aber vielleicht wird nie ein Mensch, am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber gänzliches Nichtseyn erwählen. Der wesentliche Inhalt des weltberühmten Monologs im »Hamlet« ist, wenn zusammengefaßt, dieser: Unser Zustand ist ein so elender, daß gänzliches Nichtseyn ihm entschieden vorzuziehen wäre. Wenn nun der Selbstmord uns dieses wirklich darböte, so daß die Alternative »Seyn oder Nichtseyn« im vollen Sinn des Wortes vorläge; dann wäre er unbedingt zu erwählen, als eine höchst wünschenswerthe Vollendung (a consummation devoutly to be wish'd; Shakespeare: Hamlet III,1). Allein in uns ist etwas, das uns sagt, dem sei nicht so; es sei damit nicht aus, der Tod sei keine absolute Vernichtung. -

Imgleichen ist, was schon der Vater der Geschichte anführt (Herodot, VII, 46.), auch wohl seitdem nicht widerlegt worden, daß nämlich kein Mensch existirt hat, der nicht mehr als ein Mal gewünscht hätte, den folgenden Tag nicht zu erleben. Danach möchte die so oft beklagte Kürze des Lebens vielleicht gerade das Beste daran seyn. -

Wenn man nun endlich noch Jedem die entsetzlichen Schmerzen und Quaalen, denen sein Leben beständig offen steht, vor die Augen bringen wollte; so würde ihn Grausen ergreifen: und wenn man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgische Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finsteren Behausungen des Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluß ihn in den Hungerthurm des Ugolino blicken lassen wollte; so würde sicherlich auch er zuletzt einsehen, welcher Art dieser meilleur des mondes possibles ist.

Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen, als aus dieser unserer wirklichen Welt? Und doch ist es eine recht ordentliche Hölle geworden. Hingegen als er an die Aufgabe kam, den Himmel und seine Freuden zu schildern, da hatte er eine unüberwindliche Schwierigkeit vor sich; weil eben unsere Welt gar keine Materialien zu so etwas darbietet. Daher blieb ihm nichts übrig, als, statt der Freuden des Paradieses, die Belehrung, die ihm dort von seinem Ahnherrn, seiner Beatrix und verschiedenen Heiligen ertheilt worden, uns wiederzugeben. Hieraus aber erhellt genugsam, welcher Art diese Welt ist. Freilich ist am Menschenleben, wie an jeder schlechten Waare, die Außenseite mit falschem Schimmer überzogen: immer verbirgt sich was leidet; hingegen was Jeder an Prunk und Glanz erschwingen kann, trägt er zur Schau, und je mehr ihm innere Zufriedenheit abgeht, desto mehr wünscht er, in der Meinung Anderer als ein Beglückter dazustehen: so weit geht die Thorheit, und die Meinung Anderer ist ein Hauptziel des Strebens eines Jeden, obgleich die gänzliche Nichtigkeit desselben schon dadurch sich ausdrückt, daß in fast allen Sprachen Eitelkeit, vanitas, ursprünglich Leerheit und Nichtigkeit bedeutet. -

Allein auch unter allem diesen Blendwerk können die Quaalen des Lebens sehr leicht so anwachsen, und es geschieht ja täglich, daß der sonst über Alles gefürchtete Tod mit Begierde ergriffen wird. Ja, wenn das Schicksal seine ganze Tücke zeigen will, so kann selbst diese Zuflucht dem Leidenden versperrt und er, unter den Händen ergrimmter Feinde, grausamen, langsamen Martern ohne Rettung hingegeben bleiben. Vergebens ruft dann der Gequälte seine Götter um Hülfe an: er bleibt seinem Schicksal ohne Gnade Preis gegeben. Diese Rettungslosigkeit ist aber eben nur der Spiegel der Unbezwinglichkeit seines Willens, dessen Objektität seine Person ist. –

So wenig eine äußere Macht diesen Willen ändern oder aufheben kann, so wenig auch kann irgend eine fremde Macht ihn von den Quaalen befreien, die aus dem Leben hervorgehen, welches die Erscheinung jenes Willens ist. Immer ist der Mensch auf sich selbst zurückgewiesen, wie in jeder, so in der Hauptsache. Vergebens macht er sich Götter, um von ihnen zu erbetteln und zu erschmeicheln was nur die eigene Willenskraft herbeizuführen vermag. Hatte das Alte Testament die Welt und den Menschen zum Werk eines Gottes gemacht, so sah das Neue Testament, um zu lehren, daß Heil und Erlösung aus dem Jammer dieser Welt nur von ihr selbst ausgehen kann, sich genöthigt, jenen Gott Mensch werden zu lassen. Des Menschen Wille ist und bleibt es, wovon Alles für ihn abhängt. Saniassis, Märtyrer, Heilige jedes Glaubens und Namens, haben freiwillig und gern jede Marter erduldet, weil in ihnen der Wille zum Leben sich aufgehoben hatte; dann aber war sogar die langsame Zerstörung seiner Erscheinung ihnen willkommen. Doch ich will der fernern Darstellung nicht vorgreifen. –

Uebrigens kann ich hier die Erklärung nicht zurückhalten, daß mir der Optimismus, wo er nicht etwan das gedankenlose Reden Solcher ist, unter deren platten Stirnen nichts als Worte herbergen, nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit. - Man denke nur ja nicht etwan, daß die christliche Glaubenslehre dem Optimismus günstig sei; da im Gegentheil in den Evangelien Welt und Uebel beinahe als synonyme Ausdrücke gebraucht werden.
WW I, S.405-424

Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens
Dieses Kapitel bezieht sich auf §§.56- [57, 58] 59 des ersten Bandes. Auch ist damit zu vergleichen Kapitel 11 und 12 des zweiten Bandes der Parerga und Paralipomena.
Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit. —

Bis dahin jedoch sind seine Wünsche gränzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein endliches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen. Daneben nun betrachte man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der Noth, täglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt. —

Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden. Hiezu liegen tief im Wesen der Dinge die Anlagen. Demgemäß fällt das Leben der meisten Menschen trübsälig und kurz aus. Die komparativ Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben mußte, — als Lockvogel.

Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug,
im Kleinen, wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen.

Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wann wir uns haben hinäffen lassen.
Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiß, die Vergangenheit unwiederbringlich. Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen, größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn. Stellt doch vielmehr jene fortwährende Täuschung und Enttäuschung, wie auch die durchgängige Beschaffenheit des Lebens, sich dar, als darauf abgesehen und berechnet, die Ueberzeugung zu erwecken, daß gar nichts unsers Strebens, Treibens und Ringens werth sei, daß alle Güter nichtig seien, die Welt an allen Enden bankrott, und das Leben ein Geschäft, das nicht die Kosten deckt; — auf daß unser Wille sich davon abwende.

Die Art, wie diese Nichtigkeit aller Objekte des Willens sich dem im Individuo wurzelnden Intellekt kund giebt und faßlich macht, ist zunächst die Zeit. Sie ist die Form, mittelst derer jene Nichtigkeit der Dinge als Vergänglichkeit derselben erscheint; indem, vermöge dieser, alle unsere Genüsse und Freuden unter unsern Händen zu Nichts werden und wir nachher verwundert fragen, wo sie geblieben seien. Jene Nichtigkeit selbst ist daher das alleinige Objektive der Zeit, d.h. das ihr im Wesen an sich der Dinge Entsprechende, also Das, dessen Ausdruck sie ist. Deshalb eben ist die Zeit die a priori nothwendige Form aller unserer Anschauungen: in ihr muß sich Alles darstellen, auch wir selbst. Demzufolge gleicht nun zunächst unser Leben einer Zahlung, die man in lauter Kupferpfennigen zugezählt erhält und dann doch quittiren muß: es sind die Tage; die Quittung ist der Tod. Denn zuletzt verkündigt die Zeit den Urtheilsspruch der Natur über den Werth aller in ihr erscheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet:

Und das mit Recht: denn Alles was entsteht,
Ist werth, daß es zu Grunde geht.
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.

Goethe, Faust 1

So sind denn Alter und Tod, zu denen jedes Leben nothwendig hineilt, das aus den Händen der Natur selbst erfolgende Verdammungsurtheil über den Willen zum Leben, welches aussagt, daß dieser Wille ein Streben ist, das sich selbst vereiteln muß. »Was du gewollt hast,« spricht es, »endigt so: wolle etwas Besseres.« —

Also die Belehrung, welche Jedem sein Leben giebt, besteht im Ganzen darin, daß die Gegenstände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf dem sie sämmtlich stehen, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, daß all sein Streben und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war:

Then old age and experience, hand in hand,
Lead him to death, and make him understand,
After a search so painful and so long,
That all his life he has been in the wrong.


Bis Alter und Erfahrung, Hand in Hand,
Zum Tod’ ihn führen und er hat erkannt,
Daß, nach so langem, mühevollen Streben,
Er Unrecht hatte, durch sein ganzes Leben.
Bei Goethe zitiert in Dichtung und Wahrheit, 13. Buch

Wir wollen aber noch auf das Specielle der Sache eingehen; da diese Ansichten es sind, in denen ich den meisten Widerspruch erfahren habe. —

Zuvörderst habe ich die im Texte gegebene Nachweisung der Negativität aller Befriedigung, also alles Genusses und alles Glückes, im Gegensatz der Positivität des Schmerzes noch durch Folgendes zu bekräftigen.

Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit. Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da er verschluckt wird, für unser Gefühl dazuseyn aufhört. Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, sobald sie ausbleiben: aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermißt, sondern höchstens wird absichtlich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht. Denn nur Schmerz und Mangel können positiv empfunden werden und kündigen daher sich selbst an: das Wohlseyn hingegen ist bloß negativ. Daher eben werden wir der drei größten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend und Freiheit, nicht als solcher inne, so lange wir sie besitzen; sondern erst nachdem wir sie verloren haben: denn auch sie sind Negationen. Daß Tage unsers Lebens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie unglücklichen Platz gemacht haben. —

In dem Maaße, als die Genüsse zunehmen, nimmt die Empfänglichkeit für sie ab: das Gewohnte wird nicht mehr als Genuß empfunden. Eben dadurch aber nimmt die Empfänglichkeit für das Leiden zu: denn das Wegfallen des Gewohnten wird schmerzlich gefühlt. Also wächst durch den Besitz das Maaß des Nothwendigen, und dadurch die Fähigkeit Schmerz zu empfinden. —

Die Stunden gehen desto schneller hin, je angenehmer; desto langsamer, je peinlicher sie zugebracht werden: weil der Schmerz, nicht der Genuß das Positive ist, dessen Gegenwart sich fühlbar macht. Eben so werden wir bei der Langenweile der Zeit inne, bei der Kurzweil nicht. Beides beweist, daß unser Daseyn dann am glücklichsten ist, wann wir es am wenigsten spüren: woraus folgt, daß es besser wäre, es nicht zu haben. Große, lebhafte Freude läßt sich schlechterdings nur denken als Folge großer vorhergegangener Noth: denn zu einem Zustande dauernder Zufriedenheit kann nichts hinzukommen, als etwas Kurzweil, oder auch Befriedigung der Eitelkeit. Darum sind alle Dichter genöthigt, ihre Helden in ängstliche und peinliche Lagen zu bringen, um sie daraus wieder befreien zu können: Drama und Epos schildern demnach durchgängig nur kämpfende, leidende, gequälte Menschen, und jeder Roman ist ein Guckkasten, darin man die Spasmen und Konvulsionen des geängstigten menschlichen Herzens betrachtet. Diese ästhetische Nothwendigkeit hat Walter Scott naiv dargelegt in der »Konklusion« zu seiner Novelle Old mortality. —

Ganz in Uebereinstimmung mit der von mir bewiesenen Wahrheit sagt auch der von Natur und Glück so begünstigte Voltaire:

le bonheur n’est qu’un rève, et la douleur est réelle;
und setzt hinzu: il y a quatre-vingts ans que je l’éprouve. Je n’y sais autre chose que me résigner, et me dire que les mouches sont nées pour être mangées par les araignées, et les hommes pour être dévorés par les chagrins.

Das Glück ist nur ein Traum, und wirklich ist nur der Schmerz; ...
Seit achtzig Jahren mache ich diese Erfahrung. Ich weiß nichts Besseres als mich darein zu ergeben und mir zu sagen, dass die Fliegen dazu da sind, um von den Spinnen, und die Menschen, um von ihren Kümmernissen aufgefressen zu werden.

Voltaire, Lettre à M. le Marquis de Florian, Ferney, le 16 mars 1774

Ehe man so zuversichtlich ausspricht, daß das Leben ein wünschenswerthes, oder dankenswerthes Gut sei, vergleiche man ein Mal gelassen die Summe der nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch in seinem Leben genießen kann, mit der Summe der nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Leben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehen seyn. Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gut getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann:

Mille piacer’ non vagliono un tormento.

Tausend Genüsse sind nicht eine Qual wert.
Petrarca, Il canzonaire, sonetto 195

Denn, daß Tausende in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines Einzigen auf: und eben so wenig macht mein gegenwärtiges Wohlseyn meine frühern Leiden ungeschehen. Wenn daher des Uebeln auch hundert Mal weniger auf der Welt wäre, als der Fall ist; so wäre dennoch das bloße Daseyn desselben hinreichend, eine Wahrheit zu begründen, welche sich auf verschiedene Weise, wiewohl immer nur etwas indirekt ausdrücken läßt, nämlich, daß wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben; — daß ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; — daß sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte; u.s.f. Ueberaus schön ist Byrons Ausdruck der Sache:

Our life is a false nature, — ‘tis not in
The harmony of things, this hard decree,
This uneradicable taint of sin,
This boundless Upas, this all-blasting tree
Whose root is earth, whose leaves and branches be
The skies, which rain their plagues on men like dew —
Disease, death, bondage — all the woes we see—
And worse, the woes we see not — which throb through
The immedicable soul, with heart-aches ever new.


Unser Leben ist falscher Art: in der Harmonie der Dinge kann es nicht liegen, dieses harte Verhängniß, diese unausrottbare Seuche der Sünde, dieser gränzenlose Upas, dieser Alles vergiftende Baum, dessen Wurzel die Erde ist, dessen Blätter und Zweige die Wolken sind, welche ihre Plagen auf die Menschen herabregnen, wie Thau, — Krankheit, Tod, Knechtschaft — all das Wehe, welches wir sehen, — und, was schlimmer, das Wehe, welches wir nicht sehen, — und welches die unheilbare Seele durchwallt, mit immer neuem Gram.

Wenn die Welt und das Leben Selbstzweck seyn und demnach theoretisch keiner Rechtfertigung, praktisch keiner Entschädigung oder Gutmachung bedürfen sollten, sondern da wären, etwan wie Spinoza und die heutigen Spinozisten es darstellen, als die einzige Manifestation eines Gottes, der animi causa, oder auch um sich zu spiegeln, eine solche Evolution mit sich selber vornähme, mithin ihr Daseyn weder durch Gründe gerechtfertigt, noch durch Folgen ausgelöst zu werden brauchte; — dann müßten nicht etwan die Leiden und Plagen des Lebens durch die Genüße und das Wohlseyn in demselben völlig ausgeglichen werden; — da dies, wie gesagt, unmöglich ist, weil mein gegenwärtiger Schmerz durch künftige Freuden nie aufgehoben wird, indem diese ihre Zeit füllen, wie er seine; — sondern es müßte ganz und gar keine Leiden geben und auch der Tod nicht seyn, oder nichts Schreckliches für uns haben. Nur so würde das Leben für sich selbst bezahlen.

Weil nun aber unser Zustand vielmehr etwas ist, das besser nicht wäre; so trägt Alles, was uns umgiebt, die Spur hievon — gleich wie in der Hölle Alles nach Schwefel riecht, — indem Jegliches stets unvollkommen und trüglich, jedes Angenehme mit Unangenehmem versetzt, jeder Genuß immer nur ein halber ist, jedes Vergnügen seine eigene Störung, jede Erleichterung neue Beschwerde herbeiführt, jedes Hülfsmittel unserer täglichen und stündlichen Noth uns alle Augenblicke im Stich läßt und seinen Dienst versagt, die Stufe, auf welche wir treten, so oft unter uns bricht, ja, Unfälle, große und kleine, das Element unsers Lebens sind, und wir, mit Einem Wort, dem Phineus gleichen, dem die Harpyen alle Speisen besudelten und ungenießbar machten.

Zwei Mittel werden dagegen versucht:

erstlich die Klugheit, Vorsicht, Schlauheit: sie lernt nicht aus und reicht nicht aus und wird zu Schanden.

Zweitens, der Stoische Gleichmuth, welcher jeden Unfall entwaffnen will, durch Gefaßtseyn auf alle und Verschmähen von Allem: praktisch wird er zur kynischen Entsagung, die lieber, ein für alle Mal, alle Hülfsmittel und Erleichterungen von sich wirft: sie macht uns zu Hunden, wie den Diogenes in der Tonne.

Die Wahrheit ist: wir sollen elend seyn, und sind’s. Dabei ist die Hauptquelle der ernstlichsten Uebel, die den Menschen treffen, der Mensch selbst: homo homini lupus. Wer dies Letztere recht ins Auge faßt, erblickt die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß Einer der Teufel des Andern seyn muß; |wozu denn freilich Einer vor dem Andern geeignet ist, vor Allen wohl ein Erzteufel, in Gestalt eines Eroberers auftretend, der einige Hundert Tausend Menschen einander gegenüberstellt und ihnen zuruft: »Leiden und Sterben ist euere Bestimmung: jetzt schießt mit Flinten und Kanonen auf einander los!« und sie thun es. —

Ueberhaupt aber bezeichnen, in der Regel, Ungerechtigkeit, äußerste Unbilligkeit, Härte, ja Grausamkeit, die Handlungsweise der Menschen gegen einander: eine entgegengesetzte tritt nur ausnahmsweise ein. Hierauf beruht die Nothwendigkeit des Staates und der Gesetzgebung, und nicht auf euern Flausen. Aber in allen Fällen, die nicht im Bereich der Gesetze liegen, zeigt sich sogleich die dem Menschen eigene Rücksichtslosigkeit gegen seines Gleichen, welche aus seinem gränzenlosen Egoismus, mitunter auch aus Bosheit entspringt. Wie der Mensch mit dem Menschen verfährt, zeigt z.B. die Negersklaverei, deren Endzweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht nicht so weit zu gehen: im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10, dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen, Athem zu holen, theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele andere Millionen haben ein analoges.

Uns Andere inzwischen vermögen geringe Zufälle vollkommen unglücklich zu machen; vollkommen glücklich, nichts auf der Welt. Was man auch sagen mag, der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines Einschlafens, wie der unglücklichste des Unglücklichen der seines Erwachens. —

Einen indirekten, aber sichern Beweis davon, daß die Menschen sich unglücklich fühlen, folglich es sind, liefert, zum Ueberfluß, auch noch der Allen einwohnende, grimmige Neid, der, in allen Lebensverhältnissen, auf Anlaß jedes Vorzugs, welcher Art er auch seyn mag, rege wird und sein Gift nicht zu halten vermag. Weil sie sich unglücklich fühlen, können die Menschen den Anblick eines vermeinten Glücklichen nicht ertragen: wer sich momentan glücklich fühlt, möchte sogleich Alles um sich herum beglücken, und sagt:

Que tout le monde ici soit heureux de ma joie.

Durch meine Freude hier sei alle Welt beglückt.
Helvétius, De l’esprit Discour III, chap. XII, Anmerkung

Wenn das Leben an sich selbst ein schätzbares Gut und dem Nichtseyn entschieden vorzuziehen wäre; so brauchte die Ausgangspforte nicht von so entsetzlichen Wächtern, wie der Tod mit seinen Schrecken ist, besetzt zu seyn. Aber wer würde im Leben, wie es ist, ausharren, wenn der Tod minder schrecklich wäre? —

Und wer könnte auch nur den Gedanken des Todes ertragen, wenn das Leben eine Freude wäre!
So aber hat jener immer noch das Gute, das Ende des Lebens zu seyn, und wir trösten uns über die Leiden des Lebens mit dem Tode, und über den Tod mit den Leiden des Lebens. Die Wahrheit ist, daß Beide unzertrennlich zusammengehören, indem sie ein Irrsal ausmachen, von welchem zurückzukommen so schwer, wie wünschenswerth ist.

Wenn die Welt nicht etwas wäre, das, praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte; so würde sie auch nicht theoretisch ein Problem seyn: vielmehr würde ihr Daseyn entweder gar keiner Erklärung bedürfen, indem es sich so gänzlich von selbst verstände, daß eine Verwunderung darüber und Frage danach in keinem Kopfe aufsteigen könnte; oder der Zweck desselben würde sich unverkennbar darbieten. Statt dessen aber ist sie sogar ein unauflösliches Problem; indem selbst die vollkommenste Philosophie stets noch ein unerklärtes Element enthalten wird, gleich einem unauflöslichen Niederschlag, oder dem Rest, welchen das irrationale Verhältniß zweier Größen stets übrig läßt. Daher, wenn Einer wagt, die Frage aufzuwerfen, warum nicht lieber gar nichts sei, als diese Welt; so läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen, kein Grund, keine Endursache ihres Daseyns in ihr selbst finden, nicht nachweisen, daß sie ihrer selbst wegen, d.h. zu ihrem eigenen Vortheil dasei. —

Dies ist, meiner Lehre zufolge, freilich daraus erklärlich, daß das Princip ihres Daseyns ausdrücklich ein grundloses ist, nämlich blinder Wille zum Leben, welcher, als Ding an sich, dem Satz vom Grunde, der bloß die Form der Erscheinungen ist und durch den allein jedes Warum berechtigt ist, nicht unterworfen seyn kann.

Dies stimmt aber auch zur Beschaffenheit der Welt: denn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueberschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und Ringen, mit Anstrengung aller Kräfte, unter steter Sorge, Angst und Noth, und bei unvermeidlicher Zerstörung jedes individuellen Lebens, keine Entschädigung findet in dem so errungenen, ephemeren, unter unsern Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst.

Daher eben verlangt die Erklärung der Welt aus einem Anaxagorischen aus einem von Erkenntniß geleiteten Willen, zu ihrer Beschönigung, nothwendig den Optimismus, der alsdann, dem laut schreienden Zeugniß einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz, aufgestellt und verfochten wird. Da wird denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während am Tage liegt, daß Jeder, wenn er zum voraus das Geschenk hätte besehen und prüfen dürfen, sich dafür bedankt haben würde; wie denn auch Lessing den Verstand seines Sohnes bewunderte, der, weil er durchaus nicht in die Welt hineingewollt hätte, mit der Geburtszange gewaltsam hineingezogen werden mußte, kaum aber darin, sich eilig wieder davonmachte. Dagegen wird dann wohl gesagt, das Leben solle, von einem Ende zum andern, auch nur eine Lektion seyn, worauf aber Jeder antworten könnte: »so wollte ich eben deshalb, daß man mich in der Ruhe des allgenugsamen Nichts gelassen hätte, als wo ich weder Lektionen, noch sonst etwas nöthig hatte.« Würde nun aber gar noch hinzugefügt, er solle einst von jeder Stunde seines Lebens Rechenschaft ablegen; so wäre er vielmehr berechtigt, selbst erst Rechenschaft zu fordern darüber, daß man ihn, aus jener Ruhe weg, in eine so mißliche, dunkele, geängstete und peinliche Lage versetzt hat. —

Dahin also führen falsche Grundansichten. Denn das menschliche Daseyn, weit entfernt den Charakter eines Geschenks zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahirten Schuld. Die Einforderung derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Daseyn gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Noth. Auf Abzahlung dieser Schuld wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die Zinsen getilgt. Die Kapitalabzahlung geschieht durch den Tod. —

Und wann wurde diese Schuld kontrahirt? — Bei der Zeugung. —

Wenn man demgemäß den Menschen ansieht als ein Wesen, dessen Daseyn eine Strafe und Buße ist; — so erblickt man ihn in einem schon richtigeren Lichte.

Der Mythos vom Sündenfall (obwohl wahrscheinlich, wie das ganze Judenthum, dem Zend-Avesta entlehnt: Bun-Dehesch 15) , ist das Einzige im A.T., dem ich eine metaphysische, wenngleich nur allegorische Wahrheit zugestehen kann; ja, er ist es allein, was mich mit dem A.T. aussöhnt. Nichts Anderem nämlich sieht unser Daseyn so ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Das neutestamentliche Christenthum, dessen ethischer Geist der des Brahmanismus und Buddhaismus, daher dem übrigens optimistischen des Alten Testaments sehr fremd ist, hat auch, höchst weise, gleich an jenen Mythos angeknüpft: ja, ohne diesen hätte es im Judenthum gar keinen Anhaltspunkt gefunden. —

Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Daseyn selbst behaftet ist, ermessen; so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft ist.
Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was wir verdienen: denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten. Daß auch das Christenthum unser Daseyn in diesem Lichte erblickt, bezeugt eine Stelle aus Luther’s Kommentar zu Galaterbrief, 3. Kapitel, die mir nur lateinisch vorliegt:

Sumus autem nos omnes corporibus et rebus subjecti Diabolo, et hospites sumus in mundo, cujus ipse princeps et Deus est. Ideo panis, quem edimus, potus, quem bibimus, vestes, quibus utimur, imo aër et totum quo vivimus in carne, sub ipsius imperio est.

Wir alle aber sind mit unseren Körpern und unseren Dingen dem Teufel unterworfen und sind Fremdlinge auf der Welt, deren Fürst und Gott er ist. Darum steht alles unter seiner Herrschaft, das Brot, das wir essen, das Getränk, das wir trinken, die Kleider, die wir anziehen, ja selbst die Luft und alles, wodurch wir im Fleische leben.—

Man hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie: es liegt jedoch bloß darin, daß ich, statt als Aequivalent der Sünden eine künftige Hölle zu fabeln, nachwies, daß wo die Schuld liegt, in der Welt, auch schon etwas Höllenartiges sei: wer aber dieses leugnen wollte, — kann es leicht ein Mal erfahren.

Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. —

Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Strömen, Pflanzen, Thieren u.s.f. —

Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehen sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes. —

Dann kommt ein Teleolog und preist mir die weise Einrichtung an, vermöge welcher dafür gesorgt sei, daß die Planeten nicht mit den Köpfen gegeneinander rennen, Land und Meer nicht zum Brei gemischt, sondern hübsch auseinandergehalten seien, auch nicht Alles in beständigem Froste starre, noch von Hitze geröstet werde, imgleichen, in Folge der Schiefe der Ekliptik, kein ewiger Frühling sei, als in welchem nichts zur Reife gelangen könnte, u.dgl.m. —

Aber Dieses und alles Aehnliche sind ja bloße conditiones sine quibus non. Wenn es nämlich überhaupt eine Welt geben soll, wenn ihre Planeten wenigstens so lange, wie der Lichtstrahl eines entlegenen Fixsterns braucht, um zu ihnen zu gelangen, bestehen und nicht, wie Lessings Sohn, gleich nach der Geburt wieder abfahren sollen; — da durfte sie freilich nicht so ungeschickt gezimmert seyn, daß schon ihr Grundgerüst den Einsturz drohte. Aber wenn man zu den Resultaten des gepriesenen Werkes fortschreitet, die Spieler betrachtet, die auf der so dauerhaft gezimmerten Bühne agiren, und nun sieht, wie mit der Sensibilität der Schmerz sich einfindet und in dem Maaße, wie jene sich zur Intelligenz entwickelt, steigt, wie sodann, mit dieser gleichen Schritt haltend, Gier und Leiden immer stärker hervortreten und sich steigern, bis zuletzt das Menschenleben keinen andern Stoff darbietet, als den zu Tragödien und Komödien, — da wird, wer nicht heuchelt, schwerlich disponirt seyn, Hallelujahs anzustimmen.

Den eigentlichen, aber verheimlichten Ursprung dieser letzteren hat übrigens, schonungslos, aber mit siegender Wahrheit, David Hume aufgedeckt, in seiner Natural history of religion, Sect. 6, 7, 8 and 13. Derselbe legt auch im zehnten und elften Buch seiner Dialogues on natural religion, unverhohlen, mit sehr triftigen und dennoch ganz anderartigen Argumenten als die meinigen, die trübsälige Beschaffenheit dieser Welt und die Unhaltbarkeit alles Optimismus dar; wobei er diesen zugleich in seinem Ursprung angreift. Beide Werke Hume’s sind so lesenswerth, wie sie in Deutschland heut zu Tage unbekannt sind, wo man dagegen, patriotisch, am ekelhaften Gefasel einheimischer, sich spreizender Alltagsköpfe unglaubliches Genügen findet und sie als große Männer ausschreit. Jene Dialogues aber hat Hamann übersetzt, Kant hat die Uebersetzung durchgesehen und noch im späten Alter Hamanns Sohn zur Herausgabe derselben bewegen wollen, weil die von Platner ihm nicht genügte (siehe Kants Biographie von F.W. Schubert, S.81 und 165). —

Aus jeder Seite von David Hume ist mehr zu lernen, als aus Hegels, Herbarts und Schleiermachers sämmtlichen philosophischen Werken zusammengenommen.

Der Begründer des systematischen Optimismus hingegen ist Leibnitz, dessen Verdienste um die Philosophie zu leugnen ich nicht gesonnen bin, wiewohl mich in die Monadologie, prästabilirte Harmonie und identitas indiscernibilium [die Identität der nicht unterscheidbaren Dinge] eigentlich hineinzudenken, mir nie hat gelingen wollen. Seine Nouveaux essays sur l’entendement aber sind bloß ein Excerpt, mit ausführlicher, auf Berichtigung abgesehener, jedoch schwacher Kritik des mit Recht weltberühmten Werkes Locke’s, welchem er hier mit eben so wenig Glück sich entgegenstellt, wie, durch sein gegen das Gravitationssystem gerichtetes Tentamen de motuum coelestium causis, dem Neuton. Gegen diese Leibnitz-Wolfische Philosophie ist die Kritik der reinen Vernunft ganz speciell gerichtet und hat zu ihr ein polemisches, ja, vernichtendes Verhältniß; wie zu Locke und Hume das der Fortsetzung und Weiterbildung.

Daß heut zu Tage die Philosophieprofessoren allseitig bemüht sind, den Leibnitz, mit seinen Flausen, wieder auf die Beine zu bringen, ja, zu verherrlichen, und andererseits Kanten möglichst gering zu schätzen und bei Seite zu schieben, hat seinen guten Grund im primum vivere [zuerst leben]: die Kritik der reinen Vernunft läßt nämlich nicht zu, daß man Jüdische Mythologie für Philosophie ausgebe, noch auch, daß man, ohne Umstände, von der »Seele« als einer gegebenen Realität, einer wohlbekannten und gut ackreditirten Person, rede, ohne Rechenschaft zu geben, wie man denn zu diesem Begriff gekommen sei und welche Berechtigung man habe, ihn wissenschaftlich zu gebrauchen. Aber primum vivere, deinde philosophari! Herunter mit dem Kant, vivat unser Leibnitz! —

Auf diesen also zurückzukommen, kann ich der Theodicee, dieser methodischen und breiten Entfaltung des Optimismus, in solcher Eigenschaft, kein anderes Verdienst zugestehen, als dieses, daß sie später Anlaß gegeben hat zum unsterblichen Candide des großen Voltaire; wodurch freilich Leibnitzens so oft wiederholte, lahme Exküse für die Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten hat. Schon durch den Namen seines Helden deutete Voltaire an, daß es nur der Aufrichtigkeit bedarf, um das Gegentheil des Optimismus zu erkennen. Wirklich macht auf diesem Schauplatz der Sünde, des Leidens und des Todes der Optimismus eine so seltsame Figur, daß man ihn für Ironie halten müßte, hätte man nicht an der von Hume, wie oben erwähnt, so ergötzlich aufgedeckten geheimen Quelle desselben (nämlich heuchelnde Schmeichelei, mit beleidigendem Vertrauen auf ihren Erfolg) eine hinreichende Erklärung seines Ursprungs.

Sogar aber läßt sich den handgreiflich sophistischen Beweisen Leibnitzens, daß diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis entgegenstellen, daß sie die schlechteste unter den möglichen sei. Denn Möglich heißt nicht was Einer etwan sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich existiren und bestehen kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie seyn mußte, um mit genauer Noth bestehen zu können: wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste. Denn nicht bloß wenn die Planeten mit den Köpfen gegen einander rennten, sondern auch wenn von den wirklich eintretenden Perturbationen ihres Laufes irgend eine, statt sich durch andere allmälig wieder auszugleichen, in der Zunahme beharrte, würde die Welt bald ihr Ende erreichen: die Astronomen wissen, von wie zufälligen Umständen, nämlich zumeist vom irrationalen Verhältniß der Umlaufszeiten zu einander, Dieses abhängt, und haben mühsam herausgerechnet, daß es immer noch gut abgehen wird, mithin die Welt so eben stehen und gehen kann. Wir wollen, wiewohl Neuton entgegengesetzter Meinung war, hoffen, daß sie sich nicht verrechnet haben, und mithin das in so einem Planetensystem verwirklichte mechanische perpetuum mobile nicht |auch, wie die übrigen, zuletzt in Stillstand gerathen werde. —

Unter der festen Rinde des Planeten nun wieder hausen die gewaltigen Naturkräfte, welche, sobald ein Zufall ihnen Spielraum gestattet, jene, mit allem Lebenden darauf, zerstören müssen; wie dies auf dem unserigen wenigstens schon drei Mal eingetreten ist und wahrscheinlich noch öfter eintreten wird. Ein Erdbeben von Lissabon, von Haity, eine Verschüttung von Pompeji sind nur kleine, schalkhafte Anspielungen auf die Möglichkeit. —

Eine geringe, chemisch gar nicht ein Mal nachweisbare Alteration der Atmosphäre verursacht Cholera, gelbes Fieber, schwarzen Tod u.s.w., welche Millionen Menschen wegraffen: eine etwas größere würde alles Leben auslöschen. Eine sehr mäßige Erhöhung der Wärme würde alle Flüsse und Quellen austrocknen. —

Die Thiere haben an Organen und Kräften genau und knapp so viel erhalten, wie zur Herbeischaffung ihres Lebensunterhalts und Auffütterung der Brut, unter äußerster Anstrengung, ausreicht; daher ein Thier, wenn es ein Glied, oder auch nur den vollkommenen Gebrauch desselben, verliert, meistens umkommen muß. Selbst vom Menschengeschlecht, so mächtige Werkzeuge es an Verstand und Vernunft auch hat, leben neun Zehntel in beständigem Kampfe mit dem Mangel, stets am Rande des Untergangs, sich mit Noth und Anstrengung über demselben balancirend. Also durchweg, wie zum Bestande des Ganzen, so auch zu dem jedes Einzelwesens sind die Bedingungen knapp und kärglich gegeben, aber nichts darüber: daher geht das individuelle Leben in unaufhörlichem Kampfe um die Existenz selbst hin; während bei jedem Schritt ihm Untergang droht. Eben weil diese Drohung so oft vollzogen wird, mußte, durch den unglaublich großen Ueberschuß der Keime, dafür gesorgt seyn, dass der Untergang der Individuen nicht den der Geschlechter herbeiführe, als an welchen allein der Natur ernstlich gelegen ist. —

Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie möglicherweise seyn kann, wenn sie überhaupt noch seyn soll. W.z.b.w.

Die Versteinerungen der den Planeten ehemals bewohnenden, ganz anderartigen Thiergeschlechter liefern uns, als Rechnungsprobe, die Dokumente von Welten, deren Bestand nicht mehr möglich war, die mithin noch etwas schlechter waren, als die schlechteste unter den möglichen.

Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des eigentlichen Urhebers der Welt, des Willens zum Leben, der sich wohlgefällig in seinem Werke spiegelt: und demgemäß ist er nicht nur eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre. Denn er stellt uns das Leben als einen wünschenswerthen Zustand, und als Zweck desselben das Glück des Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann Jeder den gerechtesten Anspruch auf Glück und Genuß zu haben: werden nun diese, wie es zu geschehen pflegt, ihm nicht zu Theil; so glaubt er, ihm geschehe Unrecht, ja, er verfehle den Zweck seines Daseyns; — während es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten (wie dies Brahmanismus und Buddhaismus, und auch das ächte Christenthum thun); weil diese es sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten.

Im Neuen Testamente ist die Welt dargestellt als ein Jammerthal, das Leben als ein Läuterungsproceß, und ein Marterinstrument ist das Symbol des Christenthums. Daher beruhte, als Leibnitz, Shaftsbury, Bolingbroke und Pope mit dem Optimismus hervortraten, der Anstoß, den man allgemein daran nahm, hauptsächlich darauf, daß der Optimismus mit dem Christenthum unvereinbar sei; wie dies Voltaire, in der Vorrede zu seinem vortrefflichen Gedichte Le désastre de Lisbonne, welches ebenfalls ausdrücklich gegen den Optimismus gerichtet ist, berichtet und erläutert. Was diesen großen Mann, den ich, den Schmähungen feiler Deutscher Tintenklexer gegenüber, so gern lobe, entschieden höher als Rousseau stellt, indem es die größere Tiefe seines Denkens bezeugt, sind drei Einsichten, zu denen er gelangt war:

1) die von der überwiegenden Größe des Uebels und vom Jammer des Daseyns, davon er tief durchdrungen ist;

2) die von der strengen Necessitation der Willensakte;

3) die von der Wahrheit des Locke’schen Satzes, daß möglicherweise das Denkende auch materiell seyn könne; während Rousseau alles Dieses durch Deklamationen bestreitet, in seiner Profession de foi du vicaire Savoyard, einer flachen, protestantischen Pastorenphilosophie; wie er denn auch, in eben diesem Geiste, gegen das soeben erwähnte, schöne Gedicht Voltaire’s, mit einem schiefen, seichten und logisch falschen Räsonnement, zu Gunsten des Optimismus, polemisirt, in seinem, bloß diesem Zweck gewidmeten, langen Briefe an Voltaire, vom 18. August 1756. Ja, der Grundzug der ganzen Philosophie Rousseau’s ist Dieses, daß er an die Stelle der christlichen Lehre von der Erbsünde und der ursprünglichen Verderbtheit des Menschengeschlechts, eine ursprüngliche Güte und unbegränzte Perfektibilität desselben setzt, welche bloß durch die Civilisation und deren Folgen auf Abwege gerathen wäre, und nun darauf seinen Optimismus und Humanismus gründet.

Wie gegen den Optimismus Voltaire, im Candide, den Krieg in seiner scherzhaften Manier führt, so hat es in seiner ernsten und tragischen Byron gethan, in seinem unsterblichen Meisterwerke Kain, weshalb er auch durch die Invektiven des Obskuranten Friedrich Schlegel verherrlicht worden ist. —

Wollte ich nun schließlich, zur Bekräftigung meiner Ansicht, die Aussprüche großer Geister aller Zeiten in diesem, dem Optimismus entgegengesetzten Sinne, hersetzen; so würde der Anführungen kein Ende seyn; da fast jeder derselben seine Erkenntniß des Jammers dieser Welt in starken Worten ausgesprochen hat. Also nicht zur Bestätigung, sondern bloß zur Verzierung dieses Kapitels mögen am Schlusse desselben einige Aussprüche dieser Art Platz finden.

Zuvörderst sei hier erwähnt, daß die Griechen, so weit sie auch von der Christlichen und Hochasiatischen Weltansicht entfernt waren und entschieden auf dem Standpunkt der Bejahung des Willens standen, dennoch von dem Elend des Daseyns tief ergriffen waren. Dies bezeugt schon die Erfindung des Trauerspiels, welche ihnen angehört. Einen andern Beleg dazu giebt uns die, nachmals oft erwähnte, zuerst von Herodot (V, 4) erzählte Sitte der Thrakier, den Neugeborenen mit Wehklagen zu bewillkommnen, und alle Uebel, denen er jetzt entgegengehe, herzuzählen; dagegen den Todten mit Freude und Scherz zu bestatten, weil er so vielen und großen Leiden nunmehr entgangen sei; welches in einem schönen, von Plutarch (De audiend. poët. in fine) uns aufbehaltenen Verse, so lautet:

Lugere genitum, tanta qui intrarit mala:
At morte si quis finiisset miserias,
Hunc laude amicos atque laetitia exsequi.

Geborne zu beklagen, weil viel Schlimmem sie
Entgegengehen, aber die Gestorbenen
mit Freude zu geleiten und mit Segnungen,
Weil sie so vielen Leiden jetzt entronnen sind.

Euripides Cresphontes; bei Plutarch in: De audiendis poetis, cap. 14, p.36f.

Nicht historischer Verwandschaft, sondern moralischer Identität der Sache ist es beizumessen, daß die Mexikaner das Neugeborene mit den Worten bewillkommneten: »Mein Kind, du bist zum Dulden geboren: also dulde, leide und schweig.« Und dem selben Gefühle folgend hat Swift (wie Walter Scott in dessen Leben berichtet) schon früh die Gewohnheit angenommen, seinen Geburtstag nicht als einen Zeitpunkt der Freude, sondern der Betrübniß zu begehen, und an demselben die Bibelstelle zu lesen, in welcher Hiob den Tag bejammert und verflucht, an welchem es in seines Vaters Hause hieß: es sei ein Sohn geboren.
Bekannt und zum Abschreiben zu lang ist die Stelle in der Apologie des Sokrates, wo Plato diesen weisesten der Sterblichen sagen läßt, daß der Tod, selbst wenn er uns auf immer das Bewußtseyn raubte, ein wundervoller Gewinn seyn würde, da ein tiefer, traumloser Schlaf jedem Tage, auch des beglücktesten Lebens, vorzuziehen sei.

Ein Spruch des Herakleitos lautete:

Vitae nomen quidem est vita, opus autem mors.


Des Lebens Name ist zwar Leben, sein Werk aber ist Tod

Etymologicum magnum, voce bioV; auch Eustath. ad Iliad., I, p.31.

Berühmt ist der schöne Vers des Theognis:

Optima sors homini natum non esse, nec unquam
Adspexisse diem, flammiferumque jubar.
Altera jam genitum demitti protinus Orco,
Et pressum multa mergere corpus humo.


Gar nicht geboren zu werden, das wäre für den Mensch das Beste,
Nimmer des Sonnengotts sengende Strahlen zu schauen;
Ist man aber geboren, so schnell, wie es geht in des Hades
Pforten zu dringen unddort zu ruhn.

Theognis. V. 425 ff.

Sophokles, im Oedipus zu Kolona (1225), hat folgende Abkürzung desselben:

Natum non esse sortes vincit alias omnes: proxima autem est, ubi quis in lucem editus fuerit, eodem redire, unde venit, quam ocissime.

Nie geboren zu sein, das ist
Weit das Beste; doch wenn man lebt,
Ist das Zweite, woher man kam,
Dorthin zu kehren, so schnell wie möglich.

Sophokles, Oedipus Coloneus, v.1225ff.

Euripides
sagt:

Omnis hominum vita est plena dolore,
Nec datur laborum remissio.

Voll Elend ist der Menschen Leben und kein Ende des Jammers

Euripides, Hippolytos, 189

Und hat es doch schon Homer gesagt:

Non enim quidquam alicubi est calamitosius homine
Omnium, quotquot super terram spirantque et moventur.

Denn nichts ist auf der Welt ein jammervolleres Wesen
Als der Mensch unter allem, was atmet und kriecht auf der Erde.

Homer, Ilias, XVII, 446

Selbst Plinius sagt:

Quapropter hoc primum quisque in remediis animi sui habeat, ex omnibus bonis, quae homini natura tribuit, nullum melius esse tempestiva morte (Hist. nat. 28, 2.)

Deshalb möge jeder als Heilmittel seines Gemüts zuallererst den Gedanken anerkennen, daß unter allen Gütern, welche die Natur den Menschen beschert hat, keines wertvoller ist als ein zeitiger Tod.

Shakespeare
legt dem alten König Heinrich IV. die Worte in den Mund:

O heaven! that one might read the book of fate,
And see the revolution of the times,
— — — — — — — how chances mock,
And changes fill the cup of alteration
With divers liquors! O, if this were seen,
The happiest youth, — viewing his progress through,
What perils past, what crosses to ensue, —
Would shut the book, and sit him down and die.


O, könnte man im Schicksalsbuche lesen,
Der Zeiten Umwälzung, des Zufalls Hohn
Darin ersehn, und wie Veränderung
Bald diesen Trank, bald jenen uns kredenzet, —
O, wer es säh! und wär’s der frohste Jüngling,
Der, seines Lebens Lauf durchmusterend,
Das Ueberstandene, das Drohende erblickte, —
Er schlüg’ es zu, und setzt’ sich hin, und stürbe.


Endlich Byron:

Count o’er the joys thine hours have seen,
Count o’er thy days from anguish free.
And know, whatever thou hast been,
‘Tis something better not to be.


Ueberzähle die Freuden, welche deine Stunden gesehen haben; überzähle die Tage, die von Angst frei gewesen; und wisse, daß, was immer du gewesen seyn magst, es etwas Besseres ist, nicht zu seyn.

Keiner jedoch hat diesen Gegenstand so gründlich und erschöpfend behandelt, wie, in unsern Tagen, Leopardi. Er ist von demselben ganz erfüllt und durchdrungen: überall ist der Spott und Jammer dieser Existenz sein Thema, auf jeder Seite seiner Werke stellt er ihn dar, jedoch in einer solchen Mannigfaltigkeit von Formen und Wendungen, mit solchem Reichthum an Bildern, daß er nie Ueberdruß erweckt, vielmehr durchweg unterhaltend und erregend wirkt.
WW II, Kapitel 46, S.665-684

Die Heilsordnung WW II, Kapitel 49.
Es giebt nur einen angeborenen Irrthum, und es ist der, daß wir dasind, um glücklich zu seyn. Angeboren ist er uns, weil er mit unserm Daseyn selbst zusammenfällt, und unser ganzes Wesen eben nur seine Paraphrase, ja unser Leib sein Monogramm ist: sind wir doch eben nur Wille zum Leben; die successive Befriedigung alles unsers Wollens aber ist was man durch den Begriff des Glückes denkt.

So lange wir in diesem angeborenen Irrthum verharren, auch wohl gar noch durch optimistische Dogmen in ihm bestärkt werden, erscheint uns die Welt voll Widersprüche. Denn bei jedem Schritt, im Großen wie im Kleinen, müssen wir erfahren, daß die Welt und das Leben durchaus nicht darauf eingerichtet sind, ein glückliches Daseyn zu enthalten.

