Friedrich Paulsen (1846 – 1908)
Deutscher
Philosoph und Pädagoge, der sich für die Gleichberechtigung des Realgymnasiums mit dem humanistischen Gymnasium einsetzte und u. a.
von Kant, Schopenhauer,
Wundt und Fechner beeinflusst ist. Im Sinne Fechners lehrt er einen idealistischen Monismus
(objektiven Idealismus), der die materielle
Seite der Wirklichkeit als eine äußere Erscheinung des psychischen
Innenlebens auffasst. Wissen und Glauben versucht Paulsen
insofern zu versöhnen, indem er die Kausalabläufe im mechanischen
Geschehen der Welt als Ausdruck und Mittel eines
teleologischen Zusammenhanges auffasst. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Selbstbehauptung
Ethik und Metaphysik
Die Begründung
einer monistisch-pantheistischen Weltansicht
Das religiöse
Problem
Selbstbehauptung
In der Tat, alles Größte im Menschheitsleben beruht auf der Kraft
der Selbstbehauptung der Einzelpersönlichkeit auch gegen das Allgemeine:
jede Emporbildung geistig-sittlichen Lebens ist
im Kampf gegen das widerstrebende Geltende durchgesetzt worden.
Die Preisgebung der eigenen Überzeugung, der eigenen
Seele an das Geltende wird mit dem niederziehenden Gefühl der inneren
Unwahrhaftigkeit gebüßt; sie führt zur Verarmung des Eigenlebens
und zur Stagnation des Gesamtlebens, und in der Erstarrung verliert auch der
an sich wertvolle Inhalt die Fähigkeit zu lebendiger Wirkung.
Die Kraft der Selbstbehauptung gegen das äußerlich Herrschende, sei
es in Gestalt der anerkannten öffentlichen Autoritäten oder der allgemeinen
Meinung aller Gebildeten, ist daher, verbunden mit der Fähigkeit der Selbsthingebung
an Ideen, die höchste sittliche Tüchtigkeit, auf der alle Gesundheit
des Lebens im höheren Sinne beruht. Wobei man denn sich hüten wird,
in den Irrtum zu fallen, dem jugendliche Nietzschejünger leicht zu unterliegen scheinen: die eigenwillige Festhaltung allerlei
fratzenhafter Einbildungen oder gar die rücksichtslose Durchsetzung sinnlich-selbstsüchtiger
Triebe mit Selbstbehauptung in jenem echten Sinn zu verwechseln.
Tobsüchtiger Eigensinn ist nicht die Seelenstärke des freien Mannes,
sondern gehört zu jener Knechtschaft der Seele, worin Spinoza
den Selbstverlust des Menschen als Vernunftwesens setzt.
Ethik
und Metaphysik
Die ältere Philosophie neigte dazu, die Ethik auf Metaphysik zu gründen,
und so galt in der Theologie
die Dogmatik als Unterlage und Voraussetzung der Moral. Kant hat das Verhältnis umgekehrt, er macht die Moral zum Fundament der
Metaphysik oder also des »praktischen Vernunftglaubens«. So berechtigt es ist, die Selbständigkeit der Moral gegenüber der
theoretischen Weltansicht zu behaupten, so begründet auch die Lehre vom
Primat der praktischen Vernunft ist, so wird doch die Herstellung einer wirklichen
Verbindung von Moral und Metaphysik, einer innerlicheren und sachlicheren, als
sie in Kants Postulaten erreicht ist, stets ein
Bedürfnis der menschlichen Vernunft bleiben; wie ja denn auch Kant nicht aufgehört hat sie zu suchen, Zeugnis dessen die Kritik
der Urteilskraft. Und dies Bedürfnis wird um so dringender, wenn die Moralphilosophie
den transzendenten Charakter, der auch bei Kant ihr noch anhaftet, abstreift,
und andererseits die Metaphysik den Anspruch, eine Lehre vom wirklich Wirklichen
zu sein, den sie bei Kant fallen läßt,
wieder aufnimmt.
Eine teleologische Ethik fordert eine teleologische
Metaphysik und Naturphilosophie: ist der Mensch und sein Leben, auch
sein sittliches Leben, unlösbar in das Leben des Ganzen verflochten, so
muß eine Theorie dieses Lebens sich in eine allgemeine Theorie der Wirklichkeit
einordnen lassen, oder also ihre eigenen Voraussetzungen in die Natur überhaupt
hinein verlängern.
In der Geschichte der Philosophie tritt überall dieser Zusammenhang zutage.
Ich erinnere an Aristoteles und
Hegel. »Die Natur schafft nichts ohne
Sinn und Zweck«, dieser Grundsatz seiner
teleologischen Naturphilosophie erscheint bei Aristoteles auch als der Ausgangspunkt seiner Ethik: die Bestimmung des Menschen
muß aus seiner kosmischen Stellung sich ergeben; was ihn auszeichnet unter
den Lebewesen, ist die Vernunft; also ist hierauf das Absehen der Natur gerichtet:
in der menschlichen Vernunft hat die absolute Vernunft das Organ hervorgebracht,
das ihre kosmischen Gedanken noch einmal denkt. In den Spuren des
Aristotelischen Denkens gehend, bestimmt die scholastische
Philosophie die Erkenntnis Gottes als Bestimmung
und höchstes Gut des Menschen. Und in der Hegelschen
Philosophie kehrt der Gedanke in der Fassung wieder, daß geistig-sittliches
Leben und zuhöchst Philosophie das Ziel der Entwicklung ist: die
Selbsterfassung der Idee im Denken, das Denken der Gedanken, die die Wirklichkeit
sind, das ist, wie Ziel und Sinn der Wirklichkeit überhaupt, so Bestimmung
und höchstes Gut des menschlichen Lebens. Also hier wie dort: das menschliche
Leben eingeordnet dem Ganzen und seine Bestimmung in ihm gesetzt und aus ihr
begreiflich; die Harmonie von Ethik und Metaphysik der
letzte Prüfstein der Wahrheit einer Philosophie.
Es gibt allerdings eine Philosophie, die gegen diese Forderung sich schlechthin
gleichgültig oder ausdrücklich ablehnend verhält, es ist die materialistische; sie isoliert Ethik und Metaphysik
vollständig gegeneinander. Nach ihr ist die Wirklichkeit an sich selbst,
die Wirklichkeit, wie die Physik sie zeigt, gegen die Kategorien
gut und schlecht, wert und unwert völlig gleichgültig; die
Atome wissen nichts von gut
und böse.
In der Folge begegnen uns dann allerdings Wesen, die für
Lust und Schmerz empfindlich sind, die auch durch die Prädikate
gut und böse urteilen, ja wohl gar für Wahrheit und Gerechtigkeit
eine unselbstische Teilnahme zeigen und für allgemeine Wohlfahrt und Fortschritte
des Menschengeschlechts leidenschaftlich sich erregen. Aber das sind, sagt die
Metaphysik, bloß vorübergehende Konstellationen von Atomen, die mitsamt
ihren Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit bald wieder in den allgemeinen Wirbel
des Naturlaufes hineingerissen werden und verschwinden.
