Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834)
Deutscher
Philosoph und evangelischer Theologe, der nach Privatunterricht
bei den Eltern eine Ausbildung und Erziehung am Pädagogium der Herrnhuter
Brüdergemeine und ihrem Seminar in Barby/Elbe erhielt, mit dem Ziel
Herrnhutischer Prediger zu werden. Die zensierte Beschränktheit des
Lehrplans, in dem nicht nur alle philosophischen und wissenschaftlichen
Neuerungen, sondern auch alle nicht religiös fundierte Literatur ausgeschlossen waren, stieß ihn ab. Er verließ deshalb die Gemeine und rang dem Vater
die Zustimmung zu einem Universitätsstudium der Philosophie,
der Theologie und der alten Sprachen in Halle ab. Während seiner Tätigkeit als reformierter Prediger an der Charité in Berlin
(1796-1802) kam Schleiermacher in
engeren Kontakt mit den Romantikern, insbesondere mit
Friedrich Schlegel, von denen er viele Anregungen erhielt, die in
seine - in dieser Zeit entstandenen - »Reden« und »Monologen« einflossen. Von
1802-1804 ging er als Hofprediger nach Stolpe,
1804-1807 war er als Universitätsprediger und Professor für
Theologie in Halle tätig. Nach seiner Rückkehr nach Berlin im
Jahre 1807 nahm er Beziehungen zu Wilhelm
von Humboldt auf, mit dem er die Gründung der Universität betrieb. 1810 wird er Professor an der neuen
Universität, seit 1811 Mitglied und seit 1814 Sekretär der Akademie der
Wissenschaften. 1829 konfirmierte er Bismarck. Mit Erfolg setzte Schleiermacher sich für
den königlichen Plan einer Union der evangelischen Kirchen ein. Seine
Schrift Ȇber die Religion. Reden an
die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799) ist das
wirkungsmächtige Plädoyer für eine persönliche reale
Erfahrung von Religion, die als das »unentbehrliche
Dritte« zu Denken und Handeln hinzukommen muss. Wie kein
anderer hat seine pantheistische Sichtweise des Universums die evangelische
Theologie des 19. wie des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Nicht vergessen
werden sollte Schleiermacher’s einfühlsame
Übertragung von Platon’s Werken in die deutsche Sprache. |
Inhaltsverzeichnis
Aus
dem Briefwechsel zwischen Schleiermacher und seinem Vater
Ein
Sonett Friedrich Schlegels über die »Reden«.
Über die Religion - Reden
an die Gebildeten unter ihren Verächtern
Das
Wesen der Religion gründet sich in der Anschauung und dem Gefühl des
Universums
Jede ursprüngliche
Anschauung des Universums ist Offenbarung
Religion ist auch ohne
Gott möglich
Der Mensch ist das Urbild
Gottes
Das Universum als Einheit
in der Vielheit
Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Unsterblichkeit der Religion
Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender
Vorlesungen
Aus dem
Briefwechsel zwischen Schleiermacher und seinem Vater über die Änderung
seiner Glaubensauffassung
Barby, den 21. Januar
1787
(Schleiermacher an Vater)
Zärtlich geliebter Vater! Zwar spät, aber doch
nicht minder aufrichtig, nicht minder feurig kommt diesmal mein Glückwunsch
zum neuen Jahr. Je älter man wird, bester Vater, je mehr man dem Lauf der
Dinge auf dieser Welt zusieht, desto mehr wird man überzeugt, dass
man aus Furcht, was Böses zu wünschen, lieber nichts von alle dem
wünschen soll, was man insgeheim sich und anderen zu wünschen pflegt;
alles ist unter den Umständen Glück, unter anderen Unglück; aber
Ruhe und Gelassenheit des Herzens unter allen Umständen, das ist es, was
ich Ihnen wünsche, und – was kann einem Vater wohl lieber sein als
das – Freude zu erleben an seinen Kindern. Je mehr ich Ihnen dieses, als
Ihr Sohn, aus vollem kindlichen Herzen wünsche, desto mehr Überwindung
kostet es mich, desto mehr greift es das Innerste meiner Seele an, daß
ich Ihnen gleich etwas melden soll, was Ihre Hoffnung auf die Erfüllung
dieses Wunsches so sehr wankend machen muß. Ich gestand Ihnen in meinem
letzten Briefe meine Unzufriedenheit über meine eingeschränkte
Lage, ich sagte Ihnen, wie leicht sie Religionszweifel, die bei jungen
Leuten zu unseren Zeiten so leicht entstehen, befördern könne, und
suchte Sie dadurch auf die Nachricht vorzubereiten, daß der Fall bei mir
eingetreten sei; aber ich erreichte meinen Zweck nicht. Sie glaubten mich durch
Ihre Antwort beruhigt, und ich schwieg unverantwortlicherweise sechs ganzer
Monate, weil ich es nicht übers Herz bringen konnte, Sie aus diesem Irrtum
zu reißen.
Der Glaube ist ein Regale
[Königsrecht] der Gottheit, schrieben
Sie mir. Ach, bester Vater, wenn Sie glauben, dass ohne diesen Glauben keine,
wenigstens nicht die Seligkeit in jenem, nicht die Ruhe in diesem Leben ist,
als bei demselben, und das glauben Sie ja, o so bitten
Sie Gott, daß er ihn mir schenke, denn für mich ist er jetzt verloren.
Ich kann nicht glauben, dass der ewiger wahrer Gott
war, der sich selbst nur der Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, dass
sein Tod keine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich
gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nötig gewesen;
denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit,
sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum
ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.
Ach, bester Vater, der tiefe durchdringende Schmerz, den ich beim Schreiben
dieses Briefes empfinde, hindert mich, Ihnen die Geschichte meiner Seele in
Absicht auf meine Meinungen und alle meine starken Gründe für dieselben
umständlich zu erzählen, aber ich bitte Sie inständig, halten
Sie die nicht für vorübergehende, nicht tief gewurzelte Gedanken;
fast ein Jahr haften sie bei mir, und ein langes angestrengtes Nachdenken hat
mich dazu bestimmt. Ich bitte Sie, enthalten Sie mir ihre stärksten Gründe
zur Widerlegung derselben nicht vor, aber, aufrichtig zu gestehen, glaub’ ich nicht, dass Sie mich jetzt überzeugen
werden.
So ist sie denn heraus, diese Nachricht, die Sie so sehr erschrecken muss.
Denken Sie sich ganz in meine Seele hinein bei meiner – ich kann mit gutem
Gewissen das Zeugnis geben, und ich weiß, Sie sind selbst davon überzeugt
– bei meiner sehr großen zärtlichen kindlichen Liebe zu einem
so guten Vater wie Sie, dem ich alles zu danken habe und der mich so herzlich
liebt; vielleicht können Sie sich einigermaßen vorstellen, was mich
diese Zeilen gekoste haben. Sie sind nun geschrieben mit zitternder Hand und
mit Tränen, aber ich würde sie auch jetzt noch nicht fortschicken,
wenn mich nicht meine Vorgesetzten dazu veranlasst und mir gewissermaßen
aufgetragen hätten, es Ihnen zu schreiben. Trösten Sie sich, liebster
Vater, ich weiß, Sie sind lange in der Lage gewesen, in der ich bin; Zweifel
stürmten ehemals ebenso auf Sie los, als jetzt auf mich, und doch sind
Sie noch der geworden, der Sie jetzt sind; denken Sie, hoffen Sie, glauben Sie,
dass es mir ebenso gehen könne, und seien Sie
versichert, daß ich mich, solange ich auch nicht mit ihnen eines Glaubens
bin, doch immer befleißigen werde ein rechtschaffener und nützlicher
Mensch zu werden, und das ist doch die Hauptsache. […]
Mit Wehmut küsse ich Ihnen, bester Vater, die Hände und bitte Sie,
alles von der besten Seite anzusehen und reiflich zu überlegen, und mir
noch fernerhin, so sehr es Ihnen möglich ist, Ihre väterliche, mir
unschätzbare Liebe zu schenken, als Ihrem bekümmerten, Sie innig verehrenden
Sohn. S.3ff.
Anhalt,
den 8.Februar 1787
(Antwort des Vaters)
O Du unverständiger Sohn! wer hat Dich bezaubert, daß Du der Wahrheit
nicht gehorchest? welchem Christus Jesus vor die Augen gemalet war und nun von
Dir gekreuzigt wird. Du liefest fein, wer hat Dich aufgehalten, der Wahrheit
nicht zu gehorchen? Solch Ueberreden ist nicht von dem, der Dich berufen hat;
aber ein wenig Sauerteig versäuert den ganzen Teig. Das nämliche Verderben
Deines Herzens, welches vor vier Jahren Dir bange machte, daß Du mit demselben
in der Welt werdest ganz verloren gehen, und Dich damals zur Gemeine hintrieb,
ach! davon hast Du leider noch immer etwas bei Dir geheget, das hat nun Dein
ganzes Wesen durchsäuert und treibt Dich wieder aus der Gemeine. Ach, mein
Sohn! wie tief beugst Du mich! welche Seufzer pressest Du aus meiner Seele!
und wenn Abgeschiedene einige Notiz von uns nehmen, o welch grausamer Störer
der Ruhe Deiner seligen Mutter bist Du dann jetzt, da selbst Deine Dir fremde
Stiefmutter mit mir Dich beweint.
So gehe denn in die Welt, deren Ehre Du suchst. Siehe, ob Deine Seele von ihren
Trebern kann satt werden, da sie die göttliche Erquickung verschmähet,
welche Jesus allen nach ihm dürstenden Herzen schenket. Hast Du denn nie
ein Tröpflein Balsam aus seinen Wunden gekostet? und ist das alles Trug
und Heuchelei gewesen, was Du geschrieben und zu empfinden so oft beteuerst
hast? War es aber die Wahrheit, o so wird’s mächtig an jenem Tage
wider Dich zeugen, wo Du nicht umkehrst zu Deinem ewigen Erbarmer.
Ev. Joh. Kap. 12 V.48-50. Hebr. Kap. 6, V.4-6.
Ach! in welche Verblendung hat das Verderben Deines Herzens Dich gestürzt!
Du glaubst in der Welt den Weg zu finden, um zu der Gemeine, in welcher Du warst
– (denn leider mit Deinem Herzen bist Du nicht mehr da) – wieder
zurückzukehren; und ebenso widersprechend sind Deine Einwendungen, die
Du stark nennst; ja so stark und mächtig ist der Eigendünkel und Stolz
Deines Herzens, aber nicht Deine Einwürfe, welche sogar ein Kind umzustoßen
vermag. Du wähnst, Jesus habe nie selbst gesagt,
daß er Gottes Sohn oder, welches eins ist, der wahre ewige Gott sei, da
doch der Hohepriester wegen dieses seines Bekenntnisses, welches er und alle
Juden für eine Gotteslästerung hielten, ihn zum Tode verdammte. Du
wähnst, der Mensch sei von Gott wohl zum Streben nach Vollkommenheit, aber
nicht zur Vollkommenheit selbst erschaffen; also hat Gott den Menschen im Zorn
und zu seinem ewigen Unglück geschaffen, indem er ihm eine Erkenntnis von
etwas und Streben nach etwas gegeben und eingepflanzt hat, was doch der Mensch
in alle Ewigkeit zu erreichen nicht fähig ist. Aber nicht das, was Du Vollkommenheit
nennst, sondern Gottes Verherrlichung ist der erste und letzte Zweck aller seiner
Offenbarungen und Werke; er ist die Liebe, und wer in dem Genuß seiner
Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm; dieser Spruch müsse
Dich belehren, daß Gott, da er einig ist, auch nur einen
Zweck haben könne, der nämlich, daß seine Liebe,
sein Lob und seine Verherrlichung unsre jetzige und künftige Seligkeit
werde und ewig bleibe und er allein alles in allem sei. Soll aber Gottes Verherrlichung
zugleich unsere Seligkeit sein (denn nur ein Zweck kann
stattfinden), so muß ja seine Liebe, sein Lob und seine Verherrlichung
unser einziges und ewiges Interesse werden, so daß wir daran selbst unsre
ewige Freude und die Erfüllung unsrer Wünsche in alle Ewigkeit finden.
Denn nur das kann Seligkeit uns werden, was wir selbst dafür halten und
wünschen. Soll aber die Seligkeit, die Gott in seiner Liebe uns bereitet
hat, auch das einige Objekt unsrer Wünsche und demnach auch uns wahrhafte
Seligkeit werden, so siehst du ja wohl, lieber Sohn, daß unsre Herzen
dazu erst ganz umgestimmt werden und wir aus der Vielheit in die Einheit und
von der Liebe des Fleisches und unsres Ich zu der Liebe des Liebenswürdigsten
zurückkehren müssen.
Darum nun hat Gott uns also zuvor geliebet, daß er seines eingebornen
Sohnes nicht verschonete, sondern ihn für uns dahin gab – damit,
wenn wir durch die Kraft seines Geistes das glauben können, daß sich
der wahre Gott für unsere verlorene Menschen gegeben in den Tod, dadurch
in unseren erstorbenen Herzen ein neues Leben erzeuget, ein Feuer dankbarer
Liebe, gänzlicher Ergebung und Gottes-Verherrlichung,
das ewig brennen soll, entzündet werden möge. Von diesem Glauben
nun als der Quelle solcher Liebe und Gottes-Verherrlichung habe ich Dir geschrieben,
daß sie eine Regale der Gottheit sei, und
das mit allem Recht, damit nicht und auch nicht in dem allergeringsten Teil
dem Geschöpf, sondern Gott allein die Ehre unsrer ganzen Seligkeit jetzt
und ewig gebracht werde. Denn darum hat Er alles unter dem Unglauben beschlossen,
damit Er sich aller erbarme. Ist es Dir nun, mein lieber Sohn, um diesen alleinseligmachenden
Glauben von ganzem Herzen zu tun, so suche, so erbitte ihn auf Deinen
Knien von dem großen Gott und Schöpfer, der als Mensch am Kreuz für
Dich geblutet hat, als ein pur lauteres Geschenk seiner Erbarmung; ist es dir
aber um Deine eigene Ehre zu tun, verschmähst Du
den Gott Deiner Väter und willst hingehen und fremden Göttern dienen,
nun, so wähle, was Du tun willst; ich aber und mein Haus wollen dem Herrn,
der uns erkauft hat, dienen.
Ach, mein Herz zittert unter der bangen Ahnung, daß die liebreichen Warnungen
eines für Dein Wohl zärtlich besorgten Vaters, daß meine, ja
sogar Deine eigenen Erfahrungen, ohne Frucht sein werden; denn die Verblendung
Deines Sinnes, womit es dem Gott dieser Welt leider! an Dir gelungen ist, die
ist, wie Dein Brief zeugt, schon zu groß; nur Du, mein Gott und Heiland!
Kannst diesem armen Blinden die Augen öffnen.
Ach! erbarme Dich seiner um Deines teuren Verdienstes willen und was Du schon
davon ihm selbst hast zu teil werden lassen, damit das nicht vergeblich an ihm
sein, nicht an jenem Tage wider ihn zeugen möge!
Und nun mein Sohn! den ich mit Tränen an meine beklommenes Herz drücke,
ach! mit herzzerschneidender Wehmut entlass` ich Dich und entlassen muß
ich Dich – da Du den Gott Deines Vaters nicht mehr anbetest, - nicht mehr
vor einem Altar mit ihm niederkniest, - aber noch einmal, mein Sohn, ehr wir
voneinander scheiden, - ach, sage mir doch: was hat denn der arme , sanftmütige
und von Herzen demütige Jesus Dir getan, daß Du nun seiner Erquickung,
seinem Gottes-Frieden entsagest? war Dir denn nicht wohl bei Ihm, wenn Du Deine
Not, den Jammer Deines Herzens Ihm klagtest? Und nun willst Du für die
Gottes-Langmut und Geduld, mit der Dich trug, Ihn
verleugnen? den Schwur brechen, den Du so oft vor ihm tatest: bei Dir Jesu will
ich bleiben? warum willst Du von Ihm gehen, - hast Du keine Lebens-Worte von
ihm vernommen?
