Wilhelm Maximilian Wundt (1832 – 1920)

Deutscher Psychologe und Philosoph, ursprünglich Mediziner, war seit 1864 Professor in Heidelberg, seit 1874 in Zürich, seit 1875 in Leipzig; gründete dort 1879 das erste Institut für experimentelle Psychologie; widmete sich zunächst sinnesphysiologischen Untersuchungen; übertrug das experimentelle und beobachtend-beschreibende Verfahren der Naturwissenschaft auf die Psychologie und grenzte sie systematisch als selbständige strenge Erfahrungswissenschaft ab; wurde damit zu einem der Wegbereiter der modernen Psychologie. Wundt gab den Substanzbegriff der Seele auf und deutete sie im Sinne der Aktualitätstheorie. Als Vertreter einer Bewusstseinspsychologie betonte er zugleich die Bedeutung des Gefühls und vor allem des Willens, den er als Grundform seelischen Geschehens ansah (Voluntarismus), und den Elementarcharakter der durch Willensakte verknüpften Apperzeptionen (Apperzeptionspsychologie) als seelische Erlebniseinheiten (Elementenpsychologie). Er fasste die Psychologie als Grundwissenschaft auf, von der aus er auch Logik, Ethik und Metaphysik zu erschließen suchte (Psychologismus). Als Ergänzung seiner individuellen Psychologie schuf er eine Völkerpsychologie, die sich mit den geistig-kulturellen Leistungen beschäftigt und Aspekte der Sozialpsychologie und Ethnosoziologie vorwegnimmt.

Siehe auch Wikipedia und Projekt Gutenberg

Inhaltsverzeichnis

Das Wesen der Gottheit
Die Religion als psychologisches Problem
  Sinnliche und übersinnliche Welt (1914)
Das Unendliche - das Absolute - Gott
Die Erlösung und der Heilbringer

Das Wesen der Gottheit
Nach der Vorstellung der Gnostiker sind der Logos und der Nus vor der Schöpfung der Welt von Gott geschaffen: sie bilden in diesem Sinn untergeordnete, von Gott selbst verschiedene Zwischenwesen zwischen Gott und Welt, daher diese Denkweise auch als »Subordinationismus« oder als Lehre von der »Homoiusie«, der Wesenähnlichkeit nicht -gleichheit, bezeichnet wurde. Auf der andern Seite reicht, dem aristotelischen und jüdischen Monotheismus verwandt, der »Monarchianismus«, die Lehre von der Alleinherrschaft Gottes in mehreren Sekten in die christliche Welt herein. Danach soll Christus entweder als wirklicher Mensch, oder der Logos und der Nus sollen als verschiedene Erscheinungsformen des einen Gottes gedacht werden. Auch diese nach verschiedenen Richtungen gehenden Deutungsversuche werden endgültig zurückgedrängt durch die auf dem Konzil von Nizäa erfolgte Annahme des Athanasianischen Dogmas, welches die Wesensgleichheit, die »Homoiusie« der Personen der Gottheit, zugleich aber ihre Verschiedenheit ausspricht, — eine Einheit im Unterschied, die wiederum auf jede anschauliche wie begriffliche Deutung verzichtet, aber dem Glaubensbedürfnis entgegenkommt, das jene Personen in gleicher Erhabenheit erblicken möchte, einer Vermischung derselben jedoch, als einer Beeinträchtigung des religiösen Wertes der einzelnen, widerstrebt. Darum ist es nicht zufällig, dass der Mann, der diese Fassung des Dogmas hauptsächlich durchsetzte, der Diakon Athanasius, nicht zu den gelehrten Kirchenhäuptern gehörte, sondern bei seinem Kampfe für den Trinitätsbegriff ohne jede Rücksicht auf philosophische Begreiflichkeit lediglich seinem religiösen Triebe folgte. Nach dem Vorbild des Trinitätsdogmas erledigt sich dann die mit der Frage nach den Wesen der Gottheit zusammenhängende Streitfrage über das Verhältnis der beiden Naturen in Christo, der göttlichen und der menschlichen, von selbst. Auch diese Naturen bilden eine »Homoiusie«. Sie sind beide vereinigt: Christus ist Gott und Mensch zugleich, keines von beiden und doch jedes von beiden.
Aus: Wundt: Einleitung in die Philosophie, (S.146-147) Kröner; Stuttgart [1922]

Die Religion als psychologisches Problem
(Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Zweiter Band: Mythus und Religion. Dritter Teil. 1909. Seite 726—746)
Die Anfänge einer Philosophie der Religion gehen bekanntlich bis in die Anfänge der Philosophie selbst zurück. Doch die Überzeugung, daß hier der philosophischen eine psychologische Untersuchung vorangehen müsse, die zunächst über die die seelischen Erlebnisse Rechenschaft gebe, die man dem Gesamtbegriff der Religion zusammenfaßt, - diese Überzeugung ist verhältnismäßig sehr neuen Datums. Freilich, latent [versteckt] sind irgend welche psychologische Voraussetzungen auch in den spekulativen Theorien über die Natur der Religion enthalten. So, wenn sie Schleiermacher als »Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit« definiert, oder Hegel sie als ein »Wissen des Absoluten in der Form der Vorstellung« der Philosophie als dem begrifflichen Wissen gegenüberstellt, - Bestimmungen, die zugleich auf zwei Richtungen hinweisen, nach denen die vielen Versuche, der Religion durch eine allgemeine Definition nahe zu kommen, auseinandergehen.

Auf der einen Seite verlegt man sie in das Gefühl und den Willen, auf der andern Seite in das Erkennen.

Im ersteren Sinne wird sie bald aus dem Glücksbedürfnis, bald aus dem Streben nach sittlicher Vollendung, im zweiten aus der Annahme geistiger Wesen, aus dem Kausalbedürfnis oder auch aus einer unmittelbaren Offenbarung des Göttlichen im menschlichen Bewu
sstsein abgeleitet.

Dabei ist es übrigens bezeichnend, daß die einer psychologischen Interpretation näherstehenden Auffassungen meist nicht von Philosophen, sondern von Vertretern der positiven Wissenschaften herrühren, und daß unter ihnen die Theologen, soweit sie nicht auf dem in der zuletzt erwähnten Definition vertretenen Offenbarungsstandpunkt stehen, mehr dem Voluntarismus, die Anthropologen mit Einschluss der Psychologen dem Intellektualismus sich zuneigen. Daraus kann natürlich nicht gefolgert werden, dass die eine oder die andere Auffassung die wissenschaftlich besser begründete sei, sondern lediglich dies, dass es verschiedene Gebiete des wissenschaftlichen Denkens sind, in denen sich beide bewegen.

Der Theologe, der von den ethischen Anschauungen der höheren Religionen herkommt und nach der praktischen Richtung seines Berufs vorzugsweise der erhebenden und tröstenden Wirkung religiöser Stimmungen zugewandt ist, bevorzugt naturgemäß, falls ihm nicht etwa Religion und Dogma zusammenfallen, die Gefühlsseite der religiösen Erscheinungen.

Der Anthropologe und Ethnologe, dessen Interesse zunächst durch das ihm selbst Fremdartigste, durch die Vorstellungen der primitiven Völker, gefesselt wird, bringt diesen die ihm geläufigen Voraussetzungen der Vulgärpsychologie entgegen; und er tut das um so harmloser, als jene Vorstellungen keineswegs eine Antwort auf das enthalten, was man späterhin religiöse Fragen zu nennen pflegt, sondern als sie sich auf die nächsten wie auf die fernsten Dinge, auf die Ursachen der Krankheit und die Bewegung der Gestirne ebenso wie auf das
Schicksal der Seele nach dem Tode und auf die unsichtbare, himmlische und unterirdische Welt beziehen.

So entsteht dann leicht die Anschauung, die Religion sei primitive Wissenschaft; sie werde jedoch als solche allmählich von der wirklichen Wissenschaft verdrängt, um schließlich nur noch als ein nicht beweisbarer, aber auch nicht widerlegbarer Glaube an Dinge, die der Wissenschaft definitiv unzugänglich sind, zurückzubleiben. So entsteht die Theorie des »Agnoitizismus«, wie sie Herbert Spencer, der bedeutendste und konsequenteste Vertreter des Intellektualismus in der neueren Psychologie, entwickelt hat. Dass Spencer und andere Soziologen, trotz der Beschäftigung mit den in das Gebiet der Religion herüberreichenden Erscheinungen des sozialen Lebens, an dieser Anschauung festhielten, erklärt sich übrigens daraus, dass sie bis zu jenem Punkte des definitiv Unerkennbaren der verbreiteten Form der intellektualistischen Theorie zugetan waren, wonach Mythus und Religion Vorstufen oder niedere Formen der Erkenntnis seien.