Dann ist von gut und böse nicht mehr die Rede, sondern
nur noch von Körpern und Bewegungen. Freilich eine Philosophie,
so wird man sagen dürfen, die weder für den Verstand noch auch für
das Gemüt viel Befriedigendes hat; für jenen nicht: es bleibt ein
seltsames Rätsel, wie die undenkenden Atome durch
eine bloße Veränderung der Lage gegeneinander
dahin kommen, über sich selber und den Wert ihres Daseins nachzudenken; für dieses nicht: es steht unter der niederdrückenden Gewißheit,
mit allen seinen hohen Aspirationen [Bestrebungen,
Hoffnungen] nur ein Augenblickserfolg einer Augenblickskonstellation
ziellos von sinnlosen Kräften bewegter Elemente zu
sein.
In der Tat, bei der materialistischen Philosophie und
ihrer Ethik stehen zu bleiben, ist auf alle Weise unmöglich; Ethik
und Metaphysik revoltieren in gleicher Weise dagegen: die Ethik postuliert die
Zusammenstimmung mit der Metaphysik, weil sie keine Bestimmung des Menschen
festhalten kann, ohne eine Bestimmung der Wirklichkeit überhaupt zu denken;
und umgekehrt, die Metaphysik postuliert die Zusammenstimmung mit der Ethik,
weil sie keine Wirklichkeit denken kann, die aus absolut disparaten Wesen besteht, aus fühllosen und sinnlosen Atomen einerseits, aus fühlenden, wollenden, wertenden Wesen andererseits, die aus
jenen entspringen.
Diese Postulate sind aber allerdings mehr als bloße Zumutungen oder Forderungen
eines in theoretischer Absicht grundlosen Glaubens, als welche sie bei Kant zunächst erscheinen. Es sind vielmehr Gedanken, auf welche die Tatsachen
von beiden Seiten hinweisen. Von der Physik her: die Zielstrebigkeit, die in
den organischen Bildungen und den Betätigungen der Lebewesen sich darstellt,
weist auf ein Innenleben hin, das dem aus dem Eigenleben uns bekannten Willen
verwandt ist; und die Einheit der körperlichen Welt und des Naturlaufes
läßt immer wieder den Gedanken einer universellen
Beseelung oder eines Allebens als die glaublichste Interpretation des Universums
erscheinen.
Dann aber wird das geschichtliche Leben der Menschheit, in das die Geschichte
des Lebens auf Erden mündet, als Zielpunkt der Entwicklung notwendig zum
Ausgangspunkt für eine auf ein inneres Verständnis ausgehende Deutung
des Weltlaufs: die Gesamtbewegung, soweit wir sie denn übersehen, stellt
sich dar als bestimmt durch Anziehung von dem Ziel des Menschheitslebens: ein
einheitliches Reich geistig-sittlicher Wesen. Ist das menschliche Leben, das
einzige Stück der Wirklichkeit, das wir intimer kennen, ein zielstrebiger Prozeß, das Leben des Einzelnen wie das Leben des Ganzen
in der Geschichte, aufsteigend von bloß natürlichem zu geistigem
Leben, so wird die gesamte Natur, aus der das menschliche Dasein
hervorwächst, von hier aus durchleuchtet und das Universum und seine Entwicklung
ein zielstrebiger Prozess in der Richtung auf die Selbstdarstellung in
einem geistigen Universum. Der objektive Idealismus der griechischen
Philosophie, der in der von Kant ausgehenden spekulativen Philosophie des 19.
Jahrhunderts seine Auferstehung gefeiert hat, darf mit dieser allgemeinen Anschauung
wohl in Anspruch nehmen, die Tatsachen, die Natur und Geschichte uns an die
Hand geben, in einer großen Synthese zur notwendigen Einheit zusammengebogen
zu haben.
Und nun werden wir sagen: dass die Sittengesetze sich als die Naturgesetze des menschlichen Lebens erweisen, Naturgesetze in dem Sinne, dass ihre
Befolgung zur Erhaltung und Erhöhung, ihre Missachtung zur Vernichtung
zunächst des geistigen, zuletzt auch des physischen Lebens führt,
ist die eigentlich kardinale Tatsache, an der die Weltanschauung zu orientieren
ist. In dem sittlichen Willen haben wir den tiefsten und
eigentlichsten Ausdruck des Wesens der Wirklichkeit überhaupt: die Wirklichkeit
als Einheit gedacht,
hat die Form eines heiligen Willens, in dem die
höchsten Lebensgüter auch unseres Lebens unverlierbare Wirklichkeit
haben.
Freilich werden wir dann gleich hinzufügen, dass wir diesen
letzten Einheitspunkt des Guten und des Wirklichen, wir nennen ihn Gott, nicht mit der Anschauung oder mit adäquater Erkenntnis,
sondern nur mit dem schematischen Begriff erreichen. Die spekulative Philosophie überschätzte die Bedeutung ihrer Gedanken, wenn sie darin
nicht letzte Versuche des Menschengeistes, sich von seinem peripherischen Standort
über Leben und Wirklichkeit Rechenschaft zu geben, sondern das absolute Zu-sich-selbstkommen des Weltgeistes erblickte.
Kant schätzte doch die menschlichen Erkenntniskräfte wahrer, wenn
er sie nicht zulänglich fand zur Darstellung der Wirklichkeit, wie sie
an und für sich selbst ist. Mag die Allwirklichkeit
die Form eines geistigen Lebens haben, so ist doch
unser an die Data der uns gegebenen Anschauung gebundenes Denken nicht imstande,
den unendlichen Inhalt dieses Lebens darzustellen oder auszuschöpfen. Nur
mit symbolischen Ausdrücken können wir sein Wesen in Beziehung auf
unser Wesen bestimmen, ein symbolischer Anthropomorphismus
demnach die notwendige Form des menschlichen
Gottesglaubens.
Und ebensowenig sind wir imstande, die Formen und Gesetze der Natur oder den
Gang der Geschichte aus den absoluten Zweckgedanken abzuleiten oder als notwendige
Mittel und Wege zur Realisierung des höchsten Gutes darzustellen. Auch
hier kommen wir nicht über schematische Umrisse hinaus. Und so bleibt der
Glaube, dass die Wirklichkeit um des Guten willen sei, zuletzt doch mehr
ein im Willen ruhender Glaube, oder mit Kant ein
Postulat der praktischen Vernunft, als eine theoretische
Einsicht. S. 308-311
Aus: Systematische Philosophie von W. Dilthey . A.Riehl . W. Wundt . W. Ostwald
. H. Ebbinghaus . R. Eucken . Fr. Paulsen . W. Münch . Th. Lipps, Druck
und Verlag B. G. Teubner, Berlin und Leipzig 1907
Die
Begründung einer monistisch-pantheistischen Weltansicht.