Doch ich muß eilen, um Dich zu entlassen; - aber Gott allein weiß
es, mit welchem Herzen. Ach! nicht mit jenen Tränen der Freude und Herzens-Zerflossenheit,
mit welchem Du selbst vor drei Jahren der Welt entsagtest und dem Herrn und
seiner Gemeine Dich widmetest. O! diese, sowie die Tränen der Freude und
Dankbarkeit über dem, was der Herr an Dir tat, welche so oft den Augen
Deiner zärtlich-treuen Mutter entronnen – das Flehen der Gemeine,
womit sie Dich in ihren Schoß aufnahm – und dann die Tränen
der tiefsten Wehmut, die Du jetzt Deinem Vater auspressest – ach! vergiß
sie nicht mein Sohn! Laß sie Dir, wo Du auch hingehest, ein stetes Denkmal
vor Deinen Augen sein. Ist es aber möglich (und warum sollte es nicht?
denn bei Gott ist ja kein Ding unmöglich), so gib der Bitte Deines Dich
flehenden Vaters Gehör: Kehre wieder! ach, mein Sohn, kehre wieder! Menschliche
Tugend ist nicht Vollkommenheit, sondern vom Wege des Irrtums eiligst zurückkehren.
O, du Menschen-Hüter Herr Jesu! führe du selbst Dein verirrtes Schäflein
zurücke! Tue es zu Deines Namens Verherrlichung! Amen! […]
Ich kann nichts mehr hinzufügen, als daß ich mit tief gebeugtem und
beklommenen Herzen bin Dein mit der Liebe des herzlichsten Mitleids Dich lebender
Vater. S.10ff.
Ohne Datum,
vermutlich Ende Februar/Anfang März 1787
(Antwort des Sohnes)
Bester, geliebtester Vater! O, könnten Sie sich den traurigen, jammervollen
Zustand Ihres armen Sohnes recht vorstellen! Ich war schon mehr als unglücklich:
aber Ihr Brief hat meine Elend noch mehr als verdoppelt. Ich verkenne darin
keineswegs Ihr zärtliches Vaterherz, das auch noch Ihren abtrünnigen
Sohn noch liebt und alle Mittel versucht, ihn auf seinen vorigen Weg zurückzubringen.
Aber kann wohl etwas Unglückseligeres gedacht werden für einen Sohn,
der seinen Vater so innig liebt und verehrt, als diese Lage? O, wie viel bittere
Tränen sind auf ihn aus meinen Augen geflossen! wie viel schlaflose Nächte,
wie viel freudenlose Tage hat mich nicht die Erinnerung an Ihren Kummer, den
ich ebenso sehr fühle, als Sie es immer nur können, gekostet! Es martert
mich, daß ich die unglückliche Ursache davon bin, und es doch nicht
in meiner Gewalt steht, ihn zu heben. O, wie oft habe ich gewünscht, noch
eben so herzlich und fest an Ihrem Glauben hängen zu können, als vorher;
denn ich hing fest daran; was ich zu empfinden vorgab, war nicht Heuchelei,
ich empfand es wirklich; aber es war nichts als natürliche Wirkung meiner
veränderten Lage und der Neuheit der Sache.
Aber, bester Vater, ich bitte Sie um alles, sehen Sie nicht alles von der schlimmsten
Seite, suchen Sie nicht in allem das Gegenteil von dem, was Sie denken. Sie
sagen, die Verherrlichung Gottes sei der erste Zweck,
und ich, Vollkommenheit der Geschöpfe; ist dies nicht am Ende einerlei?
erwächst nicht dem Schöpfer desto mehr Verherrlichung aus seiner Schöpfung,
je vollkommener, je glücklicher seine Geschöpfe sind? Auch ich halte
ja Verherrlichung Gottes, das Bestreben, ihm immer wohlgefälliger zu werden,
für das Erste; auch ich würde mich für einen fühllosen,
unglückseligen Menschen halten, wenn ich nicht die innigste Liebe kindlicher
Dankbarkeit gegen diesen über alles guten Gott fühlte, der mir bei
allen bedauernswürdigen Zufällen, die mich jetzt treffen zu wollen
scheinen, doch so überwiegend viel Gutes erzeigt. Warum, bester Vater,
sagen Sie, ich bete nicht Ihren Gott an, ich wolle fremden Göttern dienen?
ist es nicht Ein Gott, der Sie und mich erschaffen hat und
erhält und den wir beide verehren? warum können wir nicht mehr vor
einem Altar niederknien und zu unserem gemeinschaftlichen Vater beten?
O, wie unglücklich bin ich doch! wofür sehen sie Ihren armen Sohn
an? ich habe Zweifel gegen die Versöhnungslehre und die Gottheit Christi
und Sie sehen mich an als einen Verleugner Gottes! und diese Zweifel sind noch
dazu so natürlich aus meiner Lage entstanden. Wie konnte ich aufs bloße
Wort glauben, daß an allen den Einwürfen unserer Theologen, die von
kritischen, exegetischen und philosophischen Gründen unterstützt sein
sollen, nichts gar nichts sei? wie konnte ich es vermeiden, darüber nachzudenken,
und ach, daß das Resultat meines Nachdenkens darüber so kläglich
für mich ist! Ist denn ein Widerspruch darin, daß ich Zweifel, die
offenbar durch meine Lage veranlaßt wurden, durch Veränderung derselben
zu heben hoffe und wünsche?
O, bester Vater, wüßten Sie, wie aufrichtig ich es hierin meine;
es ist nicht Lust zur Welt, was mir den Wunsch, die Gemeine zu verlassen, eingab
(der jetzt, wenn er auch nicht mein Wunsch wäre, traurige Notwendigkeit
sein würde), sondern Ueberzeugung, daß ich in derselben nie meine
Zweifel würde fahren lassen können. Denn ich kann selbst nicht untersuchen,
inwiefern neuere Einwürfe ungegründet sind, weil ich nichts dergleichen
lesen darf, und man ließ sich hier nicht einmal damit ein, mir meine eigenen
Zweifel zu widerlegen. Auch Ihre Widerlegung meiner Zweifel über die Gottheit
Christi hat mich nicht überzeugt. Es kommt ja immer darauf, was man damals
für einen Begriff mit den griechischen Worten ???? ???? verband. Daß
man wenigstens nicht immer den [Begriff] der Einheit
mit dem göttlichen Wesen meinte, sieht man daraus, daß
die Apostel diese Worte auch häufig von den Christen brauchen. Daß
der Hohepriester es für eine Gotteslästerung erklärte, kann ebenso
wenig beweisen, denn er erlaubte sich die niedrigsten Mittel, um etwas auf Christum
zu bringen.
Glauben Sie, geliebtester Vater, daß Versetzung in eine freiere Lage,
wo ich mich selbst von Grund und Ungrund der Sachen überzeugen
kann, das beste, das einzige Mittel ist, mich zurückzubringen. Lassen
Sie mich den Trost mitnehmen, daß ich noch Ihrer väterlichen Liebe
genieße, daß mich Ihr Gebet begleitet, und daß Sie von Ihrem
Sohn noch immer hoffen, daß er, wenn auch nicht zur Gemeine – denn
ich muß gestehen, in der Lehre und Einrichtung derselben ist manches,
was mir kaum je wieder gefallen wird, z. B. das Los – doch zur Gewißheit
im wahren Christentum zurückkehren wird; denn das fühle ich sehr wohl,
daß ein Zweifler nie die völlige Ruhe eines überzeugten Christen
genießen kann. […]
Erlauben sie, Ihnen ehrerbietig die Hände zu küssen und Sie nochmals
angelegentlich mit Wehmut um die Fortdauer Ihrer Liebe zu bitten Ihrem armen
bekümmerten Sohn. S.15ff.
Aus: Schleiermacher / Briefe, Verlegt bei Eugen Diederichs,
Jena 1906
Ein
Sonett Friedrich Schlegels über die »Reden«.
Es sieht der Musen Freund die offene Pforte
des großen Tempels sich auf Säulen heben.
Und wo Pilaster ruhn und Kuppeln streben,
naht er getrost dem kunstgeweihten Orte.
Drin ertönt Musik dem Frager Zauberworte,
daß er geheiligt fühlt unendliches Leben,
und muß im schönen Kreise ewig schweben,
vergißt der Fragen leicht und armer Worte.
Doch plötzlich scheint’s, als
wollten Geister gerne
den schon Geweihten höh’re Weihe zeigen,
getäuscht die Fremden lassen in der Blöße;
Der Vorhang reißt und die Musik muß
schweigen,
der Tempel auch verschwand, und in der Ferne
zeigt sich die alte Sphinx in Riesengröße.
S.47f.
Aus: Religionskundliche Quellenhefte. Herausgeben von Prof. D. H. Lietzmann
und Akademiedirektor Dr. K. Weidel
Heft 29, Schleiermacher von Dr. Karl Weidel Verlag von B. G. Teubner, Leipzig
und Berlin
Über die
Religion
Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
Das
Wesen der Religion gründet sich in der Anschauung und und dem Gefühl
des Universums
Was als das Erste und Letzte gegeben wird, ist nicht immer
das Wahre und Höchste. Wüßtet Ihr doch nur zwischen den Zeilen
zu lesen! Alle heilige Schriften sind wie die bescheidenen Bücher, welche
vor einiger Zeit in unserem bescheidenen Vaterlande gebräuchlich waren,
die unter einem dürftigen Titel wichtige Dinge abhandelten. Sie kündigen
freilich nur Metaphysik und Moral an und gehen gern am Ende in das zurück,
was sie angekündigt haben, aber Euch wird zugemutet, diese Schale zu spalten.
So liegt auch der Diamant in einer schlechten Masse gänzlich verschlossen,
aber wahrlich nicht, um verborgen zu bleiben, sondern um desto sicherer gefunden
zu werden. Proselyten zu machen aus den Ungläubigen, das liegt sehr tief
im Charakter der Religion; wer die seinige mitteilt, kann gar keinen andern
Zweck haben, und so ist es in der Tat kaum ein frommer Betrug, sondern eine
schickliche Methode, bei dem anzufangen und um das besorgt zu scheinen, wofür
der Sinn schon da ist, damit gelegentlich und unbemerkt sich das einschleiche,
wofür er erst aufgeregt werden soll. Es ist, da alle Mitteilung der Religion
nicht anders als rhetorisch sein kann, eine schlaue Gewinnung der Hörenden,
sie in so guter Gesellschaft einzuführen. Aber dieses Hilfsmittel hat seinen
Zweck nicht nur erreicht, sondern überholt, indem selbst Euch unter dieser
Hülle ihr eigentliches Wesen verborgen geblieben ist. Darum ist es Zeit,
die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen und mit dem schneidenden Gegensatz
anzuheben, in welchen sich die Religion gegen Moral und
Metaphysik befindet. Das war es, was ich wollte. Ihr habt mich mit Euerem
gemeinen Begriff gestört; er ist abgetan, hoffe ich, unterbrecht mich nun
nicht weiter.
Sie entsagt hiermit, um den Besitz ihres Eigentums anzutreten, allen Ansprüchen
auf irgend etwas, was jenen angehört, und gibt alles zurück, was man
ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu
bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft
der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden
und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder
Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie
das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig
belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher
Passivität ergreifen und erfüllen lassen. So ist sie beiden
in allem entgegengesetzt, was ihr Wesen ausmacht, und in allem, was ihre Wirkungen
charakterisiert. Jene sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt
aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach‘ alles Werdens;
sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen
das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung. Die Metaphysik geht
aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff
und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein
bestimmen, was das Universum für ihn sein kann und wie er es notwendig
erblicken muß.
Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen
Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und
so auch der Mensch gilt und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in
dieser ewigen Gärung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller
Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden. Die Moral geht vom Bewußtsein
der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern und ihr alles
un-terwürfig machen; die Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon
wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte
und seiner Personalität faßt sie den Menschen und sieht ihn aus dem
Gesichtspunkte, wo er das sein muß, was er ist, er wolle oder wolle nicht.
So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch,
daß sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich
herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche
Feld vollkommen ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet.
Sie zeigt sich Euch als das notwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden,
als ihr natürliches Gegenstück, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit,
als welches von ihnen Ihr wollt. Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne
Religion ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft
gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig
stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.
Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit,
und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner
Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen
Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen.
Auch haben die Götter von je an diesen Frevel gestraft.
Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion
ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Ohne diese, wie kann sich
die erste über den gemeinen Kreis abenteuerlicher und hergebrachter Formen
erheben, wie kann die andere etwas Besseres werden als ein steifes und mageres
Skelett? Oder warum vergißt über alles Wirken nach außen und
aufs Universum hin Euere Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst
zu bilden? Weil Ihr ihn dem Universum entgegengesetzt und ihn nicht als einen
Teil desselben und als etwas Heiliges aus der Hand der Religion empfangt. Wie
kommt sie zu der armseligen Ein-förmigkeit, die nur ein einziges Ideal
kennt und dieses überall unterlegt? Weil es Euch an dem Grundgefühl
der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannigfaltigkeit und
Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner
Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen.
Nur so kann es innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und eigen gebildet
werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen
Begriffs. Warum hat Euch die Spekulation so lange statt eines Systems
Blendwerke und statt der Gedanken Worte gegeben, warum war sie nichts
als ein leeres Spiel mit Formeln, die immer anders wiederkamen und denen
nie etwas entsprechen wollte? Weil es an Religion gebrach,
weil das Gefühl des Unendlichen sie nicht beseelte und die Sehnsucht nach
ihm und die Ehrfurcht vor ihm ihre feinen, luftigen Gedanken nicht nötigte,
eine festere Konsistenz anzunehmen, um sich gegen diesen gewaltigen Druck zu
erhalten. Vom Anschauen muß alles ausgehen, und wem die Begierde fehlt,
das Unendliche an¬zuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich
auch keinen, um zu wissen, ob er etwas Ordentliches darüber gedacht hat.
Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten
Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält und ihn einen
höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn
und mit so vollem Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten,
indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen
Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit.
Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen
Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und
Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und
tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu, wie auch er ihr
liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war er und voll heiligen
Geistes; und darum steht er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner
Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.
Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet
Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner
ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste
Formel der Religion, woraus Ihr je-den Ort in derselben finden könnt,
woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genaueste bestimmen lassen.
Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den
Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln
des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen,
zusammengefaßt und begriffen wird. Wenn die Ausflüsse des Lichtes
nicht — was ganz ohne Euere Veranstaltung ge¬schieht — Euer
Organ berührten, wenn die kleinsten Teile der Körper die Spitzen Eurer
Finger nicht mechanisch oder chemisch affizierten, wenn der Druck der Schwere
Euch nicht einen Widerstand und eine Grenze Eurer Kraft offenbarte, so würdet
Ihr nichts anschauen und nichts wahrnehmen, und was Ihr also anschaut und wahrnehmt,
ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. Was Ihr über
jene wißt oder glaubt, liegt weit jenseits des Gebiets der Anschauung.
So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen
Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die
es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes
Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren
Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so
alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung
des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinaus will
und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen, ist nicht mehr
Religion und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich
zurücksinken in leere Mythologie.
So war es Religion, wenn die Alten, die Beschränkungen der Zeit und des
Raumes vernichtend, jede eigentümliche Art des Lebens durch die ganze Welt
hin als das Werk und Reich eines allgegenwärtigen
Wesens ansahen; sie hatten eine eigentümliche
Handelsweise des Universums in ihrer Einheit angeschaut und bezeichneten
so diese Anschauung; es war Religion, wenn sie für jede hilfreiche Begebenheit,
wobei die ewigen Gesetze der Welt sich im Zufälligen auf eine einleuchtende
Art offenbarten, den Gott, dem sie angehörte, mit einem eigenen Beinamen
begabten und einen eignen Tempel ihm bauten; sie hatten eine Tat des Universums
aufgefaßt und bezeichneten so ihre Individualität und ihren Charakter.