Während nun hiedurch der Gedankenlose sich eben bloß in der Wirklichkeit geplagt fühlt, kommt bei Dem, welcher denkt, zur Pein in der Realität noch die theoretische Perplexität hinzu, warum eine Welt und ein Leben, welche doch ein Mal dazu dasind, daß man darin glücklich sei, ihrem Zwecke so schlecht entsprechen? Sie macht vor der Hand sich Luft in Stoßseufzern, wie: »Ach, warum sind der Thränen unter'm Mond so viel?« u.dergl.m ., in ihrem Gefolge aber kommen beunruhigende Skrupel gegen die Voraussetzungen jener vorgefaßten optimistischen Dogmen. Immerhin mag man dabei versuchen, die Schuld seiner individuellen Unglücksäligkeit bald auf die Umstände, bald auf andere Menschen, bald auf sein eigenes Misgeschick, oder auch Ungeschick, zu schieben, auch wohl erkennen, wie Diese sämmtlich dazu mitgewirkt haben.

Dieses ändert doch nichts in dem Ergebniß, daß man den eigentlichen Zweck des Lebens, der ja im Glücklichseyn bestehe, verfehlt habe; worüber dann die Betrachtung, zumal wann es mit dem Leben schon auf die Neige geht, oft sehr niederschlagend ausfällt: daher tragen fast alle ältlichen Gesichter den Ausdruck Dessen, was man auf Englisch disappointment [Enttäuschung] nennt. Ueberdies aber hat uns bis dahin schon jeder Tag unsers Lebens gelehrt, daß die Freuden und Genüsse, auch wenn erlangt, an sich selbst trügerisch sind, nicht leisten was sie versprechen, das Herz nicht zufrieden stellen und endlich ihr Besitz wenigstens durch die sie begleitenden, oder aus ihnen entspringenden Unannehmlichkeiten vergällt wird; während hingegen die Schmerzen und Leiden sich als sehr real erweisen und oft alle Erwartung übertreffen. –

So ist denn allerdings im Leben Alles geeignet, uns von jenem ursprünglichen Irrthum zurückzubringen und uns zu überzeugen, daß der Zweck unsers Daseyns nicht der ist, glücklich zu seyn. Ja, wenn näher und unbefangen betrachtet, stellt das Leben sich vielmehr dar, wie ganz eigentlich darauf abgesehen, daß wir uns nicht glücklich darin fühlen sollen, indem dasselbe, durch seine ganze Beschaffenheit, den Charakter trägt von etwas, daran uns der Geschmack benommen, das uns verleidet werden soll und davon wir, als von einem Irrthum, zurückzukommen haben, damit unser Herz von der Sucht zu genießen, ja, zu leben, geheilt und von der Welt abgewendet werde. In diesem Sinne wäre es demnach richtiger, den Zweck des Lebens in unser Wehe, als in unser Wohl zu setzen. Denn die Betrachtungen am Schlusse des vorigen Kapitels haben gezeigt, daß, je mehr man leidet, desto eher der wahre Zweck des Lebens erreicht, und je glücklicher man lebt, desto weiter er hinausgeschoben wird. Diesem entspricht sogar der Schluß des letzten Briefes des Seneka:

bonum tunc habebis tuum, quum intelliges infelicissimos esse felices;


Dann wirst du dein eignes Glück empfinden, wenn du einsehen wirst, daß die Glücklichen am unglücklichsten sind.
Seneca, Epistulae 124, 4

welcher allerdings auf einen Einfluß des Christenthums zu deuten scheint. –

Auch die eigenthümliche Wirkung des Trauerspiels beruht im Grunde darauf, daß es jenen angeborenen Irrthum erschüttert, indem es die Vereitelung des menschlichen Strebens und die Nichtigkeit dieses ganzen Daseyns an einem großen und frappanten Beispiel lebhaft veranschaulicht und hiedurch den tiefsten Sinn des Lebens aufschließt; weshalb es als die erhabenste Dichtungsart anerkannt ist. - Wer nun, auf dem einen oder dem andern Wege, von jenem uns a priori einwohnenden Irrthum, jenem prôton pseudos [Der erste falsche Schritt; der Fehler in einer Prämisse] unsers Daseyns, zurückgekommen ist, wird bald Alles in einem andern Lichte sehen und jetzt die Welt, wenn auch nicht mit seinem Wunsche, doch mit seiner Einsicht in Einklang finden. Die Unfälle, jeder Art und Größe, wenn sie ihn auch schmerzen, werden ihn nicht mehr wundern; da er eingesehen hat, daß gerade Schmerz und Trübsal auf den wahren Zweck des Lebens, die Abwendung des Willens von demselben, hinarbeiten. Dies wird ihm sogar, bei Allem was geschehen mag, eine wundersame Gelassenheit geben, der ähnlich, mit welcher ein Kranker, der eine lange und peinliche Kur gebraucht, den Schmerz derselben als ein Anzeichen ihrer Wirksamkeit erträgt. –

Deutlich genug spricht aus dem ganzen menschlichen Daseyn das Leiden als die wahre Bestimmung desselben. Das Leben ist tief darin eingesenkt und kann ihm nicht entgehen: unser Eintritt in dasselbe geschieht unter Thränen, sein Verlauf ist im Grunde immer tragisch, und noch mehr sein Ausgang. Ein Anstrich von Absichtlichkeit hierin ist nicht zu verkennen. In der Regel fährt das Schicksal dem Menschen im Hauptzielpunkt seiner Wünsche und Bestrebungen auf eine radikale Weise durch den Sinn; wodurch alsdann sein Leben eine tragische Tendenz erhält, vermöge welcher es geeignet ist, ihn von der Sucht, deren Darstellung jede individuelle Existenz ist, zu befreien und ihn dahin zu führen, daß er vom Leben scheidet, ohne den Wunsch nach ihm und seinen Freuden zurückzubehalten.

Das Leiden ist in der That der Läuterungsproceß, durch welchen allein, in den meisten Fällen, der Mensch geheiligt, d.h. von dem Irrweg des Willens zum Leben zurückgeführt wird. Dem entsprechend wird in den Christlichen Erbauungsbüchern so oft die Heilsamkeit des Kreuzes und Leidens erörtert und ist überhaupt sehr passend das Kreuz, ein Werkzeug des Leidens, nicht des Thuns, das Symbol der Christlichen Religion. Ja, schon der noch jüdische, aber so philosophische Koheleth sagt mit Recht: »Es ist Trauern besser, denn Lachen: denn durch Trauern wird das Herz gebessert« (7, 4). Unter der Bezeichnung des deuteros plous habe ich das Leiden gewissermaaßen als ein Surrogat der Tugend und Heiligkeit dargestellt: hier aber muß ich das kühne Wort aussprechen, daß wir, Alles wohl erwogen, für unser Heil und Erlösung mehr zu hoffen haben von Dem, was wir leiden, als von Dem, was wir thun. Gerade in diesem Sinne sagt Lamartine, in seiner Hymne à la douleur, den Schmerz anredend, sehr schön:

Tu me traites sans doute en favori des cieux,
Car tu n'épargnes pas les larmes à mes yeux.
Eh bien! je les reçois comme tu les envoies,
Tes maux seront mes biens, et tes soupirs mes joies.
Je sens qu'il est en toi, sans avoir combattu,
Une vertu divine au lieu de ma vertu,
Que tu n'es pas la mort de l'âme, mais sa vie,
Que ton bras, en frappant, guérit et vivifie.


An dir erkenne ich, daß mir der Himmel hold,
Wenngleich ein Tränenstrom mir aus dem Auge rollt,
Wohlan! Willkommen sind die Seufzer, die du schickst,
Weiß ich doch, dass du mich durch Not und Leid beglückst.
Ich fühle, wo mir selbst die Kraft zum Kampfe fehlt,
Wie dich eine Kraft des Himmels mich beseelt.
Nicht Tod der Seele ist’s, wenn mich der Schmerz durchdringt,
Der wahres Leben mir, Heil und Genesung bringt

Lamartine, Harmonies poétiques et religieuses, Hymne á la douleur, II, 7, v.59ff.

Hat also schon das Leiden eine solche heiligende Kraft, so wird diese in noch höherm Grade dem mehr als alles Leiden gefürchteten Tode zukommen. Dem entsprechend wird eine der Ehrfurcht, welche großes Leiden uns abnöthigt, verwandte vor jedem Gestorbenen gefühlt, ja, jeder Todesfall stellt sich gewissermaaßen als eine Art Apotheose oder Heiligsprechung dar; daher wir den Leichnam auch des unbedeutendesten Menschen nicht ohne Ehrfurcht
betrachten, und sogar, so seltsam an dieser Stelle die Bemerkung klingen mag, vor jeder Leiche die Wache ins Gewehr tritt.

Das Sterben ist allerdings als der eigentliche Zweck des Lebens anzusehen: im Augenblick desselben wird alles Das entschieden, was durch den ganzen Verlauf des Lebens nur vorbereitet und eingeleitet war.
Der Tod ist das Ergebniß, das Résumé des Lebens, oder die zusammengezogene Summe, welche die gesammte Belehrung, die das Leben vereinzelt und stückweise gab, mit Einem Male ausspricht, nämlich diese, daß das ganze Streben, dessen Erscheinung das Leben ist, ein vergebliches, eitles, sich widersprechendes war, von welchem zurückgekommen zu seyn eine Erlösung ist. Wie die gesammte, langsame Vegetation der Pflanze sich verhält zur Frucht, die mit Einem Schlage jetzt hundertfach leistet, was jene allmälig und stückweise; so verhält sich das Leben, mit seinen Hindernissen, getäuschten Hoffnungen, vereitelten Plänen und stetem Leiden, zum Tode, der Alles, Alles, was der Mensch gewollt hat, mit Einem Schlage zerstört und so der Belehrung, die das Leben ihm gab, die Krone aufsetzt. -

Der vollbrachte Lebenslauf, auf welchen man sterbend zurückblickt, hat auf den ganzen, in dieser untergehenden Individualität sich objektivirenden Willen eine Wirkung, welche der analog ist, die ein Motiv auf das Handeln des Menschen ausübt: er giebt nämlich demselben eine neue Richtung, welche sonach das moralische und wesentliche Resultat des Lebens ist. Eben weil ein plötzlicher Tod diesen Rückblick unmöglich macht, sieht die Kirche einen solchen als ein Unglück an, um dessen Abwendung gebetet wird. Weil sowohl dieser Rückblick, wie auch die deutliche Vorhersicht des Todes, als durch Vernunft bedingt, nur im Menschen, nicht im Thiere, möglich ist, und deshalb auch nur er den Becher des Todes wirklich leert, ist die Menschheit die alleinige Stufe, auf welcher der Wille sich verneinen und vom Leben ganz abwenden kann. Dem Willen, der sich nicht verneint, verleiht jede Geburt einen neuen und verschiedenen Intellekt, - bis er die wahre Beschaffenheit des Lebens erkannt hat und in Folge hievon es nicht mehr will.

Bei dem naturgemäßen Verlauf kommt im Alter das Absterben des Leibes dem Absterben des Willens entgegen. Die Sucht nach Genüssen verschwindet leicht mit der Fähigkeit zu denselben.

Der Anlaß des heftigsten Wollens, der Brennpunkt des Willens, der Geschlechtstrieb, erlischt zuerst, wodurch der Mensch in einen Stand versetzt wird, der dem der Unschuld, die vor der Entwickelung des Genitalsystems da war, ähnlich ist. Die Illusionen, welche Chimären als höchst wünschenswerthe Güter darstellten, verschwinden, und an ihre Stelle tritt die Erkenntniß der Nichtigkeit aller irdischen Güter. Die Selbstsucht wird durch die Liebe zu den Kindern verdrängt, wodurch der Mensch schon anfängt mehr im fremden Ich zu leben, als im eigenen, welches nun bald nicht mehr seyn wird. Dieser Verlauf ist wenigstens der wünschenswerthe: es ist die Euthanasie des Willens. In Hoffnung auf denselben ist dem Brahmanen verordnet, nach Zurücklegung der besten Lebensjahre, Eigenthum und Familie zu verlassen und ein Einsiedlerleben zu führen. (Menu, B. 6.)

Aber wenn, umgekehrt, die Gier die Fähigkeit zum Genießen überlebt, und man jetzt einzelne, im Leben verfehlte Genüsse bereuet, statt die Leerheit und Nichtigkeit aller einzusehen; und wenn sodann an die Stelle der Gegenstände der Lüste, für welche der Sinn abgestorben ist, der abstrakte Repräsentant aller dieser Gegenstände, das Geld, tritt, welches nunmehr die selben heftigen Leidenschaften erregt, die ehemals von den Gegenständen wirklichen Genusses, verzeihlicher, erweckt wurden, und also jetzt, bei abgestorbenen Sinnen, ein lebloser aber unzerstörbarer Gegenstand mit gleich unzerstörbarer Gier gewollt wird; oder auch wenn, auf gleiche Weise, das Daseyn in der fremden Meinung die Stelle des Daseyns und Wirkens in der wirklichen Welt vertreten soll und nun die gleichen Leidenschaften entzündet; - dann hat sich, im Geiz, oder in der Ehrsucht, der Wille sublimirt und vergeistigt, dadurch aber sich in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch der Tod ihn belagert. Der Zweck des Daseyns ist verfehlt.

Alle diese Betrachtungen liefern eine nähere Erklärung der im vorigen Kapitel durch den Ausdruck deuteros plous bezeichneten Läuterung, Wendung des Willens und Erlösung, welche durch die Leiden des Lebens herbeigeführt wird und ohne Zweifel die häufigste ist. Denn sie ist der Weg der Sünder, wie wir Alle sind. Der andere Weg, der, mittelst bloßer Erkenntniß und demnächst Aneignung der Leiden einer ganzen Welt, eben dahin führt, ist die schmale Straße der Auserwählten, der Heiligen, mithin als eine seltene Ausnahme zu betrachten. Ohne jenen erstern würde daher für die Meisten kein Heil zu hoffen seyn. Inzwischen sträuben wir uns, denselben zu betreten, und streben vielmehr, mit allen Kräften, uns ein sicheres und angenehmes Daseyn zu bereiten, wodurch wir unsern Willen immer fester an das Leben ketten.

Umgekehrt handeln die Asketen, welche ihr Leben absichtlich möglichst arm, hart und freudenleer machen, weil sie ihr wahres und letztes Wohl im Auge haben. Aber für uns sorgt das Schicksal und der Lauf der Dinge besser, als wir selbst, indem es unsere Anstalten zu einem Schlaraffenleben, dessen Thörichtes schon an seiner Kürze, Bestandlosigkeit, Leerheit und Beschließung durch den bittern Tod erkennbar genug ist, allenthalben vereitelt, Dornen über Dornen auf unsern Pfad streuet und das heilsame Leiden, das Panakeion unsers Jammers, uns überall entgegen bringt. Wirklich ist was unserm Leben seinen wunderlichen und zweideutigen Charakter giebt Dieses, daß darin zwei einander diametral entgegengesetzte Grundzwecke sich beständig kreuzen: der des individuellen Willens, gerichtet auf chimärisches Glück, in einem ephemeren, traumartigen, täuschenden Daseyn, wo hinsichtlich des Vergangenen Glück und Unglück gleichgültig sind, das Gegenwärtige aber jeden Augenblick zum Vergangenen wird; und der des Schicksals, sichtlich genug gerichtet auf Zerstörung unsers Glücks und dadurch auf Mortifikation unsers Willens und Aufhebung des Wahnes, der uns in den Banden dieser Welt gefesselt hält.

Die gangbare, besonders protestantische Ansicht, daß der Zweck des Lebens ganz allein und unmittelbar in den moralischen Tugenden, also in der Ausübung der Gerechtigkeit und Menschenliebe liege, verräth ihre Unzulänglichkeit schon dadurch, daß so erbärmlich wenig wirkliche und reine Moralität unter den Menschen angetroffen wird. Ich will gar nicht von hoher Tugend, Edelmuth, Großmuth und Selbstaufopferung reden, als welchen man schwerlich anders, als in Schauspielen und Romanen begegnet seyn wird; sondern nur von jenen Tugenden, die Jedem zur Pflicht gemacht werden. Wer alt ist, denke zurück an alle Die, mit welchen er zu thun gehabt hat; wie viele auch nur wirklich und wahrhaft ehrliche Leute werden ihm wohl vorgekommen seyn? Waren nicht bei Weitem die Meisten, trotz ihrem schaamlosen Auffahren beim leisesten Verdacht einer Unredlichkeit, oder nur Unwahrheit, gerade heraus gesagt, das wirkliche Gegentheil?

War nicht niederträchtiger Eigennutz, gränzenlose Geldgier, wohlversteckte Gaunerei, dazu giftiger Neid und teuflische Schadenfreude, so allgemein herrschend, daß die kleinste Ausnahme davon mit Bewunderung aufgenommen wurde? Und die Menschenliebe, wie höchst selten erstreckt sie sich weiter, als bis zu einer Gabe des so sehr Entbehrlichen, daß man es nie vermissen kann? Und in solchen, so überaus seltenen und schwachen Spuren von Moralität sollte der ganze Zweck des Daseyns liegen? Setzt man ihn hingegen in die gänzliche Umkehrung dieses unsers Wesens (welches die eben besagten schlechten Früchte trägt), herbeigeführt durch das Leiden; so gewinnt die Sache ein Ansehen und tritt in Uebereinstimmung mit dem thatsächlich Vorliegenden. Das Leben stellt sich alsdann dar als ein Läuterungsproceß, dessen reinigende Lauge der Schmerz ist. Ist der Proceß vollbracht, so läßt er die ihm vorhergegangene Immoralität und Schlechtigkeit als Schlacke zurück, und es tritt ein, was der Veda sagt:

finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes dubitationes, ejusque opera evanescunt.


Zerspalten wird des Herzens Knoten, aufgelöst werden alle Zweifel, und seineWerke werden zu nichts.
Bei Friedrich Heinrich Hugo Windischmann, Sancra sive de theologumenis Vedanticorum, Bonnae 1833, p. 8 u. 37
WWII, Kapitel 49, S.737-744

Religion ist Volksmetaphysik
Unter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht. —

Nun aber setzt die große ursprüngliche Verschiedenheit der Verstandeskräfte, wozu noch die der viele Muße erfordernden Ausbildung derselben kommt, einen so großen Unterschied zwischen Menschen, daß, sobald ein Volk sich aus dem Zustande der Rohheit herausgearbeitet hat, nicht wohl eine Metaphysik für Alle ausreichen kann; daher wir bei den civilisirten Völkern durchgängig zwei verschiedene Arten derselben antreffen, welche sich dadurch unterscheiden, daß die eine ihre Beglaubigung in sich, die andere sie außer sich hat. Da die metaphysischen Systeme der ersten Art, zur Rekognition ihrer Beglaubigung, Nachdenken, Bildung, Muße und Urtheil erfordern; so können sie nur einer äußerst geringen Anzahl von Menschen zugänglich seyn, auch nur bei bedeutender Civilisation entstehen und sich erhalten.

Für die große Anzahl der Menschen hingegen, als welche nicht zu denken, sondern nur zu glauben befähigt und nicht für Gründe, sondern nur für Autorität empfänglich ist, sind ausschließlich die Systeme der zweiten Art: diese können deshalb als Volksmetaphysik bezeichnet werden, nach Analogie der Volkspoesie, auch der Volksweisheit, worunter man die Sprichwörter versteht.

Jene Systeme sind indessen unter dem Namen der Religionen bekannt
und finden sich bei allen Völkern, mit Ausnahme der allerrohesten. Ihre Beglaubigung ist, wie gesagt, äußerlich und heißt als solche Offenbarung, welche dokumentirt wird durch Zeichen und Wunder. Ihre Argumente sind hauptsächlich Drohungen mit ewigen, auch wohl mit zeitlichen Uebeln, gerichtet gegen die Ungläubigen, ja schon gegen die bloßen Zweifler: als ultima ratio theologorum [das letzte Argument der Theologen] finden wir, bei manchen Völkern, den Scheiterhaufen, oder dem Aehnliches. Suchen sie eine andere Beglaubigung, oder gebrauchen sie andere Argumente; so machen sie schon einen Uebergang in die Systeme der ersten Art und können zu einem Mittelschlag beider ausarten; welches mehr Gefahr als Vortheil bringt. Denn ihnen giebt die sicherste Bürgschaft für den fortdauernden Besitz der Köpfe ihr unschätzbares Vorrecht, den Kindern beigebracht zu werden, als wodurch ihre Dogmen zu einer Art von zweitem angeborenen Intellekt einwachsen, gleich dem Zweige auf dem gepfropften Baum; während hingegen die Systeme der ersten Art sich immer nur an Erwachsene wenden, bei diesen aber allemal schon ein System der zweiten Art im Besitz der Ueberzeugung vorfinden. —

Beide Arten der Metaphysik, deren Unterschied sich kurz durch Ueberzeugungslehre und Glaubenslehre bezeichnen läßt, haben Dies gemein, daß jedes einzelne System derselben in einem feindlichen Verhältniß zu allen übrigen seiner Art steht. Zwischen denen der ersten Art wird der Krieg nur mit Wort und Schrift, zwischen denen der zweiten auch mit Feuer und Schwert geführt: manche von diesen haben ihre Verbreitung zum Theil dieser letztern Art der Polemik zu danken, und alle haben nach und nach die Erde unter sich getheilt, und zwar mit so entschiedener Herrschaft, daß die Völker sich mehr nach ihnen, als nach der Nationalität, oder der Regierung unterscheiden und sondern.

Nur sie sind, jede in ihrem Bezirke, herrschend, die der ersten Art hingegen höchstens tolerirt, und auch dies nur, weil man, wegen der geringen Anzahl ihrer Anhänger, sie meistens der Bekämpfung durch Feuer und Schwerdt nicht werth hält; wiewohl, wo es nöthig schien, auch diese mit Erfolg gegen sie angewendet worden sind: zudem finden sie sich bloß sporadisch. Meistens hat man sie jedoch nur in einem Zustande der Zähmung und Unterjochung geduldet, indem das im Lande herrschende System der zweiten Art ihnen vorschrieb, ihre Lehren seinen eigenen, mehr oder weniger eng, anzupassen. Bisweilen hat es sie nicht nur unterjocht, sondern sogar dienstbar gemacht und als Vorspann gebraucht; welches jedoch ein gefährliches Experiment ist; da jene Systeme der ersten Art, weil ihnen die Gewalt genommen ist, sich durch List helfen zu dürfen glauben und eine geheime Tücke nie ganz ablegen, die sich dann bisweilen unvermuthet hervorthut und schwer zu heilenden Schaden stiftet.

Denn überdies wird ihre Gefährlichkeit dadurch erhöht, daß sämmtliche Realwissenschaften, sogar die unschuldigsten nicht ausgenommen, ihre heimlichen Alliirten gegen die Systeme der zweiten Art sind, und, ohne selbst mit diesen in offenem Kriege zu stehen, plötzlich und unerwartet großen Schaden auf dem Gebiete derselben anrichten. Zudem ist der durch die erwähnte Dienstbarmachung bezweckte Versuch, einem System, welches ursprünglich seine Beglaubigung außerhalb hat, dazu noch eine von innen geben zu wollen, seiner Natur nach, mißlich: denn, wäre es einer solchen Beglaubigung fähig; so hätte es keiner äußern bedurft. Und überhaupt ist es stets ein Wagestück, einem fertigen Gebäude ein neues Fundament unterschieben zu wollen. Wie sollte überdies eine Religion noch des Suffragiums einer Philosophie bedürfen! Sie hat ja Alles auf ihrer Seite: Offenbarung, Urkunden, Wunder, Prophezeiungen, Schutz der Regierung, den höchsten Rang, wie er der Wahrheit gebührt, Beistimmung und Verehrung Aller, tausend Tempel, in denen sie verkündigt und geübt wird, geschworene Priesterschaaren, und, was mehr als Alles ist, das unschätzbare Vorrecht, ihre Lehren dem zarten Kindesalter einprägen zu dürfen, wodurch sie fast zu angeborenen Ideen werden. Um bei solchem Reichthum an Mitteln noch die Beistimmung armsäliger Philosophen zu verlangen, müßte sie habsüchtiger, oder, um den Widerspruch derselben zu besorgen, furchtsamer seyn, als mit einem guten Gewissen vereinbar scheint.

An den oben aufgestellten Unterschied zwischen Metaphysik der ersten und der zweiten Art knüpft sich noch folgender. Ein System der ersten Art, also eine Philosophie, macht den Anspruch, und hat daher die Verpflichtung, in Allem, was sie sagt, sensu stricto et proprio [im strengen und eigentlichen Sinne] wahr zu seyn: denn sie wendet sich an das Denken und die Ueberzeugung. Eine Religion hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio [im eigentlichen Sinne] nimmermehr fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung sensu allegorico [im übertragenen Sinne] wahr zu seyn. Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen.

Ein Symptom dieser allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysterien, nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken lassen, geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, vielleicht ließe sich behaupten, daß einige völlige Widersinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien: denn diese sind eben der Stämpel ihrer allegorischen Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstande fühlbar zu machen, was ihm unbegreiflich wäre, nämlich daß die Religion im Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muß, verschwinden, und daß daher nicht bloß die widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreiflichen, eigentlich nur Allegorien und Ackomodationen zur menschlichen Fassungskraft sind. In diesem Geiste scheint mir Augustinus und selbst Luther die Mysterien des Christenthums festgehalten zu haben, im Gegensatz des Pelagianismus, der Alles zur platten Verständlichkeit herabziehen möchte. Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch begreiflich, wie Tertullian, ohne zu spotten, sagen konnte:

Prorsus credibile est, quia ineptum est: — — certum est, quia impossibile.


Es ist durchaus glaubhaft, weil es töricht ist: -- es ist gewiß, weil es unmöglich ist.

Tertullian, De carne Christi, c. 5

Diese ihre allegorische Natur entzieht auch die Religionen den der Philosophie obliegenden Beweisen und überhaupt der Prüfung; statt deren sie Glauben verlangen, d.h. eine freiwillige Annahme, daß es sich so verhalte. Da sodann der Glaube das Handeln leitet, und die Allegorie allemal so gestellt ist, daß sie, in Hinsicht auf das Praktische, eben dahin führt, wohin die Wahrheit sensu proprio auch führen würde; so verheißt die Religion Denen, welche glauben, mit Recht die ewige Säligkeit.

Wir sehen also, daß die Religionen die Stelle der Metaphysik überhaupt, deren Bedürfniß der Mensch als unabweisbar fühlt, in der Hauptsache und für die große Menge, welche nicht dem Denken obliegen kann, recht gut ausfüllen, theils nämlich zum praktischen Behuf, als Leitstern ihres Handelns, als öffentliche Standarte der Rechtlichkeit und Tugend, wie Kant es vortrefflich ausdrückt; theils als unentbehrlicher Trost in den schweren Leiden des Lebens, als wo sie die Stelle einer objektiv wahren Metaphysik vollkommen vertreten, indem sie, so gut wie diese nur irgend könnte, den Menschen über sich selbst und das zeitliche Daseyn hinausheben: hierin zeigt sich glänzend der große Werth derselben, ja, ihre Unentbehrlichkeit. Denn

vulgus philosophum esse impossibile est


Es ist unmöglich, dass die Menge philosophisch sei.

sagt schon Plato und mit Recht (De Rep., VI, p.89, Bip.). Der einzige Stein des Anstoßes hingegen ist dieser, daß die Religionen ihre allegorische Natur nie eingestehen dürfen, sondern sich als sensu proprio wahr zu behaupten haben. Dadurch thun sie einen Eingriff in das Gebiet der eigentlichen Metaphysik, und rufen den Antagonismus dieser hervor, der daher zu allen Zeiten, in denen sie nicht an die Kette gelegt worden, sich äußert. —

Auf dem Verkennen der allegorischen Natur jeder Religion beruht auch der in unsern Tagen so anhaltend geführte Streit zwischen Supernaturalisten und Rationalisten. Beide nämlich wollen das Christenthum sensu proprio wahr haben: in diesem Sinne wollen die ersteren es ohne Abzug, gleichsam mit Haut und Haar, behaupten; wobei sie, den Kenntnissen und der allgemeinen Bildung des Zeitalters gegenüber, einen schweren Stand haben. Die anderen hingegen suchen alles eigenthümlich Christliche hinauszuexegesiren; wonach sie etwas übrig behalten, das weder sensu proprio noch sensu allegorico wahr ist, vielmehr eine bloße Platitüde, beinahe nur Judenthum, oder höchstens seichter Pelagianismus, und, was das Schlimmste, niederträchtiger Optimismus, der dem eigentlichen Christenthum durchaus fremd ist. Ueberdies versetzt der Versuch, eine Religion aus der Vernunft zu begründen, sie in die andere Klasse der Metaphysik, in die, welche ihre Beglaubigung in sich selbst hat, also auf einen fremden Boden, auf den der philosophischen Systeme, und sonach in den Kampf, den diese, auf ihrer eigenen Arena, gegen einander führen, folglich unter das Gewehrfeuer des Skepticismus und das schwere Geschütz der Kritik der reinen Vernunft: sich aber dahin zu begeben, wäre für sie offenbare Vermessenheit.

Beiden Arten der Metaphysik wäre es am zuträglichsten, daß jede von der andern rein gesondert bliebe und sich auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um daselbst ihr Wesen vollkommen entwickeln zu können. Statt dessen ist man schon das ganze Christliche Zeitalter hindurch bemüht, vielmehr eine Fusion beider zu bewerkstelligen, indem man die Dogmen und Begriffe der einen in die andere überträgt, wodurch man beide verdirbt. Am unverholensten ist dies in unsern Tagen geschehen in jenem seltsamen Zwitter oder Kentauren, der sogenannten Religionsphilosophie, welche, als eine Art Gnosis, bemüht ist, die gegebene Religion zu deuten und das sensu allegorico Wahre durch ein sensu proprio Wahres auszulegen. Allein dazu müßte man die Wahrheit sensu proprio schon kennen und besitzen: alsdann aber wäre jene Deutung überflüssig. Denn bloß aus der Religion die Metaphysik, d.i. die Wahrheit sensu proprio, durch Auslegung und Umdeutung erst finden zu wollen, wäre ein mißliches und gefährliches Unternehmen, zu welchem man sich nur dann entschließen könnte, wenn es ausgemacht wäre, daß die Wahrheit, gleich dem Eisen und andern unedlen Metallen, nur im vererzten, nicht im gediegenen Zustande vorkommen könne, daher man sie nur durch Reduktion aus der Vererzung gewinnen könnte. —

Religionen sind dem Volke nothwendig, und sind ihm eine unschätzbare Wohlthat. Wenn sie jedoch den Fortschritten der Menschheit in der Erkenntniß der Wahrheit sich entgegenstellen wollen; so müssen sie mit möglichster Schonung bei Seite geschoben werden. Und zu verlangen, daß sogar ein großer Geist — ein Shakespeare, ein Goethe — die Dogmen irgend einer Religion implicite, bona fide et sensu proprio [mit inbegriffen, auf Treu und Glauben und im eigentlichen Sinne] zu seiner Ueberzeugung mache, ist wie verlangen, daß ein Riese den Schuh eines Zwerges anziehe.

Religionen können, als auf die Fassungskraft der großen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben:
diese von ihnen verlangen, ist, wie wenn man die im Buchdruckerrahmen aufgesetzten Lettern lesen wollte, statt ihres Abdrucks. Der Werth einer Religion wird demnach abhängen von dem größern oder geringern Gehalt an Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Allegorie, in sich trägt, sodann von der größern oder geringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch diesen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtigkeit des letztern. WW II, S.189-195

Alle Liebe ist Mitleid
In der That ist die Ueberzeugung, daß die Welt, also auch der Mensch, etwas ist, das eigent-lich nicht seyn sollte, geeignet, uns mit Nachsicht gegen einander zu erfüllen: denn was kann man von Wesen unter solchem Prädikament erwarten? — Ja, von diesem Gesichtspunkt aus könnte man auf den Gedanken kommen, daß die eigentlich passende Anrede zwischen Mensch und Mensch, statt Monsieur, Sir, u. s. w., seyn möchte »Leidensgefährte, Socî malorum, compagnon de misères, my fellow-sufferer « So seltsam dies klingen mag; so entspricht es doch der Sache, wirft auf den Andern das richtigste Licht und erinnert an das Nöthigste, an die Toleranz, Geduld, Schonung und Nächstenliebe, deren Jeder bedarf und die daher auch Jeder schuldig ist. PP II, S.273f.

Wenn nun also Andere Moralprincipien aufstellten, die sie als Vorschriften zur Tugend und nothwendig zu befolgende Gesetze hingaben, ich aber, wie schon gesagt, dergleichen nicht kann, indem ich dem ewig freien Willen kein Soll noch Gesetz vorzuhalten habe; so ist dagegen, im Zusammenhange meiner Betrachtung, das jenem Unternehmen gewissermaaßen Entsprechende und Analoge jene rein theoretische Wahrheit, als deren bloße Ausführung auch das Ganze meiner Darstellung angesehen werden kann, daß nämlich der Wille das Ansich jeder Erscheinung, selbst aber, als solches, von den Formen dieser und dadurch von der Vielheit frei ist: welche Wahrheit ich, in Bezug auf das Handeln, nicht würdiger auszudrücken weiß, als durch die schon erwähnte Formel des Veda: »Tat swam asi«! (»Dieses bist Du«!) Wer sie mit klarer Erkenntniß und fester inniger Ueberzeugung über jedes Wesen, mit dem er in Berührung kommt, zu sich selber auszusprechen vermag; der ist eben damit aller Tugend und Säligkeit gewiß und auf dem geraden Wege zur Erlösung.

Bevor ich nun aber weiter gehe und, als das Letzte meiner Darstellung zeige, wie die Liebe, als deren Ursprung und Wesen wir die Durchschauung des principii individuationis erkennen, zur Erlösung, nämlich zum gänzlichen Aufgeben des Willens zum Leben, d.h. alles Wollens, führt, und auch, wie ein anderer Weg, minder sanft, jedoch häufiger, den Menschen eben dahin bringt, muß zuvor hier ein paradoxer Satz ausgesprochen und erläutert werden, nicht weil er ein solcher, sondern weil er wahr ist und zur Vollständigkeit meines darzulegenden Gedankens gehört. Es ist dieser: »Alle Liebe ist Mitleid«.

Wir haben gesehen, wie aus der Durchschauung des principii individuationis im geringem Grade die Gerechtigkeit, im höhern die eigentliche Güte der Gesinnung hervorgieng, welche sich als reine, d.h. uneigennützige Liebe gegen Andere zeigte. Wo nun diese vollkommen wird, setzt sie das fremde Individuum und sein Schicksal dem eigenen völlig gleich: weiter kann sie nie gehen, da kein Grund vorhanden ist, das fremde Individuum dem eigenen vorzuziehen. Wohl aber kann die Mehrzahl der fremden Individuen, deren ganzes Wohlseyn oder Leben in Gefahr ist, die Rücksicht auf das eigene Wohl des Einzelnen überwiegen. In sol-chem Falle wird der zur höchsten Güte und zum vollendeten Edelmuth gelangte Charakter sein Wohl und sein Leben gänzlich zum Opfer bringen für das Wohl vieler Anderen: so starb Kodros, so Leonidas, so Regulus, so Decius Mus, so Arnold von Winkelried, so Jeder, der freiwillig und bewußt für die Seinigen, für das Vaterland, in den gewissen Tod geht. Auch steht auf dieser Stufe Jeder, der zur Behauptung Dessen, was der gesammten Menschheit zum Wohle gereicht und rechtmäßig angehört, d.h. für allgemeine, wichtige Wahrheiten und für Vertilgung großer Irrthümer, Leiden und Tod willig übernimmt: so starb Sokrates, so Jorda-nus Brunus, so fand mancher Held der Wahrheit den Tod auf dem Scheiterhaufen, unter den Händen der Priester.

Nunmehr aber habe ich, in Hinsieht auf das oben ausgesprochene Paradoxon, daran zu erinnern, daß wir früher dem Leben im Ganzen das Leiden wesentlich und von ihm unzertrennlich gefunden haben, und daß wir einsahen, wie jeder Wunsch aus einem Bedürfniß, einem Mangel, einem Leiden hervorgeht, daß daher jede Befriedigung nur ein hinweggenommener Schmerz, kein gebrachtes positives Glück ist, daß die Freuden zwar dem Wunsche lügen, sie wären ein positives Gut, in Wahrheit aber nur negativer Natur sind und nur das Ende eines Uebels. Was daher auch Güte, Liebe und Edelmuth für Andere thun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ist was sie bewegen kann zu guten Thaten und Werken der Liebe, immer nur die ERKENNTNISS DES FREMDEN LEIDENS, aus dem eigenen unmittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergiebt sich, daß die reine Liebe ihrer Natur nach Mitleid ist; das Leiden, welches sie lindert, mag nun ein großes oder ein kleines, wohin jeder unbefriedigte Wunsch gehört, seyn. Wir werden daher keinen Anstand nehmen, im geraden Widerspruch mit KANT, der alles wahrhaft Gute und alle Tugend allein für solche anerkennen will, wenn sie aus der abstrakten Reflexion und zwar dem Begriffe der Pflicht und des kategorischen Imperativs hervorgegangen ist, und der gefühltes Mitleid für Schwäche, keineswegs für Tugend erklärt, — im geraden Widerspruch mit Kant zu sagen: der bloße Begriff ist für die ächte Tugend so unfruchtbar wie für die ächte Kunst: alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht. Mischungen von beiden finden häufig Statt. Sogar die ächte Freundschaft ist immer Mischung von Selbstsucht und Mitleid: erstere liegt im Wohlgefallen an der Gegenwart des Freundes, dessen Individualität der unserigen entspricht, und sie macht fast immer den größten Theil aus; Mitleid zeigt sich in der aufrichtigen Theilnahme an seinem Wohl und Wehe und den uneigennützigen Opfern, die man diesem bringt. Sogar Spinoza sagt: Benevolentia nihil aliud est, quam cupiditas ex commiseratione orta. [»Das Wohlwollen ist nichts als ein dem Mitleid entsprungenes Ver-langen«] (Eth. III, pr.27, cor.3, schol.) Als Bestätigung unseres paradoxen Satzes mag man bemerken, daß Ton und Worte der Sprache und Liebkosungen der reinen Liebe ganz zusam-menfallen mit dem Tone des Mitleids: beiläufig auch, daß im Italiänischen Mitleid und reine Liebe durch das selbe Wort pietà bezeichnet werden.

Auch ist hier die Stelle zur Erörterung einer der auffallendesten Eigenheiten der menschlichen Natur, des WEINENS, welches, wie das Lachen, zu den Aeußerungen gehört, die ihn vom Thiere unterscheiden. Das Weinen ist keineswegs geradezu Aeußerung des Schmerzes: denn bei den wenigsten Schmerzen wird geweint. Meines Erachtens weint man sogar nie unmittelbar über den empfundenen Schmerz, sondern immer nur über dessen Wiederholung in der Reflexion. Man geht nämlich von dem empfundenen Schmerz, selbst wann er körperlich ist, über zu einer bloßen Vorstellung desselben, und findet dann seinen eigenen Zustand so bemitleidenswerth, daß, wenn ein Anderer der Dulder wäre, man voller Mitleid und Liebe ihm helfen zu werden fest und aufrichtig überzeugt ist: nun aber ist man selbst der Gegenstand seines eigenen aufrichtigen Mitleids: mit der hülfreichsten Gesinnung ist man selbst der Hülfsbedürftige, fühlt, daß man mehr duldet, als man einen Andern dulden sehen könnte, und in die-ser sonderbar verflochtenen Stimmung, wo das unmittelbar gefühlte Leid erst auf einem doppelten Umwege wieder zur Perception kommt, als fremdes vorgestellt, als solches mitgefühlt und dann plötzlich wieder als unmittelbar eigenes wahrgenommen wird, — schafft sich die Natur durch jenen sonderbaren körperlichen Krampf Erleichterung. — Das WEINEN ist demnach MITLEID MIT SICH SELBST, oder das auf seinen Ausgangspunkt zurückgeworfene Mitleid. Es ist daher durch Fähigkeit zur Liebe und zum Mitleid und durch Phantasie bedingt: daher Weder hartherzige, noch phantasielose Menschen leicht weinen, und das Weinen sogar immer als Zeichen eines gewissen Grades von Güte des Charakters angesehen wird und den Zorn entwaffnet, weil man fühlt, daß wer noch weinen kann, auch nothwendig der Liebe, d.h. des Mitleids gegen Andere fähig seyn muß, eben weil dieses, auf die beschriebene Weise, in jene zum Weinen führende Stimmung eingeht. — Ganz der aufgestellten Erklärung gemäß ist die Beschreibung, welche Petrarca, sein Gefühl naiv und wahr aussprechend, vom Entstehen seiner eigenen Thränen macht:

I vo pensando: e nel pensar m‘ assale
Una pietà si forte di me stesso,
Che mi conduce spesso,
Ad alto lagrimar, ch’i non soleva.

Indem ich gedankenvoll wandele, befällt mich ein so STARKES MITLEID MIT MIR SELBER, daß ich oft laut weinen muß; was ich doch sonst nicht pflegte.

Auch bestätigt sich das Gesagte dadurch, daß Kinder, die einen Schmerz erlitten, meistens erst dann weinen, wenn man sie beklagt, also nicht über den Schmerz, sondern über die Vorstellung desselben. — Wann wir nicht durch eigene, sondern durch fremde Leiden zum Weinen bewegt werden; so geschieht dies dadurch, daß wir uns in der Phantasie lebhaft an die Stelle des Leidenden versetzen, oder auch in seinem Schicksal das Loos der ganzen Menschheit und folglich vor Allem unser eigenes erblicken, und also durch einen weiten Umweg immer doch wieder über uns selbst weinen, Mitleid mit uns selbst empfinden. Dies scheint auch ein Hauptgrund des durchgängigen, also natürlichen Weinens bei Todesfällen zu seyn. Es ist nicht sein Verlust, den der Trauernde beweint: solcher egoistischer Thränen würde man sich schämen; statt daß er bisweilen sich schämt, nicht zu weinen. Zunächst beweint er freilich das Loos des Gestorbenen: jedoch weint er auch, wann diesem, nach langen, schweren und unheilbaren Leiden, der Tod eine wünschenswerthe Erlösung war. Hauptsächlich also ergreift ihn Mitleid über das Loos der gesammten Menschheit, welche der Endlichkeit anheimgefallen ist, der zufolge jedes so strebsame, oft so thatenreiche Leben verlöschen und zu nichts werden muß: in diesem Loose der Menschheit aber erblickt er vor Allem sein eigenes, und zwar um so mehr, je näher ihm der Verstorbene stand, daher am meisten, wenn es sein Vater war. Wenn auch diesem durch Alter und Krankheit das Leben eine Quaal und durch seine Hülflosigkeit dem Sohn eine schwere Bürde war; so weint er doch heftig über den Tod des Vaters: aus dem angegebenen Grunde. S.482ff.
Aus: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (WW I), Erster Band. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält.
Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Das Große Mysterium der Ethik
§16 Aufstellung und Beweis der ächten moralischen Triebfeder

Nach den bisherigen, unumgänglich nöthigen Vorbereitungen komme ich zur Nachweisung der wahren, allen Handlungen von ächtem moralischen Werth zum Grunde liegenden Triebfeder, und als diese wird sich uns eine solche ergeben, welche durch ihren Ernst und durch ihre unzweifelbare Realität gar weit absteht von allen den Spitzfindigkeiten, Klügeleien, Sophismen, aus der Luft gegriffenen Behauptungen und apriorischen Seifenblasen, welche die bisherigen Systeme zur Quelle des moralischen Handelns und zur Grundlage der Ethik haben machen wollen. Da ich diese moralische Triebfeder nicht etwan zur beliebigen Annahme vorschlagen, sondern als die allein mögliche wirklich beweisen will, dieser Beweis aber die Zusammenfassung vieler Gedanken erfordert; so stelle ich einige Prämissen voran, welche die Voraussetzungen der Beweisführung sind und gar wohl als Axiomata gelten können, bis auf die zwei letzten, die sich auf oben gegebene Auseinandersetzungen berufen.

1) Keine Handlung kann ohne zureichendes Motiv geschehen; so wenig, als ein Stein ohne zureichenden Stoß, oder Zug, sich bewegen kann.

2)
Eben so wenig kann eine Handlung, zu welcher ein für den Charakter des Handelnden zureichendes Motiv vorhanden ist, unterbleiben, wenn nicht ein stärkeres Gegenmotiv ihre Unterlassung nothwendig macht.

3) Was den Willen bewegt, ist allein Wohl und Wehe überhaupt und im weitesten Sinne des Worts genommen; wie auch umgekehrt Wohl und Wehe bedeutet »einem Willen gemäß, oder entgegen«. Also muß jedes Motiv eine Beziehung auf Wohl und Wehe haben.

4) Folglich bezieht jede Handlung sich auf ein für Wohl und Wehe empfängliches Wesen, als ihren letzten Zweck.

5) Dieses Wesen ist entweder der Handelnde selbst, oder ein Anderer, welcher alsdann bei der Handlung passive betheiligt ist, indem sie zu seinem Schaden, oder zu seinem Nutz und Frommen geschieht.

6) Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine egoistische.

7) Alles hier von Handlungen Gesagte gilt eben so wohl von Unterlassung solcher Handlungen, zu welchen Motiv und Gegenmotiv vorliegt.

8) In Folge der im vorhergehenden Paragraphen gegebenen Auseinandersetzung schließen Egoismus und moralischer Werth einer Handlung einander schlechthin aus. Hat eine Handlung einen egoistischen Zweck zum Motiv; so kann sie keinen moralischen Werth haben: soll eine Handlung moralischen Werth haben; so darf kein egoistischer Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv seyn.

9) In Folge der §.5 vollzogenen Elimination der vorgeblichen Pflichten gegen uns selbst, kann die moralische Bedeutsamkeit einer Handlung nur liegen in ihrer Beziehung auf Andere: nur in Hinsicht auf diese kann sie moralischen Werth, oder Verwerflichkeit haben und demnach eine Handlung der Gerechtigkeit, oder Menschenliebe, wie auch das Gegentheil beider seyn.

Aus diesen Prämissen ist Folgendes evident: Das Wohl und Wehe, welches (laut Prämisse 3) jeder Handlung, oder Unterlassung, als letzter Zweck zum Grunde liegen muß, ist entweder das des Handelnden selbst, oder das irgend eines Andern, bei der Handlung passive Betheiligten. Im ersten Falle ist die Handlung nothwendig egoistisch; weil ihr ein interessirtes Motiv zum Grunde liegt.