Das zweite große Problem der Metaphysik ist das kosmologische,
die Frage nach der Beziehung der Wirklichkeitselemente
zueinander, oder die Frage nach der Form und dem Grunde
der Einheit der Wirklichkeit; sie geht so in das theologische Problem über.
Das philosophische Denken hat auch an diesem Punkt auf eine Lösung geführt,
die mit zunehmender Einmütigkeit anerkannt wird und daher auch als Grundlage
der Zukunftsphilosophie angesehen werden darf; die monistische oder monotheistisch-pantheistische.
Ich will sie kurz entwickeln, um dann auf die kritische Philosophie und ihr
Verhältnis zu diesen Fragen mit einem Wort einzugehn.
Die gemeine Vorstellung bleibt bei der Ansicht stehen, wie sie der sinnlichen
Auffassung sich darbietet: die Wirklichkeit ein Aggregat von vielen selbständigen
Dingen, zwischen denen für ihr Wesen zufällige oder äußerliche
Beziehungen stattfinden. Im Atomismus ist diese Auffassung grundsätzlich
durchgeführt und zu Ende gedacht: die Wirklichkeit ein System von absolut
selbständigen körperlichen Substanzen, deren jede nach Dasein und
Wesen unabhängig von allen übrigen absolut perdurabel [dauerhaft]
und unveränderlich existiert, die aber alle miteinander in gesetzmäßiger
Wechselwirkung stehen. Dieser materialistischen Form des Pluralismus steht in
der Monadologie eine spiritualistische zur Seite.
Das philosophische Denken zeigt von jeher eine Neigung, über die anscheinende
Vielheit zu einer ursprünglichen Einheit zurückzugehen, in der die
vielen Wirklichkeitselemente als abhängige Teilsysteme mit bloß relativer
Selbständigkeit gesetzt sind. So erscheint in der Entwicklung der griechischen
Philosophie ebenso wie in der indischen ein monistischer Weltbegriff oder ein
pantheistischer Gottesbegriff als das Ziel, von dem das Denken angezogen
wird. Die Philosophie des Mittelalters hat in dem Monotheismus des religiösen Glaubens, bei Christen, Juden und Mohammedanern, die Voraussetzung
einer monistischen Weltanschauung: der
Gott des Monotheismus,
der unendliche und allmächtige, d. h. allwirkende, läßt keinen
Raum für ein Wirkliches, das nicht von ihm und in ihm gesetzt wäre; er resorbiert die Wirklichkeit in sein Wesen: der Monotheismus,
begrifflich gedacht, wird notwendig zum Pantheismus, wie er denn auch geschichtlich
immer wieder in diesen übergeht. Sichtbar in der Philosophie der Neuzeit.
Von den Tagen des Nolaners an bis auf die Gegenwart
kehrt als Ergebnis kosmologisch-theologischer Spekulation
immer jene Lehre wieder, die Spinoza mit den harten
Begriffen seiner mathematischen Denkweise festgepfählt, die Hegel mit den
biegsameren Formeln seiner Dialektik umrissen und mit dem reicheren Inhalt der geschichtlichen Welt erfüllt
hat: die unendliche Mannigfaltigkeit des Wirklichen
gesetzt in der Einheit einer ursprünglichen Wesenheit;
Deus sive.
Der Ausgangspunkt dieser Gedankenbildung ist die unablehnbare Einheit der phänomenalen
Welt. Sie ist zunächst mit der Einheit von Raum und Zeit gegeben: mehrere
Räume und Zeiten, d. h. mehrere Exemplare von Raum und Zeit, die den Umfang
des Begriffs bildeten, ist es nicht möglich zu denken; verschiedene Räume
sind immer bloß als Teile eines umfassenden Raums zu denken; und so die
Zeit. Zu dieser formalen Einheit kommt die reale Einheit durch Wechselwirkung:
jedes Wirkliche, so zeigt es die Wissenschaft oder setzt es voraus, steht in
kausalem Zusammenhang mit seiner räumlich-zeitlichen Umgebung, diese wieder
mit ihrer Umgebung und so fort ins Unendliche.
Die Natur bildet also ein einheitliches System, in dem jedes Element bestimmt
wird durch die Gesamtheit aller. Dazu kommt noch die Gleichartigkeit der Elemente
und die Gleichförmigkeit ihres Verhaltens: dieselbe Beschaffenheit der
Materie hier und in dem äußersten Nebel, der in unseren Fernrohren
sein Spektrum zeichnet, dieselben Gesetze geeignet, ihr Verhalten, soweit es
Immer in den Kreis unserer Beobachtung fällt, auszudrücken.
Es liegt auf der Hand, daß die Hypothese des metaphysischen Pluralismus
nicht wohl tauglich ist, diese Tatsachen zu erklären oder auf ihre letzte
Formel zu bringen. Wir müßten, ihre Wahrheit vorausgesetzt, ein wesentlich
anderes Weltbild erwarten. Bestände die Wirklichkeit in Wahrheit aus zahllosen
absolut selbständigen Substanzen, deren jede ihre Wirklichkeit und ihre
Natur für sich selber und aus sich selber hätte, dann wäre jene
durchgängige Gleichförmigkeit und allgemeine Anpassung wohl das Unwahrscheinlichste,
was wir von ihr erwarten könnten; unendliche Verschiedenheit
und vollständige Gleichgültigkeit aller gegen alle, d. h. das
Chaos, müsste
dann als die eigentlich selbstverständliche Gestalt des Universums erscheinen.
Lotze hat derartige Gedanken zu einer Art Beweis für die monistische
Auffassung zusammengebogen Schon die bloße Tatsache der Wechselwirkung,
so legt er dar, ist gar nicht zu konstruieren ohne die Voraussetzung, dass
die in Wechselwirkung tretenden Elemente als Teile oder Glieder in einem umfassenden
Wirklichen gesetzt sind. Die Vorstellung, daß eine Substanz auf eine andere
Substanz einen »Einfluss« üben könne, dass von ihr sich gleichsam etwas ablöse und
auf die andere übergehe, ist in jedem Betracht unvollziehbar: weder kann
sich ein Akzidens von seiner Substanz ablösen, noch kann es durch das Leere,
einstweilen ohne an einer Substanz zu sein, zur anderen hinübergehen, noch
kann es endlich von der andern Substanz aufgenommen oder gleichsam in ihr Wesen
eingelassen werden: Substanzen haben keine Türen
oder Fenster, wodurch Akzidenzen ein- und austreten könnten. Der
Vorgang, den wir Wechselwirkung nennen, bedeutet also nicht einen Austausch
der Akzidenzen, sondern korrespondierende Veränderung an mehreren Punkten
der Wirklichkeit: wenn ein Element in diesen Zustand eintritt, dann gehen andere
Elemente in entsprechend veränderte Zustände über. Es ist derselbe
Gedanke, der in der prästabilierten Harmonie Leibnizens in anderer Wendung vorliegt, den man aber auch in der Kausalitätstheorie
des Positivisten Hume wiedererkennen kann: kein
inneres Band, kein Austausch, sondern bloß regelmäßige Zusammenstimmung
der Erscheinungen in der Zeit.