Es war Religion, wenn sie sich über das spröde eiserne Zeitalter der
Welt voller Risse und Unebenen erhoben und das goldene wieder suchten im Olymp
unter dem lustigen Leben der Götter; so schauten sie an die immer rege,
immer lebendige und heitere Tätigkeit der Welt und ihres Geistes, jenseits
alles Wechsels und alles scheinbaren Übels, das nur aus dem Streit endlicher
Formen hervorgehet. Aber wenn sie von den Abstammungen dieser Götter eine
wunderbare Chronik halten oder wenn ein späterer Glaube uns eine
lange Reihe von Emanationen und Erzeugungen vorführt, das ist leere
Mythologie. Alle Begebenheiten in der Welt als
Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt
ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über dem Sein dieses
Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln mag in der Metaphysik
gut und nötig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie,
eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hilfsmittel der Darstellung ist,
als ob es selbst das Wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus
dem eigentümlichen Boden. Anschauung ist und bleibt immer etwas Einzelnes,
Abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden
und in ein Ganzes zusammenzustellen ist schon wieder nicht das Geschäft
des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion;
bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei
den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben
ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit
von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es
ist unter allem, was ihr begegnen kann, das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt.
Nicht nur eine einzelne Tatsache oder Handlung, die man ihre ursprüngliche
und erste nennen könnte, sondern alles ist in ihr unmittelbar und für
sich wahr. S.34ff.
[…]
Das neue Rom, das gottlose, aber konsequente, schleudert Bannstrahlen und stößt
Ketzer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Stil, war gastfrei
gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll. Die Anhänger des
toten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und
Getümmel erfüllt, die wahren Beschauer des Ewigen
waren immer ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen
oder, wenn sie sich umsahen, jedem, der das große Wort nur verstand, seine
eigne Art gern vergönnend. Mit diesem weiten Blick und diesem Gefühl
des Unendlichen sieht sie aber auch das an, was außer ihrem eigenen Gebiete
liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit
im Urteil und in der Betrachtung, welche in der Tat anderswoher nicht zu nehmen
ist. Lasset irgend etwas anders den Menschen beseelen — ich schließe
die Sittlichkeit nicht aus noch die Philosophie und berufe mich vielmehr ihretwegen
auf Eure eigne Erfahrung —, sein Denken und sein Streben, worauf es auch
gerichtet sei, zieht einen engen Kreis um ihn, in welchem sein Höchstes
eingeschlossen liegt und außer welchem ihm alles gemein und unwürdig
erscheint. Wer nur systematisch denken und nach Grundsatz und Absicht handeln
und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgrenzt unvermeidlich sich
selbst und setzt immerfort dasjenige sich entgegen zum Gegenstande des Widerwillens,
was sein Tun und Treiben nicht fördert. Nur der Trieb,
anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in
unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten
Fesseln der Meinung und der Begierde. Alles, was ist, ist für sie
notwendig, und alles, was sein kann, ist ihr ein wahres, unentbehrliches Bild
des Unendlichen; wer nur den Punkt findet, woraus seine Beziehung auf dasselbe
sich entdecken läßt. Wie verwerflich auch etwas in andern Beziehungen
oder an sich selbst sei, in dieser Rücksicht ist es immer wert zu sein
und aufbewahrt und betrachtet zu werden. Einem frommen
Gemüte macht die Religion alles heilig und wert, sogar die Unheiligkeit
und die Gemeinheit selbst, alles, was es faßt und nicht faßt, was
in dem System seiner eige¬nen Gedanken liegt und mit seiner eigentümlichen
Handelsweise übereinstimmt oder nicht; sie ist die einzige und geschworne
Feindin aller Pedanterie und aller Einseitigkeit. —
Endlich, um das allgemeine Bild der Religion zu vollenden, erinnert Euch, daß
jede Anschauung ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden ist.
Euere Organe vermitteln den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch,
derselbe Einfluß des letztern, der Euch sein Dasein offenbaret, muß
sie auf mancherlei Weise erregen und in Eurem innern Bewußtsein eine Veränderung
hervorbringen. Dieses Gefühl, das Ihr freilich oft kaum gewahr werdet,
kann in andern Fällen zu einer solchen Heftigkeit heranwachsen, daß
Ihr des Gegenstandes und Euerer selbst darüber vergeßt, Euer ganzes
Nervensystem kann so davon durchdrungen werden, daß die Sensation lange
allein herrscht und lange noch nachklingt und der Wirkung anderer Eindrücke
widersteht; aber daß ein Handeln in Euch hervorgebracht, die Selbsttätigkeit
Eures Geistes in Bewegung gesetzt wird, das werdet Ihr doch nicht den Einflüssen
äußerer Gegenstände zuschreiben? Ihr werdet doch gestehen, daß
das weit außer der Macht auch der stärksten Gefühle liege und
eine ganz andere Quelle haben müsse in Euch. So die Religion; dieselben
Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen offenbart,
bringen es auch in ein neues Verhältnis zu Eurem Gemüt und Eurem Zustand;
indem Ihr es anschauet, müßt Ihr notwendig
von mancherlei Gefühlen ergriffen werden.
Nur daß in der Religion ein anderes und festeres Verhältnis zwischen
der Anschauung und dem Gefühl stattfindet und nie jene so sehr überwiegt,
daß dieses beinahe verlöscht wird. Im Gegenteil ist es wohl ein Wunder,
wenn die ewige Welt auf die Organe unseres Geistes so wirkt wie die Sonne auf
unser Auge, wenn sie uns so blendet, daß nicht nur in dem Augenblick alles
übrige verschwindet, sondern auch noch lange nachher alle Gegenstände,
die wir betrachten, mit dem Bilde derselben bezeichnet und von ihrem Glanz übergossen
sind? So wie die besondere Art, wie das Universum sich
Euch in Euren Anschauungen darstellt, das Eigentümliche Eurer individuellen
Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad
der Religiosität. Je gesunder der Sinn, desto schärfer und
bestimmter wird er jeden Eindruck auffassen, je sehnlicher der Durst, je unaufhaltsamer
der Trieb, das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüt
selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommner
werden diese Eindrücke es durchdringen, desto leichter werden sie immer
wieder erwachen und über alle andere die Oberhand behalten. So weit geht
an dieser Seite das Gebiet der Religion, ihre Gefühle sollen uns besitzen,
wir sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen; wollt Ihr aber darüber
hinaus mit ihnen, sollen sie eigentliche Handlungen veranlassen und zu Taten
antreiben, so befindet Ihr Euch auf einem fremden Gebiet; und haltet Ihr dies
dennoch für Religion, so seid Ihr, wie vernünftig und löblich
Euer Tun auch aussehe, versunken in unheilige Superstition. Alles
eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen
Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten;
er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion.
S.45ff. […]
Jede
ursprüngliche Anschauung des Universums ist Offenbarung
Was heißt Offenbarung? Jede ursprüngliche
und neue Anschauung des Universums ist eine, und Jeder muß doch
wohl am besten wissen, was ihm ursprünglich und neu ist, und wenn etwas
von dem, was in ihm ursprünglich war, für Euch noch neu ist, so ist
seine Offenbarung auch für Euch eine, und ich will Euch raten, sie wohl
zu erwägen. Was heißt Eingebung? Es ist nur der religiöse Name
für Freiheit. Jede freie Handlung, die eine religiöse Tat wird, jedes
Wiedergeben einer religiösen Anschauung, jeder Ausdruck eines religiösen
Gefühls, der sich wirklich mitteilt, so daß auch auf andre die Anschauung
des Universums übergeht, war auf Eingebung geschehen; denn es war ein Handeln
des Universums durch den Einen auf die Andern. Jedes Antizipieren der andern
Hälfte einer religiösen Begebenheit, wenn die eine gegeben ist, ist
eine Weissagung, und es war sehr religiös von den alten Hebräern,
die Göttlichkeit eines Propheten nicht darnach abzumessen, wie schwer das
Weissagen war, sondern ganz einfältig nach dem Ausgang; denn eher kann
man nicht wissen, ob sich einer auf die Religion versteht, bis man sieht, ob
er die religiöse Ansicht grade dieses bestimmten Dinges, welches ihn affizierte,
auch richtig gefaßt hat. — Was sind Gnadenwirkungen? Alle religiösen
Gefühle sind übernatürlich, denn sie sind nur insofern religiös,
als sie durchs Universum unmittelbar gewirkt sind, und ob sie religiös
sind in Jemand, das muß er doch am besten beurteilen. Alle diese Begriffe
sind, wenn die Religion einmal Begriffe haben soll, die ersten und wesentlichsten;
sie bezeichnen auf die eigentümlichste Art das Bewußtsein eines Menschen
von seiner Religion; sie sind um so wichtiger deswegen, weil sie nicht nur etwas
bezeichnen, was allgemein sein darf in der Religion, sondern gerade dasjenige,
was allgemein sein muß in ihr. Ja, wer nicht eigne Wunder sieht auf seinem
Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in wessen Innern nicht eigene Offenbarungen
aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt, die Schönheit der Welt einzusaugen
und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden, wer nicht hie und da mit der lebendigsten
Überzeugung fühlt, daß ein göttlicher
Geist ihn treibt und daß er aus heiliger
Eingebung redet und handelt, wer sich nicht wenigstens — denn dies ist
in der Tat der geringste Grad — seiner Gefühle als unmittelbarer
Einwirkungen des Universums bewußt ist und etwas Eignes in ihnen kennt,
was nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren reinen Ursprung aus seinem Innersten
verbürgt, der hat keine Religion. Glauben, was man gemeinhin so
nennt, annehmen, was ein Anderer getan hat, nachdenken und nachfühlen wollen,
was ein Anderer gedacht und gefühlt hat, ist ein harter und unwürdiger
Dienst, und statt das Höchste in der Religion zu sein, wie man wähnt,
muß er grade abgelegt werden, von Jedem, der in ihr Heiligtum dringen
will. Ihn haben und behalten wollen beweiset, daß man der Religion unfähig
ist; ihn von andern fordern zeigt, daß man sie nicht versteht. Ihr wollt
überall auf Euren eignen Füßen stehn und Euren eignen Weg gehn,
aber dieser würdige Wille schrecke Euch nicht zurück von der Religion.
Sie ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch
selbst angehören, ja dies ist sogar die einzige Bedingung, unter welcher
Ihr ihrer teilhaftig werden könnt. Jeder Mensch, wenige Auserwählte
ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers, der seinen
Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung
gebe, aber dies soll nur ein vorübergehender Zustand sein; mit eignen Augen
soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zutage fördern zu den Schätzen
der Religion, sonst verdient er keinen Platz in ihrem Reich und erhält
auch keinen. Ihr habt recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die
ihre Religion ganz von einem Andern ableiten oder an einer toten Schrift hängen,
auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein
Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war,
der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er
einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher
Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift
glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.
Und ebendiese Eure Verachtung gegen die armseligen und kraftlosen Verehrer der
Religion, in denen sie aus Mangel an Nahrung vor der Geburt schon gestorben
ist, ebendiese beweiset mir, daß in Euch selbst eine Anlage ist zur Religion,
und die Achtung, die Ihr allen ihren wahren Helden immer erzeiget, wie sehr
Ihr Euch auch auflehnt gegen die Art, wie sie gemißbraucht und durch Götzendienst
geschändet worden, bestätigt mich in dieser Meinung. — Ich habe
Euch gezeigt, was eigentlich Religion ist, habt Ihr irgend etwas darin gefunden,
was Eurer und der höchsten menschlichen Bildung unwürdig wäre?
Müßt Ihr Euch nicht nach den ewigen Gesetzen
der geistigen Natur um so ängstlicher nach dem Universum sehnen und nach
einer selbstgewirkten Vereinigung mit ihm streben, je mehr ihr durch die bestimmteste
Bildung und Individualität in ihm gesondert und isoliert seid, und habt
Ihr nicht oft diese heilige Sehnsucht als etwas Unbekanntes gefühlt? Werdet
Euch doch, ich beschwöre Euch, des Rufs Eurer innersten Natur bewußt,
und folgt ihm. Verbannet die falsche Scham vor einem Zeitalter, welches nicht
Euch bestimmen, sondern von Euch bestimmt und gemacht werden soll! Kehret zu
demjenigen zurück, was Euch, gerade Euch, so nahe liegt und wovon die gewaltsame
Trennung doch unfehlbar den schönsten Teil Eurer Existenz zerstört.
Religion
ist auch ohne Gott möglich
Es scheint mir aber, als ob Viele unter Euch nicht glaubten, daß ich mein
gegenwärtiges Geschäft hier könne endigen wollen, als ob Ihr
dennoch der Meinung wäret, es könne vom Wesen der Religion nicht gründlich
geredet worden sein, wo von der Unsterblichkeit gar nicht und von der Gottheit
so gut als nichts gesagt worden ist. Erinnert Euch doch, ich bitte Euch, wie
ich mich von Anfang an dagegen erklärt habe, daß dies nicht die Angel
und Hauptstücke der Religion seien; erinnert Euch, daß, als ich die
Umrisse derselben zeichnete, ich auch den Weg angedeutet habe, auf welchem die
Gottheit zu finden ist; was verliert Ihr also noch, und warum soll ich einer
religiösen Anschauungsart mehr tun als den übrigen? Damit Ihr aber
nicht denket, ich fürchte mich, ein ordentliches Wort über die Gottheit
zu sagen, weil es gefährlich werden will, davon zu reden, bevor eine zu
Recht und Gericht beständige Definition von Gott
und Dasein ans Licht gebracht
und im deutschen Reich sanktioniert worden ist, oder damit ihr nicht auf der
andern Seite glaubt, ich spiele einen frommen Betrug und wolle, um Allen Alles
zu werden, mit scheinbarer Gleichgültigkeit dasjenige herabsetzen, was
für mich von ungleich größerer Wichtigkeit sein muß, als
ich gestehen will, so will ich Euch noch einen Augenblick Rede stehen und Euch
deutlich zu machen suchen, daß für mich die Gottheit nichts anders
sein kann als eine einzelne religiöse Anschauungsart, von der, wie von
jeder andern, die übrigen unabhängig sind, und daß auf meinem
Standpunkt und nach meinen Euch bekannten Begriffen der Glaube: »kein
Gott, keine Religion«, gar nicht stattfinden kann, und auch von der Unsterblichkeit
will ich Euch unverhohlen meine Meinung sagen.
Der Mensch ist das Urbild Gottes
Zuerst saget mir doch, was meinen sie von der Gottheit
und was wollt Ihr damit meinen, denn jene rechtskräftige Definition ist
doch noch nicht vorhanden, und es liegt am Tage, daß die größten
Verschiedenheiten darüber statthaben. Den mehrsten ist offenbar Gott nichts
anderes als der Genius der Menschheit. Der Mensch ist das Urbild ihres
Gottes, die Menschheit ist ihr alles, und nach demjenigen, was sie
für ihre Ereignisse und Führungen halten, bestimmen sie die
Gesinnungen und das Wesen ihres Gottes. Nun aber habe ich Euch deutlich
genug gesagt, daß die Menschheit nicht mein Alles ist, daß meine
Religion nach einem Universum strebt, wovon sie mit allem was ihr angehört,
nur ein unendlich kleiner Teil, nur eine einzelne vergängliche Form ist:
kann also ein Gott, der nur der Genius der Menschheit wäre, das höchste
meiner Religion sein? Es mag dichterischere Gemüter geben, und
ich gestehe ich glaube, daß diese höher stehen, denen Gott ein von
der Menschheit gänzlich unterschiedenes Individuum, ein einziges Exemplar
einer eigenen Gattung ist, und wenn sie mir die Offenbarungen zeigen, durch
welche sie einen solchen Gott kennen - einen oder mehrere, ich verachte in der
Religion nichts so sehr als die Zahl - so soll er mir eine erwünschte Entdeckung
sein, und gewiß werden sich aus dieser Offenbarung in mir mehrere entwickeln;
aber ich strebe nach noch mehr Gattungen außer und über der Menschheit
als nach einer, und jede Gattung mit ihrem Individuum ist dem Universum untergeordnet:
kann also Gott in diesem Sinne für mich etwas anders sein als eine einzelne
Anschauung? Doch dies mögen nur unvollständige
Begriffe von Gott sein, laßt uns gleich zu dem höchsten gehen, zu
dem von einem höchsten Wesen, von einem Geist des Universums, der es mit
Freiheit und Verstand regiert, so ist doch auch von dieser Idee die Religion
nicht abhängig. Religion haben, heißt das Universum anschauen, und
auf der Art, wie Ihr es anschauet, auf dem Prinzip, welches Ihr in seinen Handlungen
findet, beruht der Wert Eurer Religion. Wenn Ihr nun nicht leugnen könnt,
daß sich die Idee von Gott zu jeder Anschauung des Universums bequemt,
so müßt Ihr auch zugeben, daß eine Religion ohne Gott
besser sein kann, als ein andre mit Gott.