Eine Kritik dieser Theorien, sowohl der emotionalen
[das Gefühl in den Vordergrund stellenden] wie der intellektualen [auf den Verstand aufbauenden], soll hier nicht unternommen werden. Eine solche liegt um so mehr abseits unserer Aufgabe, als der psychologische Standpunkt, von dem man beiderseits ausging, abgesehen von der Verschiedenheit der psychologischen Richtungen, ein übereinstimmender blieb. Dieser Standpunkt ist durchweg derjenige der Individualpsychologie, und zwar nicht bloß in dem Sinne, dass man zur Interpretation der Erscheinungen die Tatsachen des individuellen Bewusstseins herbeizog, was natürlich unvermeidlich ist, sondern auch in dem andern, dass man ausschließlich aus den religiösen Stimmungen und Erlebnissen des individuellen Bewußtseins oder aus der Beobachtung religiös hochgestimmter Individuen einen Begriff der Religion zu gewinnen suchte.

Hat doch selbst ein in so besonderem Grade psychologisch gerichteter Religionsphilosoph wie
Höffding es nachdrücklich abgelehnt, für die Erkenntnis des Ursprungs der Religion die Religionsgeschichte zu Rate zu ziehen, und statt dessen vielmehr auf gute Biographien, zumal Selbstbiographien religiöser Persönlichkeiten hingewiesen . Ich möchte dem nicht einmal für die Geschichte der großen Völkerreligionen beipflichten, auf die es Höffding bezieht. Stehen doch die religiösen Persönlichkeiten, die er im Auge hat, ein Augustin, Suso oder eine heilige Therese, selbst inmitten einer jener großen Religionen, ohne die die eigenartige Form ihrer Religiosität nicht zu verstehen ist. Noch mehr gilt das, wenn man jenen Satz auf die gesamte Religionsgeschichte von ihren Anfängen an beziehen wollte. Freilich lehren uns so manche verfehlte Theorien, die auf dem Boden der Religionsgeschichte oder einzelner ihrer Teile
erwachsen sind, dass auch die Geschichte allein vor Irrungen hier nicht zu bewahren vermag.

Sicherlich kann man ein trefflicher Religionshistoriker und doch ein schlechter Religionspsycholog sein. Wenn wir aber näher zusehen, wie solche Irrungen entstanden sind, so zeigt es sich regelmäßig, dass sie entweder in dem willkürlichen Herausgreifen eines einzelnen, und vielleicht nicht einmal des religiös bedeutsamsten Zuges der Geschichte, oder noch häufiger, daß sie wiederum in der Individualpsychologie in ihrer vulgären rationalisierten Form ihre Quelle haben. Besten Falls sucht man wohl auch in der Kinderpsychologie zunächst für die Anfänge der Religion, bisweilen aber sogar für die großen Kulturreligionen der Alten Welt den Schlüssel zu finden. In Wahrheit ist aber die Religion weder ein Problem der Individualpsychologie noch ausschließlich ein solches der Geschichte, sondern jene hat der Geschichte und der sie in ihren Anfängen ergänzenden Völkerkunde den Stoff und der Psychologie die Gesichtspunkte der Untersuchung zu entnehmen.

Das bedeutet nach dieser psychologischen Seite nicht, daß hier die Denk- und Gefühlsweise des psychologischen Beobachters selbst oder des heutigen Kulturmenschen überhaupt, sei dieser auch eine besonders hochgestimmte religiöse Persönlichkeit, in die Erscheinungen der religiösen Entwicklung hinübergetragen werden soll, sondern es bedeutet, dass man auf Grund der beobachteten und überlieferten Tatsachen und der allgemeinen, vor allem im Gebiet der elementareren Funktionen des Seelenlebens gewonnenen Ergebnisse sich in die Psychologie eines unter fremden Natur- und Kulturbedingungen stehenden Menschen versetzen und daraus ein psychologisches Verständnis der religiösen Motive und ihrer Fortentwicklung gewinnen muß. Eben das aber ist hier, wie überall, die Aufgabe der Völkerpsychologie. Die Religion ist demnach von Hause aus ein völkerpsychologisches, kein individualpsychologisches Problem.

Dass sie das letztere nicht ist, das bezeugen nun auch die Ergebnisse, zu denen die Versuche, eine Religionspsychologie auf der Grundlage jener individuellen Beobachtungen zu gewinnen, gelangt sind. Auch wo sie wirklich auf dem Boden der Psychologie verblieben und nicht etwa von Anfang an einer aus ganz andern Überzeugungen entsprungenen metaphysischen oder ethischen Theorie zusteuerten, da verfehlten solche Versuche durchweg schon die nächste Aufgabe, deren Lösung überhaupt erst den Zugang zu einer Psychologie der Religion eröffnen kann: die der Unterscheidng von M ythus und Religion.

Diese Aufgabe liegt in der Tat so sehr im Argen, dass es eine große religionswissenschaftliche Partei gibt, für die ein Unterschied überhaupt nicht existiert. Zu ihr gehört die Mehrzahl der Ethnologen, aber auch eine nicht geringe Anzahl von Philologen und Historikern, die sich mit der Mythologie und Religionsgeschichte der alten Kulturvölker beschäftigen. Dies hat freilich seinen begreiflichen Grund darin, dass von Anfang an Mythus und Religion auf das innigste verwebt sind, ja dass es auf weite Strecken hinaus überhaupt keine Religion außer in mythologischer Form gibt. Aber Verbindungen, selbst wenn sie sich zu Verschmelzungen steigern, bedeuten doch keineswegs eine Identität der Bestandteile, sondern gerade hier erhebt sich um so mehr die Aufgabe, jene aus ihrer Verbindung zu lösen und jeden nach den ihm eigenen Merkmalen zu fixieren. Unter diesem Gesichtspunkte kann es nun keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß jede Mythologie zahlreiche Vorstellungen enthält, die mit Religion nicht das Allergeringste zu tun haben. Wenn die Seele mit dem letzten Atemzug des Sterbenden aus dem Körper entweicht, wenn sie nach dem Tode im Traumbild wiedererscheint, so sind das an und für sich keine religiösen Vorstellungen. Sie sind allerdings ebenso wenig sogenannte »Erklärungen«, sondern unmittelbare, unter der assimilativen Wirkung* verwandter Erlebnisse entstandene Anschauungen.
* Unter Assimilation versteht man in der Psychologie die angleichende Aufnahme eines neuen Erlebnisses in den Bestand des Bewusstseins.

Nicht anders verhält es sich mit der Auffassung der Gestirne, Wolken, Winde und anderer Naturerscheinungen als lebender Wesen und mit der Mehrzahl der Mythenmärchen und Sagen, die, auch wenn ihr Inhalt geglaubt wird, im allgemeinen mit dem Märchen und der Sage späterer Zeiten die religiöse Bedeutungslosigkeit teilen. Denn der einzige allenfalls entscheidende, aber keineswegs konstante Unterschied, daß die mythologischen Überlieferungen geglaubt werden, bildet kein Zeugnis für ihren religiösen Inhalt: sonst könnte man mit dem gleichen Rechte jede erfundene Geschichte, die bei irgend einem Menschen Glauben findet, zu dem Bestand seiner religiösen Überzeugungen zählen. Der Mythus umfaßt eben, solange das mythologische Denken allein das Bewußtsein beherrscht, die gesamte Weltanschauung eines Volkes: er ist ebensogut Vorstufe künftiger Wissenschaft, wie er das Handeln an Stelle der ihn später ablösenden praktischen Maximen leitet.

Die Sonderung der einzelnen Lebensgebiete aus dem ursprünglich sie alle umfassenden mythologischen Ganzen erfolgt aber für die einzelnen zu sehr verschiedener Zeit, und sie erfolgt, wie wir das vor allem aus der Geschichte der Naturanschauung wissen, sogar für die einzelnen Teile eines und desselben Gebietes sehr ungleichmäßig. Am dauerndsten bleibt der Mythus begreiflicherweise bei den Vorstellungen bestehen, die sich auf eine Welt jenseits der wirklichen und auf ein Leben nach dem Tode, kurz auf einen Inhalt beziehen, der jeder erfahrbaren Wirklichkeit entzogen ist. Insofern nun dieser Inhalt zugleich dem Gebiet der Religion angehört oder an es angrenzt, ist es verständlich, dass unter allen Lebensgebieten die Religion am dauerndsten mit mythologischen Elementen verwebt ist. Je schwieriger es aber darum sein mag, im einzelnen Fall Religiöses und Mythisches zu sondern, um so notwendiger ist dies, soll der Begriff der Religion überhaupt gegenüber solchen mythologischen Trübungen klargestellt werden.

Da nun Mythus und Religion beide psychologische Bildungen sind, so ist diese Sonderung ebenso eine mit Hilfe der ethnologischen und historischen Tatsachen zu lösende psychologische Aufgabe, wie es auf der andern Seite eine historische Aufgabe ist, auf Grund psychologischer Merkmale und geschichtlicher Zeugnisse die mythologischen von den tatsächlichen Bestandteilen historischer Sagen und Legenden zu scheiden.

Der Schwierigkeit jenes völkerpsychologischen Problems entgehen nun freilich diejenigen, die die Religion von vornherein ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Individualpsychologie betrachten. Indem sie von den geschichtlichen Erscheinungsweisen derselben ganz abstrahieren und ihre Untersuchung auf die Frage konzentrieren, was ein Mensch unter den Bedingungen unserer heutigen oder einer von ihr nicht allzu verschiedenen Kultur erlebe, wenn in ihm religiöse Gefühle und Vorstellungen entstehen und sich in entsprechenden Handlungen äußern, kommen sie mit der Frage nach dem Verhältnis von Mythus und Religion überhaupt nicht in Berührung.