Und nun der Schluss: die universelle Korrespondenz aller Veränderungen
in der Wirklichkeit, Leibnizens concomitance
universelle, bleibt unbegreiflich, wenn man nicht die Voraussetzung
macht, dass die Wirklichkeit eine substantielle Einheit
bildet, dass alle Einzeldinge als Einschränkungen oder Bestimmungen
in einem einheitlichen Wesen gesetzt sind. Also ist die Wahrheit der monistischen
Auffassung bewiesen, soweit hier überhaupt bewiesen werden kann: was zur
Begreiflichkeit der Wirklichkeit notwendig vorausgesetzt werden muss, ist wahr. Auch Leibniz hat, trotz dem anscheinend pluralistischen
Anlauf der Monadologie, die Notwendigkeit einer
realen Einheit, worin die Monaden
und ihre prästabilierte
Harmonie gegründet sind, niemals verkannt.
Verbinden wir nun diese Gedanken mit dem Ergebnis, zu dem die ontologische Betrachtung
uns führte, so ergibt sich die Formel: die Wirklichkeit, die in der Erscheinungswelt
als ein einheitliches Körpersystem sich darstellt, ist an sich als ein
einheitliches Wesen psychischer Natur zu denken, und zwar, wenn wir jener voluntaristischen
Richtung des modernen Denkens folgen, als ein einheitlicher,
zielstrebiger Allwille, der sich selbst in einer Unendlichkeit relativ
selbständiger Willenssysteme verwirklicht. Sofern aber in der Erfahrung
uns der Wille nie ohne Intelligenz in irgend einer
Form gegeben ist, würden wir auch jenen Allwillen als mit Intelligenz in irgend einer Gestalt ausgestattet zu denken nicht umhin können.
Wir beeilen uns hinzuzufügen, daß diese Bestimmung nicht viel mehr als ein bloßes Schema eines möglichen und durch die
Tatsachen nahegelegten Abschlusses unserer Gedanken ist. Weder sind wir imstande, die Fülle des Wesensgehalts jener Einheit
der Wirklichkeit,
die wir Gott-Natur nennen, in konkreter Anschauung zu erfassen oder auch nur die allgemeinen Züge dieses Wesens,
die Form seines Daseins
und seines Selbstbewusstseins,
oder die Art, wie in ihm Wille und Intelligenz gestaltet und zur Einheit zusammengefügt
sind, zu bestimmen, noch vermögen wir von der Form der Einordnung der Teilsysteme,
jener relativ selbständigen Einzelwesen,
deren eines uns im eigenen
Ich gegeben ist, in die Einheit des Allwesens uns
eine Vorstellung zu machen, die über Analogien und Möglichkeiten hinausgeht. Was das Erste angeht, so würden wir
uns im besonderen sagen, daß Wille
und Intelligenz,
die uns in ihrer menschlichen Gestalt allein unmittelbar gegeben sind, nicht
ohne stärkste Reservationen dem All-Einen beigelegt
werden können; schon darum nicht, weil sie in dem
endlichen Wesen ihre Bestimmtheit haben durch die Beziehung zu einer Umgebung ähnlicher Einzelwesen, die
es für das Allwesen natürlich nicht geben
kann. Und darum würden wir es auch für müßig halten, über
die Frage: ob dem All-Einen Persönlichkeit und Selbstbewusstsein beizulegen sei, oder nicht? zu streiten, da es uns an Mitteln der Entscheidung
notwendig fehlt, nur das noch hinzufügend, daß es auf keine Weise
die Meinung sein könne, Gott
etwas abzusprechen, was zu der Vollkommenheit
des menschlichen Geistes gerechnet wird: nicht unterbewußt also und unterpersönlich, sondern überbewusst und überpersönlich würden wir ihn nennen, wenn diese Wörter etwas anders ausdrücken
könnten als unsere Unfähigkeit, sein Wesen
mit Begriffen
zu bestimmen.
Und was das Zweite anlangt, die Form der Gesetztheit der
Einzelwesen in dem All-Einen, so würden
wir ebenso die Unmöglichkeit zugeben, sie mit notwendigen Gedanken zu bestimmen.
Als eine mögliche Vorstellungsart bietet sich die von
Fechner ausgebildete an, der stufenweise Aufbau einer gliedartigen Einordnung
bis herauf zur absoluten Einheit. Wie unser Leib
aus Elementarorganismen aufgebaut ist, und wie die in jenen erscheinenden psychischen
Einheiten dem Seelenleben des Systems
eingeordnet sind, das wir unser Ich nennen, so
wäre dann wieder das Ich selbst, entsprechend der Einordnung des leiblichen
Systems in ein umfassenderes System (das System des kosmischen
Körpers, an dessen Leben der Leib teilhat, nämlich der Erde),
in eine umfassendere psychische Einheit, die Lebenseinheit
der Erdseele, eingeordnet, und so fort, bis wir endlich in der »Weltseele« die letzte Einheit
erreichten, die alle anderen Einheiten trägt und in sich hegt. Wobei
denn aus der Natur des Verhältnisses folgt, daß das Umfaßte
nicht das Umfassende übersieht und seine Einordnung nicht unmittelbar im
Bewußtsein zu erfassen vermag.
Ich komme nun auf die kritische Philosophie und ihr Verhältnis zu dieser
Gedankenbildung zurück. Im Prinzip
lehnt sie alle derartigen Spekulationen
als jenseits der Grenzen unseres wissenschaftlichen Erkennens gelegen ab. Die
Kritik der rationalen Kosmologie übernimmt es, die Überschwänglichkeit des Begriffs einer Einheit des
Unendlichen darzutun. Die Kritik der rationalen Theologie
zeigt die Unrealisierbarkeit der Idee
Gottes als eines ens realissimum.
In der Tat, wir werden nicht widersprechen:
jene Spekulationen liegen nicht innerhalb des Gebietes eigentlich wissenschaftlicher
Erkenntnis. Aber wir werden gleich hinzufügen: es ist dem menschlichen Denken überhaupt nicht möglich,
an der Grenze des wissenschaftlich Erkannten stehen zu bleiben; geht es doch
auch in den einzelnen Wissenschaften mit möglichen Gedanken oder mit Gedanken des Möglichen über diese
Grenzen hinaus: in der Physik
und Biologie so gut als in der Geschichte
und Anthropologie.
Ebenso baut es sich nun unvermeidlich auch jenseits der Grenzen aller Einzelwissenschaften
mit möglichen Gedanken an: das ist eben Metaphysik.