Das
Universum als Einheit in der Vielheit
Das Universum stellt sich in seinen Handlungen dem rohen Menschen, der nur eine
verwirrte Idee vom Ganzen und Unendlichen hat und nur einen dunkeln Instinkt,
als eine Einheit dar, in der nichts Mannigfaltiges zu unterscheiden ist, als
ein Chaos, gleichförmig in der Verwirrung, ohne Abteilung, Ordnung und
Gesetz, woraus nichts Einzelnes gesondert werden kann, als indem es willkürlich
abgeschnitten wird in Zeit und Raum. Ohne den Drang, es zu beseelen, repräsentiert
ihm ein blindes Geschick den Charakter des Ganzen; mit diesem Drang wird sein
Gott ein Wesen ohne bestimmte Eigenschaften, ein Götze, ein Fetisch, und
wenn er mehrere annimmt, so sind sie durch nichts zu unterscheiden als durch
die willkürlich gesetzten Grenzen ihres Gebiets. Auf einer andern Stufe
der Bildung stellt sich das Universum dar als eine Vielheit ohne Einheit, als
ein unbestimmtes Mannigfaltiges heterogener Elemente und Kräfte, deren
beständiger und ewiger Streit seine Erscheinungen bestimmt. Nicht ein blindes
Geschick bezeichnet seinen Charakter, sondern eine motivierte Notwendigkeit,
in welcher die Aufgabe liegt, nach Grund und Zusammenhang zu forschen, mit dem
Bewußtsein, ihn nie finden zu können. Wird zu diesem Universum die
Idee eines Gottes gebracht, so zerfällt sie natürlich in unendlich
viele Teile, jede dieser Kräfte und Elemente, in denen keine Einheit ist,
wird besonders beseelt, Götter entstehen in unendlicher Anzahl, unterscheidbar
durch verschiedene Objekte ihrer Tätigkeit, durch verschiedene Neigungen
und Gesinnungen. Ihr müßt zugeben, daß diese Anschauung des
Universums unendlich würdiger ist als jene, werdet Ihr nicht auch gestehen
müssen, daß derjenige, der sich bis zu ihr erhoben hat, aber sich
ohne die Idee von Göttern vor der ewigen und unerreichbaren Notwendigkeit
beugt, dennoch mehr Religion hat als der rohe Anbeter eines Fetisches? Nun laßt
uns höher steigen, dahin, wo alles Streitende sich wieder vereinigt, wo
das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System
darstellt und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut
als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben als
der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza ebensoweit über einem
frommen Römer stehen als Lukrez über einem Götzendiener? Aber
das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß
sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf
einem andern Punkt derselben! welche von diesen Anschauungen des Universums
ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum,
das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner
Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Phantasie.
In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich
handelnd auf den Menschen. Hängt nun Eure Phantasie an dem Bewußtsein
Eurer Freiheit, so daß sie es nicht überwinden kann, dasjenige, was
sie als ursprünglich wirkend denken soll, anders als in der Form eines
freien Wesens zu denken, wohl, so wird sie den Geist des Universums personifizieren,
und Ihr werdet einen Gott haben; hängt sie am Verstande, so daß es
Euch immer klar vor Augen steht, Freiheit habe nur Sinn im Einzelnen und fürs
Einzelne, wohl, so werdet Ihr eine Welt haben und keinen Gott. Ihr, hoffe ich,
werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt
von der Richtung der Phantasie; Ihr werdet wissen, daß Phantasie das Höchste
und Ursprünglichste ist im Menschen und außer ihr alles nur Reflexion
über sie; Ihr werdet es wissen, daß Eure Phantasie es ist, welche
für Euch die Welt erschafft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt
ohne Welt. Auch wird er dadurch niemanden ungewisser werden, noch wird sich
jemand von der fast unabänderlichen Notwendigkeit, ihn anzunehmen, um desto
besser losmachen, weil er darum weiß, woher ihm diese Notwendigkeit kommt.
In der Religion also steht die Idee von Gott nicht so hoch, als Ihr meint, auch
gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie Eiferer, Enthusiasten oder
Schwärmer für das Dasein Gottes; mit großer Gelassenheit haben
sie das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehn, und es hat immer etwas
gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses. Auch
Gott kann in der Religion nicht anders vorkommen als handelnd, und göttliches
Leben und Handeln des Universums hat noch niemand geleugnet, und mit dem seienden
und gebietenden Gott hat sie nichts zu schaffen, so wie ihr Gott den
Physikern und Moralisten nichts frommt, deren traurige Mißverständnisse
dies eben sind und immer sein werden. Der handelnde Gott der Religion kann aber
unsere Glückseligkeit nicht verbürgen; denn ein freies Wesen kann
nicht anders wirken wollen auf ein freies Wesen, als nur, daß es sich
ihm zu erkennen gebe, einerlei ob durch Schmerz oder Lust. Auch kann er uns
zur Sittlichkeit nicht reizen, denn er wird nicht anders betrachtet als handelnd,
und auf unsre Sittlichkeit kann nicht gehandelt, und kein Handeln auf sie kann
gedacht werden.
Sehnsucht
nach Unsterblichkeit
Was aber die Unsterblichkeit betrifft, so kann ich nicht bergen, die Art, wie
die meisten Menschen sie nehmen, und ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös,
dem Geist der Religion gerade zuwider, ihr Wunsch hat keinen andern Grund als
die Abneigung gegen das, was das Ziel der Religion ist. Erinnert Euch, wie in
ihr alles darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittnen Umrisse unsrer
Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen
ins Unendliche, daß wir durch das Anschauen des Universums soviel als
möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber sträuben sich gegen das
Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst und
sind ängstlich besorgt um ihre Individualität. Erinnert Euch, wie
es das höchste Ziel der Religion war, ein Universum jenseits und über
der Menschheit zu entdecken, und ihre einzige Klage, daß es damit nicht
recht gelingen will auf dieser Welt; Jene aber wollen nicht einmal die einzige
Gelegenheit ergreifen, die ihnen der Tod darbietet, um über die Menschheit
hinauszukommen; sie sind bange, wie sie sie mitnehmen werden jenseits dieser
Welt, und streben höchstens nach weiteren Augen und besseren Gliedmaßen.
Aber das Universum spricht zu ihnen, wie geschrieben steht: wer sein Leben verliert
um meinetwillen, der wird es erhalten, und wer es erhalten will, der wird es
verlieren. Das Leben, was sie erhalten wollen, ist ein erbärmliches, denn
wenn es ihnen um die Ewigkeit ihrer Person zu tun ist, warum kümmern sie
sich nicht ebenso ängstlich um das, was sie gewesen sind, als um das, was
sie sein werden, und was hilft ihnen das Vorwärts, wenn sie doch nicht
rückwärts können? Über die Sucht nach einer Unsterblichkeit,
die keine ist, und über die sie nicht Herren sind, verlieren sie die, welche
sie haben könnten und das sterbliche Leben dazu mit Gedanken, die sie vergeblich
ängstigen und quälen. Versucht doch aus Liebe zum Universum, Euer
Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier, Eure Individualität zu vernichten
und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach, mehr zu sein als Ihr selbst,
damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert; und wenn Ihr so mit dem Universum,
soviel Ihr hier davon findet, zusammengeflossen seid und eine größere
und heiligere Sehnsucht in Euch entstanden ist, dann wollen wir weiterreden
über die Hoffnungen, die uns der Tod gibt, und über die Unendlichkeit,
zu der wir uns durch ihn unfehlbar emporschwingen.
Unsterblichkeit
der Religion
Das ist meine Gesinnung über diese Gegenstände.
Gott ist nicht Alles in der Religion, sondern Eins, und das Universum ist mehr;
auch könnt Ihr ihm nicht glauben willkürlich oder weil Ihr ihn brauchen
wollt zu Trost und Hülfe, sondern weil ihr müßt. Die
Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen
ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem
Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der
Religion.
Aus: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion,
Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Mit einem Nachwort von
Carl Heinz Ratschow
Reclams Universalbibliothek Nr. 8313 (S. 79-89) © 1969 Philipp Reclam jun.,
Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlags
Kurze
Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen
Gliederung
Einleitung
§§ 1-8 Begriff
der Theologie.
§§ 9-13 Theorie
und Praxis in der Theologie.
§§ 14-17
Theologische Bildungsziele.
§§ 18-20
Begriff der theologischen Enzyklopädie.
§§ 21-23
Theologie und Philosophie.
§§ 24-31
Gliederung der Theologie.
I. Philosophische Theologie.
Einleitung.
§§ 32-42
Die Grundprobleme der philosophischen Theologie: Bestimmung des Wesens des Christentums
(Apologetik) n. Kritik seiner empirischen Trübungen (Polemik).
A. Grundsätze der Apologetik.
§§ 43-48
Die Grundbegriffe der Apologetik.
§§ 49-53
Zur Methode der Apologetik.
B. Grundsätze der Polemik
§§ 54-58 Die Grundbegriffe
der Polemik.
§§ 59-62 Zur Methode
der Polemik.
§§ 63-68 Schlussbetrachtungen
zur philosophischen Theologie.
II. Historische Theologie.
Einleitung.
§§ 69-70 Begriff
der historischen Theologie.
§§ 71-80 Geschichtsphilosophische
Grundbegriffe (Epochen n. Perioden).
§§ 81-85 Gliederung
der historischenTheologie.
§§ 86-102 Methodische
Vorbemerkungen in Bezug auf die Hauptzweige der historischen Theologie.
A. Exegese.
§§ 103-109 Umfang
und Begriff des Kanons.
§§ 110-124 Über
höhere und niedere Kritik.
§§ 125-131 Über
die sprachlichen Grundlagen der Bibelwissenschaft.
§§ 132-139 Idee und
Prinzipien der biblischen Hermeneutik.
§§ 140-148 Allgemeine
Schlussbemerkungen.
B. Kirchengeschichte.
§§ 149-159 Die allgemeinen
Prinzipien der Geschichtswissenschaft.
§§ 160-165 Die allgemeine
Aufgabe der Kirchengeschichte.
§§ 166-176 Die Außenseite
der Kirchengeschichte (Kirchengeschichte im engeren Sinne; Verfassungsgeschichte).
§§ 177-183 Die Innenseite
der Kirchengeschichte (Dogmengeschichte).
§§ 184-194 Zur Methode
des kirchenhistorischen Studiums.
C. Dogmatik und Statistik
§ 195 Einleitung.
1. Dogmatik
§§ 196-202 Begriff
und Aufgabe der Dogmatik
§§ 203-208 Orthodoxie
und Heterodogie.
§§ 209-212 Der kirchliche
Charakter der Dogmatik.
§§ 213-217 Der wissenschaftliche
Charakter der Dogmatik.
§§ 218-222 Zur Methode
des dogmatischen Studiums.
§§ 223-231 Glaubens-
und Sittenlehre.
2. Statistik.
§§ 232-241 Begriff
und Aufgabe der Statistik.
§§ 242-248 Zur Methode
des statistischen Studiums.
§§ 249-250 Folgerungen.
§§ 251-256 Schlussbetrachtungen
zur historischen Theologie.
III. Praktische Theologie.
§§ 257-266 Die Grundprobleme
der praktischen Theologie.
§§ 267-276 Disposition
der praktischen Theologie.
A. Kirchendienst.
§§ 277-279 Gliederung
des Kirchendienstes.
§§ 280-289 Die erbauende
Tätigkeit.
§§ 290-306 Die leitende
Tätigkeit.
§§ 291-302 Seelsorge.
§§ 303-306 Organisation
des Gemeindelebens.
§§ 307-308 Epilog.
B. Kirchenregiment.
§§ 309-314 Prolegomena.
Die kirchliche Autorität
§§ 315-317 Kirchendienst.
§§ 318-327 Kirchengesetzgebung.
Die freie Geistesmacht.
§§ 328-329 Einleitung.
§§ 330-331 Der akademische
Lehrer.
§§ 332-334 Der theologische
Schriftsteller.
§§ 335-338 Schlussbetrachtungen
zur praktischen Theologie.
Einleitung
Begriff
der Theologie (§§ 1-8)
§ 1.
Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist
eine positive Wissenschaft; deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch
ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte
Gestaltung des Gottesbewusstseins; die der christlichen also durch die Beziehung
auf das Christentum.
Eine
positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff
wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben,
als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil
der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur Lösung
einer praktischen Aufgabe erforderlich sind. - Wenn man aber ehedem eine rationale
Theologie in der wissenschaftlichen Organisation mit aufgeführt hat: so
bezieht sich zwar diese auch auf den Gott unseres Gottesbewusstseins, ist aber
als spekulative Wissenschaft von unserer Theologie gänzlich verschieden.
§ 2. Jeder bestimmten Glaubensweise
wird sich in dem Maß, als sie sich mehr durch Vorstellungen, als durch
symbolische Handlungen mitteilt, und als sie zugleich geschichtliche Bedeutung
und Selbständigkeit gewinnt, eine Theologie anbilden, die aber für
jede Glaubensweise, weil mit der Eigentümlichkeit derselben zusammenhängend,
sowohl der Form als dem Inhalt nach, eine andere sein kann.
Nur
in dem Maße, weil in einer Gemeinschaft von geringem Umfang kein Bedürfnis
einer eigentlichen Theologie entsteht, und weil bei einem Übergewicht symbolischer
Handlungen die rituale Technik, welche die Deutung derselben enthält, nicht
leicht den Namen einer Wissenschaft verdient.
§ 3. Die
Theologie eignet nicht allen, welche und sofern sie zu einer bestimmten Kirche
gehören, sondern nur dann sofern sie an der Kirchenleitung teilhaben; so
dass der Gegensatz zwischen solchen und der Masse und das Hervortreten der Theologie
sich gegenseitig bedingen.
Der Ausdruck Kirchen
leitung ist hier im weitesten Sinne zu nehmen, ohne dass an
irgendeine bestimmte Form zu denken wäre.
§ 4. Je
mehr sich die Kirche fortschreitend entwickelt, und über je mehr Sprach-
und Bildungsgebiete sie sich verbreitet, um desto vielteiliger organisiert sich
auch die Theologie; weshalb denn die christliche die ausgebildetste ist.
Denn je mehr beides der Fall
ist, um desto mehr Differenzen, sowohl der Vorstellung, als der Lebensweise,
hat die Theologie zusammenzufassen, und auf desto mannigfaltigeres Geschichtliche
zurückzugehen.
§ 5. Die
christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen
Kenntnisse und ..Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende
Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht
möglich ist.
Dieses nämlich ist die
in § 1 aufgestellte Beziehung; denn der christliche Glaube an und für
sich bedarf eines solchen Apparates nicht, weder zu seiner Wirksamkeit in der
einzelnen Seele, noch auch in den Verhältnissen des geselligen Familienlebens.
§ 6. Dieselben
Kenntnisse wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen
werden, hören. auf theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft
anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.
Diese Wissenschaften sind
dann der Natur der Sache nach die Sprachkunde und Geschichtskunde, die Seelenlehre
und Sittenlehre, nebst den von dieser ausgehenden Disziplinen der allgemeinen
Kunstlehre und der Religionsphilosophie.
§ 7. Vermöge
dieser Beziehung verhält sich die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse zu dem
Willen, bei der Leitung der Kirche wirksam zu sein, wie der Leib zur Seele.
Ohne diesen Willen geht die
Einheit der Theologie verloren, und ihre Teile zerfallen in die verschiedenen
Elemente.
§ 8. Wie
aber nur durch das Interesse am Christentum jene verschiedenartigen Kenntnisse
zu einem solchen Ganzen verknüpft werden: so kann auch das Interesse am
Christentum nur durch Aneignung jener Kenntnisse sich in einer zweckmäßigen
Tätigkeit äußern.
Eine Kirchenleitung kann zufolge
§ 2 nur von einem sehr entwickelten geschichtlichen Bewusstsein ausgehen,
aber auch nur durch ein klares Wissen um die Verhältnisse der religiösen
Zustände zu allen übrigen recht gedeihlich werden.
Theorie
und Praxis in der Theologie (§§
9-13)
§ 9.