Das Religiöse ist dann von vornherein ein Erlebnis, das nach seiner Intensität und nach zufälligen äußeren Bedingungen variieren mag, im übrigen aber ebenso über allen Wandel der Zeiten erhaben ist, wie die allgemeinen Eigenschaften des Bewußtseins nach der Voraussetzung der Individualpsychologie überall als die nämlichen wiederkehren. Wollte man freilich die durch diesen Standpunkt zunächst gebotene Bewusstseinsanalyse strenge durchführen und bei beliebigen Individuen zur Anwendung bringen, so würde sie angesichts der ungeheuer verwickelten Bedingungen, unter denen innerhalb der gegenwärtigen Kultur ein einzelnes Bewusstsein stehen kann, schwerlich zu einem Ergebnisse kommen. Wahrscheinlich würde sich, wenn man innerhalb eines größeren und möglichst gemischten Kreises Umfrage hielte, dieser Kreis ungefähr in drei Gruppen teilen:

in eine erste, die die Religion für eine heilige, auf einer ursprünglichen Offenbarung beruhende Überlieferung erklärte;

in eine zweite, die behauptete, von spezifisch religiösen Erlebnissen überhaupt nichts zu wissen; und endlich

in eine dritte, die dieses Erlebnis als eine feierliche, die Seele über die Bedürfnisse und Sorgen des Alltags erhebende und in guten Vorsätzen bestärkende Gesinnung schilderte.

Natürlich können auch Übergänge zwischen diesen Gruppen, namentlich der ersten und der dritten vorkommen. Im ganzen aber ist klar, dass, wo sie reinlich geschieden einander gegenüberstehen, die Aussagen der ersten und der zweiten Gruppe im Grunde gleich inhaltsleer sind. Denn auch da, wo sich das religiöse Erlebnis als eine bloße Sache der Überlieferung gibt, ist es ja nur eine äußere gedächtnismäßige Aneignung. Dieser Misserfolg macht es denn auch verständlich, dass die Psychologen, die dieser Richtung folgen, hier auf die sonst von ihnen geübte vergleichende Methode verzichten, und statt dessen einen Weg einschlagen, den man in der empirischen Logik das Verfahren der ausgezeichneten Fälle zu nennen pflegt.

Biographien, Selbstbekenntnisse, Erlebnisse religiöser Persönlichkeiten sind die Quellen, aus denen man zu schöpfen sucht. Da bieten sich denn auf der einen Seite die selbstquälerischen Grübler, die, von tiefer Seelennot erfüllt, nach religiösem Trost verlangen; auf der andern die ekstatischen Visionäre, die mit ihren Gedanken und Gefühlen in einer künftigen Seligkeit schwelgen. So ist die Gesellschaft, in die wir durch diese Sammlungen religiöser Selbstzeugnisse versetzt werden, eine äußerst gemischte. Neben den großen Gestalten eines Augustin und Franz von Assisi fehlt es nicht an subalternen Persönlichkeiten von zweifelhaftem Wert, von den dem Psychiater geläufigen Typen des religiösen Wahnsinns an bis herab zu den Hysterischen und Neurasthenikern gewöhnlichen Schlags, denen bekanntermaßen ein Zug religiöser Schwärmerei nicht selten eigen ist.

Demnach ist diese Sammlung ausgezeichneter Fälle allenfalls eine Kasuistik zur religiösen Pathologie; aber eine Religionspsychologie ist sie nicht. Sie weiß weder zu sagen, wie Religion entstanden ist, nach wie sie sich entwickelt hat, noch auch, was sie in unserer heutigen Kultur, der sie vorzugsweise ihre Beispiele entlehnt, bedeutet. Über alles das gibt sie ebensowenig Aufschluß, wie sich etwa aus der Ideenflucht des Geisteskranken die allgemeinen Normen der Erkenntnis entnehmen lassen. Gewiss haben Vision und Ekstase für die Geschichte der Religion ihre große Bedeutung. Doch bilden sie überall nur einen Teil der religiösen Erscheinungen, und viele unter ihnen gehören nicht der Religion als solcher, sondern, wie die Geschichte der Jenseitsvorstellungen lehrt, ihrem mythologischen Beiwerk an. Mag in diesem speziellen Fall die Beobachtung heutiger Visionäre immerhin ein gewisses Licht werfen auf die Entstehung solcher Vorstellungen in Zeiten gesteigerter religiöser Erregung, den Motiven, die diese Zeiten bewegen, steht diese »pragmatische Methode« ebenso hilflos gegenüber, wie allen andern Fragen, bei denen sie mit der Religionsgeschichte in Berührung kommt.

Zu den Glaubensanschauungen der positiven Religionen, aus denen wir doch zunächst den Begriff dessen zu nehmen haben, was Religion ist, verhält sich daher der Pragmatiker ungefähr ebenso, wie ein wohlwollender Aufklärungsphilosoph des 18. Jahrhunderts. Er sucht sie nicht nach den psychologischen Bedingungen der gesamten religiösen Entwicklung, innerhalb deren sie stehen, zu begreifen, sondern er betrachtet sie losgelöst von allen diesen Beziehungen, lediglich nach dem Nutzen, den sie etwa für die religiösen Zwecke des heutigen Menschen besitzen mögen. Diese Übereinstimmung trotz der sonstigen Verschiedenheit der Standpunkte ist begreiflich.

Das einigende Band zwischen dem Aufklärungsphilosophen von ehedem und dem Pragmatiker von heute ist das Nützlichkeitsprinzip, das ebenso jenen in seiner rationalistischen Beleuchtung der christlichen Dogmen, wie diesen in seiner Deutung der religiösen Gefühle leitet. Bei der Unbestimmtheit der hier den religiösen Melancholikern und Ekstatikern gemeinsamen Gefühle bietet dann die Sammlung solcher Einzelerlebnisse einen Spielraum für die Auffassung der Religion selbst, der weit genug ist, um sie der Hauptsache nach schließlich hier so gut wie dort der Willkür des Philosophen anheimzugeben. So kann man sich denn auch dem Eindruck nicht verschließen, dass die Definitionen der Religion, welche die pragmatischen Psychologen auf Grund ihrer Auslese ausgezeichneter Fälle geben, möglicher Weise auch ohne eine solche Induktion gewonnen werden könnten.

So wenn die Religion eine »Option
[Wünschbarkeit, zu der man sich entschließt], die bedeutungsvoll und unumgänglich ist« oder die »Hypothese von Gott« nach pragmatischen Grundsätzen wahr genannt wird, »wenn sie im weitesten Sinne des Worts befriedigend wirkt«, oder endlich, wenn als die »wahrste Religion diejenige bezeichnet wird, die das beste Leben erzeugt und befördert«. Man könnte diese Definitionen ruhig in den Utilitarismus und Opportunismus des 18. Jahrhunderts verpflanzen, und vielleicht würde niemand gewahr werden, daß sie einem andern Boden entstammen. Daß sie im einen Fall intellektualistisch, im andern voluntaristisch gefärbt sind, macht um so weniger einen wesentlichen Unterschied, als doch auch das Gefühl zuerst in ein reflexionsmäßiges Wollen übertragen wird, ehe man sich über seinen Inhalt Rechenschaft zu geben sucht.

Nun liegt ein nicht zu verkennender Fortschritt über die bisherige Stellung utilitaristischer Ethik und Religionsphilosophie immerhin schon darin, daß die pragmatische Theorie wenigstens dies ihren Beispielen entnommen hat, die Wurzeln der Religion nicht oder doch zum allergeringsten Teil im Gebiet des Erkennens, sondern in dem des Fühlens und Wollens zu suchen. Doch dieses Resultat bleibt unfruchtbar, weil die Anwendung der Methode ebenso unzulänglich wie das Erfahrungsgebiet falsch gewählt ist, auf das sie angewandt wird. Ausgezeichnete Fälle sind brauchbar, wenn man sicher sein kann, daß sie alle wesentlichen Merkmale an sich tragen, die dem untersuchten Gegenstand eigen sind. Davon trifft aber hier das Gegenteil zu: Beispiele psychischer Depression und Exaltation sind ebenso wenig in ihren religiösen wie in andern Äußerungen für das Ganze der psychischen Motive maßgebend; und religiöse Motive, die man innerhalb eines beschränkten Kulturgebiets, vollends auf Grund willkürlich bevorzugter Merkmade, zu ermitteln sucht, lassen sich nimmermehr auf das Ganze der religiösen Entwicklung übertragen. Denn das psychologische Problem der Religion liegt überhaupt nicht oder doch höchstens indirekt, insofern wir nämlich in der Psychologie nirgends der Analyse des Einzelbewusstseins entraten können, im Gebiet der Individualpsychologie. Wir können Religion nicht begreifen, wenn wir nicht zu verstehen suchen, wie sie geworden ist.