Der menschliche Geist kann bei den Bruchstücken wissenschaftlicher Erkenntnis,
wie er sie in den Naturwissenschaften und in der Geschichte mit rastloser Arbeit
zusammengebracht hat, nicht Halt machen; sein Interesse, das eigentlich theoretische
Interesse, geht auf das Ganze, auf die Beantwortung der Fragen nach Wesen und
Zusammenhang aller Dinge, worin er sich selbst auf so seltsame Weise verflochten
findet. Und so setzt sich unwiderstehlich das Verlangen durch, zu einem Abschluß
zu kommen, wenigstens einem vorläufigen Abschluß in möglichen
oder vernünftigen Gedanken, bei denen er sich einstweilen beruhigen kann,
um dann mit erneutem Eifer der Erforschung der Tatsachen im einzelnen nachzugehen.
Der hier angedeutete Abschluss in einem
idealistischen Monismus scheint aber vor andern, z. B. dem
atomistischen Materialismus, außer dem Vorzug, dass er am
meisten den Andeutungen und Hinweisungen der Tatsachen folgt, noch einen weiteren
Vorzug zu haben, den nämlich, dass er das Geistige bei der Bildung letzter
Gedanken über Natur und Zusammenhang der Wirklichkeit ernstlich in Anschlag
bringt, während der Atomismus, seltsam genug, den Geist, um dessen Stellung
und Einordnung in die Gesamtwirklichkeit es sich ursprünglich bei aller
Philosophie handelte, völlig außer acht lässt, oder ihn,
nachdem er die Welt zunächst
ohne Geist konstruiert
hat, als einen wunderlichen und verspäteten Eindringling mit Unruhe und
Missbehagen betrachtet: er stört die sonst so reinlichen Kreise der mathematisch-mechanistischen Naturerklärung. Dem
gegenüber darf also die angedeutete idealistisch-pantheistische
Anschauung in Anspruch nehmen, daß sie vor allem dem Geist in der
Wirklichkeit die Stätte bereitet, daß er in ihr als einer ihm wesensgleichen
Umgebung sich heimatsberechtigt fühlen kann.
Übrigens ist Kant doch auch hier wieder weit entfernt, solche Gedanken
überhaupt zu verwerfen. Im Grunde will er ihnen nur nicht zugestehen, daß
sie a priori notwendige wissenschaftliche Wahrheiten sind, wie sie es in der
natürlichen Theologie des 18. Jahrhunderts oder dem mathematischen Weltsystem Spinozas zu sein in Anspruch nahmen. Diesen Charakter will er den Grundsätzen
der »reinen Naturwissenschaft« vorbehalten,
denen er den Namen Metaphysik gibt. Im übrigen aber ist der Einheitsgedanke
auch bei Kant lebendig genug; die transzendentale Gottesidee,
die Idee eines Urwesens, worin die intelligible
Welt gesetzt ist, ist auch ihm eine notwendige Vernunftidee, worauf die Einheit
der phänomenalen Welt im Raum durch ihre durchgängige Wechselwirkung
nicht minder als durch die Tauglichkeit zur Einordnung in ein logisches Begriffssystem
hinweist. Freilich können wir diese Idee nicht in der Anschauung realisieren
und also sie nicht den notwendigen Verstandesbegriffen zuzählen. Darum
steht die »Vernunftidee« aber den Verstandesbegriffen an Würde und Bedeutung nicht nach.
Man sieht, der Gegensatz des Kantischen Denkens
gegen die Anschauungen des metaphysischen Idealismus
ist auch an diesem Punkt nicht ein absoluter. Was er eigentlich bekämpft,
das ist nicht die Anschauung selbst, sondern die Form der aprioristischen, mit
dem Schein der Notwendigkeit und Adäquatheit ihrer Begriffe sich brüstenden
dogmatischen Schulphilosophie. Eine Philosophie, die bescheiden von den Tatsachen
aus letzte Gedanken über die Wirklichkeit zu bilden unternimmt, könnte
er gewähren lassen, ja er könnte die Grundgedanken einer idealistischen
Metaphysik, wie sie hier angedeutet sind, als auf dem Boden seiner eigenen Gedanken
erwachsen anerkennen, nur daß er einen Vorbehalt wegen der von ihm behaupteten
Phänomenalität auch für die Innenwelt und andererseits einen
Vorbehalt wegen seiner Definition der Philosophie als Wissenschaft aus Begriffen
machen würde: derartige Gedankenbildungen gehörten nicht zum Bestande
der notwendigen Wahrheiten.
Vielleicht darf man aber sagen: diese Bedenken gehören zur vergänglichen
Form der Kantischen Philosophie; was ihr die Lebenskraft
gibt, das ist doch der Mut, womit sie das Recht des Geistes betont, aus seinem
eigenen Wesen heraus das Wesen der Wirklichkeit zu bestimmen. Merzt man dieses
Moment aus, schränkt man die Kantische Philosophie auf die transzendentale
Analytik und die Kritik der dogmatischen Philosophie ein, dann verurteilt man
sie zur Unfruchtbarkeit und Unwirksamkeit. Es fehlt nicht an Leuten, die Kants Bedeutung gerade darin sehen, daß er die Philosophie von der Neigung,
eine Art Allwissenschaft zu sein oder zu suchen, zurückgebracht habe; durch
die Beschränkung auf das kritische Problem, durch die Ablehnung der Spekulation
über Gott und Welt, auch alle Dinge überhaupt, habe er sie erst zur
selbständigen, in sich geschlossenen Wissenschaft mit einem ihr allein
eigenen Gegenstand gemacht. Ich fürchte aber, ein solcher reiner Kritizismus
stirbt an seiner eigenen Unfruchtbarkeit. Isoliert sich die Philosophie gegen
die Wirklichkeit und das Leben, wendet sie sich in ihrem theoretischen Teil
von den Dingen ab, lediglich mit dem Denken, seiner Form und Möglichkeit
sich beschäftigend, und ebenso, wendet sie sich in ihrem praktischen Teil
von den Problemen des Lebens ab, lediglich nach der Form und Möglichkeit
des reinen Willens fragend, dann geht sie an ihrer eigenen Leerheit zugrunde.
In der so verdünnten Atmosphäre kann kein lebendes Wesen atmen.
Das
religiöse Problem.
Wie verhält sich die im vorstehenden skizzierte Metaphysik zum religiösen
Glauben, im besondern dem Gottesglauben?
Zwei Anschauungen stehen sich auch hier gegenüber: die eine neigt dazu,
ihre wesentliche Identität zu behaupten, nur daß die Philosophie
mit Begriffen erfasse, was der Glaube in anderer Form besitze. So die spekulative
Richtung, die, von Plato ausgehend, in der scholastischen
Philosophie weiter durchgebildet, von der
Leibniz-Wolffschen Philosophie
festgehalten, in Hegel den
letzten Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hat. Die andere, von Kant vertretene kritische Richtung behauptet die Unzulänglichkeit aller Spekulation zur Begründung des religiösen Glaubens, seine Unabhängigkeit
von aller Metaphysik: von völlig anderer Art und Herkunft als das wissenschaftliche
Erkennen, sei der Glaube dadurch weder zu begründen noch zu erschüttern;
auf der Willens- und Gemütsseite beruhend, werde er von allem Wandel in
der Spekulation über das Wirkliche nicht berührt.