Denkt man sich religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist im höchsten
Grade und im möglichsten Gleichgewicht für Theorie und Ausübung
vereint: so ist dies die Idee eines Kirchenfürsten.
Diese Benennung für das
theologische Ideal ist freilich nur angemessen, wenn die Ungleichheit unter
den Mitgliedern der Kirche groß ist, und zugleich ein Einfluss auf eine
große Region der Kirche möglich. Sie scheint aber passender, als
der schon für einen besonderen Kreis gestempelte Ausdruck Kirchenvater,
und schließt übrigens nicht im mindesten die Erinnerung an ein amtliches
Verhältnis in sich.
§ 10.
Denkt man sich das Gleichgewicht aufgehoben: so ist derjenige, welcher mehr
das Wissen um das Christentum in sich ausgebildet hat, ein Theologe im engeren
Sinn; derjenige hingegen, welcher mehr die Tätigkeit für das Kirchenregiment
in sich ausbildet, ein Kleriker.
Diese natürliche Sonderung
tritt bald mehr, bald weniger äußerlich hervor; je mehr aber, um
desto weniger kann die Kirche ohne eine lebendige Wechselwirkung zwischen beiden
bestehen. - Übrigens wird im weiteren Verfolg der Ausdruck Theologe in
der Regel in dem weiteren, beide Richtungen umfassenden Sinne genommen.
§ 11. Jedes
Handeln mit theologischen Kenntnissen als solchen, von welcher Art es auch sei,
gehört immer in das Gebiet der Kirchenleitung; und wie auch über die
Tätigkeit in der Kirchenleitung, sei es mehr konstruierend oder mehr regelgebend,
gedacht werde, so gehört diese Denken immer in das Gebiet des Theologen
im engeren Sinn.
Auch die wissenschaftliche
Wirksamkeit des Theologen muss auf die Förderung des Wohles der Kirche
abzwecken, und ist also klerikalisch; und alle technischen Vorschriften auch
über die eigentlich klerika¬lischen Tätigkeiten gehören in
den Kreis der theologischen Wissenschaften.
§ 12. Wenn
demzufolge alle wahren Theologen an der Kirchenleitung teilnehmen, und alle,
die in dem Kirchenregiment wirksam sind, auch in der Theologie leben, so muss
ungeachtet der einseitigen Richtung beider doch beides, kirchliches Interesse
und wissenschaftlicher Geist, in jedem vereint sein.
Denn wie im entgegengesetzten
Falle der Gelehrte kein Theologe mehr wäre, sondern nur theologische Elemente
in dem Geist ihrer besonderen Wissenschaft bearbeitete: so wäre auch die
Tätigkeit des Klerikers keine kunstgerechte oder auch nur besonnene Leitung,
sondern lediglich eine verworrene Einwirkung.
§ 13. Jeder,
der sich zur leitenden Tätigkeit in der Kirche berufen findet, bestimmt
sich seine Wirkungsart nach Maßgabe, wie eines von jenen beiden Elementen
in ihm überwiegt.
Ohne einen solchen inneren
Beruf ist niemand in Wahrheit weder Theologe noch Kleriker; aber keine von beiden
Wirkungsarten hängt irgend davon ab, dass das Kirchenregiment die Basis
eines besonderen bürgerlichen Standes ist.
Theologische
Bildungsziele (§§
14-17)
§ 14. Niemand
kann die theologischen Kenntnisse in ihrem ganzen Umfange vollständig innehaben,
teils weil jede Disziplin im einzelnen ins Unendliche entwickelt werden kann,
teils weil die Verschiedenheit der Disziplinen eine Mannigfaltigkeit von Talenten
erfordert, welche einer nicht leicht in gleichem Grade besitzt.
Jene Entwicklungsfähigkeit
zur unendlichen Vereinzelung gilt sowohl von allem, was geschichtlich ist und
mit Geschichtlichem zusammenhängt, als auch von allen Kunstregeln in Bezug
auf die Mannigfaltigkeit der Fälle, welche vorkommen können.
§ 15. Wollte
sich jedoch deshalb jeder gänzlich, auf Einen Teil der Theologie beschränken:
so wäre das Ganze weder in einem, noch in allen zusammen.
Letzteres nicht, weil bei
einer solchen Art von Verteilung kein Zusammenwirken der einzelnen von verschiedenen
Fächern, ja streng genommen auch nicht einmal eine Mitteilung unter ihnen
stattfinden könnte.
§ 16. Daher
ist, die Grundzüge aller theologischen Disziplinen inne zu haben, die Bedingung,
unter welcher auch nur eine einzelne derselben in theologischem Sinn und Geist
kann behandelt werden.
Denn nur so, wenn jeder neben
seiner besonderen Disziplin auch das Ganze auf allgemeine Weise umfasst, kann
Mitteilung zwischen allen und jedem stattfinden, und nur so jeder vermittelst
seiner Hauptdisziplin eine Wirksamkeit auf das Ganze ausüben.
§ 17. Ob
jemand eine einzelne Disziplin, und was für eine, zur Vollkommenheit zu
bringen strebt, das wird bestimmt vornehmlich durch die Eigentümlichkeit
seines Talentes, zum Teil aber auch durch seine Vorstellung von dem dermaligen
Bedürfnis der Kirche.
Der glückliche Fortgang
der Theologie überhaupt hängt großenteils davon ab, dass sich
zu jeder Zeit ausgezeichnete Talente für dasjenige finden, dessen Fortbildung
am meisten Not tut. Immer aber können diejenigen am vielseitigsten wirksam
sein, welche die meisten Disziplinen in einer gewissen Gleichmäßigkeit
umfassen, ohne in einer einzelnen eine besondere Virtuosität anzustreben;
wogegen diejenigen, die sich nur einem Teile widmen, am meisten als Gelehrte
leisten können.
Begriff
der theologischen Enzyklopädie (§§
18-20)
§ 18. Unerlässlich
ist daher jedem Theologen zuerst eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang
der verschie¬denen Teile der Theologie unter sich, und dem eigentümlichen
Wert eines jeden für den gemeinsamen Zweck. Demnächst .Kenntnis von
der innern Organisation jeder Disziplin und denjenigen Hauptstücken derselben,
welche das Wesentlichste sind für den ganzen Zusammenhang. Ferner Bekanntschaft
mit den Hilfsmitteln, um sich jede jedes Mal erforderliche Kenntnis sofort zu
verschaffen. Endlich Übung und Sicherheit in der Anwendung der notwendigen
Vorsichtsichtsmaßregeln, um dasjenige aufs beste und richtigste zu benutzen,
was andere geleistet haben.
Die beiden ersten Punkte werden
häufig unter dem Titel theologische Enzyklopädie verbunden, auch wohl
noch der dritte, nämlich die theologische Bücherkunde, in dieselbe
Pragmatie hineingezogen. Der vierte ist ein Teil der kritischen Kunst, welcher
nicht als Disziplin ausge¬arbeitet ist, und über welchen sich überhaupt
nur wenige Regeln mitteilen lassen, so dass er fast nur durch natürliche
Anlage und Übung erworben werden kann.
§ 19. Jeder,
der sich eine einzelne Disziplin in ihrer Vollständigkeit aneignen will,
muss sich die Reinigung und Ergänzung dessen, was in ihr schon geleistet
ist, zum Ziel setzen.
Ohne ein solches Bestreben
wäre er auch bei der vollständigsten Kenntnis doch nur ein Träger
der Überlieferung, welches die am meisten untergeordnete und am wenigsten
bedeutende Tätigkeit ist.
§ 20. Die
enzyklopädische Darstellung, welche hier gegeben werden soll, bezieht sich
nur auf das erste von den oben (§ 18) nachgewiesenen allgemeinen Erfordernissen;
nur dass sie zugleich die einzelnen Disziplinen auf dieselbe Weise behandelt,
wie das Ganze.
Eine solche Darstellung pflegt
man eine formale Enzyklopädie zu nennen; wogegen diejenigen, welche materielle
genannt werden, mehr von dem Hauptinhalt der einzelnen Disziplinen einen kurzen
Abriss geben, mit der Darstellung ihrer Organisation aber es weniger genau nehmen.
- Insofern die Enzyklopädie ihrer Natur nach die erste Einleitung in das
theologische Studium ist, gehört allerdings dazu auch die Technik der Ordnung,
nach welcher bei diesem Studium zu verfahren ist, oder was man gewöhnlich
Methodologie nennt. Allein was sich hievon nicht von selbst aus der Darstellung
des inneren Zusammenhanges ergibt, das ist bei dem Zustand unserer Lehranstalten
sowohl, als unserer Literatur, zu sehr von Zufälligkeiten abhängig,
als dass es lohnen könnte, auch nur einen besonderen Teil unserer Disziplin
daraus zu bilden.
Theologie
und Philosophie (§§
21-23)
§ 21. Es gibt kein Wissen
um das Christentum, wenn man, anstatt sowohl das Wesen desselben in seinem Gegensatz
gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit
und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten
des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Auffassung
begnügt.
Dass das Wesen des Christentums mit
einer Geschichte zusammenhängt, bestimmt nur die Art dieses Verstehens
näher, kann aber der Aufgabe selbst keinen Eintrag tun.
§ 22. Wenn fromme Gemeinschaften
nicht als Verirrungen angesehen werden sollen: so muss das Bestehen solcher
Vereine als ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges
Element nachgewiesen werden können.
Das erste ist noch neuerlich in den
Betrachtungen über das Wesen des Protestantismus geschehen. Die Frömmigkeit
selbst ebenso ansehen ist der eigentliche Atheismus.
§ 23. Die weitere Entwicklung
des Begriffs frommer Gemeinschaften muss auch ergeben, auf welche Weise und
in welchem Maße die eine von der andern verschieden sein kann, imgleichen,
wie sich auf diese Differenzen das Eigentümliche der geschichtlich gegebenen
Glaubensgenossenschaften bezieht. Und hiezu ist der Ort in der Religionsphilosophie.
Der letztere Name, in diesem freilich
noch nicht ganz gewöhnlichen Sinne gebraucht, bezeichnet eine Disziplin,
welche sich in Bezug auf die Idee der Kirche zur Ethik ebenso verhält,
wie eine andere, die sich auf die Idee des Staates, und noch eine andere, die
sich auf die Idee der Kunst bezieht.
Gliederung
der Theologie (§§
24-31)
§ 24. Alles, was dazu gehört,
um von diesen Grundlagen aus sowohl das Wesen des Christentums, wodurch es eine
eigentümliche Glaubensweise ist, zur Darstellung zu bringen, als auch die
Form der christlichen Gemeinschaft und zugleich die Art, wie beides sich wieder
teilt und differentiiert, dieses alles zusammen bildet den Teil der christlichen
Theologie, welchen wir die philosophische Theologie
nennen.
Die Benennung rechtfertigt sich teils
aus dem Zusammenhang der Aufgabe mit der Ethik, teils aus der Beschaffenheit
ihres Inhaltes, indem sie es großenteils mit Begriffsbestimmungen zu tun
hat. - Eine solche Disziplin ist aber als Einheit noch nicht aufgestellt oder
anerkannt, weil das Bedürfnis derselben, so wie sie hier gefasst ist, erst
aus der Aufgabe, die theologischen Wissenschaften zu organisieren, entsteht.
Der Stoff derselben ist aber schon in ziemlicher Vollständigkeit be¬arbeitet
zufolge praktischer Bedürfnisse, welche aus verschiedenen Zeitumständen
erwuchsen.
§ 25. Der Zweck ist sowohl
extensiv als intensiv zusammenhaltend und anbildend; und das Wissen um diese
Tätigkeit bildet sich zu einer Technik, welche wir, alle verschiedenen
Zweige derselben zusammenfassend, mit dem Namen der praktischen
Theologie bezeichnen.
Auch diese Disziplin ist bisher sehr
ungleich bearbeitet. In großer Fülle nämlich, was die Geschäftsführung
im Einzelnen betrifft; hingegen was die Leitung und Anordnung im Großen
betrifft, nur sparsam, ja in disziplinarischem Zusammenhange nur für einzelne
Teile.
§ 26. Die Kirchenleitung
erfordert aber auch die Kenntnis des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen
Zustande., welcher, da das Ganze ein geschichtliches ist, nur als Ergebnis der
Vergangenheit begriffen werden kann; und diese Auffassung in ihrem ganzen Umfang
ist die historische Theologie im
weiteren Sinne des Wortes.
Die Gegenwart kann nicht als Keim
einer dem Begriff mehr entsprechenden Zukunft richtig behandelt werden, wenn
nicht erkannt wird, wie sie sich aus der Vergangenheit entwickelt hat.
§ 27. Wenn die
historische Theologie jeden Zeitpunkt in seinem wahren Verhältnis
zu der Idee des Christentums darstellt: so ist sie zugleich nicht nur die Begründung
der praktischen, sondern auch die Bewährung der philosophischen Theologie.
Beides natürlich um so mehr,
je mannigfaltigere Entwicklungen schon vorliegen. Daher war die Kirchenleitung
anfangs mehr Sache eines richtigen Instinkts, und die philosophische Theologie
manifestierte sich nur in wenig kräftigen Versuchen.
§ 28. Die historische
Theologie ist sonach der eigentliche Körper des theologischen Studiums,
welcher durch die philosophische Theologie mit
der eigentlichen Wissenschaft, und durch die praktische mit dem tätigen
christlichen Leben zusammenhängt.
Die historische
Theologie schließt auch den praktischen Teil geschichtlich in sich,
indem die richtige Auffassung eines jeden Zeitraums auch bekunden muss, nach
was für leitenden Vorstellungen die Kirche während desselben regiert
worden. Und wegen des im § 27 aufgezeigten
Zusammenhanges muss sich ebenso auch die philosophische
Theologie in der historischen abspiegeln.
§ 29. Wenn die .philosophische
Theologie, als Disziplin gehörig ausgebildet wäre, könnte
das ganze theologische Studium mit derselben beginnen. Jetzt hingegen können
die einzelnen Teile derselben nur fragmentarisch mit dem Studium der historischen
Theologie gewonnen werden; aber auch dieses nur, wenn das Studium der
Ethik vorangegangen ist, welche wir zugleich als die Wissenschaft der Prinzipien
der Geschichte anzusehen haben.
Ohne die fortwährende Beziehung,
auf ethische Sätze kann auch das Studium der historischen
Theologie nur unzusammenhängende Vorübung sein und muss in
geistlose Überlieferung ausarten; woher sich großenteils der oft
so verworrene Zustand der theologischen Disziplinen und der gänzliche Mangel
an Sicherheit in der Anwendung derselben auf die Kirchenleitung erklärt.
§ 30. Nicht nur die noch
fehlende Technik für die Kirchenleitung kann nur aus der Vervollkommnung
der historischen Theologie durch die philosophische
hervorgehen, sondern selbst die gewöhnliche Mitteilung der Regeln für
die einzelne Geschäftsführung kann nur als mechanische Vorschrift
wirken, wenn ihr nicht das Studium der historischen Theologie
vorangegangen ist.
Aus der übereilten Beschäftigung
mit dieser Technik entsteht die Oberflächlichkeit in der Praxis, und die
Gleichgültigkeit gegen wissenschaftliche Fortbildung.
§ 31. In dieser Trilogie,
philosophische, historische und praktische
Theologie, ist das ganze theologische Studium beschlossen; und die natürlichste
Ordnung für diese Darstellung ist unstreitig die, mit der
philosophischen Theologie zu beginnen und mit der praktischen
zu schließen.
Bei welchem Teile wir auch anfangen
wollten: so würden wir immer wegen des gegenseitigen Verhältnisses,
in welchem sie miteinander stehen, manches aus den andern voraussetzen müssen.
Erster Teil.
Von der philosophischen Theologie.
Einleitung.
Die
Grundprobleme der philosophischen Theologie: Bestimmung des Wesens des Christentums
(Apologetik) u. Kritik seiner empirischen Trübungen
(Polemik) (§§
32-42)
§ 32. Da das eigentümliche
Wesen des Christentums sich ebensowenig rein wissenschaftlich konstruieren lässt,
als es bloß ein empirisch aufgefasst werden kann: so lässt es sich
nur kritisch bestimmen. (vgl. § 23) durch
Gegeneinanderhalten dessen, was im Christentum geschichtlich gegeben ist, und
der Gegensätze, vermöge deren fromme Gemeinschaften können voneinander
verschieden sein.