Sie aus den Bekenntnissen eines aus christlichen Lehrüberlieferungen und griechischer Philosophie schöpfenden Mannes wie Augustin oder gar aus den Selbstbekenntnissen moderner Mystiker erkunden zu wollen, ist ein Unternehmen, das von vornherein zur Ergebnislosigkeit verurteilt ist. Wie alle historischen Schöpfungen, so und mehr noch als die meisten andern, kann man weder das religiöse Leben der Gegenwart noch die Religion überhaupt verstehen, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wie sie geworden sind. Die Entwicklungsgeschichte von Mythus und Religion, die dieses Werden in sich schließt, ist aber wiederum keine rein historische, sondern eine psychologisch-historische, also eine völkerpsychologische Aufgabe. Denn nur als psychologische Entwicklungsgeschichte der mythologischen und religiösen Motive kann sie dieser Aufgabe nachkommen.

In den vorangegangenen Kapiteln ist der Versuch gemacht worden, die Hauptphasen jener Entwicklung zu schildern. Dabei musste auf Grund allgemeingültiger psychologischer Erwägungen der Kultus als das äußere Merkmal vorangestellt werden, das zwar an sich selbst noch nicht für einen religiösen Inhalt der Handlungen entscheidend, das aber für die Kennzeichnung vor allem der früheren Stufen der Religion unerläßlich ist. Denn mag immerhin schließlich eine Tiefe der religiösen Gesinnung möglich sein, die auf äußere Symbole verzichtet, in der Gesamtentwicklung der hierher gehörigen Erscheinungen kann es zwar möglicherweise einen Kultus geben, den wir noch nicht Religion nennen, aber es gibt keine Religion, die nicht in Kultushandlungen nach außen tritt, weil jeder irgendwie lebendig das Bewusstsein ergreifende Trieb naturnotwendig in Handlungen sich äußert.

Eine Religion, die von Anfang an bloß in theoretischen Überzeugungen oder subjektiven Stimmungen ohne äußeren Effekt bestünde, ist daher ein psychologisch unmöglicher Begriff. Schon darum ist also der Versuch, aus den Schilderungen rein subjektiver Stimmungen und Gefühle einen Aufschlussüber das Wesen der Religion zu gewinnen, ebenso verkehrt, wie die immer wieder auftauchende Behauptung eines primitiven Monotheismus, der in der bloß theoretischen Überzeugung von der Existenz eines höchsten Wesens bestehen solle.

Sie ist samt allen aus dieser Annahme gezogenen Folgerungen von einer allmählichen Erhebung eines solchen ursprünglich jeder Verehrung entbehrenden Gottes eine psychologische Unmöglichkeit. Doch eben deshalb, weil der Kultus infolge jener natürlichen Verbindung von Fühlen und Handeln möglicherweise aus den verschiedensten Affekten der Furcht und der Hoffnung hervorgehen kann, ist er auch an sich noch kein Kriterium für die spezifisch religiösen Motive. Hier tritt nun als ein nächstes Merkmal das der Gemeinschaft hinzu. Indem es innerhalb eines bestimmten Bevölkerungskreises die Allgemeingültigkeit der dem Kultus zugrundeliegenden Motive bekundet, gibt es den hierher gehörigen Kultformen einen höheren Wert und einen zwingenderen Charakter, der ihnen eine dauernde Nachwirkung sichert, so daß sie jetzt in eine in aufsteigender Richtung sich bewegende Entwicklung eintreten können.

Aber auch damit ist die religiöse Natur eines solchen Kultus noch nicht verbürgt, wie denn zahlreiche Zauberkulte als Gemeinschaftskulte vorkommen, von denen direkt keine Brücke zu kultischen Handlungen hinüberführt,, die wir noch auf den späteren Stufen dieser Entwicklung als religiöse anerkennen. Eine solche Kontinuität muß jedoch notwendig vorhanden sein, wenn wir nicht die Religion überhaupt zu einem völlig unbestimmten Begriff machen wollen, der alle möglichen disparaten Elemente in sich vereinigen kann. Da ist es nun eine zweite Erscheinung, die mit einem Male dem Kultus wie den Motiven, aus denen er entspringt, eine neue Richtung gibt: das ist der Übergang des Dämonen- in den Götterkultus.

Um die Bedeutung zu ermessen, die dieser Übergang für die religiöse Entwicklung besitzt, müssen wir uns der drei Eigenschaften erinnern, die der Begriff des Gottes in sich schließt. Es sind die des über- oder unterirdischen oder irgendwie sonst der gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmung entrückten Wohnorts, der Unsterblichkeit, und endlich einer von menschlichen Sorgen befreiten Seligkeit, wie sie in sinnenfälliger Form vor allem in einer besonderen Götterspeise und einem besonderen Göttertrank, durch die sich die Götter- von der Menschenwelt scheidet, zum Ausdruck kommt. Indem sich nun mit diesen Eigenschaften auch noch die andern, die schon den Dämonen zukamen, in gesteigertem Grade verbinden, werden die Götter zu Natur- und Schicksalsmächten, die der Mensch durch den ihnen geweihten Kultus zu gewinnen strebt, und in deren eigenstes Wesen er mehr und mehr die gütige Gesinnung verlegt, von der er in der Not des Lebens und in der Furcht vor dem Tode Rettung und Hilfe hofft.

So treten uns in den Göttern zum erstenmal die Bilder von Wesen entgegen, die sinnlich und menschlich und doch soweit möglich übersinnlich und übermenschlich, der sinnlichen Umgebung entrückt und dennoch menschlichem Streben erreichbar gedacht werden. Auf diese Weise entfalten sich in dem Götterkultus zuerst in der Beziehung menschlichen Tuns und Leidens auf höchste ideale Wesen religiöse Motive. Es schließt sich nun aber auch, je mehr diese Götterwelt durch die mythenbildende Phantasie ausgestaltet wird, immer fester das Band zwischen Kultus und Mythus. Ohne Mythus kein religiöser Kultus. Die Gegenstände, in denen sich die Gefühle der Abhängigkeit von über ihm stehenden Welt- und Schicksalsmächten verdichten, muß sich der Mensch in sinnlich anschaulichen Bildern gegenüberstellen, wenn sie eine dauernde Wirkung auf sein Denken und Handeln gewinnen sollen.

Damit treten bildende Kunst und mythologische Dichtung in den Dienst der Religion, die sie zugleich mit einem reichen Kranz von Phantasieschöpfungen fremdartigen und teilweise widersprechenden Ursprungs umgeben. Gerade diese Dissonanz der den Göttermythus zusammensetzenden Motive, die ihren schärfsten Ausdruck in dem Kampf der Philosophie gegen den Mythus findet, führt nun aber auch die religiöse Entwicklung von dieser Stufe sinnlicher Gebundenheit, die der mythologische Götterkult nicht zu überwinden vermag, zu einer weiteren: zu dem Glauben an eine ideale, übersinnliche Welt, in der das menschliche Streben und Handeln mit eingeschlossen liegt, und in der sich der Mensch die Ideale seines eigenen Strebens verwirklicht denkt.

Damit verschwinden nicht die Göttervorstellungen, und eine feste Grenze zwischen dem Stadium, wo die Götter noch als überragende Menschen, und dem, wo sie ganz als übersinnliche Wesen gedacht werden, läßt sich darum nicht ziehen. Hier greift nun aber als ein vermittelndes Moment die Vorstellung des Symbols ein, das selbst wieder einen wichtigen Bedeutungswandel durchläuft.

In den Anfängen des Götterkultus werden die Götter genau so als wirklich existierend gedacht, wie sie vorgestellt werden, oder - was hier für die flüchtige subjektive Vorstellung frühe schon eintritt - wie sie als die von der Kunst ausgebildeten Idealgestalten zu allgemeiner Anerkennung gelangen. Dann wandelt sich diese Vorstellung der unmittelbaren Wirklichkeit im selben Sinne in den eines realen Symbols um, in welchem auch die Kulthandlungen zu realen oder magischen Symbolen geworden sind.

Das Götterbild ist jetzt nicht mehr selbst der Gott, aber es ist sein reales Symbol, da die Gottheit beim Kultus in ihm ihren Sitz hat und durch dasselbe magische Wirkungen ausübt. Dann, auf einer weiteren Stufe, wandelt sich das reale in ein ideales Symbol um: die magische Wirkung des Götterbildes schwindet. Aber des Bildes selber bedarf man fortan als eines subjektiven Verstärkungsmittels der religiösen Gefühle. Zugleich bietet sich in der hier einsetzenden Aufnahme der Idee des Gottmenschen, des im Kultus verehrten Gottes, der als Mensch auf Erden gewandelt, ein wirksames Mittel der Rückkehr von dieser idealen zur realen Bedeutung des symbolischen Bildes.

So hat im christlichen Kultus das konventionelle Christusbild in den Vorstellungen der Christenheit mindestens eine zwischen Ideal und Wirklichkeit schwankende Bedeutung gewonnen, und bei einem großen Teil des katholischen Volkes bewahren neben Jesus die Gottesmutter, die Apostel und Heiligen eine ähnliche reale Bedeutung. Doch in dem Maße, als diese schließlich dennoch schwindet, beginnt auch in diesem Fall selbst das ideale Symbol zu einer Zeit, wo in den Kulthandlungen zumeist sogar das reale noch lebendig ist, allmählich zu verblassen. Aus dem subjektiven Schwanken der Vorstellungen erhebt sich so als letzte Idee die der Unvorstellbarkei der Gottheit, die nunmehr als ein notwendiges Attribut ihres übersinnlichen und demzufolge rein geistigen Wesens aufgefaßt wird. Damit bereitet dieser Übergang zuerst vom realen zum idealen Symbol und dann des letzteren zur Idee dem analogen, aber freilich hier erst in einem späteren Stadium einsetzenden Wandel in der Bedeutung der Kulthandlungen den Weg.