Man kann die erste Ansicht auch als die katholische, die andere als die protestantische bezeichnen.
Die alte Kirche, es ist das Erbe des Platonismus, bestand
und besteht noch heute auf einem Semirationalismus: Vernunft
und Glaube, beide von Gott,
dem Quell aller Wahrheit, stammend, unterstützen
sich gegenseitig, so dass, wie es eine Enzyklika Pius‘ IX von 1846 ausspricht, »die
richtige Vernunft die Wahrheit des Glaubens demonstriert und verteidigt, der
Glaube aber die Vernunft von allen Irrtümern freimacht, durch die Erkenntnis
der göttlichen Dinge erleuchtet und vollendet«.
Der protestantischen Theologie ist dagegen von ihrem Begründer, von Luther,
dem Hasser der scholastischen Theologie und Philosophie,. das Misstrauen
gegen die Vernunft in religiösen Dingen vererbt. Und die Kantische
Philosophie, so wenig sie in anderer Hinsicht auf dem Boden des Luthertums
steht, ist doch darin gleich gerichtet, daß sie die Unmöglichkeit
einer spekulativen Begründung des religiösen Glaubens auf das Entschiedenste
betont. Hierin folgt ihr Schleiermacher,
und in der protestantischen Theologie der Gegenwart darf man diese Richtung
als die herrschende bezeichnen.
In der Tat, hier hat die kritische Philosophie ihre
starke Position. Nicht darin hat sie recht, dass sie alle eigentlich metaphysische
Spekulation über das wirklich Wirkliche ablehnt; worin übrigens Kant,
ich wiederhole es, nie so weit gegangen ist, als er es nach manchen
Kantianern hätte tun sollen: auch bei ihm überschreitet das »Denken« die Grenze des »Erkennens«. Wohl aber hat sie darin recht, dass sie es für ein unmögliches
Unternehmen erklärt, den religiösen Glauben auf logisch-metaphysische
Demonstrationen, des Daseins Gottes etwa und der Unsterblichkeit
der Seele, zu stellen.
Die universelle Reflexion über die Wirklichkeit, die wir Metaphysik nennen, mag zu dem Gedanken
eines einheitlichen Weltgrundes führen, mag
auch dazu anleiten, ihm Geistigkeit als Wesensbestimmung beizulegen; aber zu
einem Stück führt keine theoretische Spekulation:
zu der Gewissheit, dass das Gute Ziel
und Grund der Wirklichkeit ist.
Und das ist der eigentliche Sinn des religiösen Gottesglaubens. Das Bekenntnis
zu dem Glauben an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels
und der Erde, hat nicht einen theoretischen Sinn, es bedeutet nicht die
Erklärung einer Tatsache aus ihrer Ursache, sondern es drückt eine praktische Gewissheit aus:
dass die Wirklichkeit vom Guten stammt und
zum Guten ist, und dass daher alles, was guten Willens ist, zuletzt die
Wirklichkeit selbst für sich hat und also seines Zieles gewiss sein
darf. Diese Gewissheit kann nicht in eine theoretische, durch verstandesmäßige
Beweise gestützte Erkenntnis umgesetzt werden. Alle Bemühungen, die
hierauf gerichtet sind, sind vergeblich. Man mag immerhin dartun, dass
vernünftiges Denken auf den Begriff eines »Urwesens« mit den Prädikaten der Einheit,
der Absolutheit, der »Bewusstheit« oder »Geistigkeit« führt, und was der metaphysischen Prädikate
mehr sind;. aber niemals wird es gelingen, weder durch ein begriffliches noch
durch ein empirisches Beweisverfahren die moralischen Prädikate, Güte und Heiligkeit und
Weisheit, für jenes »Urwesen« auszumachen. Und erst
hierdurch würden wir die »religiösen«,
die für den religiösen Gottesglauben in erster Linie stehenden Bestimmungen des göttlichen Wesens erreicht haben.
Diese Überzeugung worin übrigens Kant
mit der Kritik David Humes in den Schlussabschnitten
der Dialoge über natürliche Religion vollkommen übereinstimmt, darf als das definitive Ergebnis der Erkenntniskritik
des 18. Jahrhunderts angesehen werden. Alle Versuche, die Vollkommenheit des »Urwesens« im moralischen
Sinne theoretisch zu beweisen, sind vergeblich, einerlei, ob man aus dem Begriff
eines »allervollkommensten«
Wesens auch die Wahrhaftigkeit und die Weisheit
und die Güte herausprellt, oder mit Spinoza und
Hegel durch die gewalttätige Gleichsetzung
von realitas und perfectio seinen Zweck zu erreichen
sucht, oder ob man auf die »Zweckmäßigkeit«
in der Natur und die »Zielstrebigkeit« in der Geschichte eine teleologische Beweisführung aufzubauen
unternimmt. Die begrifflichen Demonstrationen sind außer Kurs, die Beweise
für das Dasein Gottes
aus der »Zweckmäßigkeit« in der Natur
treten immer wieder einmal hervor. Aber sie bleiben notwendig vergeblich. Die Natur mag eine so große »Künstlerin«
sein als sie will, sie mag in ihren Bildungen allen »Kunstverstand«
des Menschen unendlich weit hinter sich lassen, eines fehlt
ihr: sie ist nicht
gut im moralischen
Sinne; und darum ist auf Naturbetrachtung kein religiöser Gottesglaube
zu gründen. In allen ihren Betätigungen weist nichts darauf hin, daß sie durch moralische Endzwecke bestimmt wird. Ihre »Zweckmäßigkeit«
ist eine technisch-formale. Aus demselben fruchtbaren
Schoß entspringt das Schöne und
das Hässliche, das Liebenswürdige und das Grausame, das Erhabene,
aber auch das Gemeine und Ekelhafte. Und sie behandelt
es ohne Unterschied, mit gleicher Sorgfalt in der zweckmäßigen Ausstattung,
mit gleicher Fühllosigkeit in der Vernichtung. Und so macht sie zwischen
Guten und Bösen, zwischen Gerechten und Ungerechten keinen Unterschied. Die Natur ist dämonisch, wie
Aristoteles sagt, aber nicht
göttlich. Ihr Symbol ist die Sphinx,
unter dem nährenden Busen liegen die zerreissenden
Krallen.
Und darum kann an die Natur niemand »glauben«;
glauben kann man nur an etwas über der Natur, aller religiöse
Glaube war immer und überall transzendent.