Sowenig sich die Eigentümlichkeit
einzelner Menschen konstruieren lässt, wenngleich allgemeine Rubriken für
charakteristische Verschiedenheiten angegeben werden können: ebensowenig
auch die Eigentümlichkeit solcher zusammengesetzter oder moralischer Persönlichkeiten.
§ 33. Die philosophische
Theologie kann daher ihren Ausgangspunkt nur über dem Christentum
in dem logischen Sinne des Wortes nehmen, d h. in dem allgemeinen Begriff der
frommen oder Glaubensgemeinschaft.
Zufolge des Vorigen nämlich kann
überhaupt jede bestimmte Glaubensform und Kirche nur vermittelst ihrer
Verhältnisse des Neben- und Nacheinanderseins zu andern richtig verstanden
werden; und dieser Ausgangspunkt ist insofern für alle analogen Disziplinen
anderer Theologien derselbe, indem alle auf denselben höheren Begriff und
auf eine Teilbarkeit desselben zurückgehen müssen, um jene Verhältnisse
darzulegen.
§ 34. Wie sich irgend ein
geschichtlich gegebener Zustand des Christentums zu der Idee desselben verhält,
das bestimmt sich nicht allein durch den Inhalt dieses Zustandes, sondern auch
durch die Art, wie er geworden ist.
Beides ist allerdings durcheinander
bedingt, indem verschieden beschaffene Zustände aus demselben früheren
nur können durch einen verschiedenen Prozess hervorgegangen sein, und ebenso
umgekehrt. Um so sicherer aber kann bald mehr das eine, bald mehr das andere
zur Auffindung jenes Verhältnisses benutzt werden. Und dass in einem lebendigen
und geschichtlichen Ganzen nicht alle Zustände sich zu der Idee desselben
gleich verhalten, versteht sich von selbst.
§ 35. Da die Ethik als Wissenschaft der Geschichtsprinzipien
auch die Art des Werdens eines geschichtlichen Ganzen nur auf allgemeine Weise
darstellen kann: so lässt sich ebenfalls nur kritisch durch Vergleichung
der dort aufgestellten allgemeinen Differenzen mit dem geschichtlich Gegebenen
ausmitteln, was in der Entwicklung des Christentums reiner Ausdruck seiner Idee
ist, und was hingegen als Abweichung hiervon, mithin als Krankheitszustand,
angesehen werden muss.
Krankheitszustände gibt es in
geschichtlichen Individuen nicht minder, als in organischen; von untergeordneten
Differenzen in der Entwicklung kann hier nicht die Rede sein.
§ 36. So oft das Christentum
sich in eine Mehrheit von Kirchengemeinschaften teilt, welche doch auf denselben
Namen, christliche zu sein, Ansprüche machen: so entstehen dieselben Aufgaben
auch in Beziehung auf sie; und es gibt dann, außer der allgemeinen, für
jede von ihnen noch eine besondere philosophische Theologie.
Offenbar befinden wir uns in diesem
Fall; denn wenn auch jede von diesen besonderen Gemeinschaften alle anderen
für krankhaft gewordene Teile erklärte: so müssten doch von unserem
Ausgangspunkt (s. § 83) aus schon zum Behuf
der ersten Aufgabe die Ansprüche aller jenem kritischen Verfahren anheimfallen.
Unsere besondere philosophische Theologie ist daher protestantisch.
§ 37. Da die beiden hier
- in § 32 und 35
- gestellten Aufgaben den Zweck der philosophischen Theologie
erschöpfen: so ist diese ihrem wissenschaftlichen Gehalt nach Kritik, und
sie gehört der Natur ihres Gegenstandes nach der geschichtskundlichen Kritik
an.
In der Lösung dieser Aufgaben
ist nämlich alles enthalten, was der historischen Theologie sowohl, als
der praktischen, in ihrer Beziehung zur Kirchenleitung zum Grunde legen muss.
§ 38. Als theologische Disziplin
muss der philosophischen Theologie ihre Form bestimmt
werden durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung.
Das gilt natürlich auch von jeder
speziellen philosophischen Theologie.
§ 39. Wie jeder in seiner
Kirchengemeinschaft nur ist vermöge seiner Überzeugung von der Wahrheit
der sich darin fortpflanzenden Glaubensweise: so muss die erhaltende Richtung
der Kirchenleitung auch die Abzweckung haben, diese Überzeugung durch Mitteilung
zur Anerkenntnis zu bringen. Hiezu bilden aber die Untersuchungen über
das eigentümliche Wesen des Christentums und ebenso des Protestantismus
die Grundlage, welche daher den apologetischen Teil der philosophischen
Theologie ausmachen, jene der allgemeinen christlichen, diese der besonderen
des Protestantismus.
Bei dieser Benennung ist an keine andere
Verteidigung zu denken, als welche von der Anfeindung der Gemeinschaft abhalten
will. Das Bestreben, auch andere in diese Gemeinschaft hineinzuziehen, ist eine
klerikalische, allerdings aus der Apologetik schöpfende Ausübung;
und eine Technik für dasselbe, die aber kaum anfängt sich zu bilden,
wäre der zunächst auf der Apologetik beruhende Teil der praktischen
Theologie.
§ 40. Da jeder nach Maßgabe
der Stärke und Klarheit seiner Überzeugung, auch. Missfallen haben
muss an den in seiner Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen: so
muss die Kirchenleitung, vermöge ihrer intensiv zusammenhaltenden Richtung
(§ 25), zunächst die Abzweckung haben, diese Abweichungen als
solche zum Bewusstsein zu bringen. Dies kann nur vermöge richtiger Darstellung
von dem Wesen des Christentums und so auch des Protestantismus geschehen, welche
daher in dieser Anwendung den polemischen Teil der philosophischen Theologie
bilden, jene der allgemeinen, diese der besonderen protestantischen.
Die klerikalische Praxis, welche auf
die Beseitigung der Krankheitszustände ausgeht, hat hier ihre Prinzipien;
und die Technik derselben wäre der zunächst auf die Polemik zurückgehende
Teil der praktischen Theologie.
§ 41. So wie die Apologetik
ihre Richtung ganz nach außen nimmt, so die Polemik die ihrige durchaus
nach innen.
Die weit gewöhnlicher so genannte,
nach außen gekehrte besondere Polemik der Protestanten, z. B. gegen die
Katholiken, und ebenso die allgemeine der Christen gegen die Juden oder auch
die Deisten und Atheisten, ist ebenfalls eine im weiteren Sinne des Wortes klerikalische
Ausübung, welche einerseits mit unserer Disziplin nichts gemein hat, andererseits
auch schwerlich von einer wohl bearbeiteten praktischen Theologie als heilsam
dürfte anerkannt werden. Man könnte allerdings behaupten, diese Ausübung
müsse nur nicht als eine protestantische angesehen werden, sondern als
eine allgemein christliche, so habe sie ihre Richtung auch nach innen. Allein
dann ginge sie auch nicht, wie es doch immer gemeint ist, gegen den Katholizismus
im ganzen, sondern nur gegen dasjenige darin, was nicht seiner eigentümlichen
Form angehört, sondern als Krankheitszustand des Christentums zu betrachten
ist.
§ 42. Da nun die philosophische
Theologie keine weiteren Aufgaben enthält: so ist im folgenden zu
handeln von der Organisation der Apologetik und der Polemik, und zwar der allgemeinen
christlichen sowohl, als der besonderen protestantischen.
Entweder also zuerst von der allgemeinen
philosophischen Theologie in ihren beiden Teilen, und dann ebenso von der besonderen;
oder zuerst von der Apologetik, der allgemeinen und besonderen, und dann ebenso
von der Polemik. Die letztere Anordnung ist vorgezogen worden.
Erster Abschnitt.
Grundsätze der Apologetik.
Die
Grundbegriffe der Apologetik (§§
43-48)
§ 43. Da der Begriff frommer
Gemeinschaften oder der Kirche sich nur in einem Inbegriff nebeneinander bestehender
und aufeinander folgender geschichtlicher Erscheinungen verwirklicht, welche
in jenem Begriff eins, unter sich aber verschieden sind: so muss auch von dem
Christentum durch Darlegung sowohl jener Einheit, als dieser Differenz nachgewiesen
werden, dass es in jenen Inbegriff gehört. Dies geschieht mittelst Aufstellung
und Gebrauchs der Wechselbegriffe des Natürlichen und Positiven.
Die Aufstellung dieser Begriffe, wovon
jener das Gemeinsame aller, dieser die Möglichkeit verschiedener eigentümlicher
Gestaltungen desselben aussagt, gehört eigentlich der Religionsphilosophie
an; daher dieselben auch gleich gültig sind für die Apologetik jeder
frommen Gemeinschaft. Könnte nun auf diese Weise auf die Religionsphilosophie
bezogen werden; so bliebe für die christliche Apologie hievon nur übrig,
was der folgende Paragraph enthält.
§ 44. Auf den Begriff des
Positiven zurückgehend, muss dann für das eigentümliche Wesen
des Christentums eine Formel aufgestellt und mit Beziehung auf das Eigentümliche
anderer frommen Gemeinschaften unter jenen Begriff subsumiert werden.
Dies ist zwar die Grundaufgabe der
Apologetik; aber je mehr eine solche Formel nur durch ein kritisches Verfahren
(vgl. § 32) gefunden werden kann, um desto
mehr kann sie sich erst im Gebrauch vollständig bewähren.
§ 45. Das Christentum muss seinen Anspruch auf abgesondertes
geschichtliches Dasein auch geltend machen durch die Art und Weise seiner Entstehung;
und- dieses geschieht durch Beziehung auf die Begriffe Offenbarung, Wunder und
Eingebung.
Je mehr auf ursprüngliche Tatsachen
zurückgehend, desto größeres Anrecht auf Selbständigkeit,
und umgekehrt; wie dasselbe auch bei anderen Arten der Gemeinschaft stattfindet.
§ 46. Wie aber die geschichtliche,
Darstellung der Idee der Kirche auch als fortlaufende Reihe anzusehen ist: so
muss ungeachtet des §§ 48 und 44
Gesagten doch auch die geschichtliche Stetigkeit in der Folge des Christentums
auf das Judentum und Heidentum nachgewiesen, werden, welches durch Anwendung
der Begriffe Weissagung und Vorbild geschieht.
Das rechte Maß in Feststellung
und Gebrauch dieser Begriffe ist vielleicht die höchste Aufgabe der Disziplin;
und je vollkommener gelöst, desto festere Grundlage hat die von außen
anbildende Ausübung.
§ 47. Da die christliche
Kirche, wie jede geschichtliche Erscheinung, ein sich Veränderndes ist:
so muss auch nachgewiesen werden, wie durch diese Veränderungen die Einheit
des Wesens dennoch nicht gefährdet wird. Diese Untersuchung umfasst die
Begriffe Kanon und Sakrament.
Die Apologetik hat es mit den dogmatischen
Theorien über beide nicht zu tun; indem diese hier nicht antizipiert werden
können. Beide Tatsachen aber beziehen sich ihrem Begriff nach auf die Stetigkeit
des Wesentlichen im Christentume, der erste, wie sie sich in der Produktion
der Vorstellung, der andere, wie sie sich in der Überlieferung der Gemeinschaft
ausspricht.
§ 48. Wie der Begriff' der
Kirche sich wissenschaftlich nur ergibt im Zusammenhang (vgl.
§ 22) mit denen aller andern aus dem Begriff der Menschheit sich
entwickelnden Organisationen gemeinsamen Lebens: so muss nun auch von der christlichen
Kirche nachgewiesen werden, dass sie ihrem eigentümlichen Wesen nach mit
allen jenen Organisationen zusammen bestehen kann, welches sich aus richtiger
Erörterung der Begriffe Hierarchie und Kirchengewalt ergeben muss.
Vorzüglich kommen hier in Betracht
der Staat und die Wissenschaft. Denn niemanden könnte zugemutet werden,
die Gültigkeit des Christentums anzuerkennen, wenn es durch sein Wesen
einem von diesen entgegenstrebte. Die Aufgabe ist daher um so vollständiger
gelöst, je bestimmter gezeigt werden kann, dass diese inneren Institutionen
der Kirche ihrem Begriffe nach nur die unabhängige Entwicklung derselben
im Zusammenhang mit Staat und Wissenschaft bezwecken, nicht aber die gleich
unabhängige Entwicklung jener zu stören meinen. Alles hierüber
in die praktische Theologie Gehörige bleibt hier ausgeschlossen.
Zur
Methode der Apologetik (§§
49-53)
§ 49. Je mehr in allen diesen
Untersuchungen auf beides Bezug genommen wird, sowohl darauf, dass das Christentum
als organische Gemeinschaft bestehen will, als auch darauf, dass es sich vorzüglich
durch den Gedanken darstellt und mitteilt (vgl. §
2), um desto mehr müssen sie den Grund zu der Überzeugung legen,
dass auch von Anfang an (vgl. § 44) das Wesen
des Christentums richtig ist aufgefasst worden.
Wenn sich doch in allem, was sich
auf Lehre und Verfassung bezieht, dasselbe Wesen des Christentums übereinstimmend
mit der Formel ausspricht: so ist dies die beste Bewährung für diese.
§ 50. Befindet sich die Kirche in einem Zustande der Teilung,
so muss die spezielle Apologetik einer jeden Kirchenpartei, mithin jetzt auch
die protestantische, denselben Gang einschlagen, wie die allgemeine.
Denn die Aufgabe ist dieselbe, und
das Verhältnis jeder einzelnen Kirchenpartei zu den übrigen gleich
dem des Christentums zu den andern verwandten Glaubensgemeinschaften. Die in
§ 47 geforderte Nachweisung führt auf
die Begriffe von Konfession und Ritus, und bei der in §
48 beschriebenen kommt es vorzüglich auf das Verhältnis zum
Staat an.
§ 51. Auch die allgemeine
christliche Apologetik wird in diesem Fall, von der Ansicht jeder besonderen
Gestaltung des Christentums affiziert, sich in jeder eigentümlich gestalten.
Dies wird allerdings um desto weniger
der Fall sein, je strenger aus der Erörterung alles Dogmatische ausgeschieden
wird. Niemals aber darf es so weit gehen, dass jede nur sich selbst als Christentum
zur Anerkenntnis bringen will, die andern aber als unchristlich darstellt. Wofür
schon durch die Scheidung der allgemeinen und besondern Apologetik gesorgt werden
soll.
§ 52. Da mehrere im Gegensatz
miteinander stehende christliche Kirchengemeinschaften sich nur bilden konnten
aus einem Zustande des Ganzen, in welchem kein Gegensatz ausgesprochen war:
so hat sich jede um so mehr gegen den Vorwurf der Anarchie oder der Korruption
zu verteidigen, als auch jede wieder geneigt ist, von sich selbst zu behaupten,
dass sie an den ursprünglichen Zustand anknüpfe.
Weder war im ursprünglichen Christentum
ein Gegensatz ausgesprochen, noch kann jemals ein Gegensatz an die Stelle eines
anderen treten, ohne dass jener vorher verschwunden wäre.
§ 53. Da eben deshalb jeder
Gegensatz dieser Art innerhalb des Christentums auch dazu bestimmt erscheint,
wieder zu verschwinden: so wird die Vollkommenheit der speziellen Apologetik
darin bestehen, dass sie divinatorisch auch die Formen für dieses Verschwinden
mit in sich schließt.
Eine prophetische Tendenz soll hierdurch
der speziellen Apologetik keineswegs beigelegt werden. Aber je richtiger in
dieser Beziehung das eigentümliche Wesen des Protestantismus aufgefasst
ist, um desto haltbarere Gründe wird die spezielle Apologetik darbieten,
um falsche Unionsversuche abzuwehren, da jeder auf der Voraussetzung beruht,
der Gegensatz sei schon in einem gewissen Grade verschwunden.
Zweiter Abschnitt.
A. Grundsätze der Polemik.
Die Grundbegriffe
der Polemik (§§
54-58)
§ 54. Krankhafte Erscheinungen
eines geschichtlichen Organismus (vgl. § 35) können
teils in zurücktretender Lebenskraft gegründet sein, teils darin,
dass sich beigemischtes Fremdartige in demselben für sich organisiert.