Eine allgemeine Begriffsbestimmung der Religion kann nun angesichts dieses fortwährenden Flusses ihrer Entwicklung, in der es an rückläufigen Strömungen nicht fehlt, nicht einem einzelnen dieser Stadien entnommen werden. Nur daran ist festzuhalten, daß im Sinne des hier zu fordernden allgemeinen Charakters der entscheidenden Motive und der Kontinuität ihrer Entwicklung eine Begriffsbestimmung alle Stadien umfassen muß von den noch in lebendiger Wirklichkeit geschauten Göttern eines naiven Glaubens an bis zu der unter der Mitwirkung der Philosophie entstandenen Idee einer unvorstellbaren Gottheit. In diesem Sinne werden wir sagen können: Religion ist das Gefühl der Zugehörigkeit des Menschen und der ihn umgebenden Welt zu einer übersinnlichen Welt, in der er sich die Ideale verwirklicht denkt, die ihm als höchste Ziele menschlichen Strebens erscheinen. Ideale im Sinne höchster, vermöge der sinnlichen Schranken des Daseins an sich unerreichbarer und doch erstrebenswerter Lebensgüter gibt es nun von dem Augenblick an, wo im Götterkultus eine solche ideale Welt zur Ausbildung gelangt.

Der von da an zuerst teilweise und dann allmählich vollständig werdende Übergang dieser Güter vom sinnlichen auf das geistige Gebiet dagegen ist ein Prozess, der den wesentlichen Inhalt der religiösen Entwicklung selbst ausmacht. Damit wandeln sich die ursprünglich sinnlichen in sittliche Ideale um, die, der wirklichen Lebensführung entnommen, mit innerer Notwendigkeit wieder auf diese zurückwirken und sich so zu sittlichen Lebensnormen gestalten. Dadurch werden die religiösen Motive zu den frühesten Triebfedern der Sittlichkeit, und die sittlichen Motive, wie sie sich im Kontakt mit der sinnlichen Wirklichkeit gestaltet haben, werden zum wesentlichen Inhalt des religiösen Ideals. Indem dieser Begriff des Ideals an sich nur eine formale Bedeutung hat, da er lediglich die höchste Norm bezeichnet, die menschlichem Vorstellen in einer bestimmten Richtung erreichbar schließt die hieraus entstehende Unbestimmtheit zugleich die ganze Fülle der religiösen Entwicklungen ein.

Von andern Anwendungen, in denen der Idealbegriff vorkommen kann, scheidet sich aber das religiöse Ideal durch seine Beziehung zu einer übersinnlichen Welt. Mag sich die Idee des übersinnlichen selbst nur allmählich von dem Boden der Sinnlichkeit lösen, auf dem sie geboren ist, so liegt doch schon in der Richtung, auf die bereits der primitive Götterkultus abzielt, der Unterschied von andern, insonderheit auch von den stets an die sinnliche Wirklichkeit gebundenen spezifisch sittlichen Idealen. Was die religiösen mit diesen wie mit allen Idealvorstellungen gemein haben, und was ihnen zugleich jene enge Beziehung rum Wollen und Handeln gibt, die sich im religiösen Kultus ausspricht, das ist die Intensität der Gefühle, die sie begleiten, und denen sie ihre eigenartige Qualität verdanken. So hat denn auch keiner der Versuche, die gemacht worden sind, die Religion als ein Gefühl zu definieren, ganz sein Ziel verfehlt. Aber schwerlich gibt es unter ihnen einen, der mehr als eine einzelne, oft zufällig herausgegriffene und nicht einmal konstante Eigenschaft wiedergibt. So können Abhängigkeitsgefühl, Glücksbedürfnis usw. Teilmotive des religiösen Verhaltens sein. Doch sie gehören nicht und am allerwenigsten ausschließlich zum Wesen der Religion.

Gerade bei der höchsten Steigerung des religiösen Enthusiasmus verwandelt sich das Gefühl der Abhängigkeit in das der Einheit mit der Gottheit, und das Glücksbedürfnis schwindet in dem Gefühl der inneren Beseligung. Was allen diesen Formen und Färbungen religiösen Verhaltens eigen ist, das bleibt eben nur die Zugehörigkeit zu einer übersinnlichen Welt. Auch sie äußert sich zunächst gefühlsmäßig. Doch in den so entstehenden religiösen Stimmungen können sehr verschiedene Gefühlstöne anklingen, die natürlich sämtlich den allgemeinen psychologischen Formen der Gefühle sich einordnen, im einzelnen aber ebenso wenig sich fest abgrenzen lassen wie die zugehörigen religiösen Vorstellungen. Denn auch hier gehören, wie überall, Gefühl und Vorstellung zusammen, und das Gefühl als das subjektive Komplement der Vorstellung empfängt ebenso von dieser seine besondere Färbung, wie es selbst wieder vor allem da, wo die Vorstellung ein Erzeugnis der mythenbildenden Phantasie ist, auf diese zurückwirkt.

Darum bildet das religiöse Gefühl den wesentlichen Bestandteil des im Kultus hervortretenden religiösen Strebens und Wollens, gemäß der allgemeinen psychologischen Tatsache, daß es kein Wollen gibt, in das nicht Gefühle eingehen. Hierin liegt es denn auch begründet, daß selbst da, wo die religiösen Vorstellungen dunkel und flüchtig sind, oder wo sie nur als unzulängliche Symbole empfunden werden und sich schließlich in Ideen umwandeln, die auf jedes äußere Symbol verzichten, die religiösen Gefühle von großer Stärke sein können; ja es tritt hier das einzigartige Phänomen ein, daß das Gefühl selbst zum Symbol wird, d. h. daß es das einzige übrigbleibende Zeichen ist, das eine hinter ihm stehende religiöse Gedankenwelt im Bewusstsein vertritt. Aus dieser im Hinblick auf seine Entstehungsbedingungen begreiflichen Eigenart des religiösen Bewusstseins erklärt sich nebenbei die Dürftigkeit aller intellektualistischen Religionstheorien, die, wenn sie nicht zum Wunder der Offenbarung ihre Zuflucht nehmen, einem oberflächlichen Utilitarismus verfallen, der sich in allerlei Reflexionen über eine mögliche Entstehung der Religion bewegt, ohne sich im geringsten um deren wirkliche Entstehung und um die tatsächlichen Erscheinungen des religiösen Lebens zu kümmern.

Mit den in der obigen Begriffsbestimmung festgehaltenen Merkmalen des Gefühls der Zugehörigkeit zu einer übersinnlichen Welt und eines in diese projizierten Ideals sind nun aber keineswegs alle Momente erschöpft, die zu den wesentlichen Triebkräften der religiösen Entwicklung gehören, und die uns in ihren einzelnen Äußerungen oben begegnet sind. Vor allem gehören hierher zwei Erscheinungen, die, wenn sie auch nicht, direkt das allgemeine Wesen der Religion berühren, doch bedeutsam in ihre Entwicklung eingreifen. Die eine besteht in der zunehmenden Unterordnung der nicht bloß die Anfänge des religiösen Kultus bildenden, sondern diesen fortan begleitenden Vielheit der Götter unter eine herrschende Gottheit, oder, wie man es gewöhnlich zu nennen pflegt, eines fortschreitenden Strebens von einer polytheistischen zu einer monotheistischen Religionsform. Die andere ist die niemals ganz fehlende, aber doch unter verschiedenen Bedingungen sehr wechselnde Ausbildung eines negativen religiösen Ideals in dem Sinne, daß sich die Gefühle eigener Unzulänglichkeit und äußerer wie innerer Hemmungen gegenüber den positiven religiösen idealen ebenfalls in religiösen Vorstellungen verkörpern, die durchweg nach dem Gesetz der psychischen Kontraste im Verhältnis zu jenen positiven Idealen gebildet sind. Es ist die Scheidung guter und böser Götter oder, wie sich dieser Gegensatz der Götter zu den vorangegangenen Dämonenvorstellungen gewöhnlich gestaltet, die Scheidung guter Götter und böser Dämonen, die vor allem in den Prozeß der Versittlichung der religiösen Ideen eingreift.

Unter diesen beiden Erscheinungen pflegt man auf die erste, den Übergang des Polytheismus in den Monotheismus, einen entscheidenden Wert zu legen, so daß man wohl auch geradezu die Entstehung des Monotheismus als den Geburtsakt aller vollkommeneren Religionen ansieht. Aber so geläufig diese Anschauung ist, so wenig kann sie einer näheren Prüfung Stand halten. Betrachtet man die Dinge unbefangen, so ist zwar kein Zweifel, daß sich die Vorstellung eines herrschenden Gottes frühe schon Bahn bricht, und daß sie von da an nie ganz verschwindet. Ist sie doch ein unmittelbarer himmlischer Reflex der die Entstehung des Götterkultus begleitenden irdischen Gesellschaftsordnung.