Dies ist nicht bloß der Fall bei Handlungen, die man offenbar zu seinem eigenen Nutzen und Vortheil unternimmt, dergleichen die allermeisten sind; sondern es tritt eben so wohl ein, sobald man von einer Handlung irgend einen entfernten Erfolg, sei es in dieser, oder einer andern Welt, für sich erwartet; oder wenn man dabei seine Ehre, seinen Ruf bei den Leuten, die Hochachtung irgend Jemandes, die Sympathie der Zuschauer u.dgl.m. im Auge hat; nicht weniger, wenn man durch diese Handlung eine Maxime aufrecht zu erhalten beabsichtigt, von deren allgemeiner Befolgung man eventualiter einen Vortheil für sich selbst erwartet, wie etwan die der Gerechtigkeit, des allgemeinen hülfreichen Beistandes u.s.w. — ebenfalls, wenn man irgend einem absoluten Gebot, welches von einer zwar unbekannten, aber doch offenbar überlegenen Macht ausgienge, Folge zu leisten für gerathen hielte; da alsdann nichts Anderes als die Furcht vor den nachtheiligen Folgen des Ungehorsams, wenn sie auch bloß allgemein und unbestimmt gedacht werden, dazu bewegen kann; — desgleichen, wenn man seine eigene hohe Meinung von sich selbst, seinem Werthe oder Würde, deutlich oder undeutlich begriffen, die man außerdem aufgeben müßte und dadurch seinen Stolz gekränkt sähe, durch irgend eine Handlung, oder Unterlassung, zu behaupten trachtet; — endlich auch, wenn man, nach Wolffischen Principien, dadurch an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten will. Kurzum, man setze zum letzten Beweggrund einer Handlung, was man wolle; immer wird sich ergeben, daß, auf irgend einem Umwege, zuletzt das eigene Wohl und Wehe des Handelnden die eigentliche Triebfeder, mithin die Handlung egoistisch, folglich ohne moralischen Werth ist.

Nur einen einzigen Fall giebt es, in welchem dies nicht Statt hat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung, oder Unterlassung, geradezu und ausschließlich im Wohl und Wehe irgend eines dabei passive betheiligten Andern liegt, also der aktive Theil bei seinem Handeln, oder Unterlassen, ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener Andere unverletzt bleibe, oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte. Dieser Zweck allein drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stämpel des moralischen Werthes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines Andern geschehe, oder unterbleibe. Sobald nämlich dies nicht der Fall ist; so kann das Wohl und Wehe, welches zu jeder Handlung treibt, oder von ihr abhält, nur das des Handelnden selbst seyn: dann aber ist die Handlung, oder Unterlassung, allemal egoistisch, mithin ohne moralischen Werth.

Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehen soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv seyn: so wie bei allen andern Handlungen das meinige es ist. Dies bringt unser Problem auf einen engern Ausdruck, nämlich diesen: wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe eines Andern, unmittelbar, d.h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde, und sogar es bisweilen in dem Grade werde, daß ich demselben mein eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger nachsetze? —

Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d.h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniß, die ich von ihm habe, d.h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt.

Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja, keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d.h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen. Sobald dieses Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des Andern unmittelbar am Herzen, ganz in der selben Art, wenn auch nicht stets in dem selben Grade, wie sonst allein das meinige: also ist jetzt der Unterschied zwischen ihm und mir kein absoluter mehr.

Allerdings ist dieser Vorgang erstaunenswürdig, ja, mysteriös. Er ist, in Wahrheit, das große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen und der Gränzstein, über welchen hinaus nur noch die metaphysische Spekulation einen Schritt wagen kann. Wir sehen, in jenem Vorgang, die Scheidewand, welche nach dem Lichte der Natur (wie alte Theologen die Vernunft nennen), Wesen von Wesen durchaus trennt, aufgehoben und das Nicht-Ich gewissermaaßen zum Ich geworden. Uebrigens wollen wir die metaphysische Auslegung des Phänomens für jetzt unberührt lassen und fürs Erste sehen, ob alle Handlungen der freien Gerechtigkeit und der ächten Menschenliebe wirklich aus diesem Vorgange fließen. Dann wird unser Problem gelöst seyn, indem wir das letzte Fundament der Moralität in der menschlichen Natur selbst werden nachgewiesen haben, welches Fundament nicht selbst wieder ein Problem der Ethik seyn kann, wohl aber, wie alles Bestehende als solches, der Metaphysik. Allein die metaphysische Auslegung des ethischen Urphänomens liegt schon über die von der Königlichen Societät gestellte Frage, als welche auf die Grundlage der Ethik gerichtet ist, hinaus, und kann allenfalls nur als eine beliebig zu gebende und beliebig zu nehmende Zugabe beigefügt werden. —

Bevor ich nun aber zur Ableitung der Kardinaltugenden aus der aufgestellten Grundtriebfeder schreite, habe ich noch zwei wesentliche Bemerkungen nachträglich beizubringen.

1) Zum Behuf leichterer Faßlichkeit habe ich die obige Ableitung des Mitleids, als alleiniger Quelle der Handlungen von moralischem Werth, dadurch vereinfacht, daß ich die Triebfeder der Bosheit, als welche, uneigennützig wie das Mitleid, den fremden Schmerz, zu ihrem letzten Zwecke macht, absichtlich außer Acht gelassen habe. Jetzt aber können wir, mit Hinzuziehung derselben, den oben gegebenen Beweis vollständiger und stringenter so resumiren:
Es giebt überhaupt nur drei Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen: und allein durch Erregung derselben wirken alle irgend möglichen Motive. Sie sind:

a) Egoismus; der das eigene Wohl will (ist gränzenlos).

b) Bosheit; die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grausamkeit).

c) Mitleid; welches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmuth und zur Großmuth).

Jede menschliche Handlung muß auf eine dieser Triebfedern zurückzuführen seyn; wiewohl auch zwei derselben vereint wirken können. Da wir nun Handlungen von moralischem Werth als faktisch gegeben angenommen haben; so müssen auch sie aus einer dieser Grund-Triebfedern hervorgehen. Sie können aber, vermöge Prämisse 8, nicht aus der ersten Triebfeder entspringen, noch weniger aus der zweiten; da alle aus dieser hervorgehenden Handlungen moralisch verwerflich sind, während die erste zum Theil moralisch indifferente liefert. Also müssen sie von der dritten Triebfeder ausgehen: und dies wird seine Bestätigung a posteriori im Folgenden erhalten.

2) Die unmittelbare Theilnahme am Andern ist auf sein Leiden beschränkt und wird nicht, wenigstens nicht direkt, auch durch sein Wohlseyn erregt: sondern dieses an und für sich läßtuns gleichgültig. Dies sagt ebenfalls J.J. Rousseau im Emile (liv. IV): »Première maxime: Il n’est pas dans le coeur humain, de se mettre à la place des gens, qui sont plus heureux que nous, mais seulement de ceux, qui sont plus à plaindre.« etc. [Erste Regel: Es liegt dem menschlichen Herzen nicht, sich in die Lage von Leuten zu versetzen, die glücklicher sind als wir, sondern nur von jenen, die beklagenswerter sind].

Der Grund hievon ist, daß der Schmerz, das Leiden, wozu aller Mangel, Entbehrung, Bedürfniß, ja jeder Wunsch gehört, das Positive, das unmittelbar Empfundene ist. Hingegen besteht die Natur der Befriedigung, des Genusses, des Glücks, nur darin, daß eine Entbehrung aufgehoben, ein Schmerz gestillt ist. Diese wirken also negativ. Daher eben ist Bedürfniß und Wunsch die Bedingung jedes Genusses. Dies erkannte schon Platon, und nahm nur die Wohlgerüche und die Geistesfreuden aus. (De Rep., IX, p.264 sq. Bip.) Auch Voltaire sagt: Il n’est de vrais plaisirs, qu’avec de vrais besoins [Es gibt keine echten Genüsse ohne echte Bedürfnisse].

Also das Positive, das sich durch sich selbst kund Gebende ist der Schmerz: Befriedigung und Genüsse sind das Negative, die bloße Aufhebung jenes Erstern. Hierauf zunächst beruht es, daß nur das Leiden, der Mangel, die Gefahr, die Hülflosigkeit des Andern direkt und als solche unsere Theilnahme erwecken. Der Glückliche, Zufriedene als solcher läßt uns gleichgültig: eigentlich weil sein Zustand ein negativer ist: die Abwesenheit des Schmerzes, des Mangels und der Noth. Wir können zwar über das Glück, das Wohlseyn, den Genuß Anderer uns freuen: dies ist dann aber sekundär und dadurch vermittelt, daß vorher ihr Leiden und Entbehren uns betrübt hatte; oder aber auch wir nehmen Theil an dem Beglückten und Genießenden, nicht als solchem, sondern sofern er unser Kind, Vater, Freund, Verwandter, Diener, Unterthan u.dgl. ist.

Aber nicht der Beglückte und Genießende rein als solcher erregt unsere unmittelbare Theilnahme, wie es der Leidende, Entbehrende, Unglückliche rein als solcher thut. Erregt doch sogar auch für uns selbst, eigentlich nur unser Leiden, wohin auch jeder Mangel, Bedürfniß, Wunsch, ja, die Langeweile zu zählen ist, unsere Thätigkeit; während ein Zustand der Zufriedenheit und Beglückung uns unthätig und in träger Ruhe läßt: wie sollte es in Hinsicht auf Andere nicht eben so seyn? da ja unsere Theilnahme auf einer Identifikation mit ihnen beruht. Sogar kann der Anblick des Glücklichen und Genießenden rein als solchen sehr leicht unsern Neid erregen, zu welchem die Anlage in jedem Menschen liegt und welcher seine Stelle oben unter den antimoralischen Potenzen gefunden hat.

In Folge der oben gegebenen Darstellung des Mitleids als eines unmittelbaren Motivirtwerdens durch die Leiden des Andern, muß ich noch den nachmals oft wiederholten Irrthum des Cassina (Saggio analitico sulla compassione, 1788; deutsch von Pockels, 1790) rügen, welcher meint, das Mitleid entstehe durch eine augenblickliche Täuschung der Phantasie, indem wir selbst uns an die Stelle des Leidenden versetzten und nun, in der Einbildung, seine Schmerzen an unserer Person zu leiden wähnten. So ist es keineswegs; sondern es bleibt uns gerade jeden Augenblick klar und gegenwärtig, daß Er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer, fühlen wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß es der unserige sei: ja, je glücklicher unser eigener Zustand ist und je mehr also das Bewußtseyn desselben mit der Lage des Andern kontrastirt, desto empfänglicher sind wir für das Mitleid. Die Erklärung der Möglichkeit dieses höchst wichtigen Phänomens ist aber nicht so leicht, noch auf dem bloß psychologischen Wege zu erreichen, wie Cassina es versuchte. Sie kann nur metaphysisch ausfallen: und eine solche werde ich im letzten Abschnitt zu geben versuchen.
S.563ff.
Aus: Arthur Schopenhauer, Kleinere Schriften: Preisschrift über die Grundlage der Moral nicht gekrönt von der königlichen Societät der Wissenschaften, zu Kopenhagen, am 30. Januar 1840.
Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer
Von jeher haben alle Völker erkannt, daß die Welt, außer ihrer physischen Bedeutung, auch noch eine moralische hat. Doch ist es überall nur zu einem undeutlichen Bewußtseyn der Sache gekommen, welches, seinen Ausdruck suchend, sich in mancherlei Bilder und Mythen kleidete. Dies sind die Religionen. Die Philosophen ihrerseits sind allezeit bemüht gewesen, ein klares Verständniß der Sache zu erlangen, und ihre sämmtlichen Systeme, mit Ausnahme der streng materialistischen, stimmen, bei aller ihrer sonstigen Verschiedenheit, darin überein, daß das Wichtigste, ja allein Wesentliche des ganzen Daseyns, Das, worauf Alles ankommt, die eigentliche Bedeutung, der Wendepunkt, die Pointe (sit venia verbo) desselben, in der Moralität des menschlichen Handelns liege. Aber über den Sinn hievon, über die Art und Weise, über die Möglichkeit der Sache, sind sie sämmtlich wieder höchst uneinig und haben einen Abgrund von Dunkelheit vor sich. Da ergiebt sich, daß Moral-Predigen leicht, Moral-Begründen schwer ist. Eben weil jener Punkt durch das Gewissen festgestellt ist, wird er zum Probierstein der Systeme; indem von der Metaphysik mit Recht verlangt wird, daß sie die Stütze der Ethik sei: und nun entsteht das schwere Problem, aller Erfahrung zuwider, die physische Ordnung der Dinge als von einer moralischen abhängig nachzuweisen, einen Zusammenhang aufzufinden zwischen der Kraft, die, nach ewigen Naturgesetzen wirksam, der Welt Bestand ertheilt, und der Moralität in der menschlichen Brust. Hier sind daher auch die Besten gescheitert: Spinoza klebt bisweilen vermittelst Sophismen eine Tugendlehre an seinen fatalistischen Pantheismus, noch öfter aber läßt er die Moral gar arg im Stich. Kant läßt, nachdem die theoretische Vernunft am Ende ist, seinen, aus bloßen Begriffen herausgeklaubten kategorischen Imperativ als Deus ex machina auftreten mit einem absoluten Soll, dessen Fehler recht deutlich wurde, als Fichte, der immer Ueberbieten für Uebertreffen hielt, dasselbe, mit Christian-Wolfischer Breite und Langweiligkeit, zu einem kompleten System des moralischen Fatalismus ausspann, in seinem »System der Sittenlehre«, und dann es kürzer darlegte in seinem letzten Pamphlet »die Wissenschaftslehre im allgemeinen Umrisse.« 1810.

Von diesem Gesichtspunkte aus hat nun doch wohl unleugbar ein System, welches die Realität alles Daseyns und die Wurzel der gesammten Natur in den Willen legt und in diesem das Herz der Welt nachweist, wenigstens ein starkes Präjudiz für sich. Denn es erreicht auf geradem und einfachem Wege, ja, hält schon, ehe es an die Ethik geht, Dasjenige in der Hand, was die andern erst auf weitaussehenden und stets mißlichen Umwegen zu erreichen suchen. Auch ist es wahrlich nimmermehr zu erreichen, als mittelst der Einsicht, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft, welche unserm Intellekt diese anschauliche Welt darstellt, identisch ist mit dem Willen in uns. Nur die Metaphysik ist wirklich und unmittelbar die Stütze der Ethik, welche schon selbst ursprünglich ethisch ist, aus dem Stoffe der Ethik, dem Willen, konstruirt ist; weshalb ich mit viel besserem Recht, meine Metaphysik hätte »Ethik« betiteln können, als Spinoza, bei dem dies fast wie Ironie aussieht und sich behaupten ließe, daß sie den Namen wie lucus a non lucendo ( der Wald [lucus] , der so heißt, weil es darin nicht leuchtet [lucere] ) führt, da er nur durch Sophismen die Moral einem System anheften konnte, aus welchem sie konsequent nimmermehr hervorgehn würde: auch verleugnet er sie meistens geradezu, mit empörender Dreistigkeit (z.B. Eth. IV, prop. 37, Schol. 2).

Ueberhaupt darf ich kühn behaupten, daß nie ein philosophisches System so ganz aus Einem Stück geschnitten war, wie meines, ohne Fugen und Flickwerk. Es ist, wie ich in der Vorrede zu demselben gesagt habe, die Entfaltung eines einzigen Gedankens; wodurch das alte »Wer Wahres zu sagen hat, drückt sich einfach aus« sich abermals bestätigt. — Sodann ist hier noch in Erwägung zu ziehn, daß Freiheit und Verantwortlichkeit, diese Grundpfeiler aller Ethik, ohne die Voraussetzung der Aseität des Willens sich wohl mit Worten behaupten, aber schlechterdings nicht denken lassen. Wer dieses bestreiten will, hat zuvor das Axiom, welches schon die Scholastiker aufstellten, operari sequitur esse (d.h. aus der Beschaffenheit jedes Wesens folgt sein Wirken), umzustoßen, oder die Folgerung aus demselben, unde esse inde operari [»Wovon das Sein kommt, daher rührt auch sein Wirken«], als falsch nachzuweisen.

Verantwortlichkeit hat Freiheit, diese aber Ursprünglichkeit zur Bedingung. Denn ich will je nachdem ich bin: daher muß ich seyn je nachdem ich will. Also ist Aseität des Willens die erste Bedingung einer ernstlich gedachten Ethik, und mit Recht sagt Spinoza: ea res libera dicetur, quae ex sola suae naturae necessitate existit, et a se sola ad agendum determinatur [»Dasjenige wird frei zu nennen sein, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur existiert und nur durch sich selbst zum Handeln wird. « ] (Eth. I, def. 7). Abhängigkeit dem Seyn und Wesen nach, verbunden mit Freiheit dem Thun nach, ist ein Widerspruch. Wenn Prometheus seine Machwerke wegen ihres Thuns zur Rede stellen wollte; so würden diese mit vollem Rechte antworten: »wir konnten nur handeln, je nachdem wir waren: denn aus der Beschaffenheit fließt das Wirken. War unser Handeln schlecht, so lag das an unserer Beschaffenheit: sie ist Dein Werk: strafe Dich selbst«. Nicht anders steht es mit der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod; welche ohne Aseität desselben nicht ernstlich gedacht werden kann, wie auch schwerlich ohne fundamentale Sonderung des Willens vom Intellekt. Der letztere Punkt gehört meiner Philosophie an; den ersteren aber hat schon Aristoteles (de coelo I, 12) gründlich dargethan, indem er ausführlich zeigt, daß nur das Unentstandene unvergänglich seyn kann, und daß beide Begriffe einander bedingen: haec mutuo se sequuntur, atque ingenerabile est incorruptibile, et incorruptibile ingenerabile. — — generabile enim et corruptibile mutuo se sequuntur. — si generabile est, et corruptibile esse necesse est [»dies folgt auseinander:Das Unentstandene ist unvergänglich, und das Unvergängliche unentstanden. - Denn Entstandensein und Vergänglichsein folgen aus einander. – Ist etwas entstanden, so muß es auch vergänglich sein. «]. So haben es auch, unter den alten Philosophen, alle die, welche eine Unsterblichkeit der Seele lehrten, verstanden, und keinem ist es in den Sinn gekommen, einem irgendwie entstandenen Wesen endlose Dauer beilegen zu wollen. Von der Verlegenheit, zu der die entgegengesetzte Annahme führt, zeugt in der Kirche die Kontroverse der Präexistentianer, Kreatianer und Traducianer.

Ferner ist ein der Ethik verwandter Punkt der Optimismus aller philosophischen Systeme, der, als obligat, in keinem fehlen darf: denn die Welt will hören, daß sie löblich und vortrefflich sei, und die Philosophen wollen der Welt gefallen. Mit mir steht es anders: ich habe gesehn was der Welt gefällt und werde daher, ihr zu gefallen, keinen Schritt vom Pfade der Wahrheit abgehn. Also weicht auch in diesem Punkt mein System von den übrigen ab und steht allein. Aber nachdem jene sämmtlich ihre Demonstrationen vollendet und dazu ihr Lied von der besten Welt gesungen haben; da kommt zuletzt, hinten im System, als ein später Rächer des Unbilds, wie ein Geist aus den Gräbern, wie der steinerne Gast zum Don Juan, die Frage nach dem Ursprung des Uebels, des ungeheueren, namenlosen Uebels, des entsetzlichen, herzzerreißenden Jammers in der Welt: — und sie verstummen, oder haben nichts als Worte, leere, tönende Worte, um eine so schwere Rechnung abzuzahlen. Hingegen wenn schon in der Grundanlage eines Systems das Daseyn des Uebels mit dem der Welt verwebt ist, da hat es jenes Gespenst nicht zu fürchten; wie ein inokulirtes Kind nicht die Pocken. Dies aber ist der Fall, wenn die Freiheit, statt in das operari, in das esse gelegt wird und nun aus ihr das Böse, das Uebel und die Welt hervorgeht. —

Uebrigens aber ist es billig, mir, als einem Mann des Ernstes, zu gestatten, daß ich nur von Dingen rede, die ich wirklich kenne, und nur Worte gebrauche, mit denen ich einen ganz bestimmten Sinn verknüpfe; da nur ein solcher sich Andern mit Sicherheit mittheilen läßt, und Vauvenargues ganz Recht hat, zu sagen la clarté est la bonne foi des philosophes. [»Die Klarheit ist der Kreditbrief der Philosophen. «] Wenn ich also sage »Wille, Wille zum Leben«; so ist das kein ens rationis, keine von mir selbst gemachte Hypostase, auch kein Wort von ungewisser, schwankender Bedeutung: sondern wer mich frägt, was es sei, den weise ich an sein eigenes Inneres, wo er es vollständig, ja, in kolossaler Größe vorfindet, als ein wahres ens realissimum (Vernunftgegenstand). Ich habe demnach nicht die Welt aus dem Unbekannten erklärt; vielmehr aus dem Bekanntesten, das es giebt, und welches uns auf eine ganz andere Art bekannt ist, als alles Uebrige. Was endlich das Paradoxe betrifft, welches den asketischen Resultaten meiner Ethik vorgeworfen worden ist, an denen sogar der mich sonst so günstig beurtheilende Jean Paul Anstoß nahm, durch welche auch Herr Rätze (der nicht wußte, daß gegen mich nur die Sekretirungsmethode die anwendbare sei), veranlaßt wurde, im Jahr 1820 ein wohlgemeintes Buch gegen mich zu schreiben, und die seitdem das stehende Thema des Tadels meiner Philosophie geworden sind; so bitte ich zu erwägen, daß Dergleichen nur in diesem nordwestlichen Winkel des alten Kontinents, ja, selbst hier nur in protestantischen Landen paradox heißen kann; hingegen im ganzen weiten Asien, überall wo noch nicht der abscheuliche Islam mit Feuer und Schwerdt die alten tiefsinnigen Religionen der Menschheit verdrängt hat, eher den Vorwurf der Trivialität zu fürchten haben würde. Ich getröste mich demnach, daß meine Ethik, in Beziehung auf den Upanischad der heiligen Veden, wie auch auf die Weltreligion Buddha’s, völlig orthodox ist, ja, selbst mit dem alten, ächten Christenthum nicht im Widerspruch steht. Gegen alle sonstigen Verketzerungen aber bin ich gepanzert und habe dreifaches Erz um die Brust.
S.315ff.
Aus: Arthur Schopenhauer, Kleinere Schriften: Ueber den Willen in der Natur (Hinweisung auf die Ethik) Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Die Absurdität in der Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung
Ein Beispiel und Beleg zu der aus der Verbindung des A. und N. T. entspringenden Quelle des Absurden, liefert uns, unter Anderm, die Christliche, von Augustinus, diesem Leitsterne Luther's, ausgebildete Lehre von der Prädestination [göttliche Vorherbestimmung] und Gnade, der zufolge Einer vor dem Andern die Gnade eben voraus hat, welche sonach auf ein, bei der Geburt erhaltenes und fertig auf die Welt gebrachtes Privilegium, und zwar in der allerwichtigsten Angelegenheit, hinausläuft. Die Anstößigkeit und Absurdität hievon entspringt aber bloß aus der Alttestamentlichen Voraussetzung, daß der Mensch das Werk eines fremden Willens und von diesem aus dem Nichts hervorgerufen sei. Hingegen erhält, - im Hinblick darauf, daß die ächten moralischen Vorzüge wirklich angeboren sind, - die Sache schon eine ganz andere und vernünftigere Bedeutung, unter der Brahmanischen und Buddhaistischen Voraussetzung der Metempsychosis [Seelenwanderung], nach welcher was Einer, bei der Geburt, also aus einer andern Welt, und einem früheren Leben mitbringt und vor den Andern voraushat, nicht ein fremdes Gnadengeschenk, sondern die Früchte seiner eigenen, in jener andern Welt vollbrachten Thaten sind. - An jenes Dogma des Augustinus schließt sich nun aber gar noch dieses, daß aus der verderbten und daher der ewigen Verdammniß anheimgefallenen Masse des Men-schengeschlechts nur höchst Wenige, und zwar in der Folge der Gnadenwahl und Prädestination, gerecht befunden und demnach seelig werden, die Uebrigen aber das verdiente Verder-ben, also ewige Höllenqual trifft. -Sensu proprio genommen wird hier das Dogma empörend. Denn nicht nur läßt es, vermöge seiner ewigen Höllenstrafen, die Fehltritte, oder sogar den Unglauben, eines oft kaum zwanzigjährigen Lebens durch endlose Quaalen büßen; sondern es kommt hinzu, daß diese fast allgemeine Verdammniß eigentlich Wirkung der Erbsünde und also nothwendige Folge des ersten Sündenfalles ist. Diesen nun aber hätte jedenfalls Der vorhersehn müssen, welcher die Menschen nicht besser, als sie sind, geschaffen, dann aber ihnen eine Falle gestellt hatte , in die er wissen mußte, daß sie gehn würden, da Alles miteinander sein Werk war und ihm nichts verborgen bleibt. Endlich kommt noch hinzu, daß der Gott, welcher Nachsicht und Vergebung jeder Schuld, bis zur Feindesliebe, vorschreibt, keine übt. Denn so betrachtet erscheint in der That das ganze Geschlecht als zur ewigen Quaal und Verdammniß geradezu bestimmt und ausdrücklich geschaffen, - bis auf jene wenigen Ausnahmen, welche, durch die Gnadenwahl, gerettet werden. . Diese aber beiseite gesetzt, kommt es heraus, als hätte der liebe Gott die Welt geschaffen, damit der Teufel sie holen solle; wonach er denn viel besser gethan haben würde, es seyn zu lassen. PP II, S.326f.

Daß das Angeborenseyn aller ächten moralischen Eigenschaften, der guten, wie der schlechten, besser zur Metampsychosenlehre der Brahmanisten und Buddhaisten, derzufolge »dem Menschen seine guten und schlechten Thaten aus einer Existenz in die andere, wie sein Schatten, nachfolgen«, als zum Judenthum paßt, welches vielmehr erfordert, daß der Mensch als eine moralische Null auf die Welt komme, um nun, vermöge eines undenkbaren liberi arbbitrii indifferentiae [»freie, nach keiner Seite hin beeinflußte Willensentscheidung«], sonach in Folge vernünftiger Ueberlegung, sich zu entscheiden, ob er ein Engel, oder ein Teufel, oder was sonst etwan zwischen beiden liegt, seyn wolle, - Das weiß ich sehr wohl, kehre mich aber durchaus nicht daran: denn meine Standarte ist die Wahrheit. PP II, S.216f.

Daseins- und Weltzweck
Es ist eine Folge der Beschaffenheit unseres Intellekts, daß wir nicht umhin können, die Welt entweder als ZWECK, oder als MITTEL aufzufassen. Ersteres nun würde besagen, daß ihr Daseyn durch ihr Wesen gerechtfertigt, mithin ihrem Nichtseyn entschieden vorzuziehn wäre. Allein die Erkenntniß, daß sie nur ein Thummelplatz leidender und sterbender Wesen ist, läßt diesen Gedanken nicht bestehn. Nun aber wiederum, sie als MITTEL aufzufassen, läßt die Unendlichkeit der bereits verflossenen Zeit nicht zu, vermöge welcher jeder zu erreichende Zweck schon längst hätte erreicht seyn müssen. — Hieraus folgt, daß jene Anwendung der unserm Intellekt natürlichen Voraussetzung auf das Ganze der Dinge, oder die Welt, eine TRANSSCENDENTE ist, d.h. eine solche, die wohl IN der Welt, aber nicht von der Welt gilt; was daraus erklärlich ist, daß sie aus der Natur eines Intellekts entspringt, welcher, wie ich dargethan habe, zum Dienste eines individuellen WILLENS, d.h. zur Erlangung seiner Gegenstände, entstanden, und daher ausschließlich auf Zwecke und Mittel berechnet ist, mithin gar nichts Anderes kennt und begreift. PP II, S.22f.

In der gegenwärtigen, geistig impotenten und sich durch die Verehrung des Schlechten in jeder Gattung auszeichnenden Periode, — welche sich recht passend mit dem selbstfabricirten, so prätensiösen, wie kakophonischen Worte »Jetztzeit« bezeichnet, als wäre ihr Jetzt das Jetzt im höchsten Sinn, das Jetzt, welches heranzubringen alle andern Jetzt allein dagewesen, — entblöden denn auch die Pantheisten sich nicht, zu sagen, das Leben sei, wie sie es nennen, »Selbstzweck«. — Wenn dieses unser Daseyn der letzte Zweck der Welt wäre; so wäre es der albernste Zweck der je gesetzt worden; möchten nun wir selbst, oder ein Anderer ihn gesetzt haben. –

Das Leben stellt sich zunächst dar als eine Aufgabe, nämlich die, es zu erhalten, de gagner sa vie [»seinen Lebensunterhalt zu verdienen«]. Ist diese gelöst, so ist das Gewonnene eine Last, und es tritt die zweite Aufgabe ein, darüber zu disponiren, um nämlich die Langeweile abzuwehren, die über jedes gesicherte Leben, wie ein lauernder Raubvogel, herfällt. Also ist die erste Aufgabe, etwas zu gewinnen, und die zweite, dasselbe, nachdem es gewonnen ist, unfühlbar zu machen, indem es sonst eine Last ist. —

Daß das menschliche Daseyn eine Art Verirrung seyn müsse, geht zur Genüge aus der einfachen Bemerkung hervor, daß der Mensch ein Konkrement von Bedürfnissen ist, deren schwer zu erlangende Befriedigung ihm doch nichts gewährt, als einen schmerzlosen Zustand, in welchem er nur noch der Langenweile Preis gegeben ist, welche dann geradezu beweist, daß das Daseyn an sich selbst keinen Werth hat: denn sie ist eben nur die Empfindung der Leerheit desselben. Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser Wesen und Daseyn besteht, einen positiven Werth und realen Gehalt in sich selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße Daseyn, an sich selbst, müßte uns erfüllen und befriedigen. Nun aber werden wir unsers Daseyns nicht anders froh, als entweder im Streben, wo die Ferne und die Hindernisse das Ziel als befriedigend uns vorspiegeln, — welche Illusion nach der Erreichung verschwindet; — oder aber in einer rein intellektuellen Beschäftigung, in welcher wir jedoch eigentlich aus dem Leben heraustreten, um es von außen zu betrachten, gleich Zuschauern in den Logen. Sogar der Sinnengenuß selbst besteht in einem fortwährenden Streben und hört auf; sobald sein Ziel erreicht ist. So oft wir nun nicht in einem jener beiden Fälle begriffen, sondern auf das Daseyn selbst zurückgewiesen sind, werden wir von der Gehaltlosigkeit und Nichtigkeit desselben überführt, — und Das ist die Langeweile. — Sogar das uns inwohnende und unvertilgbare, begierige Haschen nach dem Wunderbaren zeigt an, wie gern wir die so langweilige, natürliche Ordnung des Verlaufs der Dinge unterbrochen sähen. — PP II, S.261f.

Hierüber darf man sich keine Illusion machen: das Gesetz der Kausalität kennt keine Ausnahme; sondern Alles, von der Bewegung eines Sonnenstäubchens an, bis zum wohlüberleg-ten Thun des Menschen, ist ihm mir gleicher Strenge unterworfen. Daher konnte nie, im ganzen Verlauf der Welt, weder ein Sonnenstäubchen in seinem Fluge eine andere Linie beschreiben, als die es beschrieben hat, noch ein Mensch irgend anders handeln, als er gehandelt hat: und keine Wahrheit ist gewisser als diese, daß Alles was geschieht, sei es klein oder groß, völlig NOTHWENDIG geschieht. Demzufolge ist, in jedem gegebenen Zeitpunkt, der ge-sammte Zustand aller Dinge fest und genau bestimmt, durch den ihm soeben vorhergegange-nen; und so den Zeitstrom aufwärts, ins Unendliche hinauf, und so ihn abwärts, ins Unendliche herab. Folglich gleicht der Lauf der Welt dem einer Uhr, nachdem sie zusammengesetzt und aufgezogen worden: also ist sie, von diesem unabstreitbaren Gesichtspunkt aus, eine bloße Maschine, deren Zweck man nicht absieht. Auch wenn man, ganz unbefugter Weise, ja, im Grunde, aller Denkbarkeit, mit ihrer Gesetzlichkeit, zum Trotz, einen ersten Anfang annehmen wollte; so wäre dadurch im Wesentlichen nichts geändert. Denn der willkürlich gesetzte erste Zustand der Dinge, bei ihrem Ursprung, hätte den ihm zunächst folgenden, im Großen und bis auf das Kleinste herab, unwiderruflich bestimmt und festgestellt, dieser wieder den folgenden, und so fort, per secula seculorum [»in alle Ewigkeit«]; da die Kette der Kausalität, mit ihrer ausnahmslosen Strenge, — dieses eherne Band der Nothwendigkeit und des Schicksals, — jede Erscheinung unwiderruflich und unabänderlich, so wie sie ist, herbeiführt. Der Unterschied liefe bloß darauf zurück, daß wir, bei der einen Annahme, ein ein Mal aufgezogenes Uhrwerk, bei der andern aber ein perpetuum mobile vor uns hätten, hingegen die Nothwendigkeit des Verlaufs bliebe die selbe. Daß das Thun des Menschen dabei keine Ausnahme machen kann, habe ich in der angezogenen Preisschrift unwiderleglich bewiesen, in-dem ich zeigte, wie es aus zwei Faktoren. seinem Charakter und den eintretenden Motiven, jedesmal streng nothwendig hervorgeht: jener ist angeboren und unveränderlich, diese werden, am Faden der Kausalität, durch den streng bestimmten Weltlauf nothwendig herbeigeführt.

Demnach also erscheint, von einem Gesichtspunkt aus, welchem wir uns, weil er durch die objektiv und a priori gültigen Weltgesetze festgestellt ist, schlechterdings nicht entziehen können, die Welt, mit Allem was darin ist, als ein zweckloses und darum unbegreifliches Spiel einer ewigen Nothwendigkeit, einer unergründlichen und unerbittlichen Anankê (= Notwendigkeit, Zwang). Das Anstößige, ja Empörende dieser unausweichbaren und unwiderleglichen Weltansicht kann nun aber durch keine andere Annahme gründlich gehoben werden, als durch die, daß jedes Wesen auf der Welt, wie es einerseits Erscheinung und durch die Gesetze der Erscheinung nothwendig bestimmt ist, andererseits an sich selbst WILLE sei, und zwar schlechthin FREIER WILLE, da alle Nothwendigkeit allein durch die Formen entsteht, welche gänzlich der Erscheinung angehören, nämlich durch den Satz vom Grunde in seinen verschiedenen Gestalten: einem solchen Willen muß dann aber auch Aseität (absolute Unabhängigkeit, reines Aus-sich-selbst-Bestehen) zukommen, da er, als freier, d.h. als Ding an sich und deshalb dem Satz vom Grunde nicht unterworfener, in seinem Seyn und Wesen so wenig, wie in seinem Thun und Wirken, von einem Andern abhängen kann. Durch diese Annahme allein wird so viel FREIHEIT gesetzt, als nöthig ist, der unabweisbaren strengen NOTHWENDIGKEIT, die den Verlauf der Welt beherrscht, das Gleichgewicht zu halten. Demnach hat man eigentlich nur die Wahl, in der Welt entweder eine bloße, nothwendig ablaufende Maschine zu sehen, oder als das Wesen an sich derselben einen freien Willen zu erkennen, dessen Aeußerung nicht unmittelbar das Wirken, sondern zunächst das SEYN UND WESEN der Dinge ist. Diese Freiheit ist daher eine transscendentale, und besteht mit der empirischen Nothwendigkeit so zusammen, wie die transscendentale Idealität der Erscheinungen mit ihrer empirischen Realität. Daß allein unter Annahme derselben die That eines Menschen, trotz der Nothwendigkeit, mit der sie aus seinem Charakter und den Motiven hervorgeht, doch seine EIGENE ist, habe ich in der Preisschrift über die Willensfreiheit dargethan: eben damit aber ist seinem Wesen ASEITÄT beigelegt. Das selbe Verhältniß nun gilt von allen Dingen der Welt. — Die strengste, redlich, mit starrer Konsequenz durchgeführte NOTHWENDIGKEIT und die vollkommenste, bis zur Allmacht gesteigerte FREIHEIT mußten zugleich und zusammen in die Philosophie eintreten: ohne die Wahrheit zu verletzen konnte dies aber nur dadurch geschehen, daß die ganze NOTHWENDIGKEIT in das WIRKEN UND THUN (Operari), die ganze FREIHEIT hingegen in das SEYN UND WESEN (Esse) verlegt wurde. Dadurch löst sich ein Räthsel, welches nur deshalb so alt ist wie die Welt, weil man bisher es immer gerade umgekehrt gehalten hat und schlechterdings die Freiheit im Operari, die Nothwendigkeit im Esse suchte. Ich hingegen sage: jedes Wesen, ohne Ausnahme, WIRKT mit strenger Nothwendigkeit, dasselbe aber EXISTIRT und ist was es ist, vermöge seiner FREIHEIT. WW II, S.373ff.

Das endlose Streben des grundlosen Willens ist ziellos
In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist. Dies wurde bereits oben, bei Erwähnung der Centrifugalkraft berührt: auch offenbart es sich am einfachsten auf der allerniedrigsten Stufe der Objektität des Willens, nämlich in der Schwere, deren beständiges Streben, bei offenbarer Unmöglichkeit eines letzten Zieles, vor Augen liegt. Denn wäre auch, nach ihrem Willen, alle existirende Materie in einen Klumpen vereinigt; so würde im Innern desselben die Schwere, zum Mittelpunkte strebend, noch immer mit der Undurchdringlichkeit, als Starrheit oder Elasticität, kämpfen. Das Streben der Materie kann daher stets nur gehemmt, nie und nimmer erfüllt oder befriedigt werden. So aber gerade verhält es sich mit allem Streben aller Erscheinungen des Willens. Jedes erreichte Ziel ist wieder Anfang einer neuen Laufbahn, und so ins Unendliche. Die Pflanze erhöht ihre Erscheinung vom Keim durch Stamm und Blatt zur Blüthe und Frucht, welche wieder nur der Anfang eines neuen Keimes ist, eines neuen Individuums, das abermals die alte Bahn durchläuft, und so durch unendliche Zeit. Ebenso ist der Lebenslauf des Thieres: die Zeugung ist der Gipfel desselben, nach dessen Erreichung das Leben des ersten Individuums schnell oder langsam sinkt, während ein neues der Natur die Erhaltung der Species verbürgt und die selbe Erscheinung wiederholt.

Ja, als die bloße Erscheinung dieses beständigen Dranges und Wechsels ist auch die stete Erneuerung der Materie jedes Organismus anzusehen, welche die Physiologen jetzt aufhören für nothwendigen Ersatz des bei der Bewegung verbrauchten Stoffes zu halten, da die mögliche Abnutzung der Maschine durchaus kein Aequivalent seyn kann für den beständigen Zufluß durch die Ernährung: ewiges Werden, endloser Fluß, gehört zur Offenbarung des Wesens des Willens. Das Selbe zeigt sich endlich auch in den menschlichen Bestrebungen und Wünschen, welche ihre Erfüllung immer als letztes Ziel des Wollens uns vorgaukeln; sobald sie aber erreicht sind, sich nicht mehr ähnlich sehen und daher bald vergessen, antiquirt und eigentlich immer, wenn gleich nicht eingeständlich, als verschwundene Täuschungen bei Seite gelegt werden; glücklich genug, wenn noch etwas zu wünschen und zu streben übrig blieb, damit das Spiel des steten Ueberganges vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, dessen rascher Gang Glück, der langsame Leiden heißt, unterhalten werde, und nicht in jenes Stocken gerathe, das sich als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertödtender languor zeigt. — Diesem allen zufolge, weiß der Wille, wo ihn Erkenntniß beleuchtet, stets was er jetzt, was er hier will; nie aber was er überhaupt will: jeder einzelne Akt hat einen Zweck; das gesammte Wollen keinen: eben wie jede einzelne Naturerscheinung zu ihrem Eintritt an diesem Ort, zu dieser Zeit, durch eine zureichende Ursache bestimmt wird, nicht aber die in ihr sich manifestirende Kraft überhaupt eine Ursache hat, da solche Erscheinungsstufe des Dinges an sich, des grundlosen Willens ist. — Die einzige Selbsterkenntniß des Willens im Ganzen aber ist die Vorstellung im Ganzen, die gesammte anschauliche Welt. Sie ist seine Objektität, seine Offenbarung, sein Spiegel.
WW I S.230f.

Unser Grundirrtum ist, dass wir einander gegenseitig Nicht-Ich sind

— Die Natur selbst widerspricht sich geradezu, je nachdem sie vom Einzelnen oder vom Allgemeinen aus, von Innen oder von Außen, vom Centro oder von der Peripherie aus redet. Ihr Centrum nämlich hat sie in jedem Individuo: denn jedes ist der ganze Wille zum Leben. Daher, sei dasselbe auch nur ein Insekt, oder ein Wurm, die Natur selbst aus ihm also redet: »Ich allein bin Alles in Allem: an meiner Erhaltung ist Alles gelegen, das Uebrige mag zu Grunde gehen, es ist eigentlich nichts.« So redet die Natur vom BESONDREN Standpunkte, also von dem des Selbstbewußtseyns aus, und hierauf beruht der EGOISMUS jedes Lebenden. Hingegen vom ALLGEMEINEN Standpunkt aus, — welches der des BEWUSSTSEYNS von ANDERN DINGEN, also der des objektiven Erkennens ist, das für den Augenblick absieht von dem Individuo, an dem die Erkenntniß haftet, — also von Außen, von der Peripherie aus, redet die Natur so: »Das Individuum ist nichts und weniger als nichts. Millionen Individuen zerstöre ich tagtäglich, zum Spiel und Zeitvertreib: ich gebe ihr Geschick dem launigsten und muthwilligsten meiner Kinder preis, dem Zufall, der nach Belieben auf sie Jagd macht. Millionen neuer Individuen schaffe ich jeden Tag, ohne alle Verminderung meiner hervorbringenden Kraft; so wenig, wie die Kraft eines Spiegels erschöpft wird, durch die Zahl der Sonnenbilder, die er nach einander auf die Wand wirft. Das Individuum ist nichts.« — Nur wer diesen offenbaren Widerspruch der Natur wirklich zu vereinen und auszugleichen weiß, hat eine wahre Antwort auf die Frage nach der Vergänglichkeit oder Unvergänglichkeit seines eigenen Selbst. Ich glaube in den ersten vier Kapiteln dieses vierten Buches der Ergänzungen eine Förderliche Anleitung zu solcher Erkenntniß gegeben zu haben. Das Obige läßt übrigens sich auch folgendermaaßen erläutern. Jedes Individuum, indem es nach Innen blickt, erkennt in seinem Wesen, welches sein Wille ist, das Ding an sich, daher das überall allein Reale. Demnach erfaßt es sich als den Kern und Mittelpunkt der Welt, und findet sich unendlich wichtig. Blickt es hingegen nach Außen; so ist es auf dem Gebiete der Vorstellung, der bloßen Erscheinung, wo es sich sieht als ein Individuum unter unendlich vielen Individuen, sonach als ein höchst Unbedeutendes, ja gänzlich Verschwindendes. Folglich ist jedes, auch das unbedeutendeste Individuum, jedes Ich, von Innen gesehen, Alles in Allem; von Außen gesehen hingegen, ist es nichts, oder doch so viel wie nichts. Hierauf also beruht der große Unterschied zwischen Dem, was nothwendig Jeder in seinen eigenen Augen, und Dem, was er in den Augen aller Andern ist, mithin der EGOISMUS, den Jeder Jedem vorwirft. —

In Folge dieses Egoismus ist unser Aller Grundirrthum dieser, daß wir einander gegenseitig Nicht-Ich sind.
Hingegen ist gerecht, edel, menschenfreundlich seyn, nichts Anderes, als meine Metaphysik in Handlungen übersetzen. — Sagen, daß Zeit und Raum bloße Formen unserer Erkenntniß, nicht Bestimmungen der Dinge an sich sind, ist das Selbe, wie sagen, daß die Metempsychosenlehre, »Du wirst einst als Der, den du jetzt verletzest, wiedergeboren werden und die gleiche Verletzung erleiden«, identisch ist mit der oft erwähnten Brahmanenformel Tat twam asi, »Dies bist Du«. — Aus der unmittelbaren und INTUITIVEN Erkenntniß der metaphysischen Identität aller Wesen geht, wie ich öfter, besonders §. 22 der Preisschrift über die Grundl. der Moral, gezeigt habe, alle ächte Tugend hervor. Sie ist aber deswegen nicht die Folge einer besondern Ueberlegenheit des Intellekts; vielmehr ist selbst der schwächste hinreichend, das principium individuationis (»das Prinzip der Individuation, d.h. der Existenzgrund der Einzelwesen«) zu durchschauen, als worauf es dabei ankommt. Demgemäß kann man den vortrefflichsten Charakter sogar bei einem schwachen Verstande finden, und ist ferner die Erregung unsers Mitleids von keiner Anstrengung unsers Intellekts begleitet. Es scheint vielmehr, daß die erforderte Durchschauung des principii individuationis in Jedem vorhanden seyn würde, wenn nicht sein WILLE sich ihr widersetzte, als welcher, vermöge seines unmittelbaren, geheimen und despotischen Einflusses auf den Intellekt, sie meistens nicht aufkommen läßt; so daß alle Schuld zuletzt doch auf den WILLEN zurückfällt; wie es auch der Sache angemessen ist.

Die oben berührte Lehre von der Metempsychose entfernt sich bloß dadurch von der Wahrheit, daß sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist. Sie läßt nämlich mein inneres Wesen an sich selbst erst nach meinem Tode in Andern daseyn, während, der Wahrheit nach, es schon jetzt auch in ihnen lebt, und der Tod bloß die Täuschung, vermöge deren ich dessen nicht inne werde, aufhebt; gleichwie das zahllose Heer der Sterne allezeit über unserm Haupte leuchtet, aber uns erst sichtbar wird, wann die EINE nahe Erdensonne untergegangen ist. Von diesem Standpunkt aus erscheint meine individuelle Existenz, so sehr sie auch, jener Sonne gleich, mir Alles überstrahlt, im Grunde doch nur als ein Hinderniß, welches zwischen mir und der Erkenntniß des wahren Umfangs meines Wesens steht. Und weil jedes Individuum, in seiner Erkenntniß, diesem Hindernisse unterliegt; so ist es eben die Individuation, welche den Willen zum Leben über sein eigenes Wesen im Irrthum erhält: sie ist die MAJA des Brahmanismus. Der Tod ist eine Widerlegung dieses Irrthums und hebt ihn auf Ich glaube, wir werden im Augenblicke des Sterbens inne, daß eine bloße Täuschung unser Daseyn auf unsere Person beschränkt hatte. WW II, S.697ff.