Es ist nicht nötig, hierbei auf
die Analogie mit dem animalischen Organismus zurückzugehen; derselbe Typus
kann auch schon an den Krankheiten der Staaten zur Anschauung gebracht werden.
§ 55. Da der Trieb, die christliche
Frömmigkeit zum Gegenstand einer Gemeinschaft zu machen, nicht notwendig
in gleichem Verhältnis steht mit der Stärke dieser Frömmigkeit
selbst: so kann bald mehr das eine von beiden geschwächt sein und zurücktreten,
bald mehr das andere.
Beides in der höchsten Vollkommenheit
vereinigt, bildet freilich den normalen Gesundheitszustand der Kirche, der aber
während ihres geschichtlichen Verlaufs nirgends vorausgesetzt werden kann.
Eben daraus aber, dass dieser Gesundheitszustand nur als die vollständige
Einheit jenes Zwiefachen beschrieben werden kann, folgt schon, dass einseitige
Abweichungen nach beiden Seiten hin möglich sind.
§ 56. Diejenigen Zustände,
durch welche sich vorzüglich offenbart, dass die christliche Frömmigkeit
selbst krankhaft geschwächt ist, werden unter dem Namen
Indifferentismus zusammengefasst; und die Aufgabe ist daher,
zu bestimmen, wo das, was als eine solche Schwächung erscheint, wirklich
beginnt, krankhaft zu sein, und in wie mancherlei Gestalten dieser Zustand sich
darstellt.
Es ist die gewöhnliche Bedeutung
dieses Ausdrucks, Gleichgültigkeit in Bezug auf das eigentümliche
Gepräge der christlichen Frömmigkeit darunter zu verstehen; wobei
allerdings noch Frömmigkeit ohne bestimmtes Gepräge stattfinden kann.
- Außerdem aber werden häufig Zustände auf Rechnung einer solchen
Schwäche geschrieben, die ganz anders zu erklären sind. - Dass bei
wirklichem Iudifferentismus auch der christliche Gemeinschaftstrieb geschwächt
sein muss, ist natürlich; dies ist aber dann nur Folge der Krankheit, nicht
Ursache derselben.
§ 57. Diejenigen Zustände,
welche vornehmlich auf geschwächten Gemeinschaftsbetrieb deuten, werden
durch den Namen Separatismus bezeichnet,
welcher also ebenfalls in seinen Grenzen und seiner Gliederung genauer zu bestimmen
ist.
Genauer, als gewöhnlich geschieht,
ist zu unterscheiden zwischen eigentlichem Separatismus
und Neigung zum Schisma; zumal jener, ungeachtet
seiner gänzlichen Negativität, oft den Schein von dieser annimmt.
Offenbar ist, dass der Gemeinschaftstrieb, wenn er in seiner vollen Stärke
vorhanden ist, auch alle Glieder durchdringen muss. Er ist also desto mehr geschwächt,
je mehrere sich bewusst und absichtlich ausschließen, ungeachtet sie dieselbe
christliche Frömmigkeit zu besitzen behaupten.
§ 58. Da das eigentümliche
Wesen des Christentums sich vorzüglich ausspricht einerseits in der Verfassung:
so kann sich in der Kirche auch Fremdartiges organisieren, teils in der Lehre
als Ketzerei, Häresis, teils in der Verfassung als Spaltung, Schisma; und
beides ist daher in seinen Grenzen und Gestaltungen zu bestimmen.
In den meisten Fällen, jedoch
nicht notwendig, wird, wenn sich eine abweichende Lehre verbreitet, daraus auch
eine besondere Gemeinschaft entstehen; allein diese ist als bloße Folge
jenes Zustandes nicht eigentliche Spaltung. Ebenso wird sich innerhalb einer
Spaltung großenteils, jedoch nicht notwendig, auch abweichende Lehre entwickeln;
allein diese braucht deshalb nicht häretisch zu sein.
Zur Methode
der Polemik (§§
59-62)
§ 59. Alle hier aufgestellten
Begriffe können weder bloß empirisch gefunden, noch rein wissenschaftlich
abgeleitet werden, sondern nur durch das hier überall vorherrschende kritische
Verfahren festgestellt; weshalb sie sich durch den Gebrauch immer mehr bewähren
müssen, um ganz zuverlässig zu werden.
In Bezug auf Spaltung und Ketzerei
muss wegen der großen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dies Verfahren
auf einer Klassifikation beruhen, welche sich dadurch bewährt, dass die
vorhandenen Erscheinungen mit Leichtigkeit darunter subsumiert werden können.
In Bezug auf Indifferentismus und Separatismus
bewährt es sich desto mehr, je mehr es hindert, dass nicht durch
allzu große Strenge für krankhaft erklärt werde, was noch gesund
ist, und umgekehrt.
§ 60. Was als krankhaft aufgestellt
wird davon muss nachgewiesen werden, teils seinem Inhalte nach, dass es dem
Wesen des Christentums, wie sich dieses in Lehre und Verfassung ausgedrückt
hat, widerspricht oder es auflöst, teils seiner Entstehung nach, dass es
nicht mit der von den Grundtatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweise
zusammenhängt.
Je mehr beides zusammentrifft und
sich gegenseitig erklärt, um desto sicherer erscheint die Bestimmung.
§ 61. In Zeiten, wo die christliche
Kirche geteilt ist, hat jede spezielle Polemik einer besonderen christlichen
Kirchengemeinschaft denselben Weg zu verfolgen, wie die allgemeine.
Die Sachverhältnisse sind dieselben.
Nur dass einerseits in solchen Zeiten natürlich Indifferentismus
und Separatismus ursprünglich in den partiellen
Kirchengemeinschaften einheimisch sind, und nur insofern allgemeine Übel
werden, als sie sich in mehreren nebeneinander bestehenden christlichen Gemeinschaften
gleichmäßig vorfinden, andererseits aber, was nur dem eigentümlichen
Wesen einer partiellen Gemeinschaft widerspricht, nie sollte durch den Ausdruck
häretisch oder schismatisch bezeichnet werden.
§ 62. Da die ersten Anfänge
einer Ketzerei allemal als Meinungen einzelner auftreten, und die einer Spaltung
als Verbrüderungen einzelner; eine neue partielle Kirchengemeinschaft aber
auch nicht füglich anders, als ebenso, zuerst erscheinen kann: so müssen
die Grundsätze der Polemik, wenn vollkommen
ausgebildet, Mittel an die Hand geben, um schon an solchen ersten Elementen
zu unterscheiden, ob sie in krankhafte Zustände ausgehen werden, oder ob
sie den Keim zur Entwicklung eines neuen Gegensatzes in sich schließen.
Wie überhaupt dieser Satz gleichlautend
ist mit § 53, so ist auch hier dasselbe wie
dort zu bemerken, in Bezug nämlich auf solche Toleranz gegen das Krankhafte
einerseits, und andererseits auf Beantwortung der billigen Freiheit für
dasjenige, was sich neu zu differentiieren im Begriff steht.
Schlussbetrachtungen
über die philosophische Theologie. (§§
63-68)
§ 63. Beide Disziplinen.
Apologetik und Polemik,
wie sie sich gegenseitig ausschließen, bedingen sich auch gegenseitig.
Sie schließen sich aus durch
ihren entgegengesetzten Inhalt (vgl. § 39 und 40)
und durch ihre entgegengesetzte Richtung (vgl.
§ 41). Sie bedingen sich gegenseitig, weil Krankhaftes in der Kirche
nur erkannt werden kann in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung von dem eigentümlichen
Wesen des Christentums, und weil zugleich bei den Untersuchungen, durch weiche
diese Vorstellung begründet wird, auch die krankhaften Erscheinungen vorläufig
mit unter das Gegebene aufgenommen werden müssen, welches bei dem kritischen
Verfahren zum Grunde gelegt werden muss.
§ 64. Beide Disziplinen können
daher nur durcheinander und miteinander zu vollkommener Entwicklung gelangen.
Eben deshalb nur durch Annäherung
und nur nach mancherlei Umgestaltungen. Vgl. § 51,
indem das dort Gesagte auch für die Polemik gilt.
§ 65. Die philosophische
Theologie setzt zwar den Stoff der historischen
als bekannt voraus, begründet aber selbst erst, die eigentlich geschichtliche
Anschauung des Christentums.
Jener Stoff ist das Gegebene
(vgl. § 32), welches sowohl den Untersuchungen über das eigentümliche
Wesen des Christentums, als auch denen über den Gegensatz des Gesunden
und Krankhaften (vgl. § 35) zum Grunde liegt.
Das Resultat dieser Untersuchungen bestimmt aber erst den Entwicklungswert der
einzelneu Momente, mithin die geschichtliche Anschauung des ganzen Verlaufs.
§ 66. Die philosophische
Theologie und die praktische stehen auf
der einen Seite gemeinschaftlich der historischen gegenüber,
auf der andern Seite aber auch eine der andern?
Jenes, weil die beiden ersten unmittelbar
auf die Ausübung gerichtet sind, die historische
Theologie aber rein auf die Betrachtung. Denn wenngleich
Apologetik und Polemik allerdings Theorien
sind, von denen man apologetische und polemische Leistungen wohl zu unterscheiden
hat: so vollenden sie doch erst in diesen ihre Bestimmung, und werden nur um
dieser willen aufgestellt. - Beide aber stehen einander gegenüber, teils
als Erstes und Letztes, indem die philosophische Theologie
erst den Gegenstand fixiert, den die praktische zu
behandeln hat, teils weil die philosophische sich
an rein wissenschaftliche Konstruktionen anschließt, die
praktische hingegen in das Gebiet des Besonderen und Einzelnen als Technik
eingreift.
§ 67. Da die
philosophische Theologie eines jeden wesentlich die Prinzipien seiner
gesamten theologischen Denkungsart in sich schließt: so muss auch jeder
Theologe sie ganz für sich selbst produzieren.
Hierdurch soll keineswegs irgend einem
Theologen benommen werden, sich zu einer von einem anderen herrührenden
Darstellung der philosophischen Theologie zu bekennen;
nur muss sie von Grund ans als klare und feste Überzeugung angeeignet sein.
Vornehmlich aber wird gefordert, dass die philosophische
Theologie in jedem ganz und vollständig sei, ohne für diesen
Teil den in §§ 14-17 gemachten Unterschied
zu berücksichtigen; weil nämlich hier alles grundsätzlich ist,
und jedes auf das genaueste mit allem zusammenhängt. Dass aber alle theologischen
Prinzipien in diesem Teile des Ganzen ihren Ort haben, geht aus §
65 und 66 unmittelbar hervor.
§ 68. Beide Disziplinen der
philosophischen Theologie sehen ihrer Ausbildung
noch entgegen.
Die Tatsache begreift sich zum Teil
schon aus den hier aufgestellten Verhältnissen. Teils auch bezog man einerseits
die Apologetik zu genau und ausschließend
auf die eigentlich apologetischen Leistungen, zu denen sich die Veranlassungen
nur von Zeit zu Zeit ergaben, wogegen die hierher gehörigen Sätze
nicht ohne bedeutenden Nachteil für die klare Übersicht des ganzen
Studiums in den Einleitungen zur Dogmatik ihren Ort fanden. Erst in der neuesten
Zeit hat man angefangen, sie in ihrer allgemeineren Abzweckung und ihrem wahren
Umfange nach wieder besonders zu bearbeiten. Die Polemik
andererseits hatte, vorzüglich weil man ihre Richtung verkannte,
schon seit geraumer Zeit aufgehört, als theologische Disziplin bearbeitet
und überliefert zu werden.
Zweiter Teil.
Von der historischen Theologie.
Einleitung.
Begriff der
historischen Theologie (§§
69-70)
§ 69. Die historische Theologie
(vgl. § 26) ist ihrem Inhalte nach ein Teil der neueren Geschichtskunde;
und als solchem sind ihr alle natürlichen Glieder dieser Wissenschaft koordiniert.
Sie gehört vorläufig der
innern Seite der Geschichtskunde, der neueren Bildungs- und Sittengeschichte
an, in welcher das Christentum offenbar eine eigene Entwicklung eingeleitet
hat. Denn dasselbe nur als eine reine Quelle von Verkehrtheiten und Rückschritten
darstellen, ist eine veraltete Ansicht.
§ 70. Als theologische Disziplin
ist die geschichtliche Kenntnis des Christentums zunächst die unnachlässliche
Bedingung alles besonnenen Einwirkens auf die weitere Fortbildung derselben,
und in diesem Zusammenhange sind ihr dann die übrigen Teile der Geschichtskunde
nur dienend untergeordnet.
Hieraus ergibt sich schon, wie verschieden
das Studium und die Behandlungsweise derselben Masse von Tatsachen ausfallen,
wenn sie ihren Ort in unserer theologischen Disziplin haben, und wenn in der
allgemeinen Geschichtskunde, ohne dass jedoch die Grundsätze der geschichtlichen
Forschung aufhörten, für beide Gebiete dieselben zu sein.
Geschichtsphilosophische
Grundbegriffe (Epochen
u. Perioden) (§§
71-80)
§ 71. Was in einem geschichtlichen
Gebiet als einzelner Moment hervortritt, kann entweder als plötzliches
Entstehen angesehen werden, oder als allmähliche Entwicklung und weitere
Fortbildung
In dem Gebiete des einzelnen Lebens
ist jeder Anfang ein plötzliches Entstehen, von da an aber alles andere
nur Entwicklung. Auf dem eigentlich geschichtlichen Gebiet aber, dem des gemeinsamen
Lebens, ist beides einander nicht streng entgegengesetzt, und nur des Mehr und
Minder wegen wird der eine Moment auf diese, der andere auf die entgegengesetzte
Weise betrachtet.
§ 72. Der Gesamtverlauf eines
jeden geschichtlichen Ganzen ist ein mannigfaltiger Wechsel von Momenten beiderlei
Art.
Nicht als ob es an und für sich
unmöglich wäre, dass ein ganzer Verlauf als fortgehende Entwicklung
von einem Anfangspunkte aus angesehen werden könnte. Allein wir dürfen
nur entweder die Kraft selbst auch als ein Mannigfaltiges ansehen können,
dessen Elemente nicht alle gleichzeitig zur Erscheinung kommen, oder wir dürfen
nur in der Entwicklung selbst Differenzen schnellerer und langsamerer Fortschreitung
wahrnehmen können, und nicht leicht wird eines von beiden fehlen, so sind
wir schon genötigt, Zwischenpunkte von dem entgegengesetzten Charakter
anzunehmen.
§ 73. Eine Reihe von Momenten, in denen ununterbrochen
die ruhige Fortbildung überwiegt, stellt einen geordneten Zustand dar und
bildet eine geschichtliche Periode; eine Reihe von solchen, in denen das plötzliche
Entstehen überwiegt, stellt eine zerstörende Umkehrung der Verhältnisse
dar und bildet eine geschichtliche Epoche.
Je länger der letztere Zustand
dauerte, um desto weniger würde die Selbigkeit des Gegenstandes festgehalten
werden können, weil aller Gegensatz zwischen Bleibendem und Wechselndem
aufhört. Daher je länger der Gegenstand als einer und derselbe feststeht,
um desto mehr überwiegen die Zustände der ersten Art.
§ 74. Jedes geschichtliche
Ganze lässt sich nicht nur als Einheit betrachten, sondern auch als ein
Zusammengesetztes, dessen verschiedene Elemente, wenngleich nur in untergeordnetem
Sinn und in fortwährender Beziehung aufeinander, jedes seinen eignen Verlauf
haben.
Solche Unterscheidungen bieten sich
überall unter irgend einer Form dar; und sie werden mit desto größerem
Recht hervorgehoben, je mehr der eine Teil zu ruhen scheint, während der
andere sich bewegt, und also beide relativ unabhängig voneinander erscheinen.
§ 75. Es gibt daher, um das
unendliche Materiale eines geschichtlichen Verlaufs zu übersichtlicher
Anschaulichkeit zusammenzufassen, ein zwiefaches Verfahren. Entweder man teilt
den ganzen Verlauf nach Maßgabe der sich ergebenden revolutionären
Zwischenpunkte in mehrere Perioden, und fasst in jeder alles, was sich an dem
Gegenstande begeben hat, zusammen; oder man teilt den Gegenstand der Breite
nach, so dass sich mehrere parallele Reihen ergeben, und verfolgt den Verlauf
einer jeden besonders durch die ganze Zeitlänge.