Der Götterstaat fordert ebensogut wie der menschliche Staat sei¬nen Herrscher. In diesem Sinne ist daher die Vorstellung eines herrschenden Gottes zunächst ein Symptom der sozialen Kultur, die auch auf die religiöse ihre Wirkungen ausübt; direkt hat sie aber mit der letzteren nichts zu tun. Unmittelbarer fällt schon in das religiöse Gebiet ein Unterschied, der bei der Vergleichung der einzelnen Gestaltungen dieses allgemeinen Polytheismus in die Augen fällt. Entweder ist nämlich das Verhältnis des obersten Gottes zu den andern das eines Primus inter pares [Ersten unter Seinesgleichen]: diese sind Nebengötter, deren jeder eine selbständige Ausbildung des religiösen Ideals darstellt. Oder die andern sind Untergötter, Untergebene des höchsten Gottes, die dessen Befehle ausführen oder für gewisse Gebiete des Lebens dessen Vertretung übernehmen. Beispiele der ersten, ursprünglicheren Form bieten die Religionen aller alten Kulturvölker.

Den zweiten Typus zeigt die Religion der Israeliten. Dort liegt der Ursprung deutlich in einer Vielheit dereinst selbständiger Kulte, die, zum Teil verschiedenen Ländergebieten angehörig, allmählich in ein Ganzes zusammengeflossen sind. Hier liegt er aller Wahrscheinlichkeit nach umgekehrt in einem Kampf der Kulte. Die zweite dieser Formen nicht Polytheismus zu nennen, dazu liegt aber kein triftiger Grund vor. Die Engel und ihre Gegner, der Satan mit seinen Dämonen, bilden ebenso integrierende Bestandteile der Religion Jahwes, wie die griechische Götterwelt um Zeus als ihren Mittelpunkt geordnet ist. Hier wie dort bedarf der oberste Gott einer Umgebung, und die verschiedenen Sorgen und Wünsche der Menschen verlangen nach einer Vielheit hilfreicher Geister, die alle jener übersinnlichen Welt angehören, mag auch die Macht dieser Geister eine beschränktere sein.

Die wesentliche Verwandtschaft dieser Formen des Polytheismus spricht sich denn auch darin aus, daß sie sich verbinden können. Ein lebendiges Beispiel hierfür ist das Christentum. Als Volksreligion ist es Tritheismus [Dreigötterei]. Denn niemand, der nicht der Volksseele weltfremd gegenübersteht, wird sich wohl einbilden, das Trinitätsdogma sei jemals über die Kreise der spekulativen Theologie und der von ihr beeinflußten gelehrten Laien hinausgedrungen.

Im christlichen Kultus ist Christus der herrschende Gott, hinter welchem, über dem direkten Verkehr mit dem Gläubigen erhaben, Gott Vater steht, während der heilige Geist ein dämonenartiges Wesen geblieben ist, das sich nie recht zur Persönlichkeit emporringen konnte. Dazu kommt dann noch im katholischen Kultus die Fülle der Untergötter in den Mitgliedern der heiligen Familie, den Aposteln und Heiligen, die völlig in die Stellung der alten Orts-, Berufs- und sonstigen Schutzgötter eingetreten sind. In der Tat ist daher die Volksreligion noch heute polytheistisch.

Ein wichtiger Bestandteil dieses Polytheismus pflegt nun weiterhin die Verkörperung des Bösen in einem Fürsten der Sünde zu sein, der dann ebenfalls nach dem Vorbild der himmlischen Götterwelt einen Hofstaat böser Geister um sich sammelt. Dieses Bild ist das Produkt der Einwirkung sittlicher Ideen auf den religiösen Kultus, sei es daß hierbei der Kampf des guten mit dem bösen Prinzip als ein Kampf zwischen zwei Göttern vorgestellt wird, wie in der iranischen Religion, oder als ein Widerstand abgefallener Engel, wie in den Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam. In beiden Fällen ist die Verkörperung des Bösen in einer Persönlichkeit das Symptom eines höher entwickelten ethisch-religiösen Bedürfnisses. Denn nicht bloß dem vorreligiösen, sondern auch dem beginnenden religiösen Kultus sind diese persönlichen Verkörperungen des Bösen zumeist noch unbekannt. Er kennt nur böse Dämonen.

Der persönliche Teufel in seinen verschiedenen Gestalten ist aus dem Bedürfnis geboren, die Hemmungen des sittlichen Strebens, vor allem die, die aus eigener Verschuldung entspringen, ebenso wie die Ideale des Guten als persönliche Wesen sich gegenüberzustellen; und dieser natürliche Trieb führt hier wiederum einer monotheistischen Zuspitzung jener aus dem alten Dämonenglauben herübergenommenen Welt des Bösen entgegen, wie sie uns in der Form des Nebengottes der persische Ahriman, in der des Untergottes der Satan der jüdisch-christlichen Mythologie zeigen. Gerade diese Form des Untergottes, in der der Mensch sein eigenes Sündenbewußtsein in eine außer ihm lebende, der übersinnlichen Welt angehörende Persönlichkeit projiziert, erhebt aber hier um so dringender die Frage, die noch tief in die christliche Philosophie der neueren Zeit hereinreicht, wie die Existenz des Bösen überhaupt mit der Oberherrschaft eines guten Gottes vereinbar sei.

Der iranische Mythus hat diese Frage frühe schon mit jenem Bild des Kampfes beantwortet, unter dem er den Verlauf aller menschlichen Geschicke darstellt, und aus dem er schließlich die unbeschränkte Herrschaft des siegreichen guten Gottes hervorgehen läßt. In anderer Form und doch im Grundgedanken übereinstimmend hat sie der christliche Mythus beantwortet. Ihm steht, abgesehen von nebenhergehenden Motiven und Richtungen, der Kampf des Einzelnen um die eigene Seele im Vordergrund. Nicht Gott und Satan streiten miteinander, sondern die um ihrer unsühnbaren Bosheit willen verstoßene Seele wird Eigentum des Fürsten der Hölle, der damit zugleich die Stelle eines Dieners der Gottheit zurückerobert. Was beiden Vorstellungen gemeinsam bleibt, das ist daher schließlich der Gedanke des Kampfes zwischen Gut und Böse, in welchem sich das Gute zum Siege hindurchringt. Es ist derselbe Gedanke in symbolisch-mythologischer Form, den noch die Religionspsychologie als eine notwendige Konsequenz der Psychologie der Affekte und die Ethik als eine Grundbedingung des Sittlichen zu begreifen sucht: Ohne Schmerz kein Glück, ohne Kampf kein Sieg, ohne Anfechtung und deren Überwindung kein Verdienst.

Die Welt ist nicht absolut gut noch böse, sondern sie ist beides zugleich, und wenn sie dies nicht wäre, so würden weder die sittlichen noch die religiösen Ideale möglich sein, die dem Leben seinen Wert geben. So bewahren in der Ordnung dieser Welt Schuld und Sünde ihre Stelle, wie auch im Lauf der Zeiten die Anschauungen über ihren Ursprung wechseln mögen, ob sie der alte Dämonenglaube auf böse Geister, die sich des Menschen bemächtigen, oder die moderne Wissenschaft auf Vererbung abnormer Eigenschaften, verkehrte Erziehung, ungünstige Lebenslage neben irgend einem Anteil unmittelbarer persönlicher Verschuldung zurückführen mag. Der Einzelne ist, wie sich Hegel ausdrücken könnte, ein »Werkzeug des Weltgeistes«, wie immer, ob fördernd oder hemmend, er in das Werden dieses Weltgeistes eingreift. Auch hier gilt das Wort Heraklits, dass der Kampf der Vater der Dinge ist.

Indem nun in diesem Kampf das Ideal des Guten immer mehr zu einem unerreichbaren übersinnlichen Gut wird, beginnt die vertiefte ethische Selbstbesinnung alle jene Hemmungen, die sich dem Streben nach ihm entgegenstellen, mehr und mehr in die eigene sinnliche Natur zu verlegen. Damit ist aber auch schon die Axt an die Wurzel aller jener negativen Idealvorstellungen gelegt, die das Böse in einem dämonischen Widersacher der Gottheit verkörpern. Tragen doch die bösen Triebe und Handlungen allzusehr die Spuren von irdischem Staub und irdischem Schmutz an sich, als daß das Reich des persönlichen Satans, den die Phantasie doch nicht umhin kann ebenfalls mit einer gewissen düsteren Herrlichkeit zu umgeben, dem Stand halten könnte.