Von den primitivsten Regungen im Fetischismus, bis zu seinen geistigsten Formen
im christlichen Monotheismus ist dem religiösen Gottesglauben das Hinausgehen über die Natur zu
übernatürlichen Mächten eigen, bei denen Hilfe und Heil gesucht
wird. Aber ewig wird es unmöglich bleiben, die Wirklichkeit einer solchen
Macht theoretisch genugtuend zu beweisen oder ihre Wirksamkeit in der Natur
oder auf die Natur wissenschaftlich zu konstruieren. Der Naturlauf stellt sich
dem durch die Wissenschaft geschulten Blick als ein allumfassender, streng gesetzmäßiger
Zusammenhang dar, in dem auch das Leben der Menschheit als ein Teilvorgang des
Lebens auf Erden beschlossen ist. An dieser Anschauung, dem Ergebnis der von
allen Punkten gegen sie konvergierenden Forschung der vier letzten Jahrhunderte,
wird kein Zweifel und kein Glaube etwas ändern; der menschliche Verstand
könnte sie nur mit sich selber aufgeben.
Und ebensowenig als eine Physikotheologie [Schluss von der zweckmäßigen und sinnvollen Einrichtung der Welt
auf die Existenz Gottes] ist auch eine Historikotheologie, wenn
die analoge Wortbildung gestattet ist, möglich. Gewiß haben wir im
Geistigen nicht nur das Wirkliche, wie es an sich selber ist, wir können
auch nicht umhin, in ihm den Zweck der Wirklichkeit zu sehen: der Mensch als
Vernunftwesen das Einzige, das wir als ein absolut Wertvolles, als Selbstzweck
ansehen können. Und allerdings stellt sich die Entwicklung der Natur und
der Geschichte, im großen gesehen, als auf die Hervorbringung geistigen
Lebens gerichtet dar: die Hegelsche Philosophie, wenn sie in dem Zusichselbstkommen
derselben das Ziel des logisch-kosmischen Entwicklungsprozesses erblickt, drückt
mit ihren Formeln nur dasselbe aus, was unbefangene Deutung immer als den Sinn
der Wirklichkeit aufgefaßt hat. Aber jeder Versuch, diese Gewißheit
in eine den Verstand zwingende Beweisführung umzusetzen, scheitert; so
gern der Glaube sich an »göttlichen
Führungen« im Einzelleben aufrichtet, so gern er
in den Völkerschicksalen waltende Ideen einer höheren Macht erkennt,
so leicht wird es dem zweifelnden Verstande, jede Beweisführung zu zerreißen,
die darauf gerichtet ist, aus den Tatsachen die Wirksamkeit einer von Ideen
des Guten und Vollkommenen bestimmten Vorsehung zu erbringen. Vor allem: das
geschichtliche Leben der Menschheit, und mit ihm das Leben des Geistes auf Erden
ist als ein in Raum und Zeit verschwindender Teil des kosmischen Prozesses gesetzt;
es unterliegt allen tellurischen Schwankungen, denen das Leben auf Erden überhaupt
ausgesetzt ist, vielleicht geht es mit ihm dem Untergang entgegen, dem Untergang
nicht durch eine plötzliche Katastrophe, eine Verwandlung aller Dinge an
einem »jüngsten Tage«, sondern
durch dasselbe gemeine Versagen der äußeren Lebensbedingungen, dem
schon so manche Spezies der Lebewesen zum Opfer gefallen ist. Die bloße
Möglichkeit dieses Gedankens genügt, alle »historikotheologische«
Beweisführung unmöglich
zu machen.
Das ist der große Riss, der durch das Leben der Menschheit, durch
die Seele jedes Einzelnen geht, der Riss zwischen dem verstandesmäßigen
Erkennen und dem religiösen Gottes- oder Vorsehungsglauben. Er war immer
vorhanden, die Neuzeit hat ihn zur gähnenden Kluft erweitert. Die fortschreitende
Erkenntnis hat den engen Rahmen, in den eine von religiösen Ideen
befruchtete Phantasie ihr Bild von Natur und Geschichte im Mittelalter gefasst
hatte, völlig zersprengt; die Wirklichkeit hat sich vor unseren Augen ins
Unermessliche und Unfassbare erweitert, wir messen die Zeiten mit
geologischen Perioden, die Räume mit Lichtjahren; und überall dieselbe
starre Gesetzmäßigkeit des Naturlaufes, die für den »Finger
Gottes«, den naiver Wunderglaube früher überall
in Natur und Geschichte wirksam sah, nirgends einen Raum läßt. So
bringt die Wissenschaft mit einer gewissen Notwendigkeit als erste Wirkung die
Vorstellung hervor: der Glaube an Götter oder an
einen Gott gehört mit zu den tausend Irrtümern und Illusionen des
primitiven Denkens, die durch die Wissenschaft aus der Welt geschafft werden.
Und dennoch bleibt der Glaube am Leben, ja erweist er sich immer wieder als
die stärkste der geschichtlichen Lebensmächte.
Ohne den Glauben an das Gute, mag er sich einkleiden wie er will, als Glaube
an Gott und Vorsehung, als Glaube an aufsteigendes
Leben und Fortschritt, an Wahrheit und Gerechtigkeit und ihren notwendigen Sieg,
ist nie etwas Großes und Dauerndes geschaffen worden. Kann er nicht
die Wirklichkeit seines Gegenstandes beweisen, so beweist er die eigene Realität
durch seine Wirksamkeit. Kein Zweifel, der Glaube war es, der in aller bisherigen
Geschichte Berge versetzte, die Berge von Hindernissen, die der Verwirklichung
jeder Idee im Wege standen, nicht das Wissen. Alle großen Bewegungen im
Leben der Menschheit waren religiösen Ursprungs; der Glaube, daß
sie Gottes Sache führten und daß Gott mit ihnen sei, gab den großen
Impulsatoren der Geschichte die unwiderstehliche Kraft. Und wir haben keine
Ursache, anzunehmen, daß es in Zukunft anders sein wird: der Glaube wird
die Geschicke der Menschheit in den kommenden Jahrhunderten bestimmen, wie in
den vorigen, der Glaube an eine Zukunft, an eine Bestimmung, die in den Sternen
geschrieben steht, mit welchen Symbolen immer man diese Schrift in die Sprache
der Sterblichen übersetzen mag. Aller praktische Idealismus ist seinem
Wesen nach religiös, beruhend auf einem Glauben an das, was man nicht sieht.
Seine Schlußart ist nicht die der Logik oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
sondern die des Glaubens: es soll sein, also wird es sein; die gute Sache trotz
allem zuletzt auch die siegreiche, die Sache der Wahrheit und der Gerechtigkeit
auch die Sache der Wirklichkeit.
Von hier aus wächst nun der Philosophie eine letzte Aufgabe zu: die Vermittlung
zwischen dein Wissen und dem Glauben. Kann sie zeigen, daß Wissen und
Glauben, wenn sie auch nicht aufeinander zurückführbar sind, so doch
auch nicht im Verhältnis des ausschließenden Gegensatzes stehen,
daß für beide, wie innerhalb des einen Geistes, so innerhalb der
einen Wirklichkeit Raum ist, so leistet sie damit dem inneren Frieden einen
unvergleichlich bedeutsamen Dienst, dem Frieden der einzelnen Seele und ebenso
dem Frieden zwischen den großen Lebensmächten der Wissenschaft und
der Religion.