Die ewige Gerechtigkeit
§. 63. Wir haben die ZEITLICHE GERECHTIGKEIT, welche im Staat ihren Sitz hat, kennen gelernt, als vergeltend oder strafend, und gesehen, daß eine solche allein durch die Rücksicht auf die ZUKUNFT zur Gerechtigkeit wird; da ohne solche Rücksicht alles Strafen und Vergelten eines Frevels ohne Rechtfertigung bliebe, ja, ein bloßes Hinzufügen eines zweiten Uebels zum Geschehenen wäre, ohne Sinn und Bedeutung. Ganz anders aber ist es mit der EWIGEN GERECHTIGKEIT, welche schon früher erwähnt wurde, und welche nicht den Staat, sondern die Welt beherrscht, nicht von menschlichen Einrichtungen abhängig, nicht dem Zufall und der Täuschung unterworfen, nicht unsicher, schwankend und irrend, sondern unfehlbar, fest und sicher ist. —

Der Begriff der Vergeltung schließt schon die Zeit in sich: daher kann die EWIGE GERECHTIGKEIT keine vergeltende seyn, kann also nicht, wie diese, Aufschub und Frist gestatten und, nur mittelst der Zeit die schlimme That mit der schlimmen Folge ausgleichend, der Zeit bedürfen um zu bestehen. Die Strafe muß hier mit dem Vergehen so verbunden seyn, daß beide Eines sind.

Volare pennis scelera ad aetherias domus
Putatis, illic in Jovis tabularia
Scripto referri; tum Jovem lectis super
Sententiam proferre? — sed mortalium
Facinora coeli, quantaquanta est, regia
Nequit tenere: nec legendis Juppiter
Et puniendis par est. Est tamen ultio,
Et, si intuemur, ulla nos habitat prope.

»Glaubt ihr, daß die Verbrechen zu den Göttern sich
Auf Flügeln schwingen, und daß weiter jemand sie
Dort in des Zeus Schreibtafel aufzuzeichnen hat,
Und Zeus auf sie hinblickend Recht den Menschen spricht?
Auch nicht der ganze Himmel wäre groß genug,
Der Menschen Sünden, wenn sie Zeus dort schriebe auf,
Zu fassen, noch auch er, zu überschauen sie
Und jedem seine Strafe zuzuteilen. Nein!
Die Strafe ist schon hier, wenn ihr nur sehen wollt.»

(Euripides, bei Stobaios, Eclogae, I,c.4, 14)

Daß nun eine solche ewige Gerechtigkeit wirklich im Wesen der Welt liege, wird aus unserm ganzen bisher entwickelten Gedanken Dem, der diesen gefaßt hat, bald vollkommen einleuchtend werden.

Die Erscheinung, die Objektität des einen Willens zum Leben ist die Welt, in aller Vielheit ihrer Theile und Gestalten. Das Daseyn selbst und die Art des Daseyns, in der Gesammtheit, wie in jedem Theil, ist allein aus dem Willen. Er ist frei, er ist allmächtig. In jedem Dinge erscheint der Wille gerade so, wie er sich selbst an sich und außer der Zeit bestimmt. Die Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens: und alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Quaalen, welche sie enthält, gehören zum Ausdruck dessen, was er will, sind so, weil er so will. Mit dem strengsten Rechte trägt sonach jedes Wesen das Daseyn überhaupt, sodann das Daseyn seiner Art und seiner eigenthümlichen Individualität, ganz wie sie ist und unter Umgebungen wie sie sind, in einer Welt so wie sie ist, vom Zufall und vom Irrthum beherrscht, zeitlich, vergänglich, stets leidend: und in allem was ihm widerfährt, ja nur widerfahren kann, geschieht ihm immer Recht. Denn sein ist der Wille: und wie der Wille ist, so ist die Welt. Die Verantwortlichkeit für das Daseyn und die Beschaffenheit dieser Welt kann nur sie selbst tragen, kein Anderer; denn wie hätte er sie auf sich nehmen mögen? -

Will man wissen, was die Menschen, moralisch betrachtet, im Ganzen und Allgemeinen werth sind; so betrachte man ihr Schicksal, im Ganzen und Allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Quaal und Tod. Die ewige Gerechtigkeit waltet: wären sie nicht, im Ganzen genommen, nichtswürdig; so würde ihr Schicksal, im Ganzen genommen, nicht so traurig seyn. In diesem Sinne können wir sagen: die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer der Welt in EINE Waagschale legen, und alle Schuld der Welt in die andere; so würde gewiß die Zunge einstehen.

Freilich aber stellt sich der Erkenntniß, so wie sie, dem Willen zu seinem Dienst entsprossen, dem lndividuo als solchem wird, die Welt nicht so dar, wie sie dem Forscher zuletzt sich enthüllt, als die Objektität des einen und alleinigen Willens zum Leben, der er selbst ist; sondern den Blick des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio indviduationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntniß sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt. Da erscheint ihm die Wollust als Eines, und die Quaal als ein ganz Anderes, dieser Mensch als Peiniger und Mörder,jener als Dulder und Opfer, das Böse als Eines und das Uebel als ein Anderes. Er sieht den Einen in Freuden, Ueberfluß und Wollüsten leben, und zugleich vor dessen Thüre den Andern durch Mangel und Kälte quaalvoll sterben. Dann frägt er: wo bleibt die Vergeltung? Und er selbst, im heftigen Willensdrange, der sein Ursprung und sein Wesen ist, ergreift die Wollüste und Genüsse des Lebens, hält sie umklammert fest, und weiß nicht, daß er durch eben diesen Akt seines Willens, alle die Schmerzen und Quaalen des Lebens, vor deren Anblick er schaudert, ergreift und fest an sich drückt. Er sieht das Uebel, er sieht das Böse in der Welt: aber weit entfernt zu erkennen, daß beide nur verschiedene Seiten der Erscheinung des einen Willens zum Leben sind, hält er sie für sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt, und sucht oft durch das Böse, d.h. durch Verursachung des fremden Leidens, dem Uebel, dem Leiden des eigenen Individuums, zu entgehen, befangen im principio individuationis, getäuscht durch den Schleier der Maja. —

Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung. Die unbegränzte Welt, voll Leiden überall, in unendlicher Vergangenheit, in unendlicher Zukunft, ist ihm fremd, ja ist ihm ein Mährchen: seine verschwindende Person, seine ausdehnungslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn: und dies zu erhalten, thut er Alles, solange nicht eine bessere Erkenntniß ihm die Augen öffnet. Bis dahin lebt bloß in der innersten Tiefe seines Bewußtseyns die ganz dunkle Ahndung, daß ihm jenes Alles doch wohl eigentlich so fremd nicht ist, sondern einen Zusammenhang mit ihm hat, vor welchem das principium individuationis ihn nicht schützen kann. Aus dieser Ahndung stammt jenes so unvertilgbare und allen Menschen (ja vielleicht selbst den klügeren Thieren) gemeinsame GRAUSEN, das sie plötzlich ergreift, wenn sie, durch irgend einen Zufall, irre werden am principio individuationis, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint: z.B. wenn es scheint, daß irgend eine Veränderung ohne Ursache vor sich gienge, oder ein Gestorbener wieder da wäre, oder sonst irgendwie das Vergangene oder das Zukünftige gegenwärtig, oder das Ferne nah wäre. Das ungeheure Entsetzen über so etwas gründet sich darauf, daß sie plötzlich irre werden an den Erkenntnißformen der Erscheinung, welche allein ihr eigenes Individuum von der übrigen Welt gesondert halten. Diese Sonderung aber eben liegt nur in der Erscheinung und nicht im Dinge an sich: eben darauf beruht die ewige Gerechtigkeit. —

In der That steht alles zeitliche Glück und wandelt alle Klugheit — auf untergrabenem Boden. Sie schützen die Person vor Unfällen und verschaffen ihr Genüsse; aber die Person ist bloße Erscheinung, und ihre Verschiedenheit von anderen Individuen und das Freiseyn von den Leiden, welche diese tragen, beruht auf der Form der Erscheinung, dem principio individuationis. Dem wahren Wesen der Dinge nach hat Jeder alle Leiden der Welt als die seinigen, ja alle nur möglichen als Für ihn wirklich zu betrachten, solange er der feste Wille zum Leben ist, d.h. mit aller Kraft das Leben bejaht. Für die das principium individuationis durchschauende Erkenntniß ist ein glückliches Leben in der Zeit, vom Zufall geschenkt, oder ihm durch Klugheit abgewonnen, mitten unter den Leiden unzähliger Anderen, — doch nur der Traum eines Bettlers, in welchem er ein König ist, aber aus dem er erwachen muß, um zu erfahren, daß nur eine flüchtige Täuschung ihn von dem Leiden seines Lebens getrennt hatte.

Dem in der Erkenntniß, welche dem Satz vom Grunde folgt, in dem principio individuationis, befangenen Blick entzieht sich die ewige Gerechtigkeit: er vermißt sie ganz, wenn er nicht etwan sie durch Fiktionen rettet. Er sieht den Bösen, nach Unthaten und Grausamkeiten aller Art, in Freuden leben und unangefochten aus der Welt gehen. Er sieht den Unterdrückten ein Leben voll Leiden bis an‘s Ende schleppen, ohne daß sich ein Rächer, ein Vergelter zeigte. Aber die ewige Gerechtigkeit wird nur Der begreifen und fassen, der über jene am Leitfaden des Satzes vom Grunde fortschreitende und an die einzelnen Dinge gebundene Erkenntniß sich erhebt, die Ideen erkennt, das principium individuationis durchschaut, und inne wird, daß dem Dinge an sich die Formen der Erscheinung nicht zukommen. Dieser ist es auch allein, der, möge der selben Erkenntniß, das wahre Wesen der Tugend, wie es im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Betrachtung sich uns bald aufschließen wird, verstehen kann; wiewohl zur Ausübung derselben diese Erkenntniß in abstracto keineswegs erfordert wird.

Wer also bis zu der besagten Erkenntniß gelangt ist, dem wird es deutlich, daß, weil der Wille das Ansich aller Erscheinung ist, die über Andere verhängte und die selbsterfahrene Quaal, das Böse und das Uebel, immer nur jenes eine und selbe Wesen treffen; wenn gleich die Erscheinungen, in welchen das Eine und das Andere sich darstellt, als ganz verschiedene Individuen dastehen und sogar durch ferne Zeiten und Räume getrennt sind. Er sieht ein, daß die Verschiedenheit zwischen Dem, der das Leiden verhängt, und Dem, welcher es dulden muß, nur Phänomen ist und nicht das Ding an sich trifft, welches der in beiden lebende Wille ist, der hier, durch die an seinen Dienst gebundene Erkenntniß getäuscht, sich selbst verkennt, in EINER seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlseyn suchend, in der ANDERN großes Leiden hervorbringt und so, im heftigen Drange, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt, nicht wissend, daß er immer nur sich selbst verletzt, dergestalt, durch das Medium der Individuation, den Widerstreit mit sich selbst offenbarend, welchen er in seinem Innern trägt. Der Quäler und der Gequälte sind Eines. Jener irrt, indem er sich der Quaal, dieser, indem er sich der Schuld nicht theilhaft glaubt.

Giengen ihnen Beiden die Augen auf, so würde der das Leid verhängt erkennen, daß er in Allem lebt, was auf der weiten Welt Quaal leidet und, wenn mit Vernunft begabt, vergeblich nachsinnt, warum es zu so großem Leiden, dessen Verschuldung es nicht einsieht, ins Daseyn gerufen ward: und der Gequälte würde einsehen, daß alles Böse, das auf der Welt verübt wird, oder je ward, aus jenem Willen fließt, der auch SEIN Wesen ausmacht, auch in IHM erscheint und er durch diese Erscheinung und ihre Bejahung alle Leiden auf sich genommen hat, die aus solchem Willen hervorgehen, und sie mit Recht erduldet, so lange er dieser Wille ist. — Aus dieser Erkenntniß spricht der ahndungsvolle Dichter Calderon im »Leben ein Traum«:

Pues el delito mayor
Del hombre es haber nacido.

(Denn die größte Schuld des Menschen
Ist, daß er geboren ward.)

Wie sollte es nicht eine Schuld seyn, da nach einem ewigen Gesetze der Tod darauf steht? Calderon hat auch nur das Christliche Dogma von der Erbsünde durch jenen Vers ausgesprochen.

Die lebendige Erkenntniß der ewigen Gerechtigkeit, des Waagebalkens, der das malum culpae (»Übel der Schuld«) mit dem malo poenae (»Übel der Strafe«) unzertrennlich verbindet, erfordert gänzliche Erhebung über die Individualität und das Princip ihrer Möglichkeit: sie wird daher, wie auch die ihr verwandte und sogleich zu erörternde reine und deutliche Erkenntniß des Wesens aller Tugend, der Mehrzahl der Menschen stets unzugänglich bleiben.

Daher haben die weisen Urväter des Indischen Volkes sie zwar in den, den drei wiedergeborenen Kasten allein erlaubten Veden, oder in der esoterischen Weisheitslehre, direkt, so weit nämlich Begriff und Sprache es fassen und ihre immer noch bildliche, auch rhapsodische Darstellungsweise es zuläßt, ausgesprochen; aber in der Volksreligion, oder exoterischen Lehre, nur mythisch mitgetheilt. Die direkte Darstellung finden wir in den Veden, der Frucht der höchsten menschlichen Erkenntniß und Weisheit, deren Kern in den Upanischaden uns, als das größte Geschenk dieses Jahrhunderts, endlich zugekommen ist, auf mancherlei Weise ausgedrückt, besonders aber dadurch, daß vor den Blick des Lehrlings alle Wesen der Welt, lebende und leblose, der Reihe nach vorübergeführt werden und über jedes desselben jenes zur Formel gewordene und als solche die Mahavakya genannte Wort ausgesprochen wird: Tatoumes, richtiger tat twam asi, welches heißt: »dies bist du«. —

Dem Volke aber wurde jene große Wahrheit, so weit es, in seiner Beschränktheit, sie fassen konnte, in die Erkenntnißweise, welche dem Satz vom Grunde folgt, übersetzt, die zwar, ihrem Wesen nach, jene Wahrheit rein und an sich durchaus nicht aufnehmen kann, sogar im geraden Widerspruch mit ihr steht, allein in der Form des Mythos ein Surrogat derselben empfing, welches als Regulativ für das Handeln hinreichend war, indem es die ethische Bedeutung desselben, in der dieser selbst ewig fremden Erkenntnißweise gemäß dem Satz vom Grunde, doch durch bildliche Darstellung faßlich macht; welches der Zweck aller Glaubenslehren ist, indem sie sämmtlich mythische Einkleidungen der dem rohen Menschensinn unzugänglichen Wahrheit sind. Auch könnte in diesem Sinne jener Mythos, in Kants Sprache, ein Postulat der praktischen Vernunft genannt werden: als ein solches betrachtet aber hat er den großen Vorzug, gar keine Elemente zu enthalten, als die im Reiche der Wirklichkeit vor unseren Augen liegen, und daher alle seine Begriffe mit Anschauungen belegen zu können.

Das hier Gemeinte ist der Mythos von der Seelenwanderung. Er lehrt, daß alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen verhängt, in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau durch die selben Leiden wieder abgebüßt werden müssen; welches so weit geht, daß wer nur ein Thier tödtet, einst in der unendlichen Zeit auch als eben ein solches Thier geboren werden und den selben Tod erleiden wird. Er lehrt, daß böser Wandel ein künftiges Leben, auf dieser Welt, in leidenden und verachteten Wesen nach sich zieht, daß man demgemäß sodann wieder geboren wird in niedrigeren Kasten, oder als Weib, oder als Thier, als Paria oder Tschandala, als Aussätziger, als Krokodil u. s. w.

Alle Quaalen, die der Mythos droht, belegt er mit Anschauungen aus der wirklichen Welt, durch leidende Wesen, welche auch nicht wissen, wie sie ihre Quaal verschuldet haben, und er braucht keine andere Hölle zu Hülfe zu nehmen. Als Belohnung aber verheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren, edleren Gestalten, als Bramane, als Weiser, als Heiliger. Die höchste Belohnung, welche der edelsten Thaten und der völligen Resignation wartet, welche auch dem Weibe wird, das in sieben Leben hinter einander freiwillig auf dem Scheiterhaufen des Gatten starb, nicht weniger auch dem Menschen, dessen reiner Mund nie eine einzige Lüge gesprochen hat, diese Belohnung kann der Mythos in der Sprache dieser Welt nur negativ ausdrücken, durch die so oft vorkommende Verheißung, gar nicht mehr wiedergeboren zu werden: non adsumes herum existentiam apparentem: oder wie die Buddhaisten, welche weder Veda noch Kasten gelten lassen, es ausdrücken: »Du sollst Nirwana erlangen, d. i. einen Zustand, in welchem es vier Dinge nicht; giebt: Geburt, Alter, Krankheit und Tod.«

Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen, philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralte Lehre des edelsten und ältesten Volkes, bei welchem sie, so entartet es auch jetzt in vielen Stücken ist, doch noch als allgemeiner Volksglaube herrscht und auf das Leben entschiedenen Einfluß hat, heute so gut, wie vor vier Jahrtausenden. Jenes non plus ultra mythischer Darstellung haben daher schon Pythagoras und Platon mit Bewunderung aufgefaßt, von Indien, oder Aegypten, herübergenommen, verehrt, angewandt und, wir wissen nicht wie weit, selbst geglaubt. —

Wir hingegen schicken nunmehr den Bramanen Englische clergymen (»Geistliche«) und Herrnhuterische Leinweber, um sie aus Mitleid eines bessern zu belehren und ihnen zu bedeuten, daß sie aus Nichts gemacht sind und sich dankbarlich darüber freuen sollen. Aber uns widerfährt was Dem, der eine Kugel gegen einen Felsen abschießt. In Indien fassen unsere Religionen nie und nimmermehr Wurzel: die Urweisheit des Menschengeschlechts wird nicht von den Begebenheiten in Galiläa verdrängt werden. Hingegen strömt Indische Weisheit nach Europa zurück und wird eine Grundveränderung in unserm Wissen und Denken hervorbringen.

§ 64. Aber von unserer nicht mythischen, sondern philosophischen Darstellung der ewigen Gerechtigkeit wollen wir jetzt zu den dieser verwandten Betrachtungen der ethischen Bedeutsamkeit des Handelns und des Gewissens, welches die bloß gefühlte Erkenntniß jener ist, fortschreiten. — Nur will ich, an dieser Stelle, zuvor noch auf zwei Eigenthümlichkeiten der menschlichen Natur aufmerk­sam machen, welche beitragen können zu verdeutlichen, wie einem jeden das Wesen jener ewigen Gerechtigkeit und die Einheit und Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen, worauf jene beruht, wenigstens als dunkles Gefühl bewußt ist.

Ganz unabhängig von dem nachgewiesenen Zwecke des Staates bei der Strafe, der das Strafrecht begründet, gewährt es, nachdem eine böse That geschehen, nicht nur dem Gekränkten, den meistens Rachsucht beseelt, sondern auch dem ganz antheilslosen Zuschauer Befriedigung, zu sehen, daß Der, welcher einem Andern einen Schmerz verursachte, gerade dasselbe Maaß des Schmerzes wieder erleide. Mir scheint sich hierin nichts Anderes als eben das Bewußtseyn jener ewigen Gerechtigkeit auszusprechen, welches aber von dem ungeläuterten Sinn sogleich mißverstanden und verfälscht wird, indem er, im principio individuationis befangen, eine Amphibolie der Begriffe begeht und von der Erscheinung Das verlangt, was nur dem Dinge an sich zukommt, nicht einsieht, inwiefern an sich der Beleidiger und der Beleidigte Eines sind und dasselbe Wesen es ist, was, in seiner eigenen Erscheinung sich selbst nicht wiederkennend, sowohl die Quaal als die Schuld trägt; sondern vielmehr verlangt, am nämlichen Individuo, dessen die Schuld ist, auch die Quaal wiederzusehen. —

Daher möchten die Meisten auch fordern, daß ein Mensch, der einen sehr hohen Grad von Bosheit hat, welcher jedoch sich wohl in Vielen, nur nicht mit anderen Eigenschaften wie in ihm gepaart, finden möchte, der nämlich dabei durch ungewöhnliche Geisteskraft Anderen weit überlegen wäre und welcher demzufolge nun unsägliche Leiden über Millionen Andere verhienge, z. B. als Welteroberer, — sie würden fordern, sage ich, daß ein solcher alle jene Leiden irgendwann und irgendwo durch ein gleiches Maaß von Schmerzen abbüßte; weil sie nicht erkennen, wie an sich der Quäler und die Gequälten Eines sind und der selbe Wille, durch welchen diese da sind und leben, es eben auch ist, der in jenem erscheint und gerade durch ihn zur deutlichsten Offenbarung seines Wesens gelangt, und der ebenfalls, wie in den Unterdrückten, so auch im Ueberwältiger leidet, und zwar in diesem in dem Maaße mehr, als das Bewußtseyn höhere Klarheit und Deutlichkeit und der Wille größere Vehemenz hat. —

Daß aber die tiefere, im principio individuationis nicht mehr befangene Erkenntniß, aus welcher alle Tugend und Edelmuth hervorgehen, jene Vergeltung fordernde Gesinnung nicht mehr hegt, bezeugt schon die Christliche Ethik, welche alle Vergeltung des Bösen mit Bösem schlechthin untersagt und die ewige Gerechtigkeit als in dem von der Erscheinung verschiedenen Gebiet des Dinges an sich walten läßt. (»Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der Herr.« Röm. 52, 19.)

Ein viel auffallenderer, aber auch viel seltenerer Zug in der menschlichen Natur, welcher jenes Verlangen, die ewige Gerechtigkeit in das Gebiet der Erfahrung, d. i. der Individuation, zu ziehen, ausspricht, und dabei zugleich ein gefühltes Bewußtseyn andeutet, daß, wie ich es oben ausdrückte, der Wille zum Leben das große Trauer- und Lustspiel auf eigene Kosten aufführt, und daß der selbe und eine Wille in allen Erscheinungen lebt, ein solcher Zug, sage ich, ist folgender. Wir sehen bisweilen einen Menschen über ein großes Unbild, das er erfahren, ja vielleicht nur als Zeuge erlebt hat, so tief empört werden, daß er sein eigenes Leben, mit Ueberlegung und ohne Rettung, daran setzt, um Rache an dem Ausüber jenes Frevels zu nehmen. Wir sehen ihn etwan einen mächtigen Unterdrücker Jahre lang aufsuchen, endlich ihn morden und dann selbst auf dem Schaffot sterben, wie er vorhergesehen, ja oft gar nicht zu vermeiden suchte, indem sein Leben nur noch als Mittel zur Rache Werth für ihn behalten hatte. —

Besonders unter den Spaniern finden sich solche Beispiele. Wenn wir nun den Geist jener Vergeltungssucht genau betrachten, so finden wir sie sehr verschieden von der gemeinen Rache, die das erlittene Leid durch den Anblick des verursachten mildem will: ja, wir finden, daß was sie bezweckt nicht sowohl Rache als Strafe genannt zu werden verdient: denn in ihr liegt eigentlich die Absicht einer Wirkung auf die Zukunft, durch das Beispiel, und zwar hier ohne allen eigennützigen Zweck, weder für das rächende Individuum, denn es geht dabei unter, noch für eine Gesellschaft, die durch Gesetze sich Sicherheit schafft: denn jene Strafe wird vom Einzelnen, nicht vom Staat, noch zur Erfüllung eines Gesetzes vollzogen, vielmehr trifft sie immer eine That, die der Staat nicht strafen wollte oder konnte und deren Strafe er mißbilligt.

Mir scheint es, daß der Unwille, welcher einen solchen Menschen so weit über die Gränzen aller Selbstliebe hinaus treibt, aus dem tiefsten Bewußtseyn entspringt, daß er der ganze Wille zum Leben, der in allen Wesen, durch alle Zeiten erscheint, selbst ist, dem daher die fernste Zukunft wie die Gegenwart auf gleiche Weise angehört und nicht gleichgültig seyn kann: diesen Willen bejahend, verlangt er jedoch, daß in dem Schauspiel, welches sein Wesen darstellt, kein so ungeheures Unbild je wieder erscheine, und will, durch das Beispiel einer Rache, gegen welche es keine Wehrmauer giebt, da Todesfurcht den Rächer nicht abschreckt, jeden künftigen Frevler schrecken. Der Wille zum Leben, obwohl sich noch bejahend, hängt hier nicht mehr an der einzelnen Erscheinung, dem Individuo, sondern umfaßt die Idee des Menschen und will ihre Erscheinung rein erhalten von solchem ungeheuern, empörenden Unbild. Es ist ein seltener, bedeutungsvoller, ja erhabener Charakterzug, durch welchen der Einzelne sich opfert, indem er sich zum Arm der ewigen Gerechtigkeit zu machen strebt, deren eigentliches Wesen er noch verkennt. WW I, S.454ff.

Ablehnung des Pantheismus aus ethisch-moralischen Gründen

Meine Philosophie ist aber die einzige, welche der Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen läßt: denn nur wenn das Wesen des Menschen sein eigener WILLE, mithin er, im strengsten Sinne, sein eigenes Werk ist, sind seine Thaten wirklich ganz sein und ihm zuzurechnen. Sobald er hingegen einen andern Ursprung hat, oder das Werk eines von ihm verschiedenen Wesens ist, fällt alle seine Schuld zurück auf diesen Ursprung, oder Urheber. Denn operari sequitur esse.

Die Kraft, welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben bestimmt, in Verbindung zu setzen mit der Moralität der Gesinnung, und dadurch eine MORALISCHE Weltordnung als Grundlage der PHYSISCHEN nachzuweisen, — dies ist seit SOKRATES das Problem der Philosophie gewesen. Der THEISMUS leistete es auf eine kindliche Weise, welche der herangereiften Menschheit nicht genügen konnte. Daher stellte sich ihm der PANTHEISMUS, sobald er irgend es wagen durfte, entgegen, und wies nach, daß die Natur die Kraft, vermöge welcher sie hervortritt, in sich selbst trägt. Dabei mußte nun aber die ETHIK verloren gehen. SPINOZA versucht zwar, stellenweise, sie durch Sophismen zu retten, meistens aber gießt er sie geradezu auf und erklärt, mit einer Dreistigkeit, die Erstaunen und Unwillen hervorruft, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht, und überhaupt zwischen Gutem und Bösem, für bloß konventionell, also an sich selbst nichtig (z.B. Eth., IV, prop.37, schol.2). Ueberhaupt ist Spinoza, nachdem ihn, über hundert Jahre hindurch, unverdiente Geringschätzung getroffen hatte, durch die Reaktion im Pendelschwung der Meinung, in diesem Jahrhundert wieder überschätzt worden. —

Aller Pantheismus nämlich muß an den unabweisbaren Forderungen der Ethik, und nächst dem am Uebel und dem Leiden der Welt, zuletzt scheitern. Ist die Welt eine Theophanie; so ist Alles, was der Mensch, ja, auch das Thier thut, gleich göttlich und vortrefflich: nichts kann zu radeln und nichts vor dem Andern zu loben seyn: also keine Ethik. Daher eben ist man in Folge des erneuerten Spinozismus unserer Tage, also des Pantheismus, in der Ethik so tief herabgesunken und so platt geworden, daß man aus ihr eine bloße Anleitung zu einem gehörigen Staats- und Familienleben machte, als in welchem, also im methodischen, vollendeten, genießenden und behaglichen Philisterthum, der letzte Zweck des menschlichen Daseyns bestehen sollte. Zu dergleichen Plattheiten hat der Pantheismus freilich erst dadurch geführt, daß man (das e quovis ligno fit Mercurius arg mißbrauchend) einen gemeinen Kopf, HEGEL, durch die allbekannten Mittel, zu einem großen Philosophen falschmünzte und eine Schaar Anfangs subornirter, dann bloß bornirter Jünger desselben das große Wort erhielt. Dergleichen Attentate gegen den menschlichen Geist bleiben nicht ungestraft: die Saat ist aufgegangen. Im gleichen Sinne wurde dann behauptet, die Ethik solle nicht das Thun der Einzelnen, sondern das der Volksmassen zum Stoffe haben, nur dieses sei ein Thema ihrer würdig. Nichts kann verkehrter seyn, als diese, auf dem plattesten Realismus beruhende Ansicht. Denn in jedem Einzelnen erscheint der ganze ungetheilte Wille zum Leben, das Wesen an sich, und der Mikrokosmos ist dem Makrokosmos gleich. Die Massen haben nicht mehr Inhalt als jeder Einzelne. Nicht vom Thun und Erfolg, sondern vom WOLLEN handelt es sich in der Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im Individuo vor. Nicht das Schicksal der Völker, welches nur in der Erscheinung da ist, sondern das des Einzelnen entscheidet sich MORALISCH. Die Völker sind eigentlich bloße Abstraktionen: die Individuen allein existiren wirklich. — So also verhält sich der Pantheismus zur Ethik. —

Die Uebel aber und die Quaal der Welt stimmten schon nicht zum THEISMUS: daher dieser durch allerlei Ausreden, Theodiceen, sich zu helfen suchte, welche jedoch den Argumenten HUME‘S und VOLTAIRE‘S unrettbar unterlagen. Der PANTHEISMUS nun aber ist jenen schlimmen Seiten der Welt gegenüber vollends unhaltbar. Nur dann nämlich, wann man die Welt ganz VON AUSSEN und allein von der PHYSIKALISCHEN Seite betrachtet und nichts Anderes, als die sich immer wieder herstellende Ordnung und dadurch komparative Unvergänglichkeit des Ganzen im Auge behält, geht es allenfalls, doch immer nur sinnbildlich an, sie für einen Gott zu erklären. Tritt man aber ins Innere, nimmt also die SUBJEKTIVE und die MORALISCHE Seite hinzu, mit ihrem Uebergewicht von Noth, Leiden und Quaal, von Zwiespalt, Bosheit, Verruchtheit und Verkehrtheit; da wird man bald mit Schrecken inne, daß man nichts weniger, als eine Theophanie vor sich hat. —

Ich nun aber habe gezeigt und habe es zumal in der Schrift »Vom Willen in der Natur« bewiesen, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft identisch ist mit dem WILLEN in uns. Dadurch tritt nun wirklich die MORALISCHE Weltordnung in unmittelbaren Zusammenhang mit der das Phänomen der Welt hervorbringenden Kraft. Denn der Beschaffenheit des WILLENS muß seine ERSCHEINUNG genau entsprechen: Herauf beruht die, §63, 64 des ersten Bandes, gegebene Darstellung der EWIGEN GERECHTIGKEIT, und die Welt, obgleich aus eigener Kraft bestehend, erhält durchweg eine MORALISCHE Tendenz. Sonach ist jetzt allererst das seit SOKRATES angeregte Problem wirklich gelöst und die Forderung der denkenden, auf das Moralische gerichteten Vernunft befriedigt. —

Nie jedoch habe ich mich vermessen, eine Philosophie aufzustellen, die keine Fragen mehr übrig ließe. In diesem Sinne ist Philosophie wirklich unmöglich: sie wäre Allwissenheitslehre. Aber est quadam prodire tenus, si non datur ultra: es giebt eine Gränze, bis zu welcher das Nachdenken vordringen und so WEIT die Nacht unsers Daseyns erhellen kann, wenngleich der Horizont stets dunkel bleibt. Diese Gränze erreicht meine Lehre im Willen zum Leben, der, auf seine eigene Erscheinung, sich bejaht oder verneint. Darüber aber noch hinausgehen wollen ist, in meinen Augen, wie über die Atmosphäre hinausfliegen wollen. Wir müssen dabei stehen bleiben; wenn gleich aus gelösten Problemen neue hervorgehen. Zudem aber ist darauf zu verweisen, daß die Gültigkeit des Satzes vom Grunde sich auf die Erscheinung beschränkt: dies war das Thema meiner ersten, schon 1813 herausgegebenen Abhandlung über jenen Satz. — WW II, S.685ff.

Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich
Der Tod ist der eigentliche inspirirende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb Sokrates diese auch thanatou meletê definirt hat. Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden. Daher wird es ganz in der Ordnung seyn, daß eine specielle Betrachtung desselben hier an der Spitze des letzten, ernstesten und wichtigsten unserer Bücher ihre Stelle erhalte.

Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntniß des Todes: daher genießt das thierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewußt ist. Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, nothwendig die erschreckende Gewißheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem Uebel ein Heilmittel, oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist; so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkenntniß des Todes herbeiführte, auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten, und deren das Thier weder bedürftig noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerichtet, sind also zunächst das von der reflektirenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewißheit des Todes. Der Grad jedoch, in welchem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, und allerdings wird eine Religion oder Philosophie viel mehr, als die andere, den Menschen befähigen, ruhigen Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehen. Brahmanismus und Buddhaismus, die den Menschen lehren, sich als das Urwesen selbst, das Brahm, zu betrachten, welchem alles Entstehen und Vergehen wesentlich fremd ist, werden darin viel mehr leisten, als solche, welche ihn aus nichts gemacht seyn und seine, von einem Andern empfangene Existenz wirklich mit der Geburt anfangen lassen. Dem entsprechend finden wir in Indien eine Zuversicht und eine Verachtung des Todes, von der man in Europa keinen Begriff hat.
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Es ist in der That eine bedenkliche Sache, dem Menschen in dieser wichtigen Hinsicht schwache und unhaltbare Begriffe durch frühes Einprägen aufzuzwingen, und ihn dadurch zur Aufnahme der richtigeren und standhaltenden auf immer unfähig zu machen. Z.B. ihn lehren, daß er erst kürzlich aus Nichts geworden, folglich eine Ewigkeit hindurch Nichts gewesen sei und dennoch für die Zukunft unvergänglich seyn solle, ist gerade so, wie ihn lehren, daß er, obwohl durch und durch das Werk eines Andern, dennoch für sein Thun und Lassen in alle Ewigkeit verantwortlich seyn solle. Wenn nämlich dann, bei gereiftem Geiste und eingetretenem Nachdenken, das Unhaltbare solcher Lehren sich ihm aufdringt; so hat er nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen, ja, ist nicht mehr fähig es zu verstehen, und geht dadurch des Trostes verlustig, den auch ihm die Natur, zum Ersatz für die Gewißheit des Todes, bestimmt hatte. In Folge solcher Entwickelung sehen wir eben jetzt (1844) in England, unter verdorbenen Fabrikarbeitern, die Socialisten, und in Deutschland, unter verdorbenen Studenten, die Junghegelianer zur absolut physischen Ansicht herabsinken, welche zu dem Resultate führt: edite, bibite, post mortem nulla voluptas, und insofern als Bestialismus bezeichnet werden kann.

Nach Allem inzwischen, was über den Tod gelehrt worden, ist nicht zu leugnen, daß, wenigstens in Europa, die Meinung der Menschen, ja oft sogar des selben Individuums, gar häufig von Neuem hin und her schwankt zwischen der Auffassung des Todes als absoluter Vernichtung und der Annahme, daß wir gleichsam mit Haut und Haar unsterblich seien. Beides ist gleich falsch: allein wir haben nicht sowohl eine richtige Mitte zu treffen, als vielmehr den höhern Gesichtspunkt zu gewinnen, von welchem aus solche Ansichten von selbst wegfallen.

Ich will, bei diesen Betrachtungen, zuvörderst vom ganz empirischen Standpunkt ausgehen. - Da liegt uns zunächst die unleugbare Thatsache vor, daß, dem natürlichen Bewußtseyn gemäß, der Mensch nicht bloß für seine Person den Tod mehr als alles Andere fürchtet, sondern auch über den der Seinigen heftig weint, und zwar offenbar nicht egoistisch über seinen eigenen Verlust, sondern aus Mitleid, über das große Unglück, das Jene betroffen; daher er auch Den, welcher in solchem Falle nicht weint und keine Betrübniß zeigt, als hartherzig und lieblos tadelt. Diesem geht parallel, daß die Rachsucht, in ihren höchsten Graden, den Tod des Gegners sucht, als das größte Uebel, das sich verhängen läßt. - Meinungen wechseln nach Zeit und Ort: aber die Stimme der Natur bleibt sich stets und überall gleich, ist daher vor Allem zu beachten. Sie scheint nun hier deutlich auszusagen, daß der Tod ein großes Uebel sei. In der Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. Und daß es mit dem Tode Ernst sei, ließe sich schon daraus abnehmen, daß es mit dem Leben, wie Jeder weiß, kein Spaaß ist. Wir müssen wohl nichts Besseres, als diese Beiden, werth seyn.

In der That ist die Todesfurcht von aller Erkenntniß unabhängig: denn das Thier hat sie, obwohl es den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird, bringt sie schon mit auf die Welt. Diese Todesfurcht a priori ist aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, welcher wir Alle ja sind. Daher ist jedem Thiere, wie die Sorge für seine Erhaltung, so die Furcht vor seiner Zerstörung angeboren: diese also, und nicht das bloße Vermeiden des Schmerzes ist es, was sich in der ängstlichen Behutsamkeit zeigt, mit der das Thier sich und noch mehr seine Brut vor Jedem, der gefährlich werden könnte, sicher zu stellen sucht. Warum flieht das Thier, zittert und sucht sich zu verbergen? Weil es lauter Wille zum Leben, als solcher aber dem Tode verfallen ist und Zeit gewinnen möchte. Eben so ist, von Natur, der Mensch. Das größte der Uebel, das Schlimmste was überall gedroht werden kann, ist der Tod, die größte Angst Todesangst. Nichts reißt uns so unwiderstehlich zur lebhaftesten Theilnahme hin, wie fremde Lebensgefahr: nichts ist entsetzlicher, als eine Hinrichtung. Die hierin hervortretende gränzenlose Anhänglichkeit an das Leben kann nun aber nicht aus der Erkenntniß und Ueberlegung entsprungen seyn: vor dieser erscheint sie vielmehr thöricht; da es um den objektiven Werth des Lebens sehr mißlich steht, und wenigstens zweifelhaft bleibt, ob dasselbe dem Nichtseyn vorzuziehen sei, ja, wenn Erfahrung und Ueberlegung zum Worte kommen, das Nichtseyn wohl gewinnen muß. Klopfte man an die Gräber und fragte die Todten, ob sie wieder aufstehen wollten; sie würden mit den Köpfen schütteln. Dahin geht auch des Sokrates Meinung, in Plato's Apologie, und selbst der heitere und liebenswürdige Voltaire kann nicht umhin zu sagen: on aime la vie; mais le néant ne laisse pas d'avoir du bon: und wieder: je ne sais pas ce que c'est que la vie éternelle, mais celle-ci est une mauvaise plaisanterie. Ueberdies muß ja das Leben jedenfalls bald enden; so daß die wenigen Jahre, die man vielleicht noch dazuseyn hat, gänzlich verschwinden vor der endlosen Zeit, da man nicht mehr seyn wird. Demnach erscheint es, vor der Reflexion, sogar lächerlich, um diese Spanne Zeit so sehr besorgt zu seyn, so sehr zu zittern, wenn eigenes oder fremdes Leben in Gefahr geräth, und Trauerspiele zu dichten, deren Schreckliches seinen Nerven bloß in der Todesfurcht hat.

Jene mächtige Anhänglichkeit an das Leben ist mithin eine unvernünftige und blinde: sie ist nur daraus erklärlich, daß unser ganzes Wesen an sich selbst schon Wille zum Leben ist, dem dieses daher als das höchste Gut gelten muß, so verbittert, kurz und ungewiß es auch immer seyn mag; und daß jener Wille, an sich und ursprünglich, erkenntnißlos und blind ist. Die Erkenntniß hingegen, weit entfernt der Ursprung jener Anhänglichkeit an das Leben zu seyn, wirkt ihr sogar entgegen, indem sie die Werthlosigkeit desselben aufdeckt und hiedurch die Todesfurcht bekämpft. - Wann sie nun siegt, und demnach der Mensch dem Tode muthig und gelassen entgegengeht; so wird dies als groß und edel geehrt: wir feiern also dann den Triumph der Erkenntniß über den blinden Willen zum Leben, der doch der Kern unsers eigenen Wesens ist. Imgleichen verachten wir Den, in welchem die Erkenntniß in jenem Kampfe unterliegt, der daher dem Leben unbedingt anhängt, gegen den herannahenden Tod sich auf's Aeußerste sträubt und ihn verzweifelnd empfängt:*[2]) und doch spricht sich in ihm nur das ursprüngliche Wesen unsers Selbst und der Natur aus. Wie könnte, läßt sich hier beiläufig fragen, die gränzenlose Liebe zum Leben und das Bestreben, es auf alle Weise, so lange als möglich, zu erhalten, niedrig, verächtlich, desgleichen von den Anhängern jeder Religion als dieser unwürdig betrachtet werden, wenn dasselbe das mit Dank zu erkennende Geschenk gütiger Götter wäre? Und wie könnte sodann die Geringschätzung desselben groß und edel erscheinen? - Uns bestätigt sich inzwischen durch diese Betrachtungen:

1) daß der Wille zum Leben das innerste Wesen des Menschen ist;

2) daß er an sich erkenntnißlos, blind ist;

3) daß die Erkenntniß ein ihm ursprünglich fremdes, hinzugekommenes Princip ist;

4) daß sie mit ihm streitet und unser Urtheil dem Siege der Erkenntniß über den Willen Beifall giebt.

Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt der Gedanke des Nichtseyns wäre; so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, daß das Nichtseyn nach dem Tode nicht verschieden seyn kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerther. Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir noch nicht waren: aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, daß nach dem momentanen Intermezzo eines ephemeren Daseyns eine zweite Unendlichkeit folgen sollte, in der wir nicht mehr seyn werden, finden wir hart, ja unerträglich. Sollte nun dieser Durst nach Daseyn etwan dadurch entstanden seyn, daß wir es jetzt gekostet und so gar allerliebst gefunden hätten? Wie schon oben kurz erörtert: gewiß nicht; viel eher hätte die gemachte Erfahrung eine unendliche Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese des Nichtseyns erwecken können. Auch wird der Hoffnung der Seelen-Unsterblichkeit allemal die einer »bessern Welt« angehängt, - ein Zeichen, daß die gegenwärtige nicht viel taugt. - Dieses allen ungeachtet ist die Frage nach unserm Zustande nach dem Tode gewiß zehntausend Mal öfter, in Büchern und mündlich, erörtert worden, als die nach unserm Zustande vor der Geburt. Theoretisch ist dennoch die eine ein eben so nahe liegendes und berechtigtes Problem, wie die andere: auch würde wer die eine beantwortet hätte mit der andern wohl gleichfalls im Klaren seyn. Schöne Deklamationen haben wir darüber, wie anstößig es wäre, zu denken, daß der Geist des Menschen, der die Welt umfaßt und so viele höchst vortreffliche Gedanken hat, mit ins Grab gesenkt würde: aber darüber, daß dieser Geist eine ganze Unendlichkeit habe verstreichen lassen, ehe er mit diesen seinen Eigenschaften entstanden sei, und die Welt eben so lange sich ohne ihn habe behelfen müssen, hört man nichts. Dennoch bietet der vom Willen unbestochenen Erkenntniß keine Frage sich natürlicher dar, als diese: eine unendliche Zeit ist vor meiner Geburt abgelaufen; was war ich alle jene Zeit hindurch? - Metaphysisch ließe sich vielleicht antworten: »Ich war immer Ich: nämlich Alle, die jene Zeit hindurch Ich sagten, die waren eben Ich.« Allein hievon sehen wir auf unserm, vor der Hand noch ganz empirischen Standpunkt ab und nehmen an, ich wäre gar nicht gewesen. Dann aber kann ich mich über die unendliche Zeit nach meinem Tode, da ich nicht seyn werde, trösten mit der unendlichen Zeit, da ich schon nicht gewesen bin, als einem wohl gewohnten und wahrlich sehr bequemen Zustande. Denn die Unendlichkeit a parte post ohne mich kann so wenig schrecklich seyn, als die Unendlichkeit a parte ante ohne mich; indem beide durch nichts sich unterscheiden, als durch die Dazwischenkunft eines ephemeren Lebenstraums. Auch lassen alle Beweise für die Fortdauer nach dem Tode sich eben so gut in partem ante wenden, wo sie dann das Daseyn vor dem Leben demonstriren, in dessen Annahme Hindu und Buddhaisten sich daher sehr konsequent beweisen. Kants Idealität der Zeit allein löst alle diese Räthsel: doch davon ist jetzt noch nicht die Rede. Soviel aber geht aus dem Gesagten hervor, daß über die Zeit, da man nicht mehr seyn wird, zu trauern, eben so absurd ist, als es seyn würde über die, da man noch nicht gewesen: denn es ist gleichgültig, ob die Zeit, welche unser Daseyn nicht füllt, zu der, welche es füllt, sich als Zukunft oder Vergangenheit verhalte.

Aber auch ganz abgesehen von diesen Zeitbetrachtungen, ist es an und für sich absurd, das Nichtseyn für ein Uebel zu halten; da jedes Uebel, wie jedes Gut, das Daseyn zur Voraussetzung hat, ja sogar das Bewußtseyn; dieses aber mit dem Leben aufhört, wie eben auch im Schlaf und in der Ohnmacht; daher uns die Abwesenheit desselben, als gar keine Uebel enthaltend, wohl bekannt und vertraut, ihr Eintritt aber jedenfalls Sache eines Augenblicks ist. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtete Epikur den Tod und sagte daher ganz richtig ho thanatos mêden pros hêmas (der Tod geht uns nichts an); mit der Erläuterung, daß wann wir sind, der Tod nicht ist, und wann der Tod ist, wir nicht sind (Diog. Laert., X, 27). Verloren zu haben was nicht vermißt werden kann, ist offenbar kein Uebel: also darf das Nichtseynwerden uns so wenig anfechten, wie das Nichtgewesenseyn.