Darum überlebt die himmlische Welt in den phantastischen Formen, mit denen sie der fromme Glaube ausstattet, jene dämonische Welt der Verbrecher und ihrer Strafen. So gilt in weiten Kreisen des christlichen Volkes der persönliche Teufel, an den Luther noch so fest glaubte wie an seine eigene Person, für ein Wahngebilde des Aberglaubens vergangener Zeiten. Die Überzeugung, daß auch Gott nicht unter dem Bilde einer menschenähnlichen Persönlichkeit vorgestellt werden könne, ist eine Überzeugung, die sich offenbar viel langsamer durchkämpft. Um so wirksamer tritt nun hier schon in den antiken Mysterienkulten, und tritt vor allem in der Christuslegende das Bild des Gottes, der selbst in menschlicher Gestalt auf Erden gewandelt, vermittelnd ein, während es zugleich die Vorstellung eines übersinnlichen Gottes in den Hintergrund drängt. Doch indem die Gestalt des Gottmenschen schließlich dem gleichen Prozeß der Entmythisierung unterliegt, der bei den Dämonen der Hölle begonnen und Gott seiner persönlichen Attribute entkleidet hat, wird Christus aus dem zur Erde gekommenen Gott zum idealen Menschen.

Die Christusreligion wird zur Jesusreligion.
Sie hört darum nicht auf, Religion zu sein. Aber sie ist nicht mehr Volksreligion, sondern eine Umwandlung dieser in die in ihr lebenden religiösen Ideen. Denn keine Volksreligion kann der Symbole entbehren. Sie nimmt sie ursprünglich aus dem Zauber- und Dämonenglauben herüber, um sie dann im Götterkultus durch die fortschreitende Vergeistigung seiner Motive in unmerklichen Übergängen aus realen in ideale Symbole überzuführen, die der objektiven magischen Wirkung entsagen, um die subjektive Wirkung auf die religiöse Stimmung allein zu bewahren.

Das ideale Symbol verschleiert aber nur wenig noch die hinter ihm verborgene Idee, die schließlich in der Selbstbesinnung über die Motive der religiösen Stimmung in das Bewußtsein tritt. Hier sucht dann die philosophische Reflexion die Idee festzuhalten und aus ihren symbolischen Hüllen ganz zu befreien.

Damit ist zugleich die religiöse zur abstrakten philosophischen Idee geworden. Sie auf diesem Weg zu begleiten, nachzuweisen, wie sich aus den religiösen Symbolen die philosophischen Ideen entwickeln, und wie sich diese wieder in der Umbildung der Symbole selber betätigen, ist die letzte Aufgabe der Religionspsychologi
e. S.244ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 207, Philosophisches Lesebuch. Zweiter Band, Das neunzehnte Jahrhundert
Ausgewählt und erläutert von Hermann Glockner ©1950 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart


Sinnliche und übersinnliche Welt (1914)
Das Unendliche – das Absolute – Gott
Disposition: I. Der theoretische Weg zum Postulat des „Absoluten“.

(1) Über das mathematisch und empirisch Unendliche hinaus erfasst das Denken das schlechthin Unendliche,

(2) welches es selbst als Quelle aller Unendlichkeitsbegriffe ist.

(3) Diese Unendlichkeitsidee wird meist mit der (religiösen) Gottesidee gleichgesetzt.

(4) Freilich oft zu Unrecht, sofern – auch abgesehen von den Fehlversuchen, das Unendliche = Gott zu beweisen - das Unendliche rein formale Bedeutung hat. Aber auch mit Recht, sofern das Unendliche reale Bedeutung gewinnen kann.

I. Schließlich kann die Idee des Unendlichen als eine selbständig für sich bestehende allen jenen Anwendungen auf mathematische oder empirische Größen als das Unendliche schlechthin oder als das Absolute in der umfassendsten Bedeutung des Wortes gegenübertreten.

(1) Da aber die werdende oder relative Unendlichkeit stets in endlichen Grenzen befangen bleibt, so daß sie erst zu Unendlichkeit wird, indem die Idee der absoluten auf sie herüberwirkt, so wird diese letzte Unendlichkeit als eine absolute Totalität gedacht, neben der nicht nur alles Endliche, sondern auch alles, was dieses Endliche nach einzelnen Richtungen zu unendlichen Reihen ordnet, im letzten Grunde als ein bloß Relatives gilt.

(2) D amit wird das Denken , das diese letzte absolute Unendlichkeitsidee bildet, da es die Quelle aller Unendlichkeitsbegriffe ist, selbst zur vollendeten Uendlichkeit des Seins erhoben : es wird als letzte Einheit der sinnlichen und geistigen Welt, als letzte Ursache und letzter Zweck der Dinge gedacht. Es besitzt Denknotwendigkeit, und es entzieht sich doch gleichzeitig jeder Möglichkeit, durch das Denken begriffen zu werden. Wo immer die philosophische Spekulation zu einem solchen Letzten, selbst Voraussetzungslosen, das aber als die Voraussetzung alles Wahren und Wirklichen gelten soll, vorzudringen versuchte, da ist sie zu dieser transzendenten Idee gelangt.

(3) Sie hat vor allem in der Gottesidee in den ihr beigelegten Attributen unendlicher Macht, Größe, Vollkommenheit, Güte usw. ihren Ausdruck gefunden.

(4)
Dabei hat sich freilich in den sogenannten Gottesbeweisen diese Grundlage der von ihnen vorausgesetzten Unendlichkeitsidee hinter Argumenten verborgen, die der Kritik nirgends standhalten können. Dies liegt aber lediglich darin begründet, daß es überhaupt verkehrt ist, die Idee das Unendlichen beweisen zu wollen, da sie doch ein Postulat des Denkens ist, für das ein Beweis ungefähr ebensoviel Sinn hat, als wenn man einen solchen für den logischen Satz des Widerspruchs führen wollte. Außerdem hat aber die absolute Unendlichkeitsidee in dieser letzten Steigerung, nicht minder wie in ihren einzelnen Anwendungen, theoretisch nur eine formale Bedeutung, und vollends die Hineintragung ethischer Begriffe in diese Idee ist ein durchaus willkürliches Verfahren, das sich nicht im geringsten auf irgendeine logische Notwendigkeit berufen kann. Denkt man sich jene unrechtmäßigen Zugaben hinweg, so hat daher der Begriff des Unendlichen auch in dieser letzten Steigerung direkt gar keinereligiöse Bedeutung . Hiermit kommt diese Betrachtung auf einem anderen Weg zu dem gleichen Resultat, zu dem auch die von Kant bekanntlich zum erstenmal in systematischer Vollständigkeit geführte Kritik der sogenannten Gottesbeweise gelangt ist. Gleichwohl besteht zwischen beiden negativen Ergebnissen ein wesentlicher Unterschied. Betrachtet man nämlich die Idee des Absoluten als ein reines Postulat unseres Denkens ohne jeden spezifischen Inhalt, so hat es zwar weder ethische, noch eine religiöse Bedeutung; es bleibt aber immerhin möglich, daß dieser formale Begriff eine reale Bedeutung dadurch gewinnt, daß er auf die konkreten Lebensinhalte herüberwirkt , die vermöge ihrer objektiv nie zu vollendenden Entwicklung und des diese Entwicklung begleitenden, jede Grenze überschreitenden subjektiven Strebens zu einer Übertragung der Idee des Unendlichen herausfordern. Damit kommen wir auf den zweiten der oben bezeichneten Wege; auf den der praktischen Motive.

Disposition: II. Das führt zu dem praktischen Weg der Synthese der Unendlichkeitsidee mit sittlichen Ideen;

(1) sie ist theoretisch unmöglich, denn Sittlichkeit setzt Kampf Widerstand voraus, mit denen eine Überwelt nicht zusammen gedacht werden darf.

(2) Die Synthese ist nur möglich mit den logischen Begriffen des Grundes und des Zweckes. Die Idee des Weltgrundes und Weltzweckes (3) ist auch die letzte Wurzel des religiösen Denkens selbst (4), sie läßt der Phantasie Raum, sie anzureichern mit Mythologie (Dogma), und gibt dem Gefühl die Möglichkeit, sich an ihr aufzurichten in Erhebung und Erlösung (die wesentlichen religiösen Grundgefühle).

II. Hier könnte man sagen, gerade das, was soeben verlangt wurde, eine Synthese der theoretischen Unendlichkeitsidee und der sittlichen Ideen, sei es, was die Philosophie geleistet habe, als sie jene ethischen Unendlichkeitsattribute zu einem höchsten Begriff des Absoluten vereinigte und diesen der religiösen Gottesidee gleichsetzte. Möge der Weg des Beweises, der dabei beschritten wurde, ein ontologischer Irrweg gewesen sein, als Forderung unseres ins Unendliche strebenden Denkens halte nur um so mehr diese höchste aller Synthesen jedem Angriff stand. Dennoch liegt der Fehler der Gottesbeweise weniger in der syllogistischen Form, in die sie sich kleiden, als in der Voraussetzung, der Begriff des Unendlichen sei auf alle möglichen denkbaren Begriffe anwendbar, und er könne daher beliebig mit ihnen verbunden werden.