Es ist Kants Überzeugung, daß die kritische Philosophie gerade diesen
Dienst der Menschheit zu leisten berufen sei, daß sie die menschliche
Vernunft mit sich selbst zur Eintracht bringe, indem sie dem Glauben als einer
selbständigen und nicht minder wichtigen Funktion neben dem Wissen ein
eigenes Gebiet verschaffe und so den langen Krieg zwischen ihnen mit einem gerechten
und dauernden Frieden beendige. Und in der Tat, es ist ein nicht unverdienter
Ruhm, den Kant damit in Anspruch nimmt. Indem er die Grenzen aufzeigt, in denen
das Naturerkennen ein¬geschlossen ist. hat er die Bahn für eine Interpretation
der Erscheinungen im Sinne einer idealistischen Metaphysik freigemacht. Und
wenn er auch selbst durch die Forderung der apriorischen und apodiktischen Gewissheit
für die philosophische Erkenntnis und durch seine Lehre von dem inneren
Sinn sich hat verhindern lassen, diese Bahn zu verfolgen, so hat er doch aller
nachfolgenden Philosophie Mut gemacht, mit ihren Gedanken über die physische
Welt, als welcher absolute Wirklichkeit nicht zukommen kann, hinauszugehen,
Mut gemacht zu einer idealistischen Metaphysik. Diese aber ist die Voraussetzung
wenn auch nicht für die subjektive Möglichkeit eines religiösen
Glaubens, so doch für die Möglichkeit einer Konstruktion seines Gegenstandes.
Es wird dadurch eine Form der allgemeinen Weltanschauung begründet, die
fähig ist, nicht zum Beweis des religiösen Glaubens, wohl aber zu
seiner Aufnahme und Einordnung.
Der Glaube selbst wird immer darauf beruhen, dass der Mensch um sich als
ein wollendes, ein vernünftig wollendes Wesen weiß, und dass
für ein solches Wesen die moralische Unmöglichkeit
(das absurdum morale, mit Kant
zu reden) ebenso unmöglich ist als die logische, oder, positiv ausgedrückt,
dass für ihn die Postulate der praktischen Vernunft ebenso unablehnbar,
weil mit seinem Wesen gesetzt sind, als die Axiome der theoretischen Vernunft.
Die Metaphysik aber bringt eine Vorstellung von der Wirklichkeit hervor, die
sie mit jenen Postulaten gleichsam verträglich macht. Bleibt bei einer
atomistisch-materialistischen Weltanschauung die Forderung, dass der Weltlauf
auf das Gute gerichtet sei, schlechthin ohne alle und jede Konstruierbarkeit
für unseren Verstand, so kommt dagegen ein idealistischer Monismus der
gleichen Forderung in gewissem Maße entgegen.
In dem Begriff eines »symbolischen Anthropomorphismus« [Übertragung
menschlicher Gestalt und Verhaltensweisen auf nichtmenschliche Dinge oder Wesen,
besonders in der Gottesvorstellung] hat Kant selbst den letzten Begriff gebildet, in dem Wissen und Glaube zusammenkommen
oder sich berühren. Die Metaphysik bildet, auf die Gesamtwirklichkeit schauend
und sie von dem eigenen Ich aus deutend, den Begriff eines einheitlichen, zielstrebigen,
von Ideen bestimmten Willens als ihren letzten Weltbegriff. Der religiöse
Glaube erfüllt diesen leeren Begriff mit der Vorstellung des Guten und
Heiligen, die der Mensch als den tiefsten Gehalt seines eigenen Wesens empfindet.
Die Metaphysik erkennt die Möglichkeit einer solchen Erfüllung an,
hinzufügend, daß sie außer Stande sei, auf Grund der Natur-
oder der Geschichtserkenntnis für oder gegen ihre Wahrheit etwas Entscheidendes
auszumachen. Nicht minder erkennt der Glaube seine theoretische Unbeweisbarkeit
an, erkennt er ferner den bloß symbolischen Charakter all der Vorstellungen
an, womit er Gottes Wesen bestimmt: von Gottes
Weisheit und Güte, Gerechtigkeit und Liebe reden, heißt in
Bildern und Gleichnissen, nicht in wissenschaftlich definierbaren Begriffen
reden.
Auf demselben Grunde, auf dem so Wissen und Glaube ihren Frieden machen, könnte
dann auch der Friede zwischen den verschiedenen Glaubensformen und Religionsgemeinschaften
geschlossen werden. Daß die Bilder und Gleichnisse, unter denen das Göttliche
von verschiedenen Völkern und Kulturkreisen angeschaut und verehrt wird,
verschieden sind, braucht nicht die Anerkennung zu hindern, daß sie alle
im Grunde dasselbe meinen und suchen, so wenig als der Umstand, daß Gott
in verschiedenen Sprachen mit verschiedenem Namen genannt wird, die Einheit
des Glaubens ausschließt. Auch hier gilt das Wort, daß Gott nicht
in Tempeln wohnt, die mit Händen gemacht sind: er wohnt ebensowenig in
theologischen Systemen oder in kultischen Symbolen in dem Sinne, daß er
darin gleichsam ein¬gesperrt wäre, so daß, wer an ihnen nicht
Anteil hätte, an Gott nicht teilhaben könnte.
So wird die philosophische Selbstbesinnung zum Prinzip der Selbstregulierung
der Vernunft. Sie verhindert, indem sie das wissenschaftliche Erkennen an der
Idee einer absoluten Erkenntnis misst und seine Unzulänglichkeit zum
Bewußtsein bringt, dass das Wissen sich absolut setzt und den Glauben
vernichtet, den Glauben, der die Bedingung des Lebens ist. Sie verhütet
andererseits, dass der Glaube den Zügel der Vernunft abwirft und in
wüsten Aberglauben entartet: ein Recht auf Anerkennung hat nicht jeder
Glaube, wie ihn die von dem sinnlichen Willen geschwängerte Phantasie gebären
mag, sondern nur ein durch die praktische Vernunft oder den sittlichen Willen
geforderter und das Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis respektierender
Glaube. Von einer teleologia rationis humanae
als Aufgabe der Philosophie redet Kant: in der
Tat, sie rettet, indem sie den Glauben gegen die dogmatische Negation des seine
Grenzen vergessenden Wissens und wiederum das Wissen gegen einen vernunftlosen
oder wider die Vernunft trotzig tuenden Glauben rettet, vor der Selbstzerstörung.
Kann die Philosophie nicht »Weltweisheit«
in dem alten Sinne sein, so wird sie zur »Weisheitslehre«, indem sie, wie das Leben, so auch das Wissen in Absicht auf den letzten Zweck
der Vernunft bestimmt. S.405-417
Aus: Systematische Philosophie von W. Dilthey . A.Riehl . W. Wundt . W. Ostwald
. H. Ebbinghaus . R. Eucken . Fr. Paulsen . W. Münch . Th. Lipps, Druck
und Verlag B. G. Teubner, Berlin und Leipzig 1907