Vom Standpunkt der Erkenntniß aus erscheint demnach durchaus kein Grund den Tod zu fürchten: im Erkennen aber besteht das Bewußtseyn; daher für dieses der Tod kein Uebel ist. Auch ist es wirklich nicht dieser erkennende Theil unsers Ichs, welcher den Tod fürchtet; sondern ganz allein vom blinden Willen geht die fuga mortis, von der alles Lebende erfüllt ist, aus. Diesem aber ist sie, wie schon oben erwähnt, wesentlich, eben weil er Wille zum Leben ist, dessen ganzes Wesen im Drange nach Leben und Daseyn besteht, und dem die Erkenntniß nicht ursprünglich, sondern erst in Folge seiner Objektivation in animalischen Individuen beiwohnt. Wenn er nun, mittelst ihrer, den Tod, als das Ende der Erscheinung, mit der er sich identificirt hat und also auf sie sich beschränkt sieht, ansichtig wird, sträubt sich sein ganzes Wesen mit aller Gewalt dagegen. Ob nun er vom Tode wirklich etwas zu fürchten habe, werden wir weiter unten untersuchen und uns dabei der hier, mit gehöriger Unterscheidung des wollenden vom erkennenden Theil unsers Wesens, nachgewiesenen eigentlichen Quelle der Todesfurcht erinnern.

Derselben entsprechend ist auch, was uns den Tod so furchtbar macht, nicht sowohl das Ende des Lebens, da dieses Keinem als des Regrettirens sonderlich werth erscheinen kann; als vielmehr die Zerstörung des Organismus: eigentlich, weil dieser der als Leib sich darstellende Wille selbst ist. Diese Zerstörung fühlen wir aber wirklich nur in den Uebeln der Krankheit, oder des Alters: hingegen der Tod selbst besteht, für das Subjekt, bloß in dem Augenblick, da das Bewußtseyn schwindet, indem die Thätigkeit des Gehirns stockt. Die hierauf folgende Verbreitung der Stockung auf alle übrigen Theile des Organismus ist eigentlich schon eine Begebenheit nach dem Tode.

Der Tod, in subjektiver Hinsicht, betrifft also allein das Bewußtseyn.
Was nun das Schwinden dieses sei, kann Jeder einigermaaßen aus dem Einschlafen beurtheilen: noch besser aber kennt es, wer je eine wahre Ohnmacht gehabt hat, als bei welcher der Uebergang nicht so allmälig, noch durch Träume vermittelt ist, sondern zuerst die Sehkraft, noch bei vollem Bewußtseyn, schwindet, und dann unmittelbar die tiefste Bewußtlosigkeit eintritt: die Empfindung dabei, so weit sie geht, ist nichts weniger als unangenehm, und ohne Zweifel ist, wie der Schlaf der Bruder, so die Ohnmacht der Zwillingsbruder des Todes. Auch der gewaltsame Tod kann nicht schmerzlich seyn; da selbst schwere Verwundungen in der Regel gar nicht gefühlt, sondern erst eine Weile nachher, oft nur an ihren äußerlichen Zeichen bemerkt werden: sind sie schnell tödtlich; so wird das Bewußtseyn vor dieser Entdeckung schwinden: tödten sie später; so ist es wie bei andern Krankheiten. Auch alle Die, welche im Wasser, oder durch Kohlendampf, oder durch Hängen das Bewußtseyn verloren haben, sagen bekanntlich aus, daß es ohne Pein geschehen sei. Und nun endlich gar der eigentlich naturgemäße Tod, der durch das Alter, die Euthanasie, ist ein allmäliges Verschwinden und Verschweben aus dem Daseyn, auf unmerkliche Weise.

Nach und nach erlöschen im Alter die Leidenschaften und Begierden, mit der Empfänglichkeit für ihre Gegenstände; die Affekte finden keine Anregung mehr: denn die vorstellende Kraft wird immer schwächer, ihre Bilder matter, die Eindrücke haften nicht mehr, gehen spurlos vorüber, die Tage rollen immer schneller, die Vorfälle verlieren ihre Bedeutsamkeit, Alles verblasst. Der Hochbetagte wankt umher, oder ruht in einem Winkel, nur noch ein Schatten, ein Gespenst seines ehemaligen Wesens. Was bleibt da dem Tode noch zu zerstören? Eines Tages ist dann ein Schlummer der letzte, und seine Träume sind - - - Es sind die, nach welchen schon Hamlet frägt, in dem berühmten Monolog. Ich glaube, wir träumen sie eben jetzt.

Hieher gehört noch die Bemerkung, daß die Unterhaltung des Lebensprocesses, wenn sie gleich eine metaphysische Grundlage hat, nicht ohne Widerstand, folglich nicht ohne Anstrengung vor sich geht. Diese ist es, welcher der Organismus jeden Abend unterliegt, weshalb er dann die Gehirnfunktion einstellt und einige Sekretionen, die Respiration, den Puls und die Wärmeentwickelung vermindert. Daraus ist zu schließen, daß das gänzliche Aufhören des Lebensprocesses für die treibende Kraft desselben eine wundersame Erleichterung seyn muß: vielleicht hat diese Antheil an dem Ausdruck süßer Zufriedenheit auf dem Gesichte der meisten Todten. Ueberhaupt mag der Augenblick des Sterbens dem des Erwachens aus einem schweren, alpgedrückten Traume ähnlich seyn.

Bis hieher hat sich uns ergeben, daß der Tod, so sehr er auch gefürchtet wird, doch eigentlich kein Uebel seyn könne. Oft aber erscheint er sogar als ein Gut, ein Erwünschtes, als Freund Hain. Alles, was auf unüberwindliche Hindernisse seines Daseyns, oder seiner Bestrebungen gestoßen ist, was an unheilbaren Krankheiten, oder an untröstlichem Grame leidet, - hat zur letzten, meistens sich ihm von selbst öffnenden Zuflucht die Rückkehr in den Schooß der Natur, aus welchem es, wie alles Andere auch, auf eine kurze Zeit heraufgetaucht war, verlockt durch die Hoffnung auf günstigere Bedingungen des Daseyns, als ihm geworden, und von wo aus ihm der selbe Weg stets offen bleibt. Jene Rückkehr ist die cessio bonorum des Lebenden. Jedoch wird sie auch hier erst nach einem physischen, oder moralischen Kampfe angetreten: so sehr sträubt Jedes sich, dahin zurückzugehen, von wo es so leicht und bereitwillig hervorkam, zu einem Daseyn, welches so viele Leiden und so wenige Freuden zu bieten hat. - Die Hindu geben dem Todesgotte Yama zwei Gesichter: ein sehr furchtbares und schreckliches, und ein sehr freudiges und gütiges. Dies erklärt sich zum Theil schon durch die eben angestellte Betrachtung.

Auf dem empirischen Standpunkt, auf welchem wir noch immer stehen, ist auch die folgende Betrachtung eine sich von selbst darbietende, die daher verdient, durch Verdeutlichung genau bestimmt und dadurch in ihre Gränzen zurückgewiesen zu werden. Der Anblick eines Leichnams zeigt mir, daß Sensibilität, Irritabilität, Blutumlauf, Reproduktion u.s.w. hier aufgehört haben. Ich schließe daraus mit Sicherheit, daß Dasjenige, welches diese bisher aktuirte, jedoch ein mir stets Unbekanntes war, sie jetzt nicht mehr aktuirt, also von ihnen gewichen ist. -

Wollte ich nun aber hinzusetzen, dies müsse eben Das gewesen seyn, was ich nur als Bewußtseyn, mithin als Intelligenz, gekannt habe (Seele); so wäre dies nicht bloß unberechtigt, sondern offenbar falsch geschlossen. Denn stets hat das Bewußtseyn sich mir nicht als Ursache, sondern als Produkt und Resultat des organischen Lebens gezeigt, indem es in Folge desselben stieg und sank, nämlich in den verschiedenen Lebensaltern, in Gesundheit und Krankheit, in Schlaf, Ohnmacht, Erwachen u.s.w., also stets als Wirkung, nie als Ursache des organischen Lebens auftrat, stets sich zeigte als etwas, das entsteht und vergeht, und wieder entsteht, so lange hiezu die Bedingungen noch da sind, aber außerdem nicht. Ja, ich kann auch gesehen haben, daß die völlige Zerrüttung des Bewußtseyns, der Wahnsinn, weit entfernt, die übrigen Kräfte mit sich herabzuziehen und zu deprimiren, oder gar das Leben zu gefährden, jene, namentlich die Irritabilität oder Muskelkraft, sehr erhöht, und dieses eher verlängert als verkürzt, wenn nicht andere Ursachen konkurriren. -

Sodann: Individualität kannte ich als Eigenschaft jedes Organischen, und daher, wenn dieses ein selbstbewußtes ist, auch des Bewußtseyns. Jetzt zu schließen, daß dieselbe jenem entwichenen, Leben ertheilenden, mir völlig unbekannten Princip inhärire, dazu ist kein Anlaß vorhanden; um so weniger, als ich sehe, daß überall in der Natur jede einzelne Erscheinung das Werk einer allgemeinen, in tausend gleichen Erscheinungen thätigen Kraft ist. -

Aber eben so wenig Anlaß ist andererseits zu schließen, daß, weil hier das organische Leben aufgehört hat, deshalb auch jene dasselbe bisher aktuirende Kraft zu Nichts geworden sei; - so wenig, als vom stillstehenden Spinnrade auf den Tod der Spinnerin zu schließen ist. Wenn ein Pendel, durch Wiederfinden seines Schwerpunkts, endlich zur Ruhe kommt, und also das individuelle Scheinleben desselben aufgehört hat; so wird Keiner wähnen, jetzt sei die Schwere vernichtet; sondern Jeder begreift, daß sie in zahllosen Erscheinungen nach wie vor thätig ist. Allerdings ließe sich gegen dieses Gleichniß einwenden, daß hier auch in diesem Pendel die Schwere nicht aufgehört hat thätig zu seyn, sondern nur ihre Thätigkeit augenfällig zu äußern: wer darauf besteht, mag sich statt dessen einen elektrischen Körper denken, in welchem, nach seiner Entladung, die Elektricität wirklich aufgehört hat thätig zu seyn. Ich habe daran nur zeigen wollen, daß wir selbst den untersten Naturkräften eine Aeternität und Ubiquität unmittelbar zuerkennen, an welcher uns die Vergänglichkeit ihrer flüchtigen Erscheinungen keinen Augenblick irre macht. Um so weniger also darf es uns in den Sinn kommen, das Aufhören des Lebens für die Vernichtung des belebenden Princips, mithin den Tod für den gänzlichen Untergang des Menschen zu halten.

Weil der kräftige Arm, der, vor dreitausend Jahren, den Bogen des Odysseus spannte, nicht mehr ist, wird kein nachdenkender und wohlgeregelter Verstand die Kraft, welche in demselben so energisch wirkte, für gänzlich vernichtet halten, aber daher, bei fernerem Nachdenken, auch nicht annehmen, daß die Kraft, welche heute den Bogen spannt, erst mit diesem Arm zu existiren angefangen habe. Viel näher liegt der Gedanke, daß die Kraft, welche früher ein nunmehr entwichenes Leben aktuirte, die selbe sei, welche in dem jetzt blühenden thätig ist: ja, dieser ist fast unabweisbar. Gewiß aber wissen wir, daß, wie im zweiten Buche dargethan wurde, nur Das vergänglich ist, was in der Kausalkette begriffen ist: dies aber sind bloß die Zustände und Formen. Unberührt hingegen von dem durch Ursachen herbeigeführten Wechsel dieser bleibt einerseits die Materie und andererseits die Naturkräfte: denn Beide sind die Voraussetzung aller jener Veränderungen. Das uns belebende Princip aber müssen wir zunächst wenigstens als eine Naturkraft denken, bis etwan eine tiefere Forschung uns hat erkennen lassen, was es an sich selbst sei. Also schon als Naturkraft genommen, bleibt die Lebenskraft ganz unberührt von dem Wechsel der Formen und Zustände, welche das Band der Ursachen und Wirkungen herbei und hinwegführt, und welche allein dem Entstehen und Vergehen, wie es in der Erfahrung vorliegt, unterworfen sind. Soweit also ließe sich schon die Unvergänglichkeit unsers eigentlichen Wesens sicher beweisen.

Aber freilich wird dies den Ansprüchen, welche man an Beweise unsers Fortbestehens nach dem Tode zu machen gewohnt ist, nicht genügen, noch den Trost gewähren, den man von solchen erwartet. Indessen ist es immer etwas, und wer den Tod als seine absolute Vernichtung fürchtet, darf die völlige Gewißheit, daß das innerste Prinzip seines Lebens von demselben unberührt bleibt, nicht verschmähen. - Ja, es ließe sich das Paradoxon aufstellen, daß auch jenes Zweite, welches, eben wie die Naturkräfte, von dem am Leitfaden der Kausalität fortlaufenden Wechsel der Zustände unberührt bleibt, also die Materie, durch seine absolute Beharrlichkeit uns eine Unzerstörbarkeit zusichert, vermöge welcher, wer keine andere zu fassen fähig wäre, sich doch schon einer gewissen Unvergänglichkeit getrösten könnte.

»Wie?« wird man sagen, »das Beharren des bloßen Staubes, der rohen Materie, sollte als eine Fortdauer unsers Wesens angesehen werden?« - Oho! kennt ihr denn diesen Staub? Wißt ihr, was er ist und was er vermag? Lernt ihn kennen, ehe ihr ihn verachtet. Diese Materie, die jetzt als Staub und Asche daliegt, wird bald, im Wasser aufgelöst, als Krystall anschießen, wird als Metall glänzen, wird dann elektrische Funken sprühen, wird mittelst ihrer galvanischen Spannung eine Kraft äußern, welche, die festesten Verbindungen zersetzend, Erden zu Metallen reducirt: ja, sie wird von selbst sich zu Pflanze und Thier gestalten und aus ihrem geheimnißvollen Schooß jenes Leben entwickeln, vor dessen Verlust ihr in eurer Beschränktheit so ängstlich besorgt seid. Ist nun, als eine solche Materie fortzudauern, so ganz und gar nichts? Ja, ich behaupte im Ernst, daß selbst diese Beharrlichkeit der Materie von der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens Zeugniß ablegt, wenn auch nur wie im Bilde und Gleichniß, oder vielmehr nur wie im Schattenriß. Dies einzusehen, dürfen wir uns nur an die Kapitel 24 gegebene Erörterung der Materie erinnern, aus der sich ergab, daß die lautere, formlose Materie, - diese für sich allein nie wahrgenommene, aber als stets bleibend vorausgesetzte Basis der Erfahrungswelt, - der unmittelbare Wiederschein, die Sichtbarkeit überhaupt, des Dinges an sich, also des Willens, ist; daher von ihr, unter den Bedingungen der Erfahrung, das gilt, was dem Willen an sich schlechthin zukommt und sie seine wahre Ewigkeit unter dem Bilde der zeitlichen Unvergänglichkeit wiedergiebt.

Weil, wie schon gesagt, die Natur nicht lügt; so kann keine aus einer rein objektiven Auffassung derselben entsprungene und in folgerechtem Denken durchgeführte Ansicht ganz und gar falsch seyn, sondern sie ist, im schlimmsten Fall, nur sehr einseitig und unvollständig. Eine solche aber ist unstreitig auch der konsequente Materialismus, etwan der des Epikuros, eben so gut, wie der ihm entgegengesetzte absolute Idealismus, etwan der des Berkeley, und überhaupt jede aus einem richtigen apperçu hervorgegangene und redlich ausgeführte philosophische Grundansicht. Nur sind sie Alle höchst einseitige Auffassungen und daher, trotz ihrer Gegensätze, zugleich wahr, nämlich jede von einem bestimmten Standpunkt aus: sobald man aber sich über diesen erhebt, erscheinen sie nur noch als relativ und bedingt wahr. Der höchste Standpunkt allein, von welchem aus man sie alle übersieht und in ihrer bloß relativen Wahrheit, über diese hinaus aber in ihrer Falschheit erkennt, kann der der absoluten Wahrheit, so weit eine solche überhaupt erreichbar ist, seyn. Dem entsprechend sehen wir, wie soeben nachgewiesen wurde, selbst in der eigentlich sehr rohen und daher sehr alten Grundansicht des Materialismus die Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens an sich noch wie durch einen bloßen Schatten derselben repräsentirt, nämlich durch die Unvergänglichkeit der Materie; wie, in dem schon höher stehenden Naturalismus einer absoluten Physik, durch die Ubiquität und Aeternität der Naturkräfte, welchen die Lebenskraft doch wenigstens beizuzählen ist. Also selbst diese rohen Grundansichten enthalten die Aussage, daß das lebende Wesen durch den Tod keine absolute Vernichtung erleidet, sondern in und mit dem Ganzen der Natur fortbesteht. -

Die Betrachtungen, welche uns bis hieher geführt haben und an welche die ferneren Erörterungen sich knüpften, waren ausgegangen von der auffallenden Todesfurcht, welche alle lebenden Wesen erfüllt. Jetzt aber wollen wir den Standpunkt wechseln und ein Mal betrachten, wie, im Gegensatz der Einzelwesen, das Ganze der Natur sich hinsichtlich des Todes verhält; wobei wir jedoch immer noch auf dem empirischen Grund und Boden stehen bleiben.

Wir freilich kennen kein höheres Würfelspiel, als das um Tod und Leben: jeder Entscheidung über diese sehen wir mit der äußersten Spannung, Theilnahme und Furcht entgegen: denn es gilt, in unsern Augen, Alles in Allem. - Hingegen die Natur, welche doch nie lügt, sondern aufrichtig und offen ist, spricht über dieses Thema ganz anders, nämlich so, wie Krischna im Bhagavad-Gita. Ihre Aussage ist: an Tod oder Leben des Individuums ist gar nichts gelegen. Dieses nämlich drückt sie dadurch aus, daß sie das Leben jedes Thieres, und auch des Menschen, den unbedeutendesten Zufällen Preis giebt, ohne zu seiner Rettung einzutreten. -

Betrachtet das Insekt auf eurem Wege: eine kleine, unbewußte Wendung eures Fußtrittes ist über sein Leben oder Tod entscheidend. Seht die Waldschnecke, ohne alle Mittel zur Flucht, zur Wehr, zur Täuschung, zum Verbergen, eine bereite Beute für Jeden. Seht den Fisch sorglos im noch offenen Netze spielen; den Frosch durch seine Trägheit von der Flucht, die ihn retten könnte, abgehalten; den Vogel, der den über ihm schwebenden Falken nicht gewahr wird; die Schaafe, welche der Wolf aus dem Busch ins Auge faßt und mustert. Diese Alle gehen, mit wenig Vorsicht ausgerüstet, arglos unter den Gefahren umher, die jeden Augenblick ihr Daseyn bedrohen. Indem nun also die Natur ihre so unaussprechlich künstlichen Organismen nicht nur der Raublust des Stärkeren, sondern auch dem blindesten Zufall und der Laune jedes Narren, und dem Muthwillen jedes Kindes, ohne Rückhalt Preis giebt, spricht sie aus, daß die Vernichtung dieser Individuen ihr gleichgültig sei, ihr nicht schade, gar nichts zu bedeuten habe, und daß, in jenen Fällen, die Wirkung so wenig auf sich habe, wie die Ursache. Sie sagt dies sehr deutlich aus, und sie lügt nie: nur kommentirt sie ihre Aussprüche nicht; vielmehr redet sie im lakonischen Stil der Orakel. Wenn nun die Allmutter so sorglos ihre Kinder tausend drohenden Gefahren, ohne Obhut, entgegensendet; so kann es nur seyn, weil sie weiß, daß wenn sie fallen, sie in ihren Schooß zurückfallen, wo sie geborgen sind, daher ihr Fall nur ein Scherz ist. Sie hält es mit dem Menschen nicht anders, als mit den Thieren. Ihre Aussage also erstreckt sich auch auf diesen: Leben oder Tod des Individuums sind ihr gleichgültig. Demzufolge sollten sie es, in gewissem Sinne auch uns seyn: denn wir selbst sind ja die Natur. Gewiß würden wir, wenn wir nur tief genug sähen, der Natur beistimmen und Tod oder Leben als so gleichgültig ansehen, wie sie. Inzwischen müssen wir, mittelst der Reflexion, jene Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit der Natur gegen das Leben der Individuen dahin auslegen, daß die Zerstörung einer solchen Erscheinung das wahre und eigentliche Wesen derselben im Mindesten nicht anficht.

Erwägen wir nun ferner, daß nicht nur, wie soeben in Betrachtung genommen, Leben und Tod von den geringfügigsten Zufällen abhängig sind, sondern daß das Daseyn der organischen Wesen überhaupt ein ephemeres ist, Thier und Pflanze heute entsteht und morgen vergeht, und Geburt und Tod in schnellem Wechsel folgen, während dem so sehr viel tiefer stehenden Unorganischen eine ungleich längere Dauer gesichert ist, eine unendlich lange aber nur der absolut formlosen Materie, welcher wir dieselbe sogar a priori zuerkennen; - da muß, denke ich, schon der bloß empirischen, aber objektiven und unbefangenen Auffassung einer solchen Ordnung der Dinge von selbst der Gedanke folgen, daß dieselbe nur ein oberflächliches Phänomen sei, daß ein solches beständiges Entstehen und Vergehen keineswegs an die Wurzel der Dinge greifen, sondern nur ein relatives, ja nur scheinbares seyn könne, von welchem das eigentliche, sich ja ohnehin überall unserm Blick entziehende und durchweg geheimnißvolle, innere Wesen jedes Dinges nicht mitgetroffen werde, vielmehr dabei ungestört fortbestehe; wenn wir gleich die Weise, wie das zugeht, weder wahrnehmen, noch begreifen können, und sie daher nur im Allgemeinen, als eine Art von tour de passe-passe, der dabei vorgienge, uns denken müssen.

Denn, daß, während das Unvollkommenste, das Niedrigste, das Unorganische, unangefochten fortdauert, gerade die vollkommensten Wesen, die lebenden, mit ihren unendlich komplicirten und unbegreiflich kunstvollen Organisationen, stets von Grund aus neu entstehen und nach einer Spanne Zeit absolut zu nichts werden sollten, um abermals neuen, aus dem Nichts ins Daseyn tretenden, ihres Gleichen, Platz zu machen, - Dies ist etwas so augenscheinlich Absurdes, daß es nimmermehr die wahre Ordnung der Dinge seyn kann, vielmehr bloß eine Hülle, welche diese verbirgt, richtiger, ein durch die Beschaffenheit unsers Intellekts bedingtes Phänomen. Ja, das ganze Seyn und Nichtseyn selbst dieser Einzelwesen, in Beziehung auf welches Tod und Leben Gegensätze sind, kann nur ein relatives seyn: die Sprache der Natur, in welcher es uns als ein absolutes gegeben wird, kann also nicht der wahre und letzte Ausdruck der Beschaffenheit der Dinge und der Ordnung der Welt seyn, sondern wahrlich nur ein patois du pays, d.h. ein bloß relativ Wahres, ein Sogenanntes, ein cum grano salis zu Verstehendes, oder eigentlich zu reden, ein durch unsern Intellekt Bedingtes. -

Ich sage, eine unmittelbare, intuitive Ueberzeugung der Art, wie ich sie hier mit Worten zu umschreiben gesucht habe, wird sich Jedem aufdringen: d.h. freilich nur Jedem, dessen Geist nicht von der ganz gemeinen Gattung ist, als welche, schlechterdings nur das Einzelne, ganz und gar als solches, zu erkennen fähig, streng auf Erkenntniß der Individuen beschränkt ist, nach Art des thierischen Intellekts. Wer hingegen, durch eine nur etwas höher potenzirte Fähigkeit, auch bloß anfängt, in den Einzelwesen ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu erblicken, der wird auch jener Ueberzeugung in gewissem Grade theilhaft werden, und zwar als einer unmittelbaren und darum gewissen. In der That sind es auch nur die kleinen, beschränkten Köpfe, welche ganz ernstlich den Tod als ihre Vernichtung fürchten: aber vollends von den entschieden Bevorzugten bleiben solche Schrecken gänzlich fern. Plato gründete mit Recht die ganze Philosophie auf die Erkenntniß der Ideenlehre, d.h. auf das Erblicken des Allgemeinen im Einzelnen.

Ueberaus lebhaft aber muß die hier beschriebene, unmittelbar aus der Auffassung der Natur hervorgehende Ueberzeugung in jenen erhabenen und kaum als bloße Menschen denkbaren Urhebern des Upanischads der Veden gewesen seyn, da dieselbe aus unzähligen ihrer Aussprüche so sehr eindringlich zu uns redet, daß wir diese unmittelbare Erleuchtung ihres Geistes Dem zuschreiben müssen, daß diese Weisen, als dem Ursprunge unsers Geschlechtes, der Zeit nach, näher stehend, das Wesen der Dinge klarer und tiefer auffaßten, als das schon abgeschwächte Geschlecht, hoioi nyn brotoi eisin, es vermag. Allerdings aber ist ihrer Auffassung auch die in ganz anderm Grade, als in unserm Norden, belebte Natur Indiens entgegengekommen. - Inzwischen leitet auch die durchgeführte Reflexion, wie Kants großer Geist sie verfolgte, auf anderm Wege, eben dahin, indem sie uns belehrt, daß unser Intellekt, in welchem jene so rasch wechselnde Erscheinungswelt sich darstellt, nicht das wahre, letzte Wesen der Dinge, sondern bloß die Erscheinung desselben auffaßt, und zwar, wie ich hinzusetze, weil er ursprünglich nur bestimmt ist, unserm Willen die Motive vorzuschieben, d.h. ihm beim Verfolgen seiner kleinlichen Zwecke dienstbar zu seyn.

Setzen wir inzwischen unsere objektive und unbefangene Betrachtung der Natur noch weiter fort. - Wenn ich ein Thier, sei es ein Hund, ein Vogel, ein Frosch, ja sei es auch nur ein Insekt, tödte; so ist es eigentlich doch undenkbar, daß dieses Wesen, oder vielmehr die Urkraft, vermöge welcher eine so bewunderungswürdige Erscheinung, noch den Augenblick vorher, sich in ihrer vollen Energie und Lebenslust darstellte, durch meinen boshaften, oder leichtsinnigen Akt zu Nichts geworden seyn sollte. - Und wieder andererseits, die Millionen Thiere jeglicher Art, welche jeden Augenblick, in unendlicher Mannigfaltigkeit, voll Kraft und Strebsamkeit ins Daseyn treten, können nimmermehr vor dem Akt ihrer Zeugung gar nichts gewesen und von nichts zu einem absoluten Anfang gelangt seyn. -

Sehe ich nun auf diese Weise Eines sich meinem Blicke entziehen, ohne daß ich je erfahre, wohin es gehe; und ein Anderes hervortreten, ohne daß ich je erfahre, woher es komme; haben dazu noch Beide die selbe Gestalt, das selbe Wesen, den selben Charakter, nur allein nicht die selbe Materie, welche jedoch sie auch während ihres Daseyns fortwährend abwerfen und erneuern; - so liegt doch wahrlich die Annahme, daß Das, was verschwindet, und Das, was an seine Stelle tritt, Eines und dasselbe Wesen sei, welches nur eine kleine Veränderung, eine Erneuerung der Form seines Daseyns, erfahren hat, und daß mithin was der Schlaf für das Individuum ist, der Tod für die Gattung sei; - diese Annahme, sage ich, liegt so nahe, daß es unmöglich ist, nicht auf sie zu gerathen, wenn nicht der Kopf, in früher Jugend, durch Einprägung falscher Grundansichten verschroben, ihr, mit abergläubischer Furcht, schon von Weitem aus dem Wege eilt.

Die entgegengesetzte Annahme aber, daß die Geburt eines Thieres eine Entstehung aus nichts, und dem entsprechend sein Tod seine absolute Vernichtung sei, und Dies noch mit der Zugabe, daß der Mensch, eben so aus nichts geworden, dennoch eine individuelle, endlose Fortdauer und zwar mit Bewußtseyn habe, während der Hund, der Affe, der Elephant durch den Tod vernichtet würden, - ist denn doch wohl etwas, wogegen der gesunde Sinn sich empören und es für absurd erklären muß. - Wenn, wie zur Genüge wiederholt wird, die Vergleichung der Resultate eines Systems mit den Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes ein Probirstein seiner Wahrheit seyn soll; so wünsche ich, daß die Anhänger jener von Cartesius bis auf die vorkantischen Eklektiker herabgeerbten, ja wohl auch jetzt noch bei einer großen Anzahl der Gebildeten in Europa herrschenden Grundansicht, ein Mal hier diesen Probirstein anlegen mögen.

Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Daseyn, d.i. eine Natur, möglich wird.

Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten be|trachtet und nun sieht, wie das eine sich sein Bett bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe zu überwintern und einst, im Frühling, verjüngt und vervollkommnet zu erwachen; endlich die meisten, als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu halten gedenken, bloß ihrem Ei sorgfältig die geeignete Lagerstätte anpassen, um einst aus diesem erneuet hervorzugehen; - so ist dies die große Unsterblichkeitslehre der Natur, welche uns beibringen möchte, daß zwischen Schlaf und Tod kein radikaler Unterschied ist, sondern der Eine so wenig wie der Andere das Daseyn gefährdet. Die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle, oder Grube, oder Nest bereitet, sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt, - gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein Frühstück für den kommenden Morgen bereit legt und dann ruhig schlafen geht, und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht, an sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbste sterbende Insekt mit dem im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden.

Wenn wir nun, nach diesen Betrachtungen, zu uns selbst und unserm Geschlechte zurückkehren und dann den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft werfen, die künftigen Generationen, mit den Millionen ihrer Individuen, in der fremden Gestalt ihrer Sitten und Trachten uns zu vergegenwärtigen suchen, dann aber mit der Frage dazwischenfahren: Woher werden diese Alle kommen? Wo sind sie jetzt? - Wo ist der reiche Schooß des weltenschwangeren Nichts, der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? - Wäre darauf nicht die lächelnde und wahre Antwort: Wo anders sollen sie seyn, als dort, wo allein das Reale stets war und seyn wird, in der Gegenwart und ihrem Inhalt, also bei Dir, dem bethörten Frager, der, in diesem Verkennen seines eigenen Wesens, dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend spricht: »Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere Blätter!« - O thörichtes Blatt!

Wohin willst du? Und woher sollen andere kommen? Wo ist das Nichts, dessen Schlund du fürchtest? - Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade Das, was vom Durst nach Daseyn so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehen und Vergehen. Und nun

hoiê per phyllôn geneê, toiêde kai andrôn.
(Qualis foliorum generatio, talis et hominum.)


Ob die Fliege, die jetzt um mich summt, am Abend einschläft und morgen wieder summt; oder ob sie am Abend stirbt, und im Frühjahr, aus ihrem Ei erstanden, eine andere Fliege summt; das ist an sich die selbe Sache: daher aber ist die Erkenntniß, die solches als zwei grundverschiedene Dinge darstellt, keine unbedingte, sondern eine relative, eine Erkenntniß der Erscheinung, nicht des Dinges an sich. Die Fliege ist am Morgen wieder da; sie ist auch im Frühjahr wieder da. Was unterscheidet für sie den Winter von der Nacht? - In Burdachs Physiologie, Bd. 1, §.275, lesen wir: »Bis Morgens 10 Uhr ist noch keine Cercaria ephemera (ein Infusionsthier) zu sehen (in der Infusion): und um 12 wimmelt das ganze Wasser davon. Abends sterben sie, und am andern Morgen entstehen wieder neue. So beobachtete es Nitzsch sechs Tage hinter einander.«

So weilt Alles nur einen Augenblick und eilt dem Tode zu.
Die Pflanze und das Insekt sterben am Ende des Sommers, das Thier, der Mensch, nach wenig Jahren: der Tod mäht unermüdlich. Desungeachtet aber, ja, als ob dem ganz und gar nicht so wäre, ist jederzeit Alles da und an Ort und Stelle, eben als wenn Alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und blüht die Pflanze, schwirrt das Insekt, steht Thier und Mensch in unverwüstlicher Jugend da, und die schon tausend Mal genossenen Kirschen haben wir jeden Sommer wieder vor uns. Auch die Völker stehen da, als unsterbliche Individuen; wenn sie gleich bisweilen die Namen wechseln: sogar ist ihr Thun, Treiben und Leiden allezeit das selbe; wenn gleich die Geschichte stets etwas Anderes zu erzählen vorgiebt: denn diese ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine neue Konfiguration zeigt, während wir eigentlich immer das Selbe vor Augen haben. Was also dringt sich unwiderstehlicher auf, als der Gedanke, daß jenes Entstehen und Vergehen nicht das eigentliche Wesen der Dinge treffe, sondern dieses davon unberührt bleibe, also unvergänglich sei, daher denn Alles und Jedes, was daseyn will, wirklich fortwährend und ohne Ende da ist. Demgemäß sind in jedem gegebenen Zeitpunkt alle Thiergeschlechter, von der Mücke bis zum Elephanten, vollzählig beisammen. Sie haben sich bereits viel Tausend Mal erneuert und sind dabei die selben geblieben. Sie wissen nicht von Andern ihres Gleichen, die vor ihnen gelebt, oder nach ihnen leben werden: die Gattung ist es, die allezeit lebt, und, im Bewußtseyn der Unvergänglichkeit derselben und ihrer Identität mit ihr, sind die Individuen da und wohlgemuth.

Der Wille zum Leben erscheint sich in endloser Gegenwart;
weil diese die Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern immer jung bleibt. Der Tod ist für sie, was der Schlaf für das Individuum, oder was für das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die Indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Menschengestalt erscheinen. Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu seyn aufhört; eben so scheinbar vergeht Mensch und Thier durch den Tod, und eben so ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemuth ausrufen: »Trotz Zeit, Tod und Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!«

Etwan Der wäre auszunehmen, der zu diesem Spiele ein Mal aus Herzensgrunde gesagt hätte: »Ich mag nicht mehr.« Aber davon zu reden ist hier noch nicht der Ort.

Wohl aber ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Wehen der Geburt und die Bitterkeit des Todes die beiden konstanten Bedingungen sind, unter denen der Wille zum Leben sich in seiner Ob|jektivation erhält, d.h. unser Wesen an sich, unberührt vom Laufe der Zeit und dem Hinsterben der Geschlechter, in immerwährender Gegenwart da ist und die Frucht der Bejahung des Willens zum Leben genießt. Dies ist dem analog, daß wir nur unter der Bedingung, allnächtlich zu schlafen, am Tage wach seyn können; sogar ist Letzteres der Kommentar, den die Natur zum Verständniß jenes schwierigen Passus liefert.

Denn das Substrat, oder die Ausfüllung, plêrôma, oder der Stoff der Gegenwart ist durch alle Zeit eigentlich der selbe. Die Unmöglichkeit, diese Identität unmittelbar zu erkennen, ist eben die Zeit, eine Form und Schranke unsers Intellekts. Daß, vermöge derselben, z.B. das Zukünftige noch nicht ist, beruht auf einer Täuschung, welcher wir inne werden, wann es gekommen ist. Daß die wesentliche Form unsers Intellekts eine solche Täuschung herbeiführt, erklärt und rechtfertigt sich daraus, daß der Intellekt keineswegs zum Auffassen des Wesens der Dinge, sondern bloß zu dem der Motive, also zum Dienst einer individuellen und zeitlichen Willenserscheinung, aus den Händen der Natur hervorgegangen ist.

Wenn man die uns hier beschäftigenden Betrachtungen zusammenfaßt, wird man auch den wahren Sinn der paradoxen Lehre der Eleaten verstehen, daß es gar kein Entstehen und Vergehen gebe, sondern das Ganze unbeweglich feststehe: Parmenidês kai Melissos anêroun genesin kai phthoran, dia to nomizein to pan akinêton. (Parmenides et Melissus ortum et interitum tollebant, quoniam nihil moveri putabant. Stob. Ecl., I, 21.) Imgleichen erhält hier auch die schöne Stelle des Empedokles Licht, welche Plutarch uns aufbehalten hat, im Buche Adversus Coloten c.12:

Nêpioi: ou gar sphin dolichophrones eisi merimnai,
HOi dê ginesthai paros ouk eon elpizousi,
E ti katadnêskein kai exollysthai hapantê.
Ouk an anêr toiauta sophos phresi manteusaito,
HOs ophra men te biôsi (to dê bioton kaleousi),
Tophra men oun eisin, kai sphin para deina kai esthla,
Prin te pagen te brotoi, kai epei lythen, ouden ar' eisin.
II548 (Stulta, et prolixas non admittentia curas
Pectora: qui sperant, existere posse, quod ante
Non fuit, aut ullam rem pessum protinus ire; -
Non animo prudens homo quod praesentiat ullus,
Dum vivunt (namque hoc vitaï nomine signant),
Sunt, et fortuna tum conflictantur utraque:
Ante ortum nihil est homo, nec post funera quidquam.)


Nicht weniger verdient hier erwähnt zu werden die so höchst merkwürdige und an ihrem Ort überraschende Stelle in Diderot's Jacques le fataliste: un château immense, au frontispice duquel on lisait: »Je n'appartiens à personne, et j'appartiens à tout le monde: vous y étiez avant que d'y entrer, vous y serez encore, quand vous en sortirez.«

In dem Sinne freilich, in welchem der Mensch bei der Zeugung aus nichts entsteht, wird er durch den Tod zu nichts. Dieses Nichts aber so ganz eigentlich kennen zu lernen, wäre sehr interessant; da nur mittelmäßiger Scharfsinn erfordert ist, einzusehen, daß dieses empirische Nichts keineswegs ein absolutes ist, d.h. ein solches, welches in jedem Sinne nichts wäre. Auf diese Einsicht leitet schon die empirische Bemerkung hin, daß alle Eigenschaften der Eltern sich im Erzeugten wiederfinden, also den Tod überstanden haben. Hievon werde ich jedoch in einem eigenen Kapitel reden.

Es giebt keinen größern Kontrast, als den zwischen der unaufhaltsamen Flucht der Zeit, die ihren ganzen Inhalt mit sich fortreißt, und der starren Unbeweglichkeit des wirklich Vorhandenen, welches zu allen Zeiten das eine und selbe ist. Und faßt man, von diesem Gesichtspunkt aus, die unmittelbaren Vorgänge des Lebens recht objektiv ins Auge; so wird Einem das Nunc stans im Mittelpunkte des Rades der Zeit klar und sichtbar. - Einem unvergleichlich länger lebenden Auge, welches mit einem Blick das Menschengeschlecht, in seiner ganzen Dauer, umfaßte, würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich nur darstellen wie eine anhaltende Vibration, und demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm würde, gleichwie unserm Blick der schnell gedrehte Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrirende Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Saite als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen.

Von der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod werden wir so lange falsche Begriffe haben, als wir uns nicht entschließen, sie zuvörderst an den Thieren zu studiren, sondern eine aparte Art derselben, unter dem prahlerischen Namen der Unsterblichkeit, uns allein anmaaßen. Diese Anmaaßung aber und die Beschränktheit der Ansicht, aus der sie hervorgeht, ist es ganz allein, weswegen die meisten Menschen sich so hartnäckig dagegen sträuben, die am Tage liegende Wahrheit anzuerkennen, daß wir, dem Wesentlichen nach und in der Hauptsache, das Selbe sind wie die Thiere; ja, daß sie vor jeder Andeutung unserer Verwandschaft mit diesen zurückbeben.

Diese Verleugnung der Wahrheit aber ist es, welche mehr als alles Andere ihnen den Weg versperrt zur wirklichen Erkenntniß der Unzerstörbarkeit unsers Wesens. Denn wenn man etwas auf einem falschen Wege sucht; so hat man eben deshalb den rechten verlassen und wird auf jenem am Ende nie etwas Anderes erreichen, als späte Enttäuschung. Also frisch weg, nicht nach vorgefaßten Grillen, sondern an der Hand der Natur, die Wahrheit verfolgt! Zuvörderst lerne man beim Anblick jedes jungen Thieres das nie alternde Daseyn der Gattung erkennen, welche, als einen Abglanz ihrer ewigen Jugend, jedem neuen Individuo eine zeitliche schenkt, und es auftreten läßt, so neu, so frisch, als wäre die Welt von heute. Man frage sich ehrlich, ob die Schwalbe des heurigen Frühlings eine ganz und gar andere, als die des ersten sei, und ob wirklich zwischen beiden das Wunder der Schöpfung aus Nichts sich Millionen Mal erneuert habe, um eben so oft absoluter Vernichtung in die Hände zu arbeiten. -

Ich weiß wohl, daß, wenn ich Einen ernsthaft versicherte, die Katze, welche eben jetzt auf dem Hofe spielt, sei noch die selbe, welche dort vor dreihundert Jahren die nämlichen Sprünge und Schliche gemacht hat, er mich für toll halten würde: aber ich weiß auch, daß es sehr viel toller ist, zu glauben, die heutige Katze sei durch und durch und von Grund aus eine ganz andere, als jene vor dreihundert Jahren. - Man braucht sich nur treu und ernst in den Anblick eines dieser obern Wirbelthiere zu vertiefen, um deutlich inne zu werden, daß dieses unergründliche Wesen, wie es da ist, im Ganzen genommen, unmöglich zu Nichts werden kann: und doch kennt man andererseits seine Vergänglichkeit. Dies beruht darauf, daß in diesem Thiere die Ewigkeit seiner Idee (Gattung) in der Endlichkeit des Individui ausgeprägt ist. Denn in gewissem Sinne ist es allerdings wahr, daß wir im Individuo stets ein anderes Wesen vor uns haben, nämlich in dem Sinne, der auf dem Satz vom Grunde beruht, unter welchem auch Zeit und Raum begriffen sind, welche das principium individuationis ausmachen. In einem andern Sinne aber ist es nicht wahr, nämlich in dem, in welchem die Realität allein den bleibenden Formen der Dinge, den Ideen zukommt, und welcher dem Plato so klar eingeleuchtet hatte, daß derselbe sein Grundgedanke, das Centrum seiner Philosophie, und die Auffassung desselben sein Kriterium der Befähigung zum Philosophiren überhaupt wurde.

Wie die zerstäubenden Tropfen des tobenden Wasserfalls mit Blitzesschnelle wechseln, während der Regenbogen, dessen Träger sie sind, in unbeweglicher Ruhe feststeht, ganz unberührt von jenem rastlosen Wechsel; so bleibt jede Idee, d.i. jede Gattung lebender Wesen, ganz unberührt vom fortwährenden Wechsel ihrer Individuen. Die Idee aber, oder die Gattung, ist es, darin der Wille zum Leben eigentlich wurzelt und sich manifestirt: daher auch ist an ihrem Bestand allein ihm wahrhaft gelegen. Z.B. die Löwen, welche geboren werden und sterben, sind wie die Tropfen des Wasserfalls; aber die leonitas, die Idee, oder Gestalt, des Löwen, gleicht dem unerschütterten Regenbogen darauf.

Darum also legte Plato den Ideen allein, d.i. den species, den Gattungen, ein eigentliches Seyn bei, den Individuen nur ein rastloses Entstehen und Vergehen. Aus dem tiefinnersten Bewußtseyn seiner Unvergänglichkeit entspringt eigentlich auch die Sicherheit und Gemüthsruhe, mit der jedes thierische und auch das menschliche Individuum unbesorgt dahin wandelt zwischen einem Heer von Zufällen, die es jeden Augenblick vernichten können, und überdies dem Tode gerade entgegen: aus seinen Augen blickt inzwischen die Ruhe der Gattung, als welche jener Untergang nicht anficht und nicht angeht. Auch dem Menschen könnten diese Ruhe die unsichern und wechselnden Dogmen nicht verleihen.

Aber, wie gesagt, der Anblick jedes Thieres lehrt, daß dem Kern des Lebens, dem Willen, in seiner Manifestation der Tod nicht hinderlich ist. Welch ein unergründliches Mysterium liegt doch in jedem Thiere! Seht das nächste, seht euern Hund an: wie wohlgemuth und ruhig er dasteht! Viele Tausende von Hunden haben sterben müssen, ehe es an diesen kam, zu leben. Aber der Untergang jener Tausende hat die Idee des Hundes nicht angefochten: sie ist durch alles jenes Sterben nicht im Mindesten getrübt worden. Daher steht der Hund so frisch und urkräftig da, als wäre dieser Tag sein erster und könne keiner sein letzter seyn, und aus seinen Augen leuchtet das unzerstörbare Princip in ihm, der Archaeus. Was ist denn nun jene Jahrtausende hindurch gestorben? - Nicht der Hund, er steht unversehrt vor uns; bloß sein Schatten, sein Abbild in unserer an die Zeit gebundenen Erkenntnißweise. Wie kann man doch nur glauben, daß Das vergehe, was immer und immer da ist und alle Zeit ausfüllt? - Freilich wohl ist die Sache empirisch erklärlich: nämlich in dem Maaße, wie der Tod die Individuen vernichtete, brachte die Zeugung neue hervor. Aber diese empirische Erklärung ist bloß scheinbar eine solche: sie setzt ein Räthsel an die Stelle des andern. Der metaphysische Verstand der Sache ist, wenn auch nicht so wohlfeil zu haben, doch der allein wahre und genügende.

Kant, in seinem subjektiven Verfahren, brachte die große, wiewohl negative Wahrheit zu Tage, daß dem Ding an sich die Zeit nicht zukommen könne; weil sie in unserer Auffassung präformirt liege. Nun ist der Tod das zeitliche Ende der zeitlichen Erscheinung: aber sobald wir die Zeit wegnehmen, giebt es gar kein Ende mehr und hat dies Wort alle Bedeutung verloren. Ich aber, hier auf dem objektiven Wege, bin jetzt bemüht, das Positive der Sache nachzuweisen, daß nämlich das Ding an sich von der Zeit und Dem, was nur durch sie möglich ist, dem Entstehen und Vergehen, unberührt bleibt, und daß die Erscheinungen in der Zeit sogar jenes rastlos flüchtige, dem Nichts zunächst stehende Daseyn nicht haben könnten, wenn nicht in ihnen ein Kern aus der Ewigkeit wäre. Die Ewigkeit ist freilich ein Begriff, dem keine Anschauung zum Grunde liegt: er ist auch deshalb bloß negativen Inhalts, besagt nämlich ein zeitloses Daseyn. Die Zeit ist demnach ein bloßes Bild der Ewigkeit, ho chronos eikôn tou aiônos, wie es Plotinus hat: und ebenso ist unser zeitliches Daseyn das bloße Bild unsers Wesens an sich. Dieses muß in der Ewigkeit liegen, eben weil die Zeit nur die Form unsers Erkennens ist: vermöge dieser allein aber erkennen wir unser und aller Dinge Wesen als vergänglich, endlich und der Vernichtung anheimgefallen.

Im zweiten Buche habe ich ausgeführt, daß die adäquate Objektität des Willens als Dinges an sich, auf jeder ihrer Stufen die (Platonische) Idee ist; desgleichen im dritten Buche, daß die Ideen der Wesen das reine Subjekt des Erkennens zum Korrelat haben, folglich die Erkenntniß derselben nur ausnahmsweise, unter besondern Begünstigungen und vorübergehend eintritt. Für die individuelle Erkenntniß hingegen, also in der Zeit, stellt die Idee sich dar unter der Form der Species, welches die durch Eingehen in die Zeit auseinandergezogene Idee ist. Daher ist also die Species die unmittelbarste Objektivation des Dinges an sich, d.i. des Willens zum Leben. Das innerste Wesen jedes Thieres, und auch des Menschen, liegt demgemäß in der Species: in dieser also wurzelt der sich so mächtig regende Wille zum Leben, nicht eigentlich im Individuo. Hingegen liegt in diesem allein das unmittelbare Bewußtseyn: deshalb wähnt es sich von der Gattung verschieden, und darum fürchtet es den Tod. Der Wille zum Leben manifestirt sich in Beziehung auf das Individuum als Hunger und Todesfurcht; in Beziehung auf die Species als Geschlechtstrieb und leidenschaftliche Sorge für die Brut. In Uebereinstimmung hiemit finden wir die Natur, als welche von jenem Wahn des Individuums frei ist, so sorgsam für die Erhaltung der Gattung, wie gleichgültig gegen den Untergang der Individuen: diese sind ihr stets nur Mittel, jene ist ihr Zweck. Daher tritt ein greller Kontrast hervor zwischen ihrem Geiz bei Ausstattung der Individuen und ihrer Verschwendung, wo es die Gattung gilt. Hier nämlich werden oft von einem Individuo jährlich hundert Tausend Keime und darüber gewonnen, z.B. von Bäumen, Fischen, Krebsen, Termiten u.a.m. Dort hingegen ist Jedem an Kräften und Organen nur knapp so viel gegeben, daß es bei unausgesetzter Anstrengung sein Leben fristen kann; weshalb ein Thier, wenn es verstümmelt oder geschwächt wird, in der Regel verhungern muß.

Und wo eine gelegentliche Ersparniß möglich war, dadurch daß ein Theil zur Noth entbehrt werden konnte, ist er, selbst außer der Ordnung, zurückbehalten worden: daher fehlen z.B. vielen Raupen die Augen: die armen Thiere tappen im Finstern von Blatt zu Blatt, welches beim Mangel der Fühlhörner dadurch geschieht, daß sie sich mit drei Viertel ihres Leibes in der Luft hin und her bewegen, bis sie einen Gegenstand treffen; wobei sie oft ihr dicht daneben anzutreffendes Futter verfehlen. Allein dies geschieht in Folge der lex parsimoniae naturae, zu deren Ausdruck natura nihil facit supervacaneum man noch fügen kann et nihil largitur. - Die selbe Richtung der Natur zeigt sich auch darin, daß je tauglicher das Individuum, vermöge seines Alters, zur Fortpflanzung ist, desto kräftiger in ihm die vis naturae medicatrix sich äußert, seine Wunden daher leicht heilen und es von Krankheiten leicht genest. Dieses nimmt ab mit der Zeugungsfähigkeit, und sinkt tief, nachdem sie erloschen ist: denn jetzt ist, in den Augen der Natur, das Individuum werthlos geworden.

Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Stufenleiter der Wesen, mit sammt der sie begleitenden Gradation des Bewußtseyns, vom Polypen bis zum Menschen; so sehen wir diese wundervolle Pyramide zwar durch den steten Tod der Individuen in unausgesetzter Oscillation erhalten, jedoch, mittelst des Bandes der Zeugung, in den Gattungen, die Unendlichkeit der Zeit hindurch beharren. Während nun also, wie oben ausgeführt worden, das Objektive, die Gattung, sich als unzerstörbar darstellt, scheint das Subjektive, als welches bloß im Selbstbewußtseyn dieser Wesen besteht, von der kürzesten Dauer zu seyn und unablässig zerstört zu werden, um eben so oft, auf unbegreifliche Weise, wieder aus dem Nichts hervorzugehen.

Wahrlich aber muß man sehr kurzsichtig seyn, um sich durch diesen Schein täuschen zu lassen und nicht zu begreifen, daß, wenn gleich die Form der zeitlichen Fortdauer nur dem Objektiven zukommt, das Subjektive, d.i. der Wille, welcher in dem Allen lebt und erscheint, und mit ihm das Subjekt des Erkennens, in welchem dasselbe sich darstellt, - nicht minder unzerstörbar seyn muß; indem die Fortdauer des Objektiven, oder Aeußern, doch nur die Erscheinung der Unzerstörbarkeit des Subjektiven, oder Innern, seyn kann; da Jenes nichts besitzen kann, was es nicht von Diesem zu Lehn empfangen hätte; nicht aber wesentlich und ursprünglich ein Objektives, eine Erscheinung, und sodann sekundär und accidentell ein Subjektives, ein Ding an sich, ein Selbstbewußtes seyn kann. Denn offenbar setzt Jenes als Erscheinung ein Erscheinendes, als Seyn für Anderes ein Seyn für sich, und als Objekt ein Subjekt voraus; nicht aber umgekehrt: weil überall die Wurzel der Dinge in Dem, was sie für sich selbst sind, also im Subjektiven liegen muß, nicht im Objektiven, d.h. in Dem, was sie erst für Andere, in einem fremden Bewußtseyn sind.

Demgemäß fanden wir, im ersten Buch, daß der richtige Ausgangspunkt für die Philosophie wesentlich und nothwendig der subjektive, d.i. der idealistische ist; wie auch, daß der entgegengesetzte, vom Objektiven ausgehende, zum Materialismus führt. - Im Grunde aber sind wir mit der Welt viel mehr Eins, als wir gewöhnlich denken: ihr inneres Wesen ist unser Wille; ihre Erscheinung ist unsere Vorstellung. Wer dieses Einsseyn sich zum deutlichen Bewußtseyn bringen könnte, dem würde der Unterschied zwischen der Fortdauer der Außenwelt, nachdem er gestorben, und seiner eigenen Fortdauer nach dem Tode verschwinden: Beides würde sich ihm als Eines und Dasselbe darstellen, ja, er würde über den Wahn lachen, der sie trennen konnte. Denn das Verständniß der Unzerstörbarkeit unsers Wesens fällt mit dem der Identität des Makrokosmos und Mikrokosmos zusammen.

Einstweilen kann man das hier Gesagte sich durch ein eigenthümliches, mittelst der Phantasie vorzunehmendes Experiment, welches ein metaphysisches genannt werden könnte, erläutern. Man versuche nämlich, sich die keinen Falls gar ferne Zeit, da man gestorben seyn wird, lebhaft zu vergegenwärtigen. Da denkt man sich weg und läßt die Welt fortbestehen: aber bald wird man, zu eigener Verwunderung, entdecken, daß man dabei doch noch da war. Denn man hat vermeint, die Welt ohne sich vorzustellen: allein im Bewußtseyn ist das Ich das Unmittelbare, durch welches die Welt erst vermittelt, für welches allein sie vorhanden ist. Dieses Centrum alles Daseyns, diesen Kern aller Realität soll man aufheben und dabei dennoch die Welt fortbestehen lassen: es ist ein Gedanke, der sich wohl in abstracto denken, aber nicht realisiren läßt.

Das Bemühen, dieses zu leisten, der Versuch, das Sekundäre ohne das Primäre, das Bedingte ohne die Bedingung, das Getragene ohne den Träger zu denken, mißlingt jedes Mal, ungefähr so, wie der, sich einen gleichseitigen rechtwinklichten Triangel, oder ein Vergehen oder Entstehen von Materie und ähnliche Unmöglichkeiten mehr zu denken. Statt des Beabsichtigten dringt sich uns dabei das Gefühl auf, daß die Welt nicht weniger in uns ist, als wir in ihr, und daß die Quelle aller Realität in unserm Innern liegt. Das Resultat ist eigentlich dieses: die Zeit, da ich nicht seyn werde, wird objektiv kommen: aber subjektiv kann sie nie kommen. -

Es ließe daher sich sogar fragen, wie weit denn Jeder, in seinem Herzen, wirklich an eine Sache glaube, die er sich eigentlich gar nicht denken kann; oder ob nicht vielleicht gar, da sich zu jenem bloß intellektuellen, aber mehr oder minder deutlich von Jedem schon gemachten Experiment, noch das tiefinnere Bewußtseyn der Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich gesellt, der eigene Tod uns im Grunde die fabelhafteste Sache von der Welt sei.

Die tiefe Ueberzeugung von unserer Unvertilgbarkeit durch den Tod, welche, wie auch die unausbleiblichen Gewissenssorgen bei Annäherung desselben bezeugen, Jeder im Grunde seines Herzens trägt, hängt durchaus an dem Bewußtseyn unserer Ursprünglichkeit und Ewigkeit; daher Spinoza sie so ausdrückt: sentimus, experimurque, nos aeternos esse. Denn als unvergänglich kann ein vernünftiger Mensch sich nur denken, sofern er sich als anfangslos, als ewig, eigentlich als zeitlos denkt. Wer hingegen sich für aus Nichts geworden hält, muß auch denken, daß er wieder zu Nichts wird: denn daß eine Unendlichkeit verstrichen wäre, ehe er war, dann aber eine zweite angefangen habe, welche hindurch er nie aufhören wird zu seyn, ist ein monstroser Gedanke.

Wirklich ist der solideste Grund für unsere Unvergänglichkeit der alte Satz: Ex nihilo nihil fit, et in nihilum nihil potest reverti. Ganz treffend sagt daher Theophrastus Paracelsus (Werke, Strasburg 1603, Bd. 2, S.6): »Die Seel in mir ist aus Etwas geworden; darum sie nicht zu Nichts kommt: denn aus Etwas kommt sie.« Er giebt den wahren Grund an. Wer aber die Geburt des Menschen für dessen absoluten Anfang hält, dem muß der Tod das absolute Ende desselben seyn. Denn Beide sind was sie sind in gleichem Sinne: folglich kann Jeder sich nur insofern als unsterblich denken, als er sich auch als ungeboren denkt, und in gleichem Sinn. Was die Geburt ist, das ist, dem Wesen und der Bedeutung nach, auch der Tod; es ist die selbe Linie in zwei Richtungen beschrieben. Ist jene eine wirkliche Entstehung aus Nichts; so ist auch dieser eine wirkliche Vernichtung. In Wahrheit aber läßt sich nur mittelst der Ewigkeit unsers eigentlichen Wesens eine Unvergänglichkeit desselben denken, welche mithin keine zeitliche ist. Die Annahme, daß der Mensch aus Nichts geschaffen sei, führt nothwendig zu der, daß der Tod sein absolutes Ende sei. Hierin ist also das A.T. völlig konsequent: denn zu einer Schöpfung aus Nichts passt keine Unsterblichkeitslehre. Das neutestamentliche Christenthum hat eine solche, weil es Indischen Geistes und daher, mehr als wahrscheinlich, auch Indischer Herkunft ist, wenn gleich nur unter Aegyptischer Vermittelung. Allein zu dem Jüdischen Stamm, auf welchen jene Indische Weisheit im gelobten Lande gepfropft werden mußte, paßt solche wie die Freiheit des Willens zum Geschaffenseyn desselben, oder wie

Humano capiti cervicem pictor equinam
Jungere si velit.


Es ist immer schlimm, wenn man nicht von Grund aus originell seyn und aus ganzem Holze schneiden darf. - Hingegen haben Brahmanismus und Buddhaismus ganz konsequent zur Fortdauer nach dem Tode ein Daseyn vor der Geburt, dessen Verschuldung abzubüßen dieses Leben da ist. Wie deutlich sie auch der nothwendigen Konsequenz hierin sich bewußt sind, zeigt folgende Stelle aus Colebrooke's Geschichte der Indischen Philosophie in den Transact. of the Asiatic London Society, Vol. 1, p.577: Against the system of the Bhagavatas, which is but partially heretical, the objection upon which the chief stress is laid by Vyasa is, that the soul would not be eternal, if it were a production, and consequently had a beginning. [»Gegen das System der Bagavatas, welches nur zum Theil ketzerisch ist, ist die Einwendung, auf welche Vyasa das größte Gewicht legt, diese, daß die Seele nicht ewig seyn würde, wenn sie hervorgabracht wäre und folglich einen Anfang hätte«].

Ferner in Upham's Doctrine of Buddhism, S.110, heißt es: The lot in hell of impious persons call'd Deitty is the most severe: these are they, who discrediting the evidence of Buddha, adhere to the heretical doctrine, that all living beings had their beginning in the mother's womb, and will have their end in death. [»In der Hölle ist das härteste Loos das jener Irreligionen, Deitty genannt werden: dies sind solche, welche, das Zeugniß Buddhas verwerfend, der ketzerischen Lehre anhängen, daß alle lebenden Wesen ihren Anfang im Mutterleibe nehmen und ihr Ende im Tode erreichen.«]

Wer sein Daseyn bloß als ein zufälliges auffaßt, muß allerdings fürchten, es durch den Tod zu verlieren. Hingegen wer auch nur im Allgemeinen einsieht, daß dasselbe auf irgend einer ursprünglichen Nothwendigkeit beruhe, wird nicht glauben, daß diese, die etwas so Wundervolles herbeigeführt hat, auf eine solche Spanne Zeit beschränkt sei, sondern daß sie in jeder wirke. Als ein nothwendiges aber wird sein Daseyn erkennen, wer erwägt, daß bis jetzt, da er existirt, bereits eine unendliche Zeit, also auch eine Unendlichkeit von Veränderungen abgelaufen ist, er aber dieser ungeachtet doch da ist: die ganze Möglichkeit aller Zustände hat sich also bereits erschöpft, ohne sein Daseyn aufheben zu können. Könnte er jemals nicht seyn; so wäre er schon jetzt nicht. Denn die Unendlichkeit der bereits abgelaufenen Zeit, mit der darin erschöpften Möglichkeit ihrer Vorgänge, verbürgt, daß was existirt nothwendig existirt. Mithin hat Jeder sich als ein nothwendiges Wesen zu begreifen, d.h. als ein solches, aus dessen wahrer und erschöpfender Definition, wenn man sie nur hätte, das Daseyn desselben folgen würde. In diesem Gedankengange liegt wirklich der allein immanente, d.h. sich im Bereich erfahrungsmäßiger Data haltende Beweis der Unvergänglichkeit unsers eigentlichen Wesens. Diesem nämlich muß die Existenz inhäriren, weil sie sich als von allen durch die Kausalkette möglicherweise herbeiführbaren Zuständen unabhängig erweist: denn diese haben bereits das Ihrige gethan, und dennoch ist unser Daseyn davon so unerschüttert geblieben, wie der Lichtstrahl vom Sturmwind, den er durchschneidet.

Könnte die Zeit, aus eigenen Kräften, uns einem glücksäligen Zustande entgegenführen; so wären wir schon lange da: denn eine unendliche Zeit liegt hinter uns. Aber ebenfalls: könnte sie uns dem Untergange entgegenführen; so wären wir schon längst nicht mehr. Daraus, daß wir jetzt da sind, folgt, wohlerwogen, daß wir jederzeit daseyn müssen. Denn wir sind selbst das Wesen, welches die Zeit, um ihre Leere auszufüllen, in sich aufgenommen hat: deshalb füllt es eben die ganze Zeit, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf gleiche Weise, und es ist uns so unmöglich, aus dem Daseyn, wie aus dem Raum hinauszufallen. -

Genau betrachtet ist es undenkbar, daß Das, was ein Mal in aller Kraft der Wirklichkeit da ist, jemals zu nichts werden und dann eine unendliche Zeit hindurch nicht seyn sollte. Hieraus ist die Lehre der Christen von der Wiederbringung aller Dinge, die der Hindu von der sich stets erneuernden Schöpfung der Welt durch Brahma, nebst ähnlichen Dogmen Griechischer Philosophen hervorgegangen. -

Das große Geheimniß unsers Seyns und Nichtseyns, welches aufzuklären diese und alle damit verwandten Dogmen erdacht wurden, beruht zuletzt darauf, daß das Selbe, was objektiv eine unendliche Zeitreihe ausmacht, subjektiv ein Punkt, eine untheilbare, allezeit gegenwärtige Gegenwart ist: aber wer faßt es? Am deutlichsten hat es Kant dargelegt, in seiner unsterblichen Lehre von der Idealität der Zeit und der alleinigen Realität des Dinges an sich. Denn aus dieser ergiebt sich, daß das eigentlich Wesentliche der Dinge, des Menschen, der Welt, bleibend und beharrend im Nunc stans liegt, fest und unbeweglich; und daß der Wechsel der Erscheinungen und Begebenheiten eine bloße Folge unserer Auffassung desselben mittelst unserer Anschauungsform der Zeit ist. -

Demnach, statt zu den Menschen zu sagen: »ihr seid durch die Geburt entstanden, aber unsterblich«; sollte man ihnen sagen: »ihr seid nicht Nichts«, und sie dieses verstehen lehren, im Sinne des dem Hermes Trismegistos beigelegten Ausspruchs: To gar on aei estai. (Quod enim est, erit semper. Stob. Ecl., I, 43, 6.) Wenn es jedoch hiemit nicht gelingt, sondern das beängstigte Herz sein altes Klagelied anstimmt: »Ich sehe alle Wesen durch die Geburt aus dem Nichts entstehen und diesem nach kurzer Frist wieder anheimfallen: auch mein Daseyn, jetzt in der Gegenwart, wird bald in ferner Vergangenheit liegen, und ich werde Nichts seyn!« - so ist die richtige Antwort: »Bist du nicht da? Hast du sie nicht inne, die kostbare Gegenwart, nach der ihr Kinder der Zeit alle so gierig trachtet, jetzt inne, wirklich inne? Und verstehst du, wie du zu ihr gelangt bist? Kennst du die Wege, die dich zu ihr geführt haben, daß du einsehen könntest, sie würden dir durch den Tod versperrt? Ein Daseyn deines Selbst, nach der Zerstörung deines Leibes, ist dir seiner Möglichkeit nach unbegreiflich: aber kann es dir unbegreiflicher seyn, als dir dein jetziges Daseyn ist, und wie du dazu gelangtest? Warum solltest du zweifeln, daß die geheimen Wege, die dir zu dieser Gegenwart offen standen, dir nicht auch zu jeder künftigen offen stehen werden?«

Wenn also Betrachtungen dieser Art allerdings geeignet sind, die Ueberzeugung zu erwecken, daß in uns etwas ist, das der Tod nicht zerstören kann; so geschieht es doch nur mittelst Erhebung auf einen Standpunkt, von welchem aus die Geburt nicht der Anfang unsers Daseyns ist. Hieraus aber folgt, daß was als durch den Tod unzerstörbar dargethan wird, nicht eigentlich das Individuum ist, welches überdies durch die Zeugung entstanden und die Eigenschaften des Vaters und der Mutter an sich tragend, als eine bloße Differenz der Species sich darstellt, als solche aber nur endlich seyn kann. Wie, Dem entsprechend, das Individuum keine Erinnerung seines Daseyns vor seiner Geburt hat, so kann es von seinem jetzigen keine nach dem Tode haben.

In das Bewußtseyn aber setzt Jeder sein Ich: dieses erscheint ihm daher als an die Individualität gebunden, mit welcher ohnehin alles Das untergeht, was ihm, als Diesem, eigenthümlich ist und ihn von den Andern unterscheidet. Seine Fortdauer ohne die Individualität wird ihm daher vom Fortbestehen der übrigen Wesen ununterscheidbar, und er sieht sein Ich versinken. Wer nun aber so sein Daseyn an die Identität des Bewußtseyns knüpft und daher für dieses eine endlose Fortdauer nach dem Tode verlangt, sollte bedenken, daß er eine solche jedenfalls nur um den Preis einer eben so endlosen Vergangenheit vor der Geburt erlangen kann. Denn da er von einem Daseyn vor der Geburt keine Erinnerung hat, sein Bewußtseyn also mit der Geburt anfängt, muß ihm diese für ein Hervorgehen seines Daseyns aus dem Nichts gelten. Dann aber erkauft er die unendliche Zeit seines Daseyns nach dem Tode für eine eben so lange vor der Geburt: wobei die Rechnung, ohne Profit für ihn, aufgeht. Ist hingegen das Daseyn, welches der Tod unberührt läßt, ein anderes, als das des individuellen Bewußtseyns; so muß es, eben so wie vom Tode, auch von der Geburt unabhängig seyn, und demnach in Beziehung auf dasselbe es gleich wahr seyn zu sagen: »ich werde stets seyn« und »ich bin stets gewesen«; welches dann doch zwei Unendlichkeiten für eine giebt. -

Eigentlich aber liegt im Worte Ich das größte Aequivokum, wie ohne Weiteres Der einsehen wird, dem der Inhalt unsers zweiten Buches und die dort durchgeführte Sonderung des wollenden vom erkennenden Theil unsers Wesens gegenwärtig ist. Je nachdem ich dieses Wort verstehe, kann ich sagen: »Der Tod ist mein gänzliches Ende«; oder aber auch: »Ein so unendlich kleiner Theil der Welt ich bin; ein eben so kleiner Theil meines wahren Wesens ist diese meine persönliche Erscheinung.« Aber das Ich ist der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehenerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht.

Unser Erkenntnißvermögen ist ganz nach Außen gerichtet, Dem entsprechend, daß es das Produkt einer zum Zwecke der bloßen Selbsterhaltung, also des Nahrungsuchens und Beutefangens entstandenen Gehirnfunktion ist. Daher weiß Jeder von sich nur als von diesem Individuo, wie es in der äußeren Anschauung sich darstellt. Könnte er hingegen zum Bewußtseyn bringen was er noch überdies und außerdem ist; so wurde er seine Individualität willig fahren lassen, die Tenacität seiner Anhänglichkeit an dieselbe belächeln und sagen: »Was kümmert der Verlust dieser Individualität mich, der ich die Möglichkeit zahlloser Individualitäten in mir trage?«

Er würde einsehen, daß, wenn ihm gleich eine Fortdauer seiner Individualität nicht bevorsteht, es doch ganz so gut ist, als hätte er eine solche; weil er einen vollkommenen Ersatz für sie in sich trägt. - Ueberdies ließe sich nun aber noch in Erwägung bringen, daß die Individualität der meisten Menschen eine so elende und nichtswürdige ist, daß sie wahrlich nichts daran verlieren, und daß was an ihnen noch einigen Werth haben mag, das allgemein Menschliche ist: diesem aber kann man die Unvergänglichkeit versprechen. Ja, schon die starre Unveränderlichkeit und wesentliche Beschränkung jeder Individualität, als solcher, müßte, bei einer endlosen Fortdauer derselben, endlich, durch ihre Monotonie, einen so großen Ueberdruß erzeugen, daß man, um ihrer nur entledigt zu seyn, lieber zu Nichts würde.

Unsterblichkeit der Individualität verlangen, heißt eigentlich einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren wollen. Denn im Grunde ist doch jede Individualität nur ein specieller Irrthum, Fehltritt, etwas das besser nicht wäre, ja, wovon uns zurückzubringen der eigentliche Zweck des Lebens ist. Dies findet seine Bestätigung auch darin, daß die allermeisten, ja, eigentlich alle Menschen so beschaffen sind, daß sie nicht glücklich seyn könnten, in welche Welt auch immer sie versetzt werden möchten. In dem Maaße nämlich, als eine solche Noth und Beschwerde ausschlösse, würden sie der Langenweile anheimfallen, und in dem Maaße, als dieser vorgebeugt wäre, würden sie in Noth, Plage und Leiden gerathen.

Zu einem glücksäligen Zustande des Menschen wäre also keineswegs hinreichend, daß man ihn in eine »bessere Welt« versetzte, sondern auch noch erfordert, daß mit ihm selbst eine Grundveränderung vorgienge, also daß er nicht mehr wäre was er ist, und dagegen würde was er nicht ist. Dazu aber muß er zuvörderst aufhören zu seyn was er ist: dieses Erforderniß erfüllt vorläufig der Tod, dessen moralische Nothwendigkeit sich von diesem Gesichtspunkt aus schon absehen läßt. In eine andere Welt versetzt werden, und sein ganzes Wesen verändern, - ist im Grunde Eins und dasselbe. Hierauf beruht auch zuletzt jene Abhängigkeit des Objektiven vom Subjektiven, welche der Idealismus unsers ersten Buches darlegt: demnach liegt hier der Anknüpfungspunkt der Transscendentalphilosophie an die Ethik.

Wenn man dies berücksichtigt, wird man das Erwachen aus dem Traume des Lebens nur dadurch möglich finden, daß mit demselben auch sein ganzes Grundgewebe zerrinnt: dies aber ist sein Organ selbst, der Intellekt, sammt seinen Formen, als mit welchem der Traum sich ins Unendliche fortspinnen würde; so fest ist er mit jenem verwachsen. Das, was ihn eigentlich träumte, ist doch noch davon verschieden und bleibt allein übrig. Hingegen ist die Besorgniß, es möchte mit dem Tode Alles aus seyn, Dem zu vergleichen, daß Einer im Traume dächte, es gäbe bloße Träume, ohne einen Träumenden. -

Nachdem nun aber durch den Tod ein individuelles Bewußtseyn ein Mal geendigt hat; wäre es da auch nur wünschenswerth, daß es wieder angefacht würde, um ins Endlose fortzubestehen? Sein Inhalt ist, dem größten Theile nach, ja meistens durchweg, nichts als ein Strom kleinlicher, irdischer, armsäliger Gedanken und endloser Sorgen: laßt diese doch endlich beruhigt werden! -

Mit richtigem Sinne setzten daher die Alten auf ihre Grabsteine: securitati perpetuae; - oder bonae quieti. Wollte man aber gar hier, wie so oft geschehen, Fortdauer des individuellen Bewußtseyns verlangen, um eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung daran zu knüpfen; so würde es hiemit im Grunde nur auf die Vereinbarkeit der Tugend mit dem Egoismus abgesehen seyn. Diese Beiden aber werden sich nie umarmen: sie sind von Grund aus Entgegengesetzte. Wohlbegründet hingegen ist die unmittelbare Ueberzeugung, welche der Anblick edler Handlungen hervorruft, daß der Geist der Liebe, der Diesen seiner Feinde schonen, Jenen des zuvor nie Gesehenen sich mit Lebensgefahr annehmen heißt, nimmermehr verfliegen und zu Nichts werden kann. -

Die gründlichste Antwort auf die Frage nach der Fortdauer des Individuums nach dem Tode liegt in Kant's großer Lehre von der Idealität der Zeit, als welche gerade hier sich besonders folgenreich und fruchtbar erweist, indem sie, durch eine völlig theoretische aber wohlerwiesene Einsicht, Dogmen, die auf dem einen wie auf dem andern Wege zum Absurden führen, ersetzt und so die excitirendeste aller metaphysischen Fragen mit einem Male beseitigt. Anfangen, Enden und Fortdauern sind Begriffe, welche ihre Bedeutung einzig und allein von der Zeit entlehnen und folglich nur unter Voraussetzung dieser gelten. Allein die Zeit hat kein absolutes Daseyn, ist nicht die Art und Weise des Seyns an sich der Dinge, sondern bloß die Form unserer Erkenntniß von unserm und aller Dinge Daseyn und Wesen, welche eben dadurch sehr unvollkommen und auf bloße Erscheinungen beschränkt ist. In Hinsicht auf diese allein also finden die Begriffe von Aufhören und Fortdauern Anwendung, nicht in Hinsicht auf das in ihnen sich Darstellende, das Wesen an sich der Dinge, auf welches angewandt jene Begriffe daher keinen wahren Sinn mehr haben. Dies zeigt sich denn auch daran, daß eine Beantwortung der von jenen Zeit-Begriffen ausgehenden Frage unmöglich wird und jede Behauptung einer solchen, sei sie auf der einen oder der andern Seite, schlagenden Einwürfen unterliegt.

Man könnte zwar behaupten, daß unser Wesen an sich nach dem Tode fortdauere, weil es falsch sei, daß es untergienge; aber eben so gut, daß es untergienge, weil es falsch sei, daß es fortdauere: im Grunde ist das Eine so wahr, wie das Andere. Hier ließe sich demnach allerdings so etwas, wie eine Antinomie aufstellen. Allein sie würde auf lauter Negationen beruhen. Man spräche darin dem Subjekt des Urtheils zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Prädikate ab; aber nur weil die ganze Kategorie derselben auf jenes nicht anwendbar wäre. Wenn man nun aber jene beiden Prädikate nicht zusammen, sondern einzeln ihm abspricht, gewinnt es den Schein, als wäre das kontradiktorische Gegentheil des jedesmal abgesprochenen Prädikats dadurch von ihm bewiesen. Dies beruht aber darauf, daß hier inkommensurable Größen verglichen werden, insofern das Problem uns auf einen Schauplatz versetzt, welcher die Zeit aufhebt, dennoch aber nach Zeitbestimmungen frägt, welche folglich dem Subjekt beizulegen und ihm abzusprechen gleich falsch ist: dies eben heißt: das Problem ist transscendent. In diesem Sinne bleibt der Tod ein Mysterium.

Hingegen kann man, eben jenen Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich festhaltend, die Behauptung aufstellen, daß der Mensch zwar als Erscheinung vergänglich sei, das Wesen an sich desselben jedoch hievon nicht mitgetroffen werde, dasselbe also, obwohl man, wegen der diesem anhängenden Elimination der Zeitbegriffe, ihm keine Fortdauer beilegen könne, doch unzerstörbar sei. Demnach würden wir hier auf den Begriff einer Unzerstörbarkeit, die jedoch keine Fortdauer wäre, geleitet. Dieser Begriff nun ist ein solcher, der, auf dem Wege der Abstraktion gewonnen, sich auch allenfalls in abstracto denken läßt, jedoch durch keine Anschauung belegt, mithin nicht eigentlich deutlich werden kann.

Andererseits jedoch ist hier festzuhalten, daß wir nicht, mit Kant, die Erkennbarkeit des Dinges an sich schlechthin aufgegeben haben, sondern wissen, daß dasselbe im Willen zu suchen sei. Zwar haben wir eine absolute und erschöpfende Erkenntniß des Dinges an sich nie behauptet, vielmehr sehr wohl eingesehen, daß, Etwas nach dem, was es schlechthin an und für sich sei, zu erkennen, unmöglich ist. Denn sobald ich erkenne, habe ich eine Vorstellung: diese aber kann, eben weil sie meine Vorstellung ist, nicht mit dem Erkannten identisch seyn, sondern giebt es, indem sie es aus einem Seyn für sich zu einem Seyn für Andere macht, in einer ganz andern Form wieder, ist also stets noch als Erscheinung desselben zu betrachten.

Für ein erkennendes Bewußtseyn, wie immer solches auch beschaffen seyn möge, kann es daher stets nur Erscheinungen geben. Dies wird selbst dadurch nicht ganz beseitigt, daß mein eigenes Wesen das Erkannte ist: denn sofern es in mein erkennendes Bewußtseyn fällt, ist es schon ein Reflex meines Wesens, ein von diesem selbst Verschiedenes, also schon in gewissem Grad Erscheinung.

Sofern ich also ein Erkennendes bin, habe ich selbst an meinem eigenen Wesen eigentlich nur eine Erscheinung: sofern ich hingegen dieses Wesen selbst unmittelbar bin, bin ich nicht erkennend. Denn daß die Erkenntniß nur eine sekundäre Eigenschaft unsers Wesens und durch die animalische Natur desselben herbeigeführt sei, ist im zweiten Buch genugsam bewiesen. Streng genommen erkennen wir also auch unsern Willen immer nur noch als Erscheinung und nicht nach Dem, was er schlechthin an und für sich seyn mag.

Allein eben in jenem zweiten Buch, wie auch in der Schrift vom Willen in der Natur, ist ausführlich dargethan und nachgewiesen, daß, wenn wir, um in das Innere der Dinge zu dringen, das nur mittelbar und von Außen Gegebene verlassend, die einzige Erscheinung, in deren Wesen uns eine unmittelbare Einsicht von Innen zugänglich ist, festhalten, wir in dieser als das Letzte und den Kern der Realität ganz entschieden den Willen finden, in welchem wir daher das Ding an sich insofern erkennen, als es hier nicht mehr den Raum, aber doch noch die Zeit zur Form hat, mithin eigentlich nur in seiner unmittelbarsten Manifestation und daher mit dem Vorbehalt, daß diese Erkenntniß desselben noch keine erschöpfende und ganz adäquate sei. In diesem Sinne also halten wir auch hier den Begriff des Willens als des Dinges an sich fest.

Auf den Menschen, als Erscheinung in der Zeit, ist der Begriff des Aufhörens allerdings anwendbar und die empirische Er|kenntniß legt unverholen den Tod als das Ende dieses zeitlichen Daseyns dar. Das Ende der Person ist eben so real, wie es ihr Anfang war, und in eben dem Sinne, wie wir vor der Geburt nicht waren, werden wir nach dem Tode nicht mehr seyn. Jedoch kann durch den Tod nicht mehr aufgehoben werden, als durch die Geburt gesetzt war; also nicht Das, wodurch die Geburt allererst möglich geworden.

In diesem Sinne ist natus et denatus ein schöner Ausdruck. Nun aber liefert die gesammte empirische Erkenntniß bloße Erscheinungen: nur diese daher werden von den zeitlichen Hergängen des Entstehens und Vergehens getroffen, nicht aber das Erscheinende, das Wesen an sich. Für dieses existirt der durch das Gehirn bedingte Gegensatz von Entstehen und Vergehen gar nicht, sondern hat hier Sinn und Bedeutung verloren. Dasselbe bleibt also unangefochten vom zeitlichen Ende einer zeitlichen Erscheinung und behält stets dasjenige Daseyn, auf welches die Begriffe von Anfang, Ende und Fortdauer nicht anwendbar sind. Dasselbe aber ist, so weit wir es verfolgen können, in jedem erscheinenden Wesen der Wille desselben: so auch im Menschen. Das Bewußtseyn hingegen besteht im Erkennen: dieses aber gehört, wie genugsam nachgewiesen, als Thätigkeit des Gehirns, mithin als Funktion des Organismus, der bloßen Erscheinung an, endigt daher mit dieser: der Wille allein, dessen Werk oder vielmehr Abbild der Leib war, ist das Unzerstörbare.

Die strenge Unterscheidung des Willens von der Erkenntniß, nebst dem Primat des erstern, welche den Grundcharakter meiner Philosophie ausmacht, ist daher der alleinige Schlüssel zu dem sich auf mannigfaltige Weise kund gebenden und in jedem, sogar dem ganz rohen Bewußtseyn stets von Neuem aufsteigenden Widerspruch, daß der Tod unser Ende ist, und wir dennoch ewig und unzerstörbar seyn müssen, also dem sentimus, experimurque nos aeternos esse des Spinoza. Alle Philosophen haben darin geirrt, daß sie das Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im Menschen in den Intellekt setzten: es liegt ausschließlich im Willen, der von jenem gänzlich verschieden und allein ursprünglich ist.

Der Intellekt ist, wie im zweiten Buche auf das Gründlichste dargethan worden, ein sekundäres Phänomen und durch das Gehirn bedingt, daher mit diesem anfangend und endend. Der Wille allein ist das Bedin|gende, der Kern der ganzen Erscheinung, von den Formen dieser, zu welchen die Zeit gehört, somit frei, also auch unzerstörbar.

Mit dem Tode geht demnach zwar das Bewußtseyn verloren, nicht aber Das, was das Bewußtseyn hervorbrachte und erhielt:
das Leben erlischt, nicht aber mit ihm das Princip des Lebens, welches in ihm sich manifestirte. Daher also sagt Jedem ein sicheres Gefühl, daß in ihm etwas schlechthin Unvergängliches und Unzerstörbares sei. Sogar das Frische und Lebhafte der Erinnerungen aus der fernsten Zeit, aus der ersten Kindheit, zeugt davon, daß irgend etwas in uns nicht mit der Zeit sich fortbewegt, nicht altert, sondern unverändert beharrt. Aber was dieses Unvergängliche sei, konnte man sich nicht deutlich machen. Es ist nicht das Bewußtseyn, so wenig wie der Leib, auf welchem offenbar das Bewußtseyn beruht. Es ist vielmehr Das, worauf der Leib, mit sammt dem Bewußtseyn beruht. Dieses aber ist eben Das, was, indem es ins Bewußtseyn fällt, sich als Wille darstellt. Ueber diese unmittelbarste Erscheinung desselben hinaus können wir freilich nicht; weil wir nicht über das Bewußtseyn hinaus können: daher bleibt die Frage, was denn Jenes seyn möge, sofern es nicht ins Bewußtseyn fällt, d.h. was es schlechthin an sich selbst sei, unbeantwortbar.

In der Erscheinung und mittelst deren Formen, Zeit und Raum, als principium individuationis, stellt es sich so dar, daß das menschliche Individuum untergeht, hingegen das Menschengeschlecht immerfort bleibt und lebt. Allein im Wesen an sich der Dinge, als welches von diesen Formen frei ist, fällt auch der ganze Unterschied zwischen dem Individuo und dem Geschlechte weg, und sind Beide unmittelbar Eins. Der ganze Wille zum Leben ist im Individuo, wie er im Geschlechte ist, und daher ist die Fortdauer der Gattung bloß das Bild der Unzerstörbarkeit des Individui.

Da nun also das so unendlich wichtige Verständniß der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod gänzlich auf dem Unterschiede zwischen Erscheinung und Ding an sich beruht, will ich eben diesen jetzt dadurch in das hellste Licht stellen, daß ich ihn am Gegentheil des Todes, also an der Entstehung der animalischen Wesen, d.i. der Zeugung, erläutere. Denn dieser mit dem Tode gleich geheimnißvolle Vorgang stellt uns den fundamentalen Gegensatz zwischen Erscheinung und Wesen an sich der Dinge, d.i. zwischen der Welt als Vorstellung und der Welt als Wille, wie auch die gänzliche Heterogeneität der Gesetze Beider, am unmittelbarsten vor Augen. Der Zeugungsakt nämlich stellt sich uns auf zweifache Weise dar: erstlich für das Selbstbewußtseyn, dessen alleiniger Gegenstand, wie ich oft nachgewiesen habe, der Wille mit allen seinen Affektionen ist; und sodann für das Bewußtseyn anderer Dinge, d.i. der Welt der Vorstellung, oder der empirischen Realität der Dinge.

Von der Willensseite nun, also innerlich, subjektiv, für das Selbstbewußtseyn, stellt jener Akt sich dar als die unmittelbarste und vollkommenste Befriedigung des Willens, d.i. als Wollust.

Von der Vorstellungsseite hingegen, also äußerlich, objektiv, für das Bewußtseyn von andern Dingen, ist eben dieser Akt der Einschlag zum allerkünstlichsten Gewebe, die Grundlage des unaussprechlich komplicirten animalischen Organismus, der dann nur noch der Entwickelung bedarf, um unsern erstaunten Augen sichtbar zu werden.

Dieser Organismus, dessen ins Unendliche gehende Komplikation und Vollendung nur Der kennt, welcher Anatomie studirt hat, ist, von der Vorstellungsseite aus, nicht anders zu begreifen und zu denken, als ein mit der planvollsten Kombination ausgedachtes und mit überschwänglicher Kunst und Genauigkeit ausgeführtes System, als das mühsäligste Werk der tiefsten Ueberlegung: - nun aber von der Willensseite kennen wir, durch das Selbstbewußtseyn, seine Hervorbringung als das Werk eines Aktes, der das gerade Gegentheil aller Ueberlegung ist, eines ungestühmen blinden Dranges, einer überschwänglich wollüstigen Empfindung.

Dieser Gegensatz ist genau verwandt mit dem oben nachgewiesenen unendlichen Kontrast zwischen der absoluten Leichtigkeit, mit der die Natur ihre Werke hervorbringt, nebst der dieser entsprechenden gränzenlosen Sorglosigkeit, mit welcher sie solche der Vernichtung Preis giebt, - und der unberechenbar künstlichen und durchdachten Konstruktion eben dieser Werke, nach welcher zu urtheilen sie unendlich schwer zu machen und daher über ihre Erhaltung mit aller ersinnlichen Sorgfalt zu wachen seyn müßte; während wir das Gegentheil vor Augen haben. -

Haben wir nun, durch diese, freilich sehr ungewöhnliche Betrach|tung, die beiden heterogenen Seiten der Welt aufs schroffeste an einander gebracht und sie gleichsam mit einer Faust umspannt; so müssen wir sie jetzt festhalten, um uns von der gänzlichen Ungültigkeit der Gesetze der Erscheinung, oder Welt als Vorstellung, für die des Willens, oder der Dinge an sich, zu überzeugen: dann wird es uns faßlicher werden, daß, während auf der Seite der Vorstellung, d.i. in der Erscheinungswelt, sich uns bald ein Entstehen aus Nichts, bald eine gänzliche Vernichtung des Entstandenen darstellt, von jener andern Seite aus, oder an sich, ein Wesen vorliegt, auf welches angewandt die Begriffe von Entstehen und Vergehen gar keinen Sinn haben.

Denn wir haben soeben, indem wir auf den Wurzelpunkt zurückgiengen, wo, mittelst des Selbstbewußtseyns, die Erscheinung und das Wesen an sich zusammenstoßen, es gleichsam mit Händen gegriffen, daß Beide schlechthin inkommensurabel sind, und die ganze Weise des Seyns des Einen, nebst allen Grundgesetzen dieses Seyns, im Andern nichts und weniger als Nichts bedeutet. - Ich glaube, daß diese letzte Betrachtung nur von Wenigen recht verstanden werden, und daß sie Allen, die sie nicht verstehen, mißfällig und selbst anstößig seyn wird: jedoch werde ich deshalb nie etwas weglassen, was dienen kann, meinen Grundgedanken zu erläutern. -

Am Anfange dieses Kapitels habe ich auseinandergesetzt, daß die große Anhänglichkeit an das Leben, oder vielmehr die Furcht vor dem Tode, keineswegs aus der Erkenntniß entspringt, in welchem Fall sie das Resultat des erkannten Werthes des Lebens seyn würde; sondern daß jene Todesfurcht ihre Wurzel unmittelbar im Willen hat, aus dessen ursprünglichem Wesen, in welchem er ohne alle Erkenntniß, und daher blinder Wille zum Leben ist, sie hervorgeht. Wie wir in das Leben hineingelockt werden durch den ganz illusorischen Trieb zur Wollust; so werden wir darin festgehalten durch die gewiß eben so illusorische Furcht vor dem Tode. Beides entspringt unmittelbar aus dem Willen, der an sich erkenntnißlos ist. Wäre, umgekehrt, der Mensch ein bloß erkennendes Wesen; so müßte der Tod ihm nicht nur gleichgültig, sondern sogar willkommen seyn.

Jetzt lehrt die Betrachtung, zu der wir hier gelangt sind, daß was vom Tode getroffen wird, bloß das erkennende Bewußtseyn ist, hingegen der Wille, sofern er das Ding an sich ist, welches jeder individuellen Erscheinung zum Grunde liegt, von allem auf Zeitbestimmungen Beruhenden frei, also auch unvergänglich ist. Sein Streben nach Daseyn und Manifestation, woraus die Welt hervorgeht, wird stets erfüllt: denn diese begleitet ihn wie den Körper sein Schatten, indem sie bloß die Sichtbarkeit seines Wesens ist.

Daß er in uns dennoch den Tod fürchtet, kommt daher, daß hier die Erkenntniß ihm sein Wesen bloß in der individuellen Erscheinung vorhält, woraus ihm die Täuschung entsteht, daß er mit dieser untergehe, etwan wie mein Bild im Spiegel, wenn man diesen zerschlägt, mit vernichtet zu werden scheint: Dieses also, als seinem ursprünglichen Wesen, welches blinder Drang nach Daseyn ist, zuwider, erfüllt ihn mit Abscheu. Hieraus nun folgt, daß Dasjenige in uns, was allein den Tod zu fürchten fähig ist und ihn auch allein fürchtet, der Wille, von ihm nicht getroffen wird; und daß hingegen was von ihm getroffen wird und wirklich untergeht, Das ist, was seiner Natur nach keiner Furcht, wie überhaupt keines Wollens oder Affektes, fähig, daher gegen Seyn und Nichtseyn gleichgültig ist, nämlich das bloße Subjekt der Erkenntniß, der Intellekt, dessen Daseyn in seiner Beziehung zur Welt der Vorstellung, d.h. der objektiven Welt besteht, deren Korrelat er ist und mit deren Daseyn das seinige im Grunde Eins ist.

Wenngleich also nicht das individuelle Bewußtseyn den Tod überlebt; so überlebt ihn doch Das, was allein sich gegen ihn sträubt: der Wille. Hieraus erklärt sich auch der Widerspruch, daß die Philosophen, vom Standpunkt der Erkenntniß aus, allezeit mit treffenden Gründen bewiesen haben, der Tod sei kein Uebel; die Todesfurcht jedoch dem Allen unzugänglich bleibt: weil sie eben nicht in der Erkenntniß, sondern allein im Willen wurzelt. Eben daher, daß nur der Wille, nicht aber der Intellekt das Unzerstörbare ist, kommt es auch, daß alle Religionen und Philosophien allein den Tugenden des Willens, oder Herzens, einen Lohn in der Ewigkeit zuerkennen, nicht denen des Intellekts, oder Kopfes.

Zur Erläuterung dieser Betrachtung diene noch Folgendes.

Der Wille, welcher unser Wesen an sich ausmacht, ist einfacher Natur: er will bloß und erkennt nicht.

Das Subjekt des Erkennens hingegen ist eine sekundäre, aus der Objektivation des Willens hervorgehende Erscheinung: es ist der Einheitspunkt der Sensibilität des Nervensystems, gleichsam der Fokus, in welchem die Strahlen der Thätigkeit aller Theile des Gehirns zusammenlaufen. Mit diesem muß es daher untergehen.