(1) [Dem ist aber nicht so; denn z. B.:] Da jene Begriffe der Macht, des Wahren, des Guten für uns im allgemeinen nur insofern Werte sind, bildet und gesteigert denken, so versuche man es doch, sich eine übersinnliche Welt zu denken , in der alle jene Motive und Gegenmotive, aus denen unser Tun und Leiden, unser Glück und Unglück in dieser empirischen Welt stammt, nicht existierten, und man frage sich dann: welchen Wert soll der Gedanke einer solchen Welt für uns noch besitzen? Können wir ein sittliches Leben nicht anders denken als in der Teilnahme und dem Umfang, in dem dies für den einzelnen möglich ist, in der Förderung der allgemein geistigen Werte, wie sollen wir uns dann etwa eine Kunst denken, für die es nur Licht und keinen Schatten gibt, ein Epos ohne sieghafte Helden, eine Tragödie ohne die Tragik des Lebens? Natürlich sind alle diese Vorstellungen, die den Begriff eines vollkommenen Daseins in ein niemals getrübtes menschliches Glück übersetzt denken, derart kindlich naiv, daß sie sich selbst aufheben, weil sie alle jene ewigen Werte menschlich und doch die Welt, die in den Begriff solcher Werte gelangen soll, übermenschlich denken. Demnach sind auch jene Begriffe unendlicher Macht, Güte, Vollkommenheit, und wie immer die herkömmlichen Attribute der Gottheit lauten mögen, durchaus der gleichen Art: sie verunendlichen das Endliche, indem sie die auf anderem Boden entstandene Unendlichkeitsidee ganz äußerlich mit beliebig herausgegriffenen sittlichen Wertbegriffen verbinden, ohne Rücksicht darauf, ob diese Werte überhaupt als unendliche gedacht werden können.

(2) Soll die Idee des Unendlichen auf den Inhalt unseres geistigen Lebens herüberwirken, so kann dies daher nur in dem Sinn geschehen, daß jene letzte unendliche Einheit des Seins von den relativen Wertbegriffen der empirischen Wirklichkeit frei bleibt. Ist das Absolute in dieser letzten Bedeutung zu dem rein formalen Postulat der Totalität des Seins geworden, so kann es auch nur in diejenigen Momente des Seins verlegt werden, die selbst rein formaler Natur und in gleicher Weise wie die unendliche Totalität des Seins Postulate des Denkens sind. Solcher Formbegriffe, die zu jeder Zusammenfassung einer unendlichen Reihe zur Einheit hinzugedacht werden, gibt es aber nur zwei: den Begriff des Grundes und den des Zwecks . Beide sind Formen des verknüpfenden Denkens, die diesem immanent sind. . . .

Wieder dürfen wir aber unsere empirischen Anwendungen dieses dem Denken immanenten Doppelbegriffs nicht auf die absolute Unendlichkeitsidee übertragen, wie das der sogenannte kosmologische Gottesbeweis tut, indem er das Unendliche selbst nach Analogie der menschlichen Willenstätigkeit als die physische Ursache der Welt denkt oder es, wie in dem verwandten teleologischen Beweis, in ein Analogon des zwecktätigen menschlichen Handelns umwandelt. Die Idee des Absoluten selbst liegt solchen anthropomorphischen Gedanken einer Begriffsmythologie, in der die phantasievollen Bilder des ursprünglichen mythologischen Denkens in einen leeren Begriffshimmel übertragen werden, an sich völlig fern.

(3) Wird die Idee der absoluten Totalität des Seins oder, was dasselbe bedeutet, des letzten Grundes und Zwecks der Dinge von allen solchen mythologischen Begriffsfälschungen frei gehalten, so gewinnt sie nun um so mehr den Charakter eines nicht aufzuhebenden, eben darum aber bald dunkler, bald klarer bewußt allem menschlichen Denken immanenten Postulats, und dieses erweist sich so als die letzte Wurzel des religiösen Denkens selbst.

(4) Die Unbestimmtheit jener Idee läßt jedoch einerseits der mythologischen Phantasie freien Spielraum , um die Idee des Absoluten jederzeit in der dem empirischen Denken adäquaten mythologischen Einkleidung dem menschlichen Bewußtsein nahezubringen, und andererseits bewahrt doch die Idee selbst bei allen diesen Transformationen innerhalb der positiven Religionen im wesentlichen ihren allgemeinen Charakter. Dazu kommt nun aber auch die Übereinstimmung der die einzelnen religiösen Entwicklungen beherrschenden Idee nur in äußerst geringem Maße in den Vorstellungen zum Ausdruck, in die jeweils die mythologische Phantasie sie kleidet; um so mehr geschieht dies von den Gefühlen, von denen diese Vorstellungen getragen sind.

(5) In diesem Sinn hat Schleiermacher das Gefühl der »schlechthinnigen Abhängigkeit« die psychologische Wurzel der Religion genannt. Der Ausdruck weist, indem er in dem beigefügten Prädikat dieses Gefühl über jedes andere gleicher Art stellt, auf die Idee des Unendlichen als ihr letztes Motiv hin. Doch enthält er, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, nur die eine der beiden Seiten, die sich in diesem gefühlsmäßigen Verhältnis des subjektiven Bewusstseins zum Unendlichen vereinigen. Die andere, wohl die bedeutsamere ist die der Erhebung zum Unendlichen. Denn wie in jeder Gemütsbewegung, so vereinigen sich Tun und Leiden auch in dem religiösen Affekt, und von beiden Momenten des Seins ist in ihren Widerspiegelungen im Bewußtsein das Tun das Höhere. Deshalb gilt uns die Tat, die das Leiden überwindet, als die wertvollste. Neben der Abhängigkeit vom Unendlichen und der Erhebung zu ihm ist daher der Gedanke der Erlösung , der Überwindung des Leidens durch die Tat, ein Motiv, das von früh an in die Entwicklung des religiösen Bewußtseins eingreift.

Die Erlösung und der Heilbringer
Der Erlöserglaube ist die ausreichende inhaltliche Ergänzung der »Gottes«-Idee des unendlichen Weltgrundes und Weltzwecks. Über den Glauben an sittliche Selbsterlösung darf er aber nicht hinausgetrieben werden, ohne ins Phantastische zu fallen: die Gottheit ist das innere Erlebnis.

[Das Bedürfnis nach Erlösung und seine Befriedigung im religiösen Gefühl hat in vielen Religionen endlich die Gestalt des heilbringenden Gottes geschaffen, aus dem sich dann der volle Erlöserglaube entwickeln kann.]

Der Gedanke der Erlösung findet seinen ergreifendsten Ausdruck in der Gestalt eines Gottes, der sich selbst aus Drangsalen und Leiden erlöst hat und so dem Heilbedürftigen als Vorbild der eigenen Rettung vor Augen steht.

Immerhin bleibt in der christlichen Legende das menschliche Bild des Erlösers erhalten, und dieses vermittelt so in der religiösen Gefühlsfärbung die Verbindung mit den anderen Deutungen der Legende.

Unter ihnen ist es zunächst die symbolische, die, im Gegensatz zu der mythologischen, in dem Doppelbegriff des Gottmenschen auf den Menschen den entscheidenden Wert legt. Der Erlöser ist ihr im zwiefachen Sinn ein Symbol menschlicher Hingabe: auf der einen Seite verkörpert sich in ihm die hingebende Liebe, die bereit ist das eigene Leben für die Rettung des Nächsten zu opfern; auf der anderen Seite ist er ein Vorbild der Hingabe an die übernommene Pflicht. Die philosophische Deutung endlich verwandelt diese, durch den Charakter des Symbols als einer anschaulichen Vorstellung an das individuelle Ideal gebundene Auffassung in eine allgemeine menschliche Norm. Diese Norm lautet: Mensch, erlöse dich selbst! Löse dich aus den Fesseln der Selbstsucht, diene der Pflicht, die du auf dich genommen, nicht mit Widerstreben, sondern aus freier Neigung, und gib, wo es not tut, dein eigenes Leben hin für die ideale Aufgabe, die dir das Leben gestellt hat!

So erhebt sich aus dem trüben Zwielicht des Glaubens an erlösende Götter, deren Wille durch Zauber zu binden, und deren Gunst durch Opfer zu gewinnen ist, in dem Bild des menschlichen Erlösers ein religiöses Ideal, das unmittelbar zu einem sittlichen Ideal wird. Damit gewinnt jene Idee des Unendlichen, die die letzte Wurzel aller Religion, aber zu unbestimmt ist, um den religiösen Trieb in dem wirklichen Leben feste Ziele zu zeigen, ihre inhaltliche Ergänzung in der Idee des menschlichen Erlösers und ihrer Weiterführung zur Idee der Selbsterlösung des Menschen durch die eigene Tat. In der Wechselwirkung, in die diese Ideen treten, kann aber keine von ihnen unverändert bleiben. Auch die Gottesidee wandelt sich: aus einer äußeren Macht wird die Gottheit zu einem inneren Erlebnis. »Wie das Widerspielen des Spiegels in der Sonne«, sagt Meister Eckehart, »selber Sonne ist, während doch der Spiegel bleibt, was er ist, genau so verhält es sich mit Gott: er ist in der Seele mit seiner Natur, seinem Wesen, seiner Gottheit, und
darum ist die Seele doch, was sie ist.« S.1ff.
Aus: Religionskundliche Quellenhefte. Herausgeben von Prof. D. H. Lietzmann und Akademiedirektor Dr. K. Weidel, Heft 44, Aus der Gotteslehre der gegenwärtigen Philosophie und Theologie von D. Dr. Heinrich Weinel . Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin