John Stuart Mill (1806 - 1873)
Englischer
Philosoph und Volkswirt, war 1856—58 Leiter des Indienamtes, 1865—68 Mitglied
des Unterhauses. Als Theoretiker eines radikalen Liberalismus, näherte
er sich in seinen »Principles of political economy«
(1848, dt.) unter kritischer Anknüpfung an die klassische Wirtschaftstheorie (Adam Smith, David Ricardo) einem liberalen Sozialismus,
der die Idee der freien Entfaltung nach den Gesetzen der Produktion wie
auch die Möglichkeit regulierender staatlicher Eingriffe im Sinne einer
sozialstaatlichen Ordnung einschließt. Grundlegende Momente seiner
Erkenntnistheorie, die den Positivismus des 19. Jahrhunderts prägte, sind die Assoziationspsychologie und die induktive Logik; als einzige Quelle der Erkenntnis gilt die Erfahrung, als
einzige Methode die Induktion. Wissenschafts-methodologisch strebte er eine einheitliche Wissenschaftslogik an und unterschied als einer der ersten
zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. In der Ethik (»Utilitarianism«,
1861) rechnet er zu den Hauptvertretern des Utilitarismus. Mit seinen
theoretischen Ausführungen über das induktive Verfahren bei experimentellen
Untersuchungen beeinflusste er die beginnende wissenschaftliche Psychologie.
In seinen »Drei Essays über die Religion«
befasst er sich mit der Natur, der Nützlichkeit der Religion und dem Theismus. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Der Glaube an
die Existenz Gottes ist ein Bewusstseinszustand
Theismus
>>>Christus
Vorbildfunktion Christi
Der
Gaube an die Existenz Gottes ist ein Bewusstseinszustand
Wir können an die Sonne oder an Gott denken, aber die Sonne und Gott sind
keine Gedanken; unser geistiges Bild von der Sonne und unsere Idee von Gott
sind aber Gedanken, sind Zustände unseres Geistes und nicht der Gegenstände
selbst; ebenso sind unser Glaube an die Existenz der Sonne oder Gottes oder
auch unser Unglaube Gedanken oder Zustände des Bewusstseins.
Aus: John Stuart Mill: System der deduktiven und induktiven
Logik, S. 106)
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlags
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin
Theismus
Aus der vorangehenden Prüfung der Beweise für den Theismus
und (den Theismus vorausgesetzt) der Beweise
für eine Offenbarung ergibt sich, dass das vernunftgemäße Verhalten eines denkenden
Geistes dem Übernatürlichen (in Gestalt der
natürlichen wie der offenbarten Religion) gegenüber das eines
Skeptizismus ist, der sich einerseits vom Glauben, andererseits vom Atheismus
unterscheidet, wobei wir in dem vorliegenden Fall unter Atheismus sowohl
die negative als auch die positive Form des Unglaubens an einen Gott verstehen, d. h. nicht nur die dogmatische Leugnung seiner Existenz, sondern
auch die Leugnung, dass es Beweise dafür oder dagegen gebe, was für
die meisten praktischen Zwecke auf dasselbe hinausläuft, wie wenn der Beweis
gegen die Existenz Gottes erbracht wäre.
Wenn wir mit den Schlüssen, zu denen uns die vorangehende Untersuchung
geführt hat, recht haben, liegen wenn auch zu einem Beweis unzureichende
und nur bis zu einem der niederen Grade von Wahrscheinlichkeit reichende Hinweise
vor. Soweit Hinweise vorliegen, deuten sie auf eine Schöpfung hin, zwar
nicht des Universums, aber der gegenwärtigen Ordnung des Universums durch
einen intelligenten Geist, dessen Macht über den Stoff nicht absolut, dessen
Liebe zu seinen Geschöpfen nicht sein einziges treibendes Motiv war, der
aber nichtsdestoweniger ihr Bestes wollte. Die Vorstellung von der vorsorglichen
Regierung eines allmächtigen Wesens zum Besten seiner Geschöpfe muss
ganz aufgegeben werden. Selbst für die Fortdauer der Existenz des Schöpfers
haben wir keine andere Garantie, als daß er nicht dem Gesetz des Todes,
das für irdische Wesen gilt, unterworfen sein kann, da die Bedingungen
dieses Unterworfenseins, wo immer es existiert, sein eigenes Werk sind. Dass
dieses nicht allmächtige Wesen eine seinen Absichten nicht voll entsprechende
Maschinerie hervorgebracht haben kann, die vielleicht das gelegentliche Eingreifen
der Hand des Werkmeisters erfordert, ist eine an sich weder absurde noch unmögliche
Annahme, obgleich in keinem der Fälle, in denen an ein solches Eingreifen
geglaubt wird, der Nachweis dafür zu einem Beweis ausreicht.