Im Selbstbewußtseyn steht es, als das allein Erkennende, dem Willen als sein Zuschauer gegenüber und erkennt, obgleich aus ihm entsprossen, ihn doch als ein von sich Verschiedenes, ein Fremdes, deshalb auch nur empirisch, in der Zeit, stückweise, in seinen successiven Erregungen und Akten, erfährt auch seine Entschließungen erst a posteriori und oft sehr mittelbar.

Hieraus erklärt sich, daß unser eigenes Wesen uns, d.h. eben unserm Intellekt, ein Räthsel ist, und daß das Individuum sich als neu entstanden und vergänglich erblickt; obschon sein Wesen an sich ein zeitloses, also ewiges ist.

Wie nun der Wille nicht erkennt, so ist umgekehrt der Intellekt, oder das Subjekt der Erkenntniß, einzig und allein erkennend, ohne irgend zu wollen.

Dies ist selbst physisch daran nachweisbar, daß, wie schon im zweiten Buch erwähnt, nach Bichat, die verschiedenen Affekte alle Theile des Organismus unmittelbar erschüttern und ihre Funktionen stören, mit Ausnahme des Gehirns, als welches höchstens mittelbar, d.h. in Folge eben jener Störungen, davon affizirt werden kann (De la vie et de la mort, art. 6, §.2). Daraus aber folgt, daß das Subjekt des Erkennens, für sich und als solches, an nichts Antheil oder Interesse nehmen kann, sondern ihm das Seyn oder Nichtseyn jedes Dinges, ja sogar seiner selbst, gleichgültig ist.

Warum nun sollte dieses antheilslose Wesen unsterblich seyn? Es endet mit der zeitlichen Erscheinung des Willens, d.i. dem Individuo, wie es mit diesem entstanden war. Es ist die Laterne, welche ausgelöscht wird, nachdem sie ihren Dienst geleistet hat. Der Intellekt, wie die in ihm allein vorhandene anschauliche Welt, ist bloße Erscheinung: aber die Endlichkeit Beider ficht nicht Das an, davon sie die Erscheinung sind. Der Intellekt ist Funktion des cerebralen Nervensystems: aber dieses, wie der übrige Leib, ist die Objektität des Willens. Daher beruht der Intellekt auf dem somatischen Leben des Organismus: dieser selbst aber beruht auf dem Willen. Der organische Leib kann also, in gewissem Sinne, angesehen werden als Mittelglied zwischen dem Willen und dem Intellekt; wiewohl er eigentlich nur der in der Anschauung des Intellekts sich räumlich darstellende Wille selbst ist.

Tod und Geburt sind die stete Auffrischung des Bewußtseyns des an sich end- und anfangslosen Willens, der allein gleichsam die Substanz des Daseyns ist (jede solche Auffrischung aber bringt eine neue Möglichkeit der Verneinung des Willens zum Leben). Das Bewußtseyn ist das Leben des Subjekts des Erkennens, oder des Gehirns, und der Tod dessen Ende. Daher ist das Bewußtseyn endlich, stets neu, jedesmal von vorne anfangend.

Der Wille allein beharrt; aber auch ihm allein ist am Beharren gelegen: denn er ist der Wille zum Leben.
Dem erkennenden Subjekt für sich ist an nichts gelegen. Im Ich sind jedoch Beide verbunden. - In jedem animalischen Wesen hat der Wille einen Intellekt errungen, welcher das Licht ist, bei dem er hier seine Zwecke verfolgt. Beiläufig gesagt, mag die Todesfurcht zum Theil auch darauf beruhen, daß der individuelle Wille so ungern sich von seinem, durch den Naturlauf ihm zugefallenen Intellekt trennt, von seinem Führer und Wächter, ohne den er sich hülflos und blind weiß.

Zu dieser Auseinandersetzung stimmt endlich auch noch jene tägliche moralische Erfahrung, die uns belehrt, daß der Wille allein real ist, hingegen die Objekte desselben als durch die Erkenntniß bedingt, nur Erscheinungen, nur Schaum und Dunst sind, gleich dem Weine, welchen Mephistopheles in Auerbachs Keller kredenzt: nämlich nach jedem sinnlichen Genuß sagen auch wir: »Mir däuchte doch als tränk' ich Wein.«

Die Schrecken des Todes beruhen großentheils auf dem falschen Schein, daß jetzt das Ich verschwinde, und die Welt bleibe. Vielmehr aber ist das Gegentheil wahr: die Welt verschwindet; hingegen der innerste Kern des Ich, der Träger und Hervorbringer jenes Subjekts, in dessen Vorstellung allein die Welt ihr Daseyn hatte, beharrt. Mit dem Gehirn geht der Intellekt und mit diesem die objektive Welt, seine bloße Vorstellung, unter. Daß in andern Gehirnen, nach wie vor, eine ähnliche Welt lebt und schwebt, ist in Beziehung auf den untergehenden Intellekt gleichgültig. -

Wenn daher nicht im Willen die eigentliche Realität läge und nicht das moralische Daseyn das sich über den Tod hinaus erstreckende wäre; so würde, da der Intellekt und mit ihm seine Welt erlischt, das Wesen der Dinge überhaupt nichts weiter seyn, als eine endlose Folge kurzer und trüber Träume, ohne Zusammenhang unter einander: denn das Beharren der erkenntnißlosen Natur besteht bloß in der Zeitvorstellung der erkennenden.

Also ein, ohne Ziel und Zweck, meistens sehr trübe und schwere Träume träumender Weltgeist wäre dann Alles in Allem.

Wann nun ein Individuum Todesangst empfindet; so hat man eigentlich das seltsame, ja, zu belächelnde Schauspiel, daß der Herr der Welten, welcher Alles mit seinem Wesen erfüllt, und durch welchen allein Alles was ist sein Daseyn hat, verzagt und unterzugehen befürchtet, zu versinken in den Abgrund des ewigen Nichts; - während, in Wahrheit, Alles von ihm voll ist und es keinen Ort giebt, wo er nicht wäre, kein Wesen, in welchem er nicht lebte; da das Daseyn nicht ihn trägt, sondern er das Daseyn. Dennoch ist er es, der im Todesangst leidenden Individuo verzagt, indem er der, durch das principium individuationis hervorgebrachten Täuschung unterliegt, daß seine Existenz auf die des jetzt sterbenden Wesens beschränkt sei: diese Täuschung gehört zu dem schweren Traum, in welchen er als Wille zum Leben verfallen ist. Aber man könnte zu dem Sterbenden sagen: »Du hörst auf, etwas zu seyn, welches du besser gethan hättest, nie zu werden.«

Solange keine Verneinung jenes Willens eingetreten, ist was der Tod von uns übrig läßt der Keim und Kern eines ganz andern Daseyns, in welchem ein neues Individuum sich wiederfindet, so frisch und ursprünglich, daß es über sich selbst verwundert brütet. Daher der schwärmerische und träumerische Hang edler Jünglinge, zur Zeit wo dieses frische Bewußtseyn sich eben ganz entfaltet hat. Was für das Individuum der Schlaf, das ist für den Willen als Ding an sich der Tod. Er würde es nicht aushalten, eine Unendlichkeit hindurch das selbe Treiben und Leiden, ohne wahren Gewinn, fortzusetzen, wenn ihm Erinnerung und Individualität bliebe. Er wirft sie ab, dies ist der Lethe, und tritt, durch diesen Todesschlaf erfrischt und mit einem andern Intellekt ausgestattet, als ein neues Wesen wieder auf: »zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!« -

Als sich bejahender Wille zum Leben hat der Mensch die Wurzel seines Daseyns in der Gattung. Demnach ist sodann der Tod das Verlieren einer Individualität und Empfangen einer andern, folglich ein Verändern der Individualität unter der ausschließlichen Leitung seines eigenen Willens. Denn in diesem allein liegt die ewige Kraft, welche sein Daseyn mit seinem Ich hervorbringen konnte, jedoch, seiner Beschaffenheit wegen, es nicht darin zu erhalten vermag. Denn der Tod ist das démenti, welches das Wesen (essentia) eines Jeden in seinem Anspruch auf Daseyn (existentia) erhält, das Hervortreten eines Widerspruchs, der in jedem individuellen Daseyn liegt:

denn Alles was entsteht,
Ist werth, daß es zu Grunde geht.

Jedoch steht der selben Kraft, also dem Willen, eine unendliche Zahl eben solcher Existenzen, mit ihrem Ich, zu Gebote, welche aber wieder eben so nichtig und vergänglich seyn werden. Da nun jedes Ich sein gesondertes Bewußtseyn hat; so ist, in Hinsicht auf ein solches, jene unendliche Zahl derselben von einem einzigen nicht verschieden. - Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es mir nicht zufällig, daß aevum, aiôn, zugleich die einzelne Lebensdauer und die endlose Zeit bedeutet: es läßt sich nämlich von hier aus, wiewohl undeutlich, absehen, daß, an sich und im letzten Grunde, Beide das Selbe sind; wonach eigentlich kein Unterschied wäre, ob ich nur meine Lebensdauer hindurch, oder eine unendliche Zeit existirte.

Allerdings aber können wir die Vorstellung von allem Obigen nicht ganz ohne Zeitbegriffe durchführen: diese sollten jedoch, wo es sich vom Dinge an sich handelt, ausgeschlossen bleiben. Allein es gehört zu den unabänderlichen Gränzen unsers Intellekts, daß er diese erste und unmittelbarste Form aller seiner Vorstellungen nie ganz abstreifen kann, um nun ohne sie zu operiren. Daher gerathen wir hier freilich auf eine Art Metempsychose; wiewohl mit dem bedeutenden Unterschiede, daß solche nicht die ganze psychê, nämlich nicht das erkennende Wesen betrifft, sondern den Willen allein; wodurch so viele Ungereimtheiten wegfallen, welche die Metempsychosenlehre begleiten; sodann mit dem Bewußtseyn, daß die Form der Zeit hier nur als unvermeidliche Ackommodation zu der Beschränkung unsers Intellekts eintritt.

Nehmen wir nun gar die, Kapitel 43 zu erörternde Thatsache zur Hülfe, daß der Charakter, d.i. der Wille, vom Vater erblich ist, der Intellekt hingegen von der Mutter; so tritt es gar wohl in den Zusammenhang unserer Ansicht, daß der Wille des Menschen, an sich individuell, im Tode sich von dem, bei der Zeugung von der Mutter erhaltenen Intellekt trennte und nun seiner jetzt modifizirten Beschaffenheit gemäß, am Leitfaden des mit dieser harmonirenden durchweg nothwendigen Weltlaufs, durch eine neue Zeugung, einen neuen Intellekt empfinge, mit welchem er ein neues Wesen würde, welches keine Erinnerung eines frühern Daseyns hätte, da der Intellekt, welcher allein die Fähigkeit der Erinnerung hat, der sterbliche Theil, oder die Form ist, der Wille aber der ewige, die Substanz: demgemäß ist zur Bezeichnung dieser Lehre das Wort Palingenesie richtiger, als Metempsychose. Diese steten Wiedergeburten machten dann die Succession der Lebensträume eines an sich unzerstörbaren Willens aus, bis er, durch so viele und verschiedenartige, successive Erkenntniß, in stets neuer Form, belehrt und gebessert, sich selbst aufhöbe.

Mit dieser Ansicht stimmt auch die eigentliche, so zu sagen esoterische Lehre des Buddhaismus, wie wir sie durch die neuesten Forschungen kennen gelernt haben, überein, indem sie nicht Metempsychose, sondern eine eigenthümliche, auf moralischer Basis ruhende Palingenesie lehrt, welche sie mit großem Tiefsinn ausführt und darlegt; wie Dies zu ersehen ist aus der, in Spence Hardy's Manual of Buddhism, p.394-96, gegebenen, höchst lesens- und beachtungswerthen Darstellung der Sache (womit zu vergleichen p.429, 440 und 445 desselben Buches), deren Bestätigungen man findet in Taylor's Prabodh Chandro Daya, London 1812, p.35; desgleichen in Sangermano's Burmese empire, p.6; wie auch in den Asiat. researches, Vol. 6, p.179, und Vol. 9, p.256. Auch das sehr brauchbare Deutsche Kompendium des Buddhaismus von Köppen giebt das Richtige über diesen Punkt. Für den großen Haufen der Buddhaisten jedoch ist diese Lehre zu subtil; daher demselben, als faßliches Surrogat, eben Metempsychose gepredigt wird.

Uebrigens darf nicht außer Acht gelassen werden, daß sogar empirische Gründe für eine Palingenesie dieser Art sprechen. Thatsächlich ist eine Verbindung vorhanden zwischen der Geburt der neu auftretenden Wesen und dem Tode der abgelebten: sie zeigt sich nämlich an der großen Fruchtbarkeit des Menschengeschlechts, welche als Folge verheerender Seuchen entsteht. Als im 14. Jahrhundert der schwarze Tod die alte Welt größtentheils entvölkert hatte, trat eine ganz ungewöhnliche Fruchtbarkeit unter dem Menschengeschlechte ein, und Zwillingsgeburten waren sehr häufig: höchst seltsam war dabei der Umstand, daß keines der in dieser Zeit geborenen Kinder seine vollständigen Zähne bekam; also die sich anstrengende Natur im Einzelnen geizte. Dies erzählt F. Schnurrer, Chronik der Seuchen, 1825. Auch Casper, »Ueber die wahrscheinliche Lebensdauer des Menschen«, 1835, bestätigt den Grundsatz, daß den entschiedensten Einfluß auf Lebensdauer und Sterblichkeit, in einer gegebenen Bevölkerung, die Zahl der Zeugungen in derselben habe, als welche mit der Sterblichkeit stets gleichen Schritt halte; so daß die Sterbefälle und die Geburten allemal und allerorten sich in gleichem Verhältniß vermehren und vermindern, welches er durch aufgehäufte Belege aus vielen Ländern und ihren verschiedenen Provinzen außer Zweifel setzt. Und doch kann unmöglich ein physischer Kausalnexus seyn zwischen meinem frühern Tode und der Fruchtbarkeit eines fremden Ehebettes, oder umgekehrt. Hier also tritt unleugbar und auf eine stupende Weise das Metaphysische als unmittelbarer Erklärungsgrund des Physischen auf. -

Jedes neugeborene Wesen zwar tritt frisch und freudig in das neue Daseyn und genießt es als ein geschenktes: aber es giebt und kann nichts Geschenktes geben. Sein frisches Daseyn ist bezahlt durch das Alter und den Tod eines abgelebten, welches untergegangen ist, aber den unzerstörbaren Keim enthielt, aus dem dieses neue entstanden ist: sie sind ein Wesen. Die Brücke zwischen Beiden nachzuweisen, wäre freilich die Lösung eines großen Räthsels.

Die hier ausgesprochene große Wahrheit ist auch nie ganz verkannt worden, wenn sie gleich nicht auf ihren genauen und richtigen Sinn zurückgeführt werden konnte, als welches allein durch die Lehre vom Primat und metaphysischen Wesen des Willens, und der sekundären, bloß organischen Natur des Intellekts möglich wird. Wir finden nämlich die Lehre von der Metempsychose, aus den urältesten und edelsten Zeiten des Menschengeschlechts stammend, stets auf der Erde verbreitet, als den Glauben der großen Majorität des Menschengeschlechts,
ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jüdischen und der zwei von dieser ausgegangenen; am subtilsten jedoch und der Wahrheit am nächsten kommend, wie schon erwähnt, im Buddhaismus.

Während demgemäß die Christen sich trösten mit dem Wiedersehen in einer andern Welt, in welcher man sich in vollständiger Person wiederfindet und sogleich erkennt, ist in jenen übrigen Religionen das Wiedersehen schon jetzt im Gange, jedoch incognito: nämlich im Kreislauf der Geburten und kraft der Metempsychose, oder Palingenesie, werden die Personen, welche jetzt in naher Verbindung oder Berührung mit uns stehen, auch bei der nächsten Geburt zugleich mit uns geboren, und haben die selben, oder doch analoge Verhältnisse und Gesinnungen zu uns, wie jetzt, diese mögen nun freundlicher, oder feindlicher Art seyn. (Man sehe z.B. Spence Hardy's Manual of Buddhism, p.162.)

Das Wiedererkennen beschränkt sich dabei freilich auf eine dunkle Ahndung, eine nicht zum deutlichen Bewußtseyn zu bringende und auf eine unendliche Ferne hindeutende Erinnerung; - mit Ausnahme jedoch des Buddha selbst, der das Vorrecht hat, seine und der Andern frühere Geburten deutlich zu erkennen; - wie Dies in den Jatakas beschrieben ist. Aber, in der That, wenn man, in begünstigten Augenblicken, das Thun und Treiben der Menschen, in der Realität, rein objektiv ins Auge faßt; so drängt sich Einem die intuitive Ueberzeugung auf, daß es nicht nur, den (Platonischen) Ideen nach, stets das selbe ist und bleibt, sondern auch, daß die gegenwärtige Generation, ihrem eigentlichen Kern nach, geradezu, und substantiell identisch ist mit jeder vor ihr dagewesenen.

Es frägt sich nur, worin dieser Kern besteht: die Antwort, welche meine Lehre darauf giebt, ist bekannt. Die erwähnte intuitive Ueberzeugung kann man sich denken als dadurch entstehend, daß die Vervielfältigungsgläser, Zeit und Raum, momentan eine Intermittenz ihrer Wirksamkeit erlitten. - Hinsichtlich der Allgemeinheit des Glaubens an Metempsychose sagt Obry in seinem vortrefflichen Buche: Du Nirvana Indien, p.13, mit Recht: Cette vieille croyance a fait le tour du monde, et était tellement répandue dans la haute antiquité, qu'un docte Anglican l'avait jugée sans père, sans mère, et sans généalogie (Ths. Burnet, dans Beausobre, Hist. du Mani|chéisme, II, p.391).

Schon in den Veden, wie in allen heiligen Büchern Indiens, gelehrt, ist bekanntlich die Metempsychose der Kern des Brahmanismus und Buddhaismus, herrscht demnach noch jetzt im ganzen nicht islamisirten Asien, also bei mehr als der Hälfte des ganzen Menschengeschlechts, als die festeste Ueberzeugung und mit unglaublich starkem praktischen Einfluß. Ebenfalls war sie der Glaube der Aegypter (Herod., II, 123), von welchen Orpheus, Pythagoras und Plato sie mit Begeisterung entgegennahmen: besonders aber hielten die Pythagoreer sie fest. Daß sie auch in den Mysterien der Griechen gelehrt wurde, geht unleugbar hervor aus Plato's neuntem Buch von den Gesetzen (p.38 et 42, ed. Bip.). Nemesius (De nat. hom., c.2) sagt sogar: Koinê men oun pantes HEllênes, hoi tên psychên athanaton apophênamenoi, tên metensômatôsin dogmatizousi. (Communiter igitur omnes Graeci, qui animam immortalem statuerunt, eam de uno corpore in aliud transferri censuerunt.)

Auch die Edda, namentlich in der Voluspa, lehrt Metempsychose. Nicht weniger war sie die Grundlage der Religion der Druiden (Caes. de bello Gall., VI. - A. Pictet, Le mystère des Bardes de l'île de Bretagne, 1856.) Sogar eine Mohammedanische Sekte in Hindostan, die Bohrahs, von denen Colebrooke in den Asiat. res., Vol. 7, p.336 sqq. ausführlich berichtet, glaubt an die Metempsychose und enthält demzufolge sich aller Fleischspeise.

Selbst bei Amerikanischen und Negervölkern, ja sogar bei den Australiern finden sich Spuren davon, wie hervorgeht aus einer in der Englischen Zeitung, the Times, vom 29. Januar 1841, gegebenen genauen Beschreibung der wegen Brandstiftung und Mord erfolgten Hinrichtung zweier Australischer Wilden. Daselbst nämlich heißt es: »Der jüngere von ihnen gieng seinem Schicksal mit verstocktem und entschlossenem Sinn, welcher, wie sich zeigte, auf Rache gerichtet war, entgegen: denn aus dem einzigen verständlichen Ausdruck, dessen er sich bediente, gieng hervor, daß er wieder auferstehen würde als »ein weißer Kerl«, und dies verlieh ihm die Entschlossenheit.« Auch in einem Buche von Ungewitter, »Der Welttheil Australien«, 1853, wird erzählt, daß die Papuas in Neuholland die Weißen für ihre eigenen, auf die Welt zurück|gekehrten Anverwandten hielten. -

Diesem Allen zufolge stellt der Glaube an Metempsychose sich dar als die natürliche Ueberzeugung des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend nachdenkt. Er wäre demnach wirklich Das, was Kant fälschlich von seinen drei vorgeblichen Ideen der Vernunft behauptet, nämlich ein der menschlichen Vernunft natürliches, aus ihren eigenen Formen hervorgehendes Philosophem; und wo er sich nicht findet, wäre er durch positive, anderweitige Religionslehren erst verdrängt. Auch habe ich bemerkt, daß er Jedem, der zum ersten Mal davon hört, sogleich einleuchtet. Man sehe nur, wie ernstlich sogar Lessing ihm das Wort redet in den letzten sieben Paragraphen seiner »Erziehung des Menschengeschlechts«. Auch Lichtenberg sagt, in seiner Selbstcharakteristik: »Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß ich gestorben war, ehe ich geboren wurde.«

Sogar der so übermäßig empirische Hume sagt in seiner skeptischen Abhandlung über die Unsterblichkeit, p.23: The metempsychosis is therefore the only system of this kind that philosophy can hearken to*.
»Die Metempsychose ist daher das einzige System dieser Art, auf welches die Philosophie hören kann.« — Diese posthume Abhandlung findet sich in den Essays on suicide and the immortality of the soul, by the late Dav. Hume, Basil 1799, sold by James Decker. Durch diesen Baseler Nachdruck nämlich sind jene beiden werke eines der größten Denker und Schriftsteller Englands vom Untergange gerettet worden, nachdem sie in ihrem Vaterlande, in Folge der daselbst herrschenden stupiden und überaus verächtlichen Bigotterie, durch den Einfluß einer mächtigen und frechen Pfaffenschaft unterdrückt worden waren, zur bleibenden Schande Englands. Es sind ganz leidenschaftslose, kalt vernünftige Untersuchungen der beiden genannten Gegenstände.

Was diesem, über das ganze Menschengeschlecht verbreiteten und den Weisen, wie dem Volke einleuchtenden Glauben entgegensteht, ist das Judenthum, nebst den aus diesem entsprossenen zwei Religionen, sofern sie eine Schöpfung des Menschen aus Nichts lehren, an welche er dann den Glauben an eine endlose Fortdauer a parte post zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich ist es, mit Feuer und Schwert, gelungen, aus Europa und einem Theile Asiens jenen tröstlichen Urglauben der Menschheit zu verdrängen: es steht noch dahin auf wie lange. Wie schwer es jedoch gehalten hat, bezeugt die älteste Kirchengeschichte: die meisten Ketzer, z.B. Simonisten, Basilidianer, Valentinianer, Marcioniten, Gnostiker und Manichäer waren eben jenem Urglauben zugethan.

Die Juden selbst sind zum Theil hineingerathen, wie Tertullian und Justinus (in seinen Dialogen) berichten. Im Talmud wird erzählt, daß Abel's Seele in den Leib des Seth und dann in den des Moses gewandert sei. Sogar die Bibelstelle, Matth. 16, 13-15, erhält einen vernünftigen Sinn nur dann, wann man sie als unter der Voraussetzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen versteht. Lukas freilich, der sie (9, 18-20) auch hat, fügt hinzu hoti prophêtês tis tôn archaiôn anestê, schiebt also den Juden die Voraussetzung unter, daß so ein alter Prophet noch mit Haut und Haar wieder auferstehen könne, welches, da sie doch wissen, daß er schon 6 bis 700 Jahr im Grabe liegt, folglich längst zerstoben ist, eine handgreifliche Absurdität wäre. Im Christenthum ist übrigens an die Stelle der Seelenwanderung und der Abbüßung aller in einem frühern Leben begangenen Sünden durch dieselbe die Lehre von der Erbsünde getreten, d.h. von der Buße für die Sünde eines andern Individuums. Beide nämlich identifiziren, und zwar mit moralischer Tendenz, den vorhandenen Menschen mit einem früher dagewesenen: die Seelenwanderung unmittelbar, die Erbsünde mittelbar. -

Der Tod ist die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben, und näher der diesem wesentliche Egoismus, durch den Lauf der Natur erhält; und er kann aufgefaßt werden als eine Strafe für unser Daseyn. Er ist die schmerzliche Lösung des Knotens, den die Zeugung mit Wollust geschürzt hatte, und die von außen eindringende, gewaltsame Zerstörung des Grundirrthums unsers Wesens: die große Enttäuschung. Wir sind im Grunde etwas, das nicht seyn sollte: darum hören wir auf zu seyn. -

Der Egoismus besteht eigentlich darin, daß der Mensch alle Realität auf seine eigene Person beschränkt, indem er in dieser allein zu existiren wähnt, nicht in den andern. Der Tod belehrt ihn eines Bessern, indem er diese Person aufhebt, so daß das Wesen des Menschen, welches sein Wille ist, fortan nur in andern Individuen leben wird, sein Intellekt aber, als welcher selbst nur der Erscheinung, d.i. der Welt als Vorstellung, an|gehörte und bloß die Form der Außenwelt war, eben auch im Vorstellungseyn, d.h. im objektiven Seyn der Dinge als solchem, also ebenfalls nur im Daseyn der bisherigen Außenwelt, fortbesteht.

Sein ganzes Ich lebt also von jetzt an nur in Dem, was er bisher als Nicht-Ich angesehen hatte: denn der Unterschied zwischen Aeußerem und Innerem hört auf. Wir erinnern uns hier, daß der bessere Mensch der ist, welcher zwischen sich und den Andern den wenigsten Unterschied macht, sie nicht als absolut Nicht-Ich betrachtet, während dem Schlechten dieser Unterschied groß, ja absolut ist; - wie ich dies in der Preisschrift über das Fundament der Moral ausgeführt habe. Diesem Unterschiede gemäß fällt, dem Obigen zufolge, der Grad aus, in welchem der Tod als die Vernichtung des Menschen angesehen werden kann. -

Gehen wir aber davon aus, daß der Unterschied von Außer mir und in mir, als ein räumlicher, nur in der Erscheinung, nicht im Dinge an sich gegründet, also kein absolut realer ist; so werden wir in dem Verlieren der eigenen Individualität nur den Verlust einer Erscheinung sehen, also nur scheinbaren Verlust. So viel Realität jener Unterschied auch im empirischen Bewußtseyn hat; so sind doch vom metaphysischen Standpunkt aus, die Sätze: »ich gehe unter, aber die Welt dauert fort«, und »die Welt geht unter, aber ich dauere fort«, im Grund nicht eigentlich verschieden.

Ueber dies Alles nun aber ist der Tod die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seyn: wohl Dem, der sie benutzt. Während des Lebens ist der Wille des Menschen ohne Freiheit: auf der Basis seines unveränderlichen Charakters geht sein Handeln, an der Kette der Motive, mit Nothwendigkeit vor sich. Nun trägt aber Jeder in seiner Erinnerung gar Vieles, das er gethan, und worüber er nicht mit sich selbst zufrieden ist. Lebte er nun immerfort; so würde er, vermöge der Unveränderlichkeit des Charakters, auch immerfort auf die selbe Weise handeln. Demnach muß er aufhören zu seyn was er ist, um aus dem Keim seines Wesens als ein neues und anderes hervorgehen zu können. Daher löst der Tod jene Bande: der Wille wird wieder frei: denn im Esse, nicht im Operari liegt die Freiheit: Finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes dubitationes, ejusque opera evanescunt, ist ein sehr berühmter Ausspruch des Veda, den alle Vedantiker häufig wiederholen.

Das Sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer Individualität
, welche nicht den innersten Kern unsers Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Verirrung desselben zu denken ist: die wahre ursprüngliche Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, welcher, im angegebenen Sinn, als eine restitutio in integrum betrachtet werden kann. Der Friede und die Beruhigung auf dem Gesichte der meisten Todten scheint daher zu stammen. Ruhig und sanft ist, in der Regel, der Tod jedes guten Menschen: aber willig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vorrecht des Resignirten, Dessen, der den Willen zum Leben aufgiebt und verneint. Denn nur er will wirklich und nicht bloß scheinbar sterben, folglich braucht und verlangt er keine Fortdauer seiner Person. Das Daseyn, welches wir kennen, giebt er willig auf: was ihm statt dessen wird, ist in unsern Augen nichts; weil unser Daseyn, auf jenes bezogen, nichts ist. Der Buddhaistische Glaube nennt jenes Nirwana, d.h. Erloschen.
WW II, S.536-591

Selbstmord
Die Welt als Wille und Vorstellung, Viertes Buch
Von der nunmehr, in den Gränzen unserer Betrachtungsweise, hinlänglich dargestellten Verneinung des Willens zum Leben, welche der einzige in der Erscheinung hervortretende Akt seiner Freiheit und daher, wie Asmus es nennt, die transscendentale Veränderung ist, unterscheidet nichts sich mehr, als die wirkliche Aufhebung seiner einzelnen Erscheinung, der SELBSTMORD. Weit entfernt Verneinung des Willens zu seyn, ist dieser ein Phänomen starker Bejahung des Willens. Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheuet. Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. Daher giebt er keineswegs den Willen zum Leben auf, sondern bloß das Leben, indem er die einzelne Erscheinung zerstört. Er will das Leben, will des Leibes ungehindertes Daseyn und Bejahung; aber die Verflechtung der Umstände läßt dieses nicht zu, und ihm entsteht großes Leiden.

Der
Wille zum Leben selbst findet sich in dieser einzelnen Erscheinung so sehr gehemmt, daß er sein Streben nicht entfalten kann. Daher entscheidet er sich gemäß seinem Wesen an sich, welches außerhalb der Gestaltungen des Satzes vom Grunde liegt, und dem daher jede einzelne Erscheinung gleichgültig ist; indem es selbst unberührt bleibt von allem Entstehen und Vergehen und das Innere des Lebens aller Dinge ist. Denn jene nämliche feste, innere Gewißheit, welche macht, daß wir Alle ohne beständige Todesschauer leben, die Gewißheit nämlich, daß dem Willen seine Erscheinung nie fehlen kann, unterstützt auch beim Selbstmorde die That. Der Wille zum Leben also erscheint eben sowohl in diesem Selbsttödten (Schiwa), als im Wohlbehagen der Selbsterhaltung (Wischnu) und in der Wollust der Zeugung (Brahma). Dies ist die innere Bedeutung der EINHEIT DES TRIMURTIS, welche jeder Mensch ganz ist, obwohl sie in der Zeit bald das eine, bald das andere der drei Häupter hervorhebt. —

Wie das einzelne Ding zur Idee, so verhält sich der Selbstmord zur Verneinung des Willens: der Selbstmörder Verneint bloß das Individuum, nicht die Species. Wir fanden schon oben, daß, weil dem Willen zum Leben das Leben immer gewiß und diesem das Leiden wesentlich ist, der Selbstmord, die willkürliche Zerstörung einer einzelnen Erscheinung, bei der das Ding an sich ungestört stehen bleibt, wie der Regenbogen feststeht, so schnell auch die Tropfen, welche auf Augenblicke seine Träger sind, wechseln, eine ganz vergebliche und thörichte Handlung sei. Aber sie ist auch überdies das Meisterstück der Maja, als der schreiendeste Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst. Wie wir diesen Widerspruch schon bei den niedrigsten Erscheinungen des Willens erkannten, im beständigen Kampf aller Aeußerungen von Naturkräften und aller organischen Individuen um die Materie und die Zeit und den Raum, und wie wir jenen Widerstreit, auf den steigenden Stufen der Objektivation des Willens, immer mehr, mit furchtbarer Deutlichkeit, hervortreten sahen; so erreicht er endlich, auf der höchsten Stufe, welche die Idee des Menschen ist, diesen Grad, wo nicht bloß die, die selbe Idee darstellenden Individuen sich unter einander vertilgen, sondern sogar das selbe Individuum sich selbst den Krieg ankündigt, und die Heftigkeit, mit welcher es das Leben will und gegen die Hemmung desselben, das Leiden, andringt, es dahin bringt, sich selbst zu zerstören, so daß der individuelle Wille den Leib, welcher nur seine eigene Sichtbarwerdung ist, durch einen Willensakt aufhebt, eher als daß das Leiden den Willen breche.

Eben weil der Selbstmörder nicht aufhören kann zu wollen, hört er auf zu leben, und der Wille bejaht sich hier eben durch die Aufhebung seiner Erscheinung, weil er sich anders nicht mehr bejahen kann.
Weil aber eben das Leiden, dem er sich so entzieht, es war, welches als Mortifikation des Willens ihn zur Verneinung seiner selbst und zur Erlösung hätte führen können; so gleicht in dieser Hinsicht der Selbstmörder einem Kranken, der eine schmerzhafte Operation, die ihn von Grund aus heilen könnte, nachdem sie angefangen, nicht vollenden läßt, sondern lieber die Krankheit behält. Das Leiden naht sich und eröffnet als solches die Möglichkeit zur Verneinung des Willens; aber er Weist es von sich, indem er die Erscheinung des Willens, den Leib zerstört, damit der Wille ungebrochen bleibe. —

Dies ist der Grund, warum beinahe alle Ethiken, Sowohl philosophische, als religiöse, den Selbstmord verdammen; obgleich sie selbst hiezu keine andere, als seltsame sophistische Gründe angeben können. Sollte aber je ein Mensch aus rein moralischem Antriebe sich vom Selbstmord zurückgehalten haben, so war der innerste Sinn dieser Selbstüberwindung (in was für Begriffe ihn seine Vernunft auch kleidete) dieser: »Ich will mich dem Leiden nicht entziehen, damit es den Willen zum Leben, dessen Erscheinung so jammervoll ist, aufzuheben beitragen könne, indem es die mir schon jetzt aufgehende Erkenntniß vom eigentlichen Wesen der Welt dahin verstärke, daß sie zum endlichen Quietiv meines Willens werde und mich auf immer erlöse.«

Bekanntlich kommen von Zeit zu Zeit immer wieder Fälle vor, wo der Selbstmord sich auf die Kinder erstreckt: der Vater tödtet die Kinder, die er sehr liebt, und dann sich selbst. Bedenken wir, daß Gewissen, Religion und alle überkommenen Begriffe ihn im Morde das schwerste Verbrechen erkennen lassen, er aber dennoch dieses in der Stunde seines eigenen Todes begeht, und zwar ohne irgend ein egoistisches Motiv dabei haben zu können; so läßt sich die That nur daraus erklären, daß hier der Wille des Individuums sich unmittelbar wiedererkennt in den Kindern, jedoch befangen in dem Wahn, der die Erscheinung für das Wesen an sich hält, und dabei tief ergriffen von der Erkenntniß des Jammers alles Lebens, jetzt vermeint, mit der Erscheinung das Wesen selbst aufzuheben, und daher sich und die Kinder, in denen er unmittelbar sich selbst wieder leben sieht, aus dem Daseyn und seinem Jammer erretten will. —

Ein diesem ganz analoger Irrweg wäre es, wenn man wähnte, das Selbe, was freiwillige Keuschheit leistet, erreichen zu können durch Vereitelung der Zwecke der Natur bei der Befruchtung, oder gar indem man, in Betracht der unausbleiblichen Leiden des Lebens, den Tod des Neugeborenen beförderte, statt vielmehr Alles zu thun, um Jedem, welches sich ins Leben drängt, das Leben zu sichern. Denn wenn Wille zum Leben da ist, so kann ihn, als das allein Metaphysische oder das Ding an sich, keine Gewalt brechen, sondern sie kann bloß Seine Erscheinung an diesem Ort zu dieser Zeit zerstören. Er selbst kann durch nichts aufgehoben werden, als durch ERKENNTNISS
. Daher ist der einzige Weg des Heils dieser, daß der Wille ungehindert erscheine, um in dieser Erscheinung sein eigenes Wesen ERKENNEN zu können. Nur in Folge dieser Erkenntniß kann der Wille sich selbst aufheben und damit auch das Leiden, welches von seiner Erscheinung unzertrennlich ist, endigen: nicht aber ist dies durch physische Gewalt, wie Zerstörung des Keims, oder Tödtung des Neugeborenen, oder Selbstmord möglich. Die Natur führt eben den Willen zum Lichte, weil er nur am Lichte seine Erlösung finden kann. Daher sind die Zwecke der Natur auf alle Weise zu befördern, sobald der Wille zum Leben, der ihr inneres Wesen ist, sich entschieden hat. —


Der Askese-Selbstmord
Vom gewöhnlichen Selbstmorde gänzlich verschieden scheint eine besondere Art desselben zu seyn, welche jedoch vielleicht noch nicht genugsam konstatirt ist. Es ist der aus dem höchsten Grade der Askese freiwillig gewählte Hungertod, dessen Erscheinung jedoch immer von vieler religiöser Schwärmerei und sogar Superstition begleitet gewesen und dadurch undeutlich gemacht ist. Es scheint jedoch, daß die gänzliche Verneinung des Willens den Grad erreichen könne, wo selbst der zur Erhaltung der Vegetation des Leibes, durch Aufnahme von Nahrung, nöthige Wille wegfällt. Weit entfernt, daß diese Art des Selbstmordes aus dem Willen zum Leben entstände, hört ein solcher völlig resignirter Asket bloß darum auf zu leben, weil er ganz und gar aufgehört hat zu wollen. Eine andere Todesart als die durch Hunger ist hiebei nicht wohl denkbar (es wäre denn, daß sie aus einer besondern Superstition hervorginge); weil die Absicht, die Quaal zu verkürzen, wirklich schon ein Grad der Bejahung des Willens wäre. Die Dogmen, welche die Vernunft eines solchen Büßenden erfüllen, spiegeln ihm dabei den Wahn vor, es habe ein Wesen höherer Art ihm das Fasten, zu dem der innere Hang ihn treibt, anbefohlen. Aeltere Beispiele hievon kann man finden in der »Breslauer Sammlung von Natur- und Medicin-Geschichten«, September 1799, S.363fg.; in Bayle's »Nouvelles de la république des lettres«, Februar 1685, S.189fg.; in Zimmermann, »Ueber die Einsamkeit«, Bd. 1, S.182; in der »Histoire de l'académie des sciences« von 1764 einen Bericht von Houttuyn; derselbe ist wiederholt in der »Sammlung für praktische Aerzte«, Bd. 1, S.69. Spätere Berichte findet man in Hufeland's »Journal für praktische Heilkunde«, Bd. 10, S.181, und Bd. 48, S.95; auch in Nasse's »Zeitschrift für psychische Aerzte«, 1819, Heft 3, S.460; im »Edinburgh medical and surgical Journal«, 1809, Bd. 5, S.319. Im Jahre 1833 berichteten alle Zeitungen, daß der Englische Historiker Dr. Lingard, im Januar, zu Dover, den freiwilligen Hungertod gestorben sei; nach späteren Nachrichten ist er es nicht selbst, sondern ein Anverwandter gewesen. Jedoch werden in diesen Nachrichten meistentheils die Individuen als wahnsinnig dargestellt, und es läßt sich nicht mehr ausmitteln, inwiefern dieses der Fall gewesen seyn mag. Aber eine neuere Nachricht dieser Art will ich hiehersetzen, wenn es auch nur wäre zur sicherern Aufbewahrung eines der seltenen Beispiele des berührten auffallenden und außerordentlichen Phänomens der menschlichen Natur, welches wenigstens dem Anschein nach dahin gehört, wohin ich es ziehen möchte, und außerdem schwerlich zu erklären seyn würde. Die besagte neuere Nachricht steht im »Nürnberger Korrespondenten«, vom 29. Juli 1813, mit folgenden Worten:
»Von Bern meldet man, daß bei Thurnen, in einem dichten Walde, ein Hüttchen aufgefunden wurde und darin ein schon seit ungefähr einem Monat in Verwesung liegender männlicher Leichnam, in Kleidern, welche wenig Aufschluß über den Stand ihres Besitzers geben konnten. Zwei sehr feine Hemden lagen dabei. Das wichtigste Stück war eine Bibel, mit eingehefteten weißen Blättern, die zum Theil vom Verstorbenen beschrieben waren. Er meldet darin den Tag seiner Abreise von Hause (die Heimath aber wird nicht genannt), dann sagt er: Er sei vom Geiste Gottes in eine Wüste getrieben worden, zu beten und zu fasten. Er habe auf seiner Herreise schon sieben Tage gefastet, dann habe er wieder gegessen. Hierauf habe er bei seiner Ansiedelung schon wieder zu fasten angefangen, und zwar so viele Tage. Nun wird jeder Tag mit einem Strich bezeichnet, und es finden sich deren fünf, nach deren Verlauf der Pilger vermuthlich gestorben ist. Noch fand sich ein Brief an einen Pfarrer über eine Predigt, welche der Verstorbene von demselben gehört hatte; allein auch da fehlte die Adresse.« - Zwischen diesem aus dem Extrem der Askese und dem gewöhnlichen aus Verzweiflung entspringenden freiwilligen Tode mag es mancherlei Zwischenstufen und Mischungen geben, welches zwar schwer zu erklären ist; aber das menschliche Gemüth hat Tiefen, Dunkelheiten und Verwickelungen, welche aufzuhellen und zu entfalten, von der äußersten Schwierigkeit ist.

Aus Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Viertes Buch, §69, S..512f. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag

Parerga und Paralipomena II - Über den Selbstmord
§ 157. So viel ich sehe, sind es allein die monotheistischen, also jüdischen Religionen, deren Bekenner die Selbsttödtung als ein Verbrechen betrachten. Dies ist um so auffallender, als weder im alten, noch im neuen Testament irgend ein Verbot, oder auch nur eine entschiedene Mißbilligung derselben zu finden ist; daher denn die Religionslehrer ihre Verpönung des Selbstmordes auf ihre eigenen philosophischen Gründe zu stützen haben, um welche es aber so schlecht steht, daß sie, was den Argumenten an Stärke abgeht durch die Stärke der Ausdrücke ihres Abscheues, also durch Schimpfen, zu ersetzen suchen. Da müssen wir denn hören, Selbstmord sei die größte Feigheit, sei nur im Wahnsinn möglich, und dergleichen Abgeschmacktheiten mehr. Auch waren die Alten weit davon entfernt, die Sache in jenem Lichte zu betrachten. Wurde doch, in Massilia und auf der Insel Keos, der Schierlingstrank sogar öffentlich, vom Magistrat, Demjenigen überreicht, der triftige Gründe, das Leben zu verlassen, anführen konnte (Val. Max. L. II. c. 6, §.7 et 8.). Und wie viele Helden und Weise des Alterthums haben nicht ihr Leben durch freiwilligen Tod geendet! Zwar sagt Aristoteles (Eth. Nicom. V, 15.) der Selbstmord sei ein Unrecht gegen den Staat, wiewohl nicht gegen die eigene Person. Nun gar finden wir denselben von den Stoikern als eine edele und heldenmüthige Handlung gepriesen; was sich durch Hunderte von Stellen, die stärksten aus dem Seneka, belegen ließe. Bei den Hindu nun gar kommt bekanntlich die Selbsttödtung oft als religiöse Handlung vor, namentlich als Witwenverbrennung, auch als Hinwerfen un|ter die Räder des Götterwagens zu Jaggernaut, als Sichpreisgeben den Krokodilen des Ganges, oder heiliger Tempelteiche, und sonst. Die Gründe aber gegen den Selbstmord, welche von den Geistlichen der monotheistischen Religionen und den ihnen sich anbequemenden Philosophen aufgestellt werden, sind schwache, leicht zu widerlegende Sophismen. (Siehe meine Abhandlung über das Fundament der Moral, §.5.) Den allein triftigen moralischen Grund gegen den Selbstmord habe ich dargelegt in meinem Hauptwerk Bd. 1. §.69. Derselbe ist jedoch ein asketischer, gilt also nur von einem viel höheren ethischen Standpunkt aus, als der, den europäische Moralphilosophen jemals eingenommen haben. Steigen wir aber von jenem sehr hohen Stand|punkt herab; so giebt es keinen haltbaren moralischen Grund mehr, den Selbstmord zu verdammen. Der außerordentlich lebhafte, und doch weder durch die Bibel, noch durch triftige Gründe unterstützte Eifer der Geistlichkeit monotheistischer Religionen gegen denselben scheint daher auf einem verhehlten Grunde beruhen zu müssen: sollte es nicht dieser seyn, daß das freiwillige Aufgeben des Lebens ein schlechtes Kompliment ist für Den, welcher gesagt hat panta kala lian? (»[und Gott sah an] alles [, was er gemacht hatte; und siehe, es] war sehr gut.« (1. Mose, I, 31) - So wäre es denn abermals der obligate Optimismus dieser Religionen, welcher die Selbsttödtung anklagt, um nicht von ihr angeklagt zu werden.

§. 158. Im Ganzen wird man finden, daß, sobald es dahin gekommen ist, daß die Schrecknisse des Lebens die Schrecknisse des Todes überwiegen, der Mensch seinem Leben ein Ende macht. Der Widerstand der letzteren ist jedoch bedeutend: sie stehn gleichsam als Wächter vor der Ausgangspforte. Vielleicht lebt Keiner, der nicht schon seinem Leben ein Ende gemacht hätte, wenn dies Ende etwas rein Negatives wäre, ein plötzliches Aufhören des Daseyns. - Allein es ist etwas Positives dabei: die Zerstörung des Leibes. Diese scheucht zurück; eben weil der Leib die Erscheinung des Willens zum Leben ist.
Inzwischen ist der Kampf mit jenen Wächtern, in der Regel, nicht so schwer, wie es uns von Weitem scheinen mag; und zwar in Folge des Antagonismus zwischen geistigen und körperlichen Leiden. Nämlich wenn wir körperlich sehr schwer, oder anhaltend leiden, werden wir gegen allen andern Kummer gleichgültig: unsre Herstellung allein liegt uns am Herzen. Eben so nun machen starke geistige Leiden uns gegen körperliche unempfindlich: wir verachten sie. Ja, wenn sie etwan das Uebergewicht erlangen; so ist uns Dies eine wohlthuende Zerstreuung, eine Pause der geistigen Leiden. Dies eben ist es, was den Selbstmord erleichtert, indem der mit demselben verknüpfte körperliche Schmerz in den Augen des von übergroßen geistigen Leiden Gepeinigten alle Wichtigkeit verliert. Besonders sichtbar wird Dies an Denen, welche durch rein krankhafte, tiefe Mißstimmung zum Selbstmord getrieben werden. Diesen kostet er gar keine Selbstüberwindung: sie brauchen gar keinen Anlauf dazu zu nehmen; sondern sobald der ihnen beigegebene Hüter sie auf zwei Minuten allein läßt, machen sie rasch ihrem Leben ein Ende.