Es bleibt einfach eine Möglichkeit, an die sich diejenigen halten mögen,
denen es Trost gewährt anzunehmen, dass Segnungen, die jenseits der
gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten liegen, ihnen nicht durch außergewöhnliche
menschliche Fähigkeiten, sondern durch die Güte einer die menschliche
überragenden und beständig für die Menschen sorgende Intelligenz
gewährt werden. Mit der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode verhält es sich ebenso — einer Gabe, die dieses mächtige Wesen,
das Menschen wohl will, vielleicht zu gewähren imstande und die es, wenn
die angeblich von ihm gesandte Botschaft wirklich gesandt worden ist, tatsächlich
versprochen hat. Das gesamte Gebiet des Übernatürlichen ist somit
aus dem Bereich des Glaubens in den Bereich einer einfachen Hoffnung gerückt,
und in diesem wird es, soweit wir sehen können, auf immer bleiben; denn
wir können kaum annehmen, daß wir je einen positiven Nachweis über
ein direktes Eingreifen des göttlichen Wohlwollens in die menschlichen
Geschicke erlangen, noch dass wir Gründe dafür finden, dass
wir die Erfüllung menschlicher Hoffnungen in dieser Hinsicht für jenseits
aller Möglichkeiten halten müssen. [...]
Aber es gehört zu den allgemeinsten und überraschendsten Eigentümlichkeiten
der menschlichen Natur — so wie zu den deutlichsten Beweisen für
den niedrigen Stand, zu dem die Vernunft der Menschheit als ganzer bis heute
fortgeschritten ist —, dass sie die Fähigkeit besitzt, über
jeden moralischen und theoretischen Widerspruch hinwegzusehen und Grundsätze in sich aufzunehmen, die im äußersten
Widerspruch zueinander stehen, nicht nur ohne sich von diesen Widersprüchen verblüffen zu lassen, sondern auch ohne die sich widersprechenden Überzeugungen
daran zu hindern, zumindest einen Teil ihrer natürlichen Wirkung auf den
Geist auszuüben.
Fromme Menschen haben nicht aufgehört, Gott einzelne Handlungen und eine
allgemeine Richtung seines Willens und Verhaltens zuzuschreiben, die selbst
mit den gewöhnlichsten und beschränktesten Vorstellungen moralischer
Güte unverträglich sind, und sich dadurch in vielen Punkten ihre moralischen
Vorstellungen völlig verdrehen und verderben lassen, haben sich jedoch
gleichzeitig ihren Gott mit allen Eigenschaften der höchsten idealen Güte,
die ihr Geisteszustand zu fassen vermochte, ausgestattet vorgestellt und sind
in ihrem Streben nach moralischer Güte durch diese Vorstellungen angespornt
und ermutigt worden. Und es kann nicht bestritten werden, daß der feste
Glaube an die wirkliche Existenz eines Wesens, in dem sich unsere besten Begriffe
von Vollkommenheit
verwirklicht finden, und der Glaube, daß wir in der Hand dieses Wesens
als eines Weltregierers stehen, diesen Gefühlen eine gesteigerte Kraft
verleiht, die weit über das hinausgeht, was sie aus der Bezugnahme auf
eine rein ideelle Vorstellung schöpfen können.
Auf diesen besonderen Vorteil müssen alle diejenigen verzichten, die sich
über die Natur und Beweiskraft der Beweise für die Existenz und die
Attribute des Schöpfers ein vernünftiges Urteil gebildet haben. Andererseits
sind sie entlastet von den moralischen Widersprüchen, die jeder Form der
Religion anhaftet, die darauf abzielt, die Weltregierung in ihrer Ganzheit moralisch
zu rechtfertigen. Sie vermögen sich daher eine viel wahrere und konsequentere
Vorstellung von idealer Güte zu machen als es jemandem möglich ist,
der es für notwendig hält, ideale Güte in einem allmächtigen
Weltenlenker zu finden. Sobald man die Macht des Schöpfers einmal als beschränkt
anerkannt hat, gibt es nichts mehr, was die Annahme entkräften könnte,
dass seine Güte vollständig ist und daß der Charakter idealer Vollkommenheit, dem wir nachstreben und dessen Billigung uns als höchstes
Ziel unseres Handelns vorschwebt, vielleicht wirklich in einem Wesen existiert,
dem wir alles Gute, das wir genießen, verdanken.
Aus: John Stuart Mill, Drei Essays über
die Religion. Natur – Nützlichkeit der Religion – Theismus
Auf der Grundlage der Übersetzung von Emil Lehmann, neu bearbeitet und
mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Dieter Birnbacher
Reclams Universalbibliothek Nr. 8237 (S. 201-202,-208-209)
© 1984 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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