§ 159. Wenn in schweren, grausenhaften Träumen die Beängstigung den höchsten Grad erreicht; so bringt eben sie selbst uns zum Erwachen, durch welches alle jene Ungeheuer der Nacht verschwinden. Das Selbe geschieht im Traume des Lebens, wann der höchste Grad der Beängstigung uns nöthigt, ihn abzubrechen.

§ 160. Der Selbstmord kann auch angesehn werden als ein Experiment, eine Frage, die man der Natur stellt und die Antwort darauf erzwingen will: nämlich, welche Aenderung das Daseyn und die Erkenntniß des Menschen durch den Tod erfahre. Aber es ist ein ungeschicktes: denn es hebt die Identität des Bewußtseyns, welches die Antwort zu vernehmen hätte, auf.

Aus Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, Kapitel XIII, Ueber den Selbstmord, §157-160, S.275f. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütgehaus, Haffmans Verlag


Erlösung durch Verneinung des Willens
Hatte das Alte Testament die Welt und den Menschen zum Werk eines Gottes gemacht; so sah das Neue Testament, um zu lehren, daß Heil und Erlösung aus dem Jammer dieser Welt nur von ihr selbst ausgehn kann, sich genöthigt, jenen Gott Mensch werden zu lassen. Des Menschen Wille ist und bleibt es, wovon Alles für ihn abhängt. WW I, S.424

Würde dennoch schlechterdings darauf bestanden, von Dem, was die Philosophie nur negativ, als Verneinung des Willens, ausdrücken kann, irgendwie eine positive Erkenntniß zu erlangen; so bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u.s.w. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntniß zu nennen ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur der eigenen, nicht weiter mittheilbaren Erfahrung zugänglich ist.

Wir aber, die wir ganz und gar auf dem Standpunkt der Philoso¬phie stehen bleiben, müssen uns hier mit der negativen Erkenntniß begnügen, zufrieden den letzten Gränzstein der positiven erreicht zu haben. Haben wir also das Wesen an sich der Welt als Wille, und in allen ihren Erscheinungen nur seine Objektität erkannt, und diese verfolgt vom erkenntnißlosen Drange dunkler Naturkräfte bis zum bewußtvollsten Handeln des Menschen; so weichen wir keineswegs der Konsequenz aus, daß mit der freien Verneinung, dem Aufgeben des Willens, nun auch alle jene Erscheinungen aufgehoben sind, jenes beständige Drängen und Treiben ohne Ziel und ohne Rast, auf allen Stufen der Objektität, in welchem und durch welches die Welt besteht, aufgehoben die Mannigfaltigkeit stufenweise folgender Formen, aufgehoben mit dem Willen seine ganze Erscheinung, endlich auch die allgemeinen Formen dieser, Zeit und Raum, und auch die letzte Grundform derselben, Subjekt und Objekt. Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.

Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber Das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als eben ihn. — Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehen abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Rafael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sichern Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden. Wir aber blicken dann mit tiefer und schmerzlicher Sehnsucht auf diesen Zustand, neben welchem das Jammervolle und Heillose unseres eigenen, durch den Kontrast, in vollem Lichte erscheint. Dennoch ist diese Betrachtung die einzige, welche uns dauernd trösten kann, wann wir einerseits unheilbares Leiden und endlosen Jammer als der Erscheinung des Willens, der Welt. wesentlich erkannt haben, und andererseits, bei aufgehobenem Willen, die Welt zerfließen sehen und nur das leere Nichts vor uns behalten. Also auf diese Weise, durch Betrachtung des Lebens und Wandels der Heiligen, welchen in der eigenen Erfahrung zu begegnen freilich selten vergönnt ist, aber welche ihre aufgezeichnete Geschichte und, mit dem Stämpel innerer Wahrheit verbürgt, die Kunst uns vor die Augen bringt, haben wir den finstern Eindruck jenes Nichts, das als das letzte Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit schwebt, und das wir, wie die Kinder das Finstere, fürchten, zu verscheuchen; statt selbst es zu umgehen, wie die Inder, durch Mythen und bedeutungsleere Worte, wie Resorbtion in das BRAHM, oder NIRWANA der Buddhaisten. Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen — Nichts. WW I, S.526ff.

Es ist sogar leicht abzu¬sehen, daß, ohne solche Annahmen, das Christenthum endlose Strafen Für Alle, und der Brahmanismus endlose Wiedergeburten für Alle aufstellen müßte, es also in Beiden zu keiner Erlösung käme. Die sündlichen Werke und ihre Folgen müssen, sei es nun durch fremde Begnadigung, oder durch Eintritt eigener besserer Erkenntniß, ein Mal getilgt und vernichtet werden; sonst hat die Welt kein Heil zu hoffen: nachher aber werden sie gleichgültig. Dies ist auch die »Buße und Vergebung der Sünden«, deren Verkündigung der bereits auferstandene Christus seinen Aposteln, als die Stimme ihrer Mission, schließlich auflegt (Luc. 24, 47,). Die moralischen Tugenden sind eben nicht der letzte Zweck, sondern nur eine Stufe zu demselben. Diese Stufe ist im Christlichen Mythos bezeichnet durch das Essen vom Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen, mit welchem die moralische Verantwortlichkeit zugleich mit der Erbsünde eintritt. Diese selbst ist in Wahrheit die Bejahung des Willens zum Leben; die Verneinung desselben hingegen, in Folge aufgegangener besserer Er-kenntniß, ist die Erlösung. Zwischen diesen Beiden also liegt das Moralische: es begleitet den Menschen als eine Leuchte auf seinem Wege von der Bejahung zur Verneinung des Willens, oder, mythisch, vom Eintritt der Erbsünde bis zur Erlösung durch den Glauben an die Mittlerschaft des inkarnirten Gottes (Avatars); oder, nach der Veda-Lehre, durch alle Wiedergeburten, welche die Folge der jedesmaligen Werke sind, bis die rechte Erkenntniß und mit ihr die Erlösung (final emancipation), MOKSCHA, d.i. Wiedervereinigung mit dem BRAHM, ein-tritt. Die Buddhaisten aber bezeichnen, mit voller Redlichkeit, die Sache bloß negativ, durch NIRWANA, welches die Negation dieser Welt, oder des SANSARA ist. Wenn NIRWANA als das Nichts definirt wird; so will dies nur sagen, daß der SANSARA kein einziges Element enthält, welches zur Definition, oder Konstruktion des Nirwana dienen könnte. Eben dieserhalb nennen die JAINAS, welche nur dem Namen nach von den Buddhaisten verschieden sind, die vedagläubigen Brahmanen Sabdapramans, welcher Spottname bezeichnen soll, daß sie auf Hörensagen glauben, was sich nicht wissen, noch beweisen läßt (Asiat. researches, Vol. 6, p. 474).

Wenn manche alte Philosophen, wie Orpheus, die Pythagoreer. Plato (z.B. in Phaedone, p. 151, 183 sq. Bip., und siehe Clem. Alex. strom., III, p. 400 sq.), ganz so wie der Apostel Paulus, die Gemeinschaft der Seele mit dem Leibe bejammern und von derselben befreit zu werden wünschen; so verstehen wir den eigentlichen und wahren Sinn dieser Klage, sofern wir, im zweiten Buch erkannt haben, daß der Leib der Wille selbst ist, objektiv angeschaut, als räumliche Erscheinung.

In der Stunde des Todes entscheidet sich, ob der Mensch in den Schooß der Natur zurückfällt, oder aber dieser nicht mehr angehört, sondern — — —: für diesen Gegensatz fehlt uns Bild, Begriff und Wort, eben weil diese sämmtlich aus der Objektivation des Willens genommen sind, daher dieser angehören, folglich das absolute Gegentheil desselben auf keine Weise ausdrücken können, welches demnach für uns als eine bloße Negation stehen bleibt.

Inzwischen ist der Tod des Individuums die jedesmalige und unermüdlich wiederholte Anfrage der Natur an den Willen zum Leben »Hast du genug? Willst du aus mir hinaus?«Damit sie oft genug geschehe, ist das individuelle Leben so kurz. In diesem Sinne gedacht sind die Ceremonien, Gebete und Ermahnungen der Brahmanen zur Zeit des Todes, wie man sie im Upanischad an mehreren Stellen aufbewahrt findet, und eben so die Christliche Fürsorge für gehörige Benutzung der Sterbestunde, mittelst Ermahnung, Beichte, Kommunion und letzte Oe-lung: daher auch die Christlichen Gebete um Bewahrung vor einem plötzlichen Ende. Daß heut zu Tage Viele gerade dieses sich wünschen, beweist eben nur, daß sie nicht mehr auf dem Christlichen Standpunkt stehen, welcher bei der Verneinung des Willens zum Leben ist, sondern auf dem der Bejahung, welcher der heidnische ist.

Der aber wird am wenigsten fürchten im Tode zu nichts zu werden, der erkannt hat, daß er schon jetzt nichts ist, und der mithin keinen Antheil mehr an seiner individuellen Erscheinung nimmt, indem in ihm die Erkenntniß den Willen gleichsam verbrannt und verzehrt hat, so daß kein Wille, also keine Sucht nach individualem Daseyn in ihm mehr übrig ist. WW II, S.706ff.

Die »geheime und unerklärliche Macht«, in der sich Schopenhauer selbst ad absurdum führt
Ist ein gänzliches Mißverhältniß zwischen dem Charakter und dem Schicksal eines Menschen möglich? — oder paßt, auf die Hauptsache gesehn, jedes Schicksal zu jedem Charakter? — oder endlich fügt wirklich eine geheime, unbegreifliche Nothwendigkeit, dem Dichter eines Drama‘s zu vergleichen, Beide jedes Mal passend an einander? — Aber eben hierüber sind wir nicht im Klaren.

Inzwischen glauben wir, unserer Thaten in jedem Augenblicke Herr zu seyn. Allein, wenn wir auf unsern zurückgelegten Lebensweg zurücksehn und zumal unsere unglücklichen Schritte, nebst ihren Folgen, ins Auge fassen; so begreifen wir oft nicht, wie wir haben Dieses thun, oder Jenes unterlassen können; so daß es aussieht, als hätte eine fremde Macht unsre Schritte gelenkt. Deshalb sagt Shakespeare:

Fate, show thy force: ourselves we do not owe;
What is decreed must be, and be this so!

Twelfth-night, A.1. sc. 5.

(Jetzt kannst du deine Macht, o Schicksal, zeigen:
Was seyn soll muß geschehn, und Keiner ist sein eigen.)


Auch Göthe sagt, im Götz von Berlichingen (Akt 5.): »wir Menschen führen uns nicht selbst: bösen Geistern ist Macht über uns gelassen, daß sie ihren Muthwillen an unserm Verderben üben«. Ja, schon der Prophet Jeremias hat es gesagt: »des Menschen Thun stehet nicht in seiner Gewalt, und stehet in Niemandes Macht, wie er wandele, oder seinen Gang richte.«(10, 23.) Dies Alles beruht darauf, daß unsere Thaten das nothwendige Produkt zweier Faktoren sind, deren einer, unser Charakter, unabänderlich fest steht, uns jedoch nur a posteriori, also allmälig, bekannt wird; der andere aber sind die Motive: diese liegen außerhalb und werden durch den Weltlauf herbeigeführt, bestimmen jedoch den gegebenen Charakter, unter Voraussetzung seiner feststehenden Beschaffenheit, mit einer Nothwendigkeit, welche der mechanischen gleichkommt. Das über den so erfolgenden Verlauf nun aber urtheilende Ich ist das Subjekt des Erkennens, als solches jenen Beiden fremd und bloß der kritische Zuschauer ihres Wirkens. Da mag es denn freilich zu Zeiten sich verwundern.

Hat man aber ein Mal den Gesichtspunkt jenes transscendenten Fatalismus gefaßt und betrachtet nun von ihm aus ein individuelles Leben; so hat man bisweilen das wunderlichste aller Schauspiele vor Augen, an dem Kontraste zwischen der offenbaren, physischen Zufälligkeit einer Begebenheit und ihrer moralisch-metaphysischen Nothwendigkeit, welche letztere jedoch nie demonstrabel ist, vielmehr immer noch bloß eingebildet seyn kann. Um Dieses durch ein allbekanntes Beispiel, welches zugleich, wegen seiner Grellheit, geeignet ist, als Typus der Sache zu dienen, sieh zu veranschaulichen, betrachte man Schiller‘s »Gang nach dem Eisenhammer«. Hier nämlich sieht man Fridolins Verzögerung, durch den Dienst bei der Messe, so ganz zufällig herbeigeführt, wie sie andrerseits für ihn so höchst wichtig und nothwendig ist. Vielleicht wird jeder, bei gehörigem Nachdenken, in seinem eigenen Lebenslaufe analoge Fälle finden können, wenn gleich nicht so wichtige, noch so deutlich ausgeprägte. Gar Mancher aber wird hierdurch zu der Annahme getrieben werden, daß EINE GEHEIME UND UNERKLÄRLICHE MACHT alle Wendungen und Windungen unsers Lebenslaufes, zwar sehr oft gegen unsere einstweilige Absicht, jedoch so, wie es der objektiven Ganz-heit und subjektiven Zweck¬mäßigkeit desselben angemessen, mithin unserm eigentlichen wahren Besten Förderlich ist, leitet; so, daß wir gar oft die Thorheit der in entgegengesetzter Richtung gehegten Wünsche hinterher erkennen. Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. »Den Willigen führt das Schicksal, den Widerwilligen schleift es mit« — Seneca, Epistulae, 107. Eine solche Macht nun müßte, mit einem unsichtbaren Faden alle Dinge durchziehend, auch die, welche die Kausalkette ohne alle Verbindung mit einander läßt, so verknüpfen, daß sie, im erforderten Moment, zusammenträfen. Sie würde demnach die Begebenheiten des wirklichen Lebens so gänzlich beherrschen, wie der Dichter die seines Drama‘s: Zufall aber und Irrthum, als welche zunächst und unmittelbar in den regelmäßigen, kausalen Lauf der Dinge störend eingreifen, würden die bloßen Werkzeuge ihrer unsichtbaren Hand seyn.

Mehr als Alles treibt uns zu der kühnen Annahme einer solchen, aus der Einheit der tiefliegenden Wurzel der Nothwendigkeit und Zufälligkeit entspringenden und unergründlichen Macht die Rücksicht hin, daß die bestimmte, so eigenthümliche INDIVIDUALITÄT jedes Menschen in physischer, moralischer und intellektueller Hinsicht, die ihm Alles in Allem ist und daher aus der höchsten metaphysischen Nothwendigkeit entsprungen seyn muß, andrerseits (wie ich in meinem Hauptwerke Bd. 2, Kap. 43 dargethan habe) als das nothwendige Resultat des moralischen Charakters des Vaters, der intellektuellen Fähigkeit der Mutter und der gesammten Korporisation Beider sich ergiebt; die Verbindung dieser Eltern nun aber, in der Regel, durch augenscheinlich zufällige Umstände herbeigeführt worden ist. Hier also drängt sich uns die Forderung, oder das metaphysisch-moralische Postulat, einer letzten Einheit der Nothwendigkeit und Zufälligkeit unwiderstehlich auf. Von dieser einheitlichen Wurzel Beider einen deutlichen Begriff zu erlangen, halte ich jedoch für unmöglich: nur soviel läßt sich sagen, daß sie zugleich Das wäre, was die Alten Schicksal, nannten, Das, was sie unter dem leitenden Genius jedes Einzelnen verstanden, nicht minder aber auch Das, was die Christen als Vorsehung verehren. Diese Drei unterscheiden sich zwar dadurch, daß das Fatum blind, die beiden Andern sehend gedacht werden: aber dieser anthropomorphistische Unterschied fällt weg und verliert alle Bedeutung bei dem tiefinnern, metaphysischen Wesen der Dinge, in welchem allein wir die Wurzel jener unerklärlichen Einheit des Zufälligen mit dem Nothwendigen, welche sich als der geheime Lenker aller menschlichen Dinge darstellt, zu suchen haben. […]

In Wahrheit jedoch kann jene verborgene und sogar die äußern Einflüsse lenkende Macht ihre Wurzel zuletzt doch nur in unserm eigenen, geheimnißvollen Innern haben; da ja das A und O alles Daseyns zuletzt in uns selbst liegt. Allein auch nur die bloße Möglichkeit hievon werden wir, selbst im glücklichsten Falle, wieder nur mittelst Analogien und Gleichnisse, einigermaaßen und aus großer Ferne absehn können.

Die nächste Analogie nun also mit dem Walten jener Macht zeigt uns die TELEOLOGIE DER NATUR, indem sie das Zweckmäßige, als ohne Erkenntniß des Zweckes eintretend, darbietet. zumal da, wo die äußere, d.h. die zwischen verschiedenen, ja verschiedenartigen, Wesen und sogar im Unorganischen Statt findende Zweckmäßigkeit hervortritt; wie denn ein frappantes Beispiel dieser Art das Treibholz giebt, indem es gerade den baumlosen Polarländern vom Meere reichlich zugeführt wird; und ein anderes der Umstand, daß das Festland unsers Planeten ganz nach dem Nordpol hingedrängt liegt, dessen Winter, aus astronomischen Gründen, acht Tage kürzer und dadurch wieder viel milder ist, als der des Südpols. Jedoch auch die innere, im abgeschlossenen Organis¬mus sich unzweideutig kund gebende Zweckmäßigkeit, die solche vermittelnde, überraschende Zusammenstimmung der Technik der Natur mit ihrem bloßen Mechanismus, oder des nexus finalis mit dem nexus effectivus, (hinsichtlich welcher ich auf mein Hauptwerk Bd. 2. Kap. 26. 5. 334—339 verweise) läßt uns analogisch absehn, wie das, von verschiedenen, ja weit entlegenen Punkten Ausgehende und sich anscheinend Fremde doch zum letzten Endzweck konspirirt und daselbst richtig zusammentrifft, nicht durch Erkenntniß geleitet, sondern vermöge einer aller Möglichkeit der Erkenntniß vorhergängigen Nothwendigkeit höherer Art. — Ferner, wenn man die von KANT und später von LAPLACE aufgestellte Theorie der Entstehung unsers Planetensystems, deren Wahrscheinlichkeit der Gewißheit sehr nahe steht, sich vergegenwärtigt und auf Betrachtungen der Art, wie ich sie in meinem Hauptwerke Bd. 2, Kap. 25, S.324 angestellt habe, geräth, also überdenkt, wie aus dem Spiele blinder, ihren unabänderlichen Gesetzen folgender Naturkräfte, zuletzt diese wohlgeordnete, bewundrungswürdige Planetenwelt hervorgehn mußte; so hat man auch hieran eine Analogie, welche dienen kann, im Allgemeinen und aus der Ferne, die Möglichkeit davon abzusehn, daß selbst der individuelle Lebenslauf von den Begebenheiten, welche das oft so kapriziöse Spiel des blinden Zufalls sind, doch gleichsam planmäßig, so geleitet werde, wie es dem wahren und letzten Besten der Person angemessen ist. Dies angenommen, könnte das Dogma von der VORSEHUNG, als durchaus anthropomorphistisch, zwar nicht unmittelbar und sensu proprio als wahr gelten; wohl aber wäre es der mittelbare, allegorische und mythische Ausdruck einer Wahrheit, und daher, wie alle religiösen Mythen, zum praktischen Behuf und zur subjektiven Beruhigung vollkommen ausreichend, in dem Sinne wie z.B. Kants Moraltheologie, die ja auch nur als ein Schema zur Orientirung, mithin allegorisch, zu verstehn ist: — es wäre also, mit Einem Worte, zwar nicht wahr, aber doch so gut wie wahr. Wie nämlich in jenen dumpfen und blinden Urkräften der Natur, aus deren Wechselspiel das Planetensystem hervorgeht, schon eben der Wille zum Leben, welcher nachher in den vollendetesten Erscheinungen der Welt auftritt, das im Innern Wirkende und Leitende ist und er, schon dort, mittelst strenger Naturgesetze, auf seine Zwecke hinarbeitend, die Grundfeste zum Bau der Welt und ihrer Ordnung vorbereitet, indem z.B. der zufälligste Stoß, oder Schwung, die Schiefe der Ekliptik und die Schnelligkeit der Rotation auf immer bestimmt, und das Endresultat die Darstellung seines ganzen Wesens seyn muß, eben weil dieses schon in jenen Urkräften selbst thätig ist; — eben so nun sind alle, die Handlungen eines Menschen bestimmenden Begebenheiten, nebst der sie herbeiführenden Kausalverknüpfung, doch auch nur die Objektivation des selben Willens, der auch in diesem Menschen selbst sich darstellt; woraus sich, wenn auch nur wie im Nebel, absehn läßt, daß sie sogar zu den speciellsten Zwecken jenes Menschen stim¬men und passen müssen, in welchem Sinne sie alsdann jene geheime Macht bilden, die das Schicksal des Einzelnen leitet und als sein Genius, oder seine Vorsehung, allegorisirt wird. Rein objektiv betrachtet aber ist und bleibt es der durchgängige, Alles umfassende, ausnahmslose Kausalzusammenhang, — vermöge dessen Alles, was geschieht, durchaus und streng nothwendig eintritt, — welcher die Stelle der bloß mythischen Weltregierung vertritt, ja, den Namen derselben zu führen ein Recht hat.

Dieses uns näher zu bringen, kann folgende allgemeine Betrachtung dienen. »Zufällig« bedeutet das Zusammentreffen, in der Zeit, des kausal nicht Verbundenen. Nun ist aber nichts ABSOLUT zufällig; sondern auch das Zufälligste ist nur ein auf entfernterem Wege herangekommenes Nothwendiges; indem entschiedene, in der Kausalkette hoch herauf liegende Ursachen schon längst nothwendig bestimmt haben, daß es gerade jetzt, und daher mit jenem Andern gleichzeitig, eintreten mußte. Jede Begebenheit nämlich ist das einzelne Glied einer Kette von Ursachen und Wirkungen, welche in der Richtung der Zeit fortschreitet. Solcher Ketten aber giebt es unzählige, vermöge des Raums, neben einander. Jedoch sind diese nicht einander ganz fremd und ohne allen Zusammenhang unter sich; vielmehr sind sie vielfach mit einander verflochten: z.B. mehrere jetzt gleichzeitig wirkende Ursachen, deren jede eine andere Wirkung hervorbringt, sind hoch herauf aus einer gemeinsamen Ursache entsprungen und daher einander so verwandt, wie die Urenkel eines Ahnherrn: und andrerseits bedarfoft eine jetzt eintretende einzelne Wirkung des Zusammentreffens vieler verschiedener Ursachen, die, jede als Glied ihrer eigenen Kette, aus der Vergangenheit herankommen. Sonach nun bilden alle jene, in der Richtung der Zeit fortschreitenden Kausalketten ein großes, gemeinsames, vielfach verschlungenes Netz, welches ebenfalls, mit seiner ganzen Breite, sich in der Richtung der Zeit fortbewegt und eben den Weltlauf ausmacht. Versinnlichen wir uns jetzt jene einzelnen Kausalketten durch Meridiane, die in der Richtung der Zeit lägen; so kann überall das Gleichzeitige und eben deshalb nicht in direktem Kausalzusammenhange Stehende, durch Parallelkreise angedeutet werden. Obwohl nun das unter demselben Parallelkreise Gelegene nicht unmittelbar von einander abhängt; so steht es doch, vermöge der Verflechtung des ganzen Netzes, oder der sich, in der Richtung der Zeit fortwälzenden Gesammtheit aller Ursachen und Wirkungen, mittelbar in irgend einer, wenn auch entfernten, Verbindung: seine jetzige Gleichzeitigkeit ist daher eine nothwendige. Hierauf nun beruht das zufällige Zusammentreffen aller Bedingungen einer in höherem Sinne nothwendigen Begebenheit; das Geschehn Dessen, was das Schicksal gewollt hat, und das Eintreffen zur rechten Zeit der im Lebenslauf des Einzelnen wichti¬gen und entscheidenden Anlässe und Umstände, ja endlich wohl gar auch der Eintritt der Omina, an welche der Glaube so allgemein und unvertilgbar ist, daß er selbst in den überlegensten Köpfen nicht selten Raum gefunden hat. Denn da nichts ABSOLUT zufällig ist, vielmehr Alles nothwendig eintritt und sogar die Gleichzeitigkeit selbst, des kausal NICHT Zusammenhängenden, die man den Zufall nennt, eine nothwendige ist, indem ja das jetzt Gleichzeitige schon durch Ursachen in der entferntesten Vergangenheit ALS EIN SOLCHES bestimmt wurde; so spiegelt sich Alles in Allem, klingt Jedes in Jedem wieder und ist auch auf die Gesammtheit der Dinge jener bekannte, dem Zusammenwirken im Organismus geltende Ausspruch des Hippokrates anwendbar: »Ein einziges Strömen, ein einziges Wehen, alles in Sympathie«. (De alimento opp. Ed. Kühn, Tom. II, p. 20) —

Eine zweite Analogie, welche, von einer ganz anderen Seite, zu einem indirekten Verständniß des in Betrachtung genommenen transscendenten Fatalismus beitragen kann, giebt der TRAUM, mit welchem ja überhaupt das Leben eine längst anerkannte und gar oft ausgesprochene Aehnlichkeit hat; so sehr, daß sogar Kants transscendentaler Idealismus aufgefaßt werden kann als die deutlichste Darlegung dieser traumartigen Beschaffenheit unsers bewußten Daseyns; wie ich Dies in meiner Kritik seiner Philosophie auch ausgesprochen habe. — Und zwar ist es diese Analogie mit dem Traume, welche uns, wenn auch wieder nur in neblichter Ferne, absehn läßt, wie die geheime Macht, welche die uns berührenden, äußeren Vorgänge, zum Behufe ihrer Zwecke mit uns, beherrscht und lenkt, doch ihre Wurzel in der Tiefe unseres eigenen, unergründlichen Wesens haben könnte. Auch im Traume nämlich treffen die Umstände, welche die Motive unserer Handlungen da¬selbst werden, als äußerliche und von uns selbst unabhängige, ja oft verabscheute, rein zufällig zusammen: dabei aber ist dennoch zwischen ihnen eine geheime und zweckmäßige Verbindung; indem eine verborgene Macht, welcher alle Zufälle im Traume gehorchen, auch diese Umstände, und zwar einzig und allein in Beziehung auf uns, lenkt und fügt. Das Allerseltsamste hiebei aber ist, daß diese Macht zuletzt keine andere seyn kann, als unser eigener Wille, jedoch von einem Standpunkte aus, der nicht in unser träumendes Bewußtseyn fällt; daher es kommt, daß die Vorgänge des Traums so oft ganz gegen unsere Wünsche in demselben ausschlagen, uns in Erstaunen, in Verdruß, ja, in Schrecken und Todesangst versetzen, ohne daß das Schicksal, welches wir doch heimlich selbst lenken, zu unserer Rettung herbeikäme; imgleichen, daß wir begierig nach etwas fragen, und eine Antwort erhalten, über die wir erstaunen; oder auch wieder, — daß wir selbst gefragt werden, wie etwan in einem Examen, und unfähig sind die Antwort zu finden, worauf ein Anderer, zu unsrer Beschämung, sie vortrefflich giebt; während doch im einen, wie im andern Fall, die Antwort immer nur aus unsern eigenen Mitteln kommen kann. Diese geheimnißvolle, von uns selbst ausgehende Leitung der Begebenheiten im Traume noch deutlicher zu machen und ihr Verfahren dem Verständniß näher zu bringen, giebt es noch eine Erläuterung, welche allein dieses leisten kann, die nun aber unumgänglich obscöner Natur ist; daher ich von Lesern, die werth sind, daß ich zu ihnen rede, voraussetze, daß sie daran weder Anstoß nehmen, noch die Sache von der lächerlichen Seite auffassen werden. Es giebt be-kannt¬lich Träume, deren die Natur sich zu einem materiellen Zwecke bedient, nämlich zur Ausleerung der überfüllten Saamenbläschen. Träume dieser Art zeigen natürlich schlüpfrige Scenen: dasselbe thun aber mitunter auch andere Träume, die jenen Zweck gar nicht haben, noch erreichen. Hier tritt nun der Unterschied ein, daß, in den Träumen der ersten Art, die Schönen und die Gelegenheit sich uns bald günstig erweisen; wodurch die Natur ihren Zweck erreicht: in den Träumen der andern Art hingegen treten der Sache, die wir auf das heftigste begehren, stets neue Hindernisse in den Weg, welche zu überwinden wir vergeblich streben, so daß wir am Ende doch nicht zum Ziele gelangen. Wer diese Hindernisse schafft und unsern lebhaften Wunsch Schlag auf Schlag vereitelt, das ist doch nur unser eigener Wille; jedoch von einer Region aus, die weit über das vorstellende Bewußtseyn im Traume hinausliegt und daher in diesem als unerbittliches Schicksal auftritt. — Sollte es nun mit dem Schicksal in der Wirklichkeit und mit der Planmäßigkeit, die vielleicht Jeder, in seinem eigenen Lebenslaufe, demselben abmerkt, nicht ein Bewandniß haben können, das dem am Traume dargelegten analog wäre? Bisweilen geschieht es, daß wir einen Plan entworfen und lebhaft ergriffen ha-ben, von dem sich später ausweist, daß er unserm wahren Wohl keineswegs gemäß war; den wir inzwischen eifrig verfolgen, jedoch nun hiebei eine Verschwörung des Schicksals gegen denselben erfahren, als welches alle seine Maschinerie in Bewegung setzt, ihn zu vereiteln; wodurch es uns dann endlich wider unsern Willen, auf den uns wahrhaft angemessenen Weg zurückstößt. Bei einem solchen absichtlich scheinenden Widerstande brauchen manche Leute die Redensart: »ich merke, es SOLL nicht seyn«; andere nennen es ominös, noch andere einen Fingerzeig Gottes: sämmtlich aber theilen sie die Ansicht, daß, wenn das Schicksal sich einem Plane mit so offenbarer Hartnäckigkeit entgegenstellt, wir ihn aufgeben sollten; weil er, als zu unserer uns unbewußten Bestimmung nicht passend, doch nicht verwirklicht werden wird und wir uns, durch halsstarriges Verfolgen desselben, nur noch härtere Rippenstöße des Schicksals zuziehn, bis wir endlich wieder auf dem rechten Wege sind; oder auch weil, wenn es uns gelänge, die Sache zu forciren, solche uns nur zum Schaden und Unheil gereichen würde. Hier findet das oben Angeführte ducunt volentem fata, nolentem trahunt seine ganze Bestätigung. In manchen Fällen kommt nun hinterher wirklich zu Tage, daß die Vereitelung eines solchen Planes unserm wahren Wohle durchaus förderlich gewesen ist: Dies könnte daher auch da der Fall seyn, wo es uns nicht kund wird; zumal wenn wir als unser wahres Wohl das metaphysisch-moralische betrachten. — Sehn wir nun aber von hier zurück auf das Hauptergebniß meiner gesammten Philosophie, daß nämlich Das, was das Phänomen der Welt darstellt und erhält, der WILLE ist, der auch in jedem Einzelnen lebt und strebt, und erinnern wir uns zugleich der so allgemein anerkannten Aehnlichkeit des Lebens mit dem Traume; so können wir, alles Bisherige zusammenfassend, es uns, ganz im Allgemeinen, als möglich denken, daß, auf analoge Weise, wie Jeder der heimliche Theaterdirektor seiner Träume ist, so auch jenes Schicksal, welches unsern wirklichen Lebenslauf beherrscht, irgendwie zuletzt von jenem WILLEN ausgehe, der unser eigener ist, welcher jedoch hier, wo er als Schicksal aufträte, von einer Region aus wirkte, die weit über unser vorstellendes, individuelles Bewußtseyn hinausliegt, während hingegen dieses die Motive liefert, die unsern empirisch erkennbaren, individuellen Willen leiten, der daher oft auf das heftigste zu kämpfen hat mit jenem unserm, als Schicksal sich darstellenden Willen, unserm leitenden Genius, unserm »Geist der außerhalb uns wohnt und seinen Stuhl in die obern Sterne setzt«, als welcher das individuelle Bewußtseyn weit übersieht und daher, unerbittlich gegen dasselbe, als äußern Zwang Das veranstaltet und feststellt, was herauszufinden er demselben nicht überlassen durfte und doch nicht verfehlt wissen will.

Das Befremdliche, ja Exorbitante dieses gewagten Satzes zu mindern mag zuvörderst eine Stelle im SKOTUS ERIGENA dienen, bei der zu erinnern ist, daß sein Deus, als welcher ohne Erkenntniß ist und von welchem Zeit und Raum, nebst den zehn Aristotelischen Kategorien, nicht zu prädiciren sind, ja, dem überhaupt nur Ein Prädikat bleibt, WILLE, — offenbar nichts Anderes ist, als was bei mir der Wille zum Leben: est etiam alia species ignorantiae in Deo, quando ea, quae praescivit et praedestinavit, ignorare dicitur, dum adhuc in rerum factarum cursibus experimento non apparuerint. (»Es gibt noch eine andere Art des Nichtwis-sens in Gott, sofern man sagt, daß er dasjenige, was er vorausweiß und vorausbestimmt hat, nicht wisse, solange es sich noch nicht im Laufe der tatsächlich geschehenen Ereignisse in der Erfahrung gezeigt hat.« (Scotus Erigena, De divisione naturae, edit. Oxon., p.83))

Und bald darauf: tertia species divinae ignorantiae est, per quam Deus dicitur ignorare ea, quae nondum experimento actionis et operationis in effectibus manifeste apparent; quorum tamen invisibiles rationes in seipso, a seipso creatas et sibi ipsi cognitas possidet. (»Eine dritte Art des göttlichen Nichtwissens besteht darin, daß man von Gott sagt, er wisse dasjenige nicht, was noch nicht durch die Erfahrung des Tuns und Ausführens in den Wirkungen zutage getre¬ten ist; obgleich er die unsichtbaren Gründe in sich selbst als solche, die er selbst erschaffen und die ihm selbst bekannt sind, besitzt. « (ibidem, p. 84))

— Wenn wir nun, um die dargelegte Ansicht uns einigermaaßen faßlich zu machen, die anerkannte Aehnlichkeit des individuellen Lebens mit dem Traume zu Hülfe genommen haben; so ist andrerseits auf den Unterschied aufmerksam zu machen, daß im bloßen Traume das Verhältniß einseitig ist, nämlich nur EIN Ich wirklich will und empfindet, während die Uebrigen nichts, als Phantome sind; im großen Traume des Lebens hingegen ein wechselseitiges Verhältniß Statt findet, indem nicht nur der Eine im Traume des Andern, gerade so wie es daselbst nöthig ist, figurirt, sondern auch dieser wieder in dem seinigen; so daß, vermöge ei-ner wirklichen Harmonia praestabilita, Jeder doch nur Das träumt, was ihm, seiner eigenen metaphysischen Lenkung gemäß, angemessen ist, und alle Lebensträume so künstlich in einander geflochten sind, daß Jeder erfährt, was ihm gedeihlich ist, und zugleich leistet, was Andern nöthig; wonach denn eine etwanige große Weltbegebenheit sich dem Schicksale vieler Tausende, Jedem auf individuelle Weise, anpaßt. Alle Ereignisse im Leben eines Menschen standen demnach in zwei grundverschiedenen Arten des Zusammenhangs:

erstlich, im objektiven, kausalen Zusammenhange des Naturlaufs;

zweitens, in einem subjektiven Zusammenhange, der nur in Beziehung auf das sie erlebende Individuum vorhanden und so subjektiv wie dessen eigene Träume ist, in welchem jedoch ihre Succession und Inhalt ebenfalls nothwendig bestimmt ist, aber in der Art, wie die Succession der Scenen eines Drama‘s, durch den Plan des Dichters.

Daß nun jene beiden Arten des Zusammenhangs zugleich bestehn und die nämliche Begebenheit, als ein Glied zweier ganz verschiedener Ketten, doch beiden sich genau einfügt, in Folge wovon jedes Mal das Schick-sal des Einen zum Schicksal des Andern paßt und Jeder der Held seines eigenen, zugleich aber auch der Figurant im fremden Drama ist. Dies ist freilich etwas, das alle unsere Fassungskraft übersteigt und nur vermöge der wundersamsten harmonia praestabilita (»vorherbestimmte Harmonie«) als möglich gedacht werden kann. Aber wäre es andrerseits nicht engbrüstiger Kleinmuth, es für unmöglich zu halten, daß die Lebensläufe aller Menschen in ihrem Ineinandergreifen eben so viel concentus (»Einklang«) und Harmonie haben sollten, wie der Komponist den vielen, scheinbar durch einander tobenden Stimmen seiner Symphonie zu geben weiß? Auch wird unsere Scheu vor jenem kolossalen Gedanken sich mindern, wenn wir uns erinnern, daß das Subjekt des großen Lebenstraumes in gewissem Sinne nur Eines ist, der Wille zum Leben, und daß alle Vielheit der Erscheinungen durch Zeit und Raum bedingt ist. Geht man nun darauf ein, nimmt man jene doppelte Kette aller Begebenheiten an, vermöge deren jedes Wesen einerseits seiner selbst wegen da ist, seiner Natur gemäß mit Nothwendigkeit handelt und wirkt und seinen eigenen Gang geht, andrerseits aber auch für die Auffassung eines fremden Wesens und die Einwirkung auf dasselbe so ganz bestimmt und geeignet ist, wie die Bilder in dessen Träumen; — so wird man Dieses auf die ganze Natur, also auch auf Thiere und erkenntnißlose Wesen, auszudehnen haben. Da eröffnet sich dann abermals eine Aussicht auf die Möglichkeit der omina, praesagia und portenta (»Vorbedeutungen, Vorzeichen und Wunderzeichen«), indem nämlich Das, was, nach dem Laufe der Natur, NOTHWENDIG eintritt, doch andrerseits wieder anzusehn ist als bloßes Bild für mich und Staffage MEINES Lebenstraumes, bloß in Bezug auf MICH geschehend und existirend, oder auch als bloßer Widerschein und Widerhall MEINES Thuns und Erlebens; wonach dann das Natürliche und ursächlich nachweisbar Nothwendige eines Ereignisses das Ominose desselben keineswegs aufhöbe, und eben so dieses nicht jenes. Daher sind Die ganz auf dem Irrwege, welche das Orninose eines Ereignisses dadurch zu beseitigen vermeinen, daß sie die natürlichen und nothwendig wirkenden Ursachen desselben recht deutlich nachweisen. Denn an diesen zweifelt kein vernünftiger Mensch; sondern gerade daraus, daß die ins Unendliche hinaufreichende Kette der Ursachen und Wirkungen, mit der ihr eigenen, strengen Nothwendigkeit und unvordenklichen Prädestination, den Eintritt dieses Ereignisses, in solchem bedeutsamen Augenblick, unvermeidlich festgestellt hat, erwächst demselben das Ominose. Andrerseits jedoch sehn wir mit dem Glauben an die Omina auch der Astrologie wieder die Thüre geöffnet; da die geringste, als ominos geltende Begebenheit, der Flug eines Vogels, das Begegnen eines Menschen u. dgl. durch eine eben so unendlich lange und eben so streng nothwendige Kette von Ursachen bedingt ist, wie der berechenbare Stand der Gestirne, zu einer gegebenen Zeit. Nur steht freilich die Konstellation so hoch, daß die Hälfte der Erdbe-wohner sie zugleich sieht; während dagegen das Omen nur im Bereich des betreffenden Einzelnen erscheint. Will man übrigens die Möglichkeit des Ominosen sich noch durch ein Bild versinnlichen; so kann man Den, der, bei einem wichtigen Schritt in seinem Lebenslauf, dessen Folgen noch die Zukunft verbirgt, ein gutes, oder schlimmes Omen erblickt und dadurch gewarnt oder bestärkt wird, einer Saite vergleichen, welche, wenn angeschlagen, sich selbst nicht hört, jedoch die, in Folge ihrer Vibration mitklingende, fremde Saite vernähme. — KANTS Unterscheidung des Dinges an sich von seiner Erscheinung, nebst meiner Zurückführung des ersteren auf den Willen und der letzteren auf die Vorstellung, giebt uns die Möglichkeit, die Vereinbarkeit DREIER GEGENSÄTZE, wenn auch nur unvollkommen und aus der Ferne, abzusehn. Diese sind:

1) Der, zwischen der Freiheit des Willens an sich selbst und der durchgängigen Nothwendigkeit aller Handlungen des Individuums.

2) Der, zwischen dem Mechanismus und der Technik der Natur, oder dem nexus effectivus (»bewirkenden Ursache«) und dem nexus finalis (»Endursache«), oder der rein kausalen und der teleologischen Erklärbarkeit der Naturprodukte. Hierüber Kants Kritik der Urtheilskraft §. 78, und mein Hauptwerk Bd. 2. Kap. 26.)

3) Der, zwischen der offenbaren Zufälligkeit aller Begebenheiten im individuellen Lebenslauf und ihrer moralischen Nothwendigkeit zur Gestaltung desselben, gemäß einer transscendenten Zweckmäßigkeit Für das Individuum: — oder, in populärer Sprache, zwischen dem Naturlauf und der Vorsehung.

Die Klarheit unserer Einsicht in die Vereinbarkeit jedes dieser drei Gegensätze ist, obwohl bei keinem derselben vollkommen, doch genügender beim ersten als beim zweiten, am geringsten aber beim dritten. Inzwischen wirft das, wenn auch unvollkommene, Verständniß der Vereinbarkeit eines jeden dieser Gegensätze allemal Licht auf die zwei andern zurück, indem es als ihr Bild und Gleichniß dient. — Worauf nun endlich diese ganze, hier in Betrachtung genommene, geheimnißvolle Lenkung des individuellen Lebenslaufs es eigentlich abgesehn habe, läßt sich nur sehr im Allgemeinen angeben. Bleiben wir bei den einzelnen Fällen stehn; so scheint es oft, daß sie nur unser zeitliches, einstweiliges Wohl im Auge habe. Dieses jedoch kann, wegen seiner Geringfügigkeit, Unvollkommenheit, Futilität und Vergänglichkeit, nicht im Ernst ihr letztes Ziel seyn: also haben wir dieses in unserm ewigen, über das individuelle Leben hinausgehenden Daseyn zu suchen. Und da läßt sich dann nur ganz im Allgemeinen sagen, unser Lebenslauf werde, mittels jener Lenkung, so regulirt, daß von dem Ganzen der durch denselben uns aufgehenden Erkenntniß der metaphysisch zweckdienlichste Eindruck auf den WILLEN, als welcher der Kern und das Wesen an sich des Menschen ist, entstehe. Denn obgleich der Wille zum Leben seine Antwort am Laufe der Welt überhaupt, als der Erscheinung seines Strebens, erhält; so ist dabei doch jeder Mensch jener Wille zum Leben auf eine ganz individuelle und einzige Weise, gleichsam ein individualisirter Akt desselben; dessen genügende Beantwortung daher auch nur eine ganz bestimmte Gestaltung des Weltlaufs. gegeben in den ihm eigenthümlichen Erlebnissen, seyn kann. Da wir nun, aus den Resultaten meiner Philosophie des Ernstes (im Gegensatz bloßer Professoren- oder Spaaß-Philosophie), das Abwenden des Willens vom Leben als das letzte Ziel des zeitlichen Daseyns erkannt haben; so müssen wir annehmen, daß DAHIN ein Jeder, auf die ihm ganz individuell angemessene Art, also auch oft auf weiten Umwegen, allmälig geleitet werde. Da nun ferner Glück und Genuß diesem Zwecke eigentlich entgegenarbeiten; so sehn wir, Diesem entsprechend, jedem Lebenslauf, Unglück und Leiden unausbleiblich eingewebt, wiewohl in sehr ungleichem Maaße und nur selten im überfüllten, nämlich in den tragischen Ausgängen; wo es dann aussieht, als ob der Wille gewissermaaßen mit Gewalt zur Abwendung vom Leben getrieben werden und gleichsam durch den Kaiserschnitt zur Wiedergeburt gelangen sollte.

So geleitet dann jene unsichtbare und nur in zweifelhaftem Scheine sich kund gebende Lenkung uns bis zum Tode, diesem eigentlichen Resultat und insofern Zweck des Lebens. In der Stunde desselben drängen alle die geheimnißvollen (wenn gleich eigentlich in uns selbst wur-zelnden) Mächte, die das ewige Schicksal des Menschen bestimmen, sich zusammen und tre-ten in Aktion. Aus ihrem Konflikt ergiebt sich der Weg, den er jetzt zu wandern hat, bereitet nämlich seine Palingenesie sich vor, nebst allem Wohl und Wehe, welches in ihr begriffen und von Dem an unwiderruflich bestimmt ist. — Hierauf beruht der hochernste, wichtige, feierliche und furchtbare Charakter der Todesstunde. Sie ist eine Krisis, im stärksten Sinne des Worts, — ein Weltgericht. PP I, S.209ff.

Ueberhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem, indem er vorwärts schreitet, die Gegenstände andere Gestalten annehmen, als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er sich nähert. Besonders geht es mir unsern Wünschen so. Oft finden wir etwas ganz Anderes, ja, Besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft da, wo wir Genuß, Glück, Freude suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntniß, — ein bleibendes, wahrhaftes Gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren. Dies ist auch der Gedanke, welcher im Wilhelm Meister als Grundbaß durchgeht, indem dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch höherer Art ist, als alle übrigen, sogar die von Walter Scott, als welche sämmtlich nur ethisch sind, d.h. die menschliche Natur bloß von der ethischen Seite auffassen. Ebenfalls in der Zauberflöte, dieser grottesken, aber bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe Grundgedanke, in großen und groben Zügen, wie die der Theaterdekorationen sind, symbolisirt; sogar würde er es vollkommen seyn, wenn, am Schlusse, der Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zurückgebracht, statt ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und erhielte; hingegen seinem nothwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig seine Papagena würde. —

Vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe: sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen Einsichten zu tauschen, und sagen endlich mit Petrarca: »Kein andres Glück empfind‘ ich als zu lernen«.

Es kann damit sogar dahin kommen, daß sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaaßen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloß Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabe-nen Anstrich giebt. — Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns wie den Alchemisten, welche, indem sie nur Gold suchten, Schießpulver, Porzellan, Arzeneien, ja, Naturgesetze entdeckten.
PP I, S.409f.