Natürlich lassen sich auch beide
Einteilungen verbinden, indem man die eine der andern unterordnet, so dass entweder
jede Periode in parallele Reihen geteilt, oder jede Hauptreihe für sich
wieder in Perioden zerschnitten wird. Das darstellende Verfahren ist desto unvollkommener,
je mehr bei diesen Einteilungen willkürlich verfahren wird, oder je mehr
man dabei wenigstens nur Äußerlichkeiten zum Grunde legt.
§ 76. Ein geschichtlicher
Gegenstand postuliert überwiegend die erste Teilungsart, je weniger unabhängig
voneinander seine verschiedenen Glieder sich fortbilden, und je stärker
dabei revolutionäre Entwicklungsknoten hervorragen; und wenn umgekehrt,
dann die andere.
Denn in letzterem Falle ist eine ursprüngliche
Gliederung vorherrschend, im ersten eine starke Differenz im Charakter verschiedener
Zeiten.
§ 77. Je stärker in
einem geschichtlichen Verlauf der Gegensatz zwischen Perioden und Epochen hervortritt,
um desto schwieriger ist es in Darstellung der letzteren, aber desto leichter
in der der ersteren, die verschiedenen Elemente (§
74) voneinander zu sondern.
Denn in Zeiten der Umbildung ist alle
Wechselwirkung lebendiger und alles einzelne abhängiger von einem gemeinsamen
Impuls; wogegen der ruhige Verlauf das Hervortreten der Gliederung begünstigt.
§ 78. Da nicht nur im Allgemeinen
der Gesamtverlauf aller menschlichen Dinge, sondern auch in diesem die ganze
Folge von Äußerungen einer und derselben Kraft Ein Ganzes bildet:
so kann jedes Hervortreten eines kleineren geschichtlichen Ganzen auf zwiefache
Weise angesehen werden, einmal als Entstehen eines Neuen, noch nicht Dagewesenen,
dann aber auch als Ausbildung eines schon irgendwie Vorhandenen.
Dies erhellt schon aus
§ 71. Was während des Zeitverlaufs in Bezug auf alles schon
neben ihm Fortlaufende allerdings als ein Neues zu betrachten ist, kann doch
mit irgend einem früheren Moment auf genauere Weise, als mit allen übrigen
zusammengehören.
§ 79. So kann auch der Verlauf
des Christentums auf der einen Seite behandelt werden als eine einzelne Periode
eines Zweiges der religiösen Entwicklung; dann aber auch als ein besonder[e]s
geschichtliches Ganzes, das als ein Neues entsteht, und abgeschlossen für
sich in einer Reihe durch Epochen getrennter Perioden verläuft.
Dass hier ausdrücklich nur von
einem Zweige der religiösen Entwicklung die Rede ist, geht auf
§ 74 zurück, Wie man die große Mannigfaltigkeit religiöser
Gestaltungen auch gruppiere, immer werden einige auch zum Christentum ein solches
näheres Verhältnis haben, dass sie eine Gruppe mit demselben bilden
können.
§ 80. Die historische Theologie,
wie sie sich als theologische Disziplin ganz auf das Christentum bezieht, kann
sich nur die letzte Behandlungsweise aneignen.
Man vergleiche §§
69 und 70. Außerdem aber könnte
der christliche Glaube nicht sein, was er ist, wenn die Grundtatsache desselben
nicht ausschließend als ein Ursprüngliches gesetzt wird.
Gliederung
der historischen Theologie (§§
81-85)
§ 81. Von dem konstitutiven
Prinzip der Theologie aus den geschichtlichen Stoff des Christentums betrachtet,
steht in dem unmittelbarsten Bezug auf die Kirchenleitung die geschichtliche
Kenntnis des gegenwärtigen Momentes, als aus welchem der künftige
soll entwickelt werden. Diese mithin bildet einen besonderen Teil der historischen
Theologie.
Um richtig und angemessen sowohl auf
Gesundes und Krankes einzuwirken, als auch zurückgebliebene Glieder nachzufördern,
und um aus fremden Gebieten Anwendbares für das eigene zu benutzen.
§ 82. Da aber die Gegenwart
nur verstanden werden kann als Ergebnis der Vergangenheit: so ist die Kenntnis
des gesamten früheren Verlaufs ein zweiter Teil der historischen
Theologie.
Dies ist nicht so zu verstehen, als
ob dieser Teil etwa eine Hilfswissenschaft wäre für jenen ersten;
sondern beide verhalten sich auf dieselbe Weise zur Kirchenleitung, und sind
einander nicht untergeordnet, sondern beigeordnet.
§ 83. Je mehr ein geschichtlicher
Verlauf in der Verbreitung begriffen ist, so dass die innere Lebenseinheit je
weiter hin, desto mehr nur im Zusammenstoß mit andern Kräften erscheint:
um desto mehr haben diese auch teil an den einzelnen Zuständen; so dass
nur in den frühesten das eigentümliche Wesen am reinsten zur Anschauung
kommt.
Auch das gilt ebenso von allen verwandten
geschichtlichen Erscheinungen, und ist der eigentliche Grund, warum so viele
Völker missverständlich die früheste Periode des Lebens der Menschheit
als die Zeit der höchsten Vollkommenheit ansehen.
§ 84. Da nun auch das christliche
Leben immer zusammengesetzter und verwickelter geworden ist, der letzte Zweck
seiner Theologie aber darin besteht, das eigentümliche Wesen desselben
in jedem künftigen Augenblick reiner darzustellen: so hebt sich natürlich
die Kenntnis des Urchristentums als ein dritter besonderer Teil der
historischen Theologie hervor.
Allerdings ist auch das Urchristentum
schon in dem Gesamtverlauf mit enthalten; allein ein anderes ist, es als eine
Reihe von Momenten zu behandeln, und ein anderes, nur dasjenige zur Betrachtung
zu ziehen, auch aus verschiedenen Momenten, woraus der reine Begriff des Christentums
dargestellt werden kann.
§ 85. Die
historische Theologie ist in diesen drei Teilen, Kenntnis des Urchristentums,
Kenntnis von dem Gesamtverlauf des Christentums, und Kenntnis von seinem Zustand
in dem gegenwärtigen Augenblick, vollkommen beschlossen.
Nur ist nicht die Ordnung, in welcher
wir sie abgeleitet haben, auch die richtige für das Studium selbst. Sondern
die Kenntnis des Urchristentums als zunächst der philosophischen
Theologie sich anschließend, ist das erste, und die Kenntnis des
gegenwärtigen Augenblicks, als unmittelbar den Übergang in die praktische
Theologie bildend, ist das letzte.
Methodische Vorbemerkungen in Bezug auf die Hauptzweige der
historischen Theologie (§§
86-102)
§ 86. Wie für jeden
Teil der Geschichtskunde alles Hilfswissenschaft ist, was die Kenntnis des Schauplatzes
und der äußeren Verhältnisse des Gegenstandes erleichtert, und
was zum Verstehen der Monumente aller Art gehört: so zieht auch die historische
Theologie zunächst die übrigen Teile desselben Geschichtsgebietes
(vgl. § 40), dann aber noch alles, was zum
Verständnis der Dokumente gehört, als Hilfswissenschaft herbei.
Diese Hilfskenntnisse sind mithin
teils historisch im engeren Sinn, teils geographisch, teils philologisch.
§ 87. Das Urchristentum ist
in Bezug auf jene normale Behandlung desselben gegen den weiteren geschichtlichen
Verlauf nicht füglich anders abzugrenzen, als dass unter jenem der Zeitraum
verstanden wird, worin Lehre und Gemeinschaft in ihrer Beziehung aufeinander
erst wurden, und noch nicht in ihrer Abschließung schon waren.
Auch diese Bestimmung jedoch könnte
leicht zu weit ausgedehnt werden, weil Lehre und Gemeinschaft in Bezug aufeinander
immer im Werden begriffen bleiben; und eine feste Grenze entsteht zunächst
nur, wenn man jede Zeit ausschließt, in der es schon Differenz der Gemeinschaft
um einer Differenz der Lehre willen gab. Aber auch zu enge Schranken könnte
man unserer Bestimmung geben, wenn man davon ausgeht, dass schon seit dem Pfingsttage
eine abgeschlossene Gemeinschaft bestand; und eine angemessene Erweiterung entsteht
nur, wenn man bevorwortet, die eigentlich christliche Gemeinschaft sei erst
abgeschlossen worden, als mit Bewusstsein und allgemeiner Anerkennung Juden
und Heiden in derselben vereint waren, und Ähnliches gilt auch von der
Lehre. So treffen beide Bestimmungen ziemlich zusammen mit der mehr äußerlichen
des Zeitalters der unmittelbaren Schüler Christi.
§ 88. Da die für den
angegebenen Zweck auszusondernde Kenntnis des Urchristentums nur aus den christlichen
Dokumenten, die in diesem Zeitraum der christlichen Kirche entstanden sind,
kann gewonnen werden, und ganz auf dem richtigen Verständnis dieser Schriften
beruht: so führt diese Abteilung der historischen Theologie auch insbesondere
den Namen der exegetischen Theologie.
Da auch in den andern beiden Abteilungen
das Meiste auf Auslegung beruht: so ist die Benennung allerdings willkürlich,
aber doch wegen des eigentümlichen Wertes dieser Schriften leicht zu rechtfertigen.
§ 89. Da wegen des genauen
Zusammenhanges mit der philosophischen Theologie,
als dem Ort aller Prinzipien, jeder seine Auslegung selbst bilden muss: so gibt
es auch hier nur weniges, was man sich von den Virtuosen (vgl.
§§ 17 und 19) kann geben lassen.
Vorzüglich nur dasjenige, was
zur Auslegung aus den Hilfswissenschaften herbeigezogen werden muss.
§ 90. Die Kenntnis von dem
weiteren Verlauf des Christentums kann entweder als Ein Ganzes aufgestellt werden,
oder auch geteilt in die Geschichte des Lehrbegriffs und in die Geschichte der
Gemeinschaft.
Weil nämlich die Geschichte des
Lehrbegriffs nichts anderes ist, als die Entwicklung der religiösen Vorstellungen
der Gemeinschaft. Sowohl die Vereinigung von beiden, als auch die Geschichte
der Gemeinschaft besonders dargestellt, führt den Namen Kirchengeschichte;
so wie die des Lehrbegriffs besonders den Namen Dogmengeschichte.
§ 91. Sowohl beide Zweige
zusammen, als auch jeder für sich allein, stellen, der Länge nach
betrachtet, einen ununterbrochenen Fluss dar, in welchem jedoch vermittelst
der Begriffe von Perioden und Epochen (vgl. § 73)
Entwicklungsknoten gefunden werden können, um die Unterschiede zu
fixieren zwischen solchen Punkten, welche durch eine Epoche geschieden sind,
und also verschiedenen Perioden angehören, sowie auch zwischen solchen,
die zwar innerhalb derselben zwei Epochen liegen, so jedoch, dass der eine mehr
das Ergebnis der ersten enthält, der andere mehr als eine Vorbereitung
der zweiten erscheint.
Denkt man sich dazwischen noch Punkte,
welche in einer Periode das Größte der Entwicklung ihrer Anfangsepoche
enthalten, aber noch den Nullpunkt der Schlussepoche darstellen: so gibt dieses,
durch beide Zweige und durch alle Perioden durchgeführt, ein Netz der wertvollsten
Momente.
§ 92. Da der Gesamtverlauf
des Christentums eine Unendlichkeit von Einzelheiten darbietet: so ist hier
am meisten Spielraum für den Unterschied zwischen dem Gemeinbesitz und
dem Besitz der Virtuosen.
Jenes Netz bis zu einem Analogon von
Stetigkeit im Umriss vollzogen, ist das Minimum, welches jeder besitzen muss;
die Erforschung und Ausführung des einzelnen ist, auch unter viele verteilt,
ein unerschöpfliches Gebiet.
§ 93. Nicht jeder Moment
eignet sich gleich gut dazu, als ein in sich zusammenhängendes Ganze dargestellt
zu werden; sondern am meisten der Kulminationspunkt einer Periode, am wenigsten
ein Punkt während einer Epoche oder in der Nähe derselben.
Während einer Umkehrung kann
immer nur einzelnes abgesondert, und nicht leicht anders, als in der Form des
Streites zur Erörterung kommen. Nahe an einer Epoche kann zwar das Bedürfnis
einer zusammenhängenden Darstellung sich schon regen, die Versuche können
aber nicht anders, als unvollständig ausfallen. Dies zeigt sich auch, sowohl
in den ersten Anfängen der Kirche nach der apostolischen Zeit, als auch
bei uns in den ersten Zeiten der Reformation.
§ 94. In solchen Zeiten,
wo der Aufgabe genügt werden kann, sondert sich dann von selbst Darstellung
der Lehre und Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes.
Denn wenn sich auch dasselbe eigentümliche
Wesen der Kirche oder einer partiellen Kirchengemeinschaft in beiden ausspricht:
so hängen doch beide von zu verschiedenen Koeffizienten ab, als dass nicht
ihre Veränderungen und also auch der momentane Zustand beider ziemlich
unabhängig voneinander sein sollte.
§ 95. Die Darstellung des
gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe
der kirchlichen Statistik.
Erst seit kurzem ist dieser Gegenstand
in gehöriger Anordnung disziplinarisch behandelt worden, daher auch, sowohl
was Stoff, als was Form betrifft, noch vieles zu leisten übrig ist.
§ 96. Die Aufgabe bleibt, auch wenn eine Trennung obwaltet,
für alle einzelnen Kirchengemeinschaften doch wesentlich dieselbe.
Jede wird dann freilich ein besonderes
Interesse haben, ihren eignen Zustand auf das genaueste zu kennen, und insofern
wird eine Ungleichheit eintreten, die aber auch eintritt, wenn die Kirche ungeteilt
ist. Es kann aber nur großen Nachteil bringen, wenn die Lenkenden einer
einzelnen Kirchengemeinschaft nicht mit dem Zustande des andern der Wahrheit
nach bekannt sind.
§ 97. Die zusammenhängende
Darstellung der Lehre, wie sie zu einer gegebenen Zeit, sei es nun in der Kirche
im Allgemeinen, wann nämlich keine Trennung obwaltet, sonst aber in einer
einzelnen Kirchenpartei, geltend ist, bezeichnen wir durch den Ausdruck Dogmatik
oder dogmatische Theologie.
Der Ausdruck Lehre ist hier in seinem
ganzen Umfang genommen. Die Bezeichnung systematische Theologie, deren man sich
für diesen Zweig immer noch häufig bedient, und welche mit Recht vorzüglich
hervorhebt, dass die Lehre nicht soll als ein Aggregat von einzelnen Satzungen
vorgetragen werden, sondern der Zusammenhang ins Licht gesetzt, verbirgt doch
auf der anderen Seite zum Nachteil der Sache nicht nur den historischen Charakter
der Disziplin, sondern auch die Abzweckung derselben auf die Kirchenleitung,
woraus vielfältige Missverständnisse entstehen müssen.
§ 98. In Zeiten, wo die Kirche
geteilt ist, kann nur jede Partei selbst ihre Lehre dogmatisch behandeln.
Weder wenn eine Theologie der einen
Partei die Lehren anderer im Zusammenhang nebeneinander behandeln wollte, würde
Unparteilichkeit und Gleichheit zu erreichen sein, da nur der eine Zusammenhang
für ihn Wahrheit ist, der andere aber nicht; noch auch, wenn er nur die
seinige znsammenhängend behandeln, und nur die Abweichungen der andern
an gehöriger Stelle beibringen wollte, weil diese dann doch aus ihrem natürlichen
Zusammenhang herausgerissen würden. Das erste geschieht dennoch, was die
Hauptpunkte betrifft, unter dem Namen der Symbolik, das andere unter dem der
komparativen Dogmatik.
§ 99. Beide Disziplinen,
Statistik und Dogmatik, sind
ebenfalls unendlich, und stehen also, was den Unterschied zwischen dem Gemeinbesitz
und dem Gebiet der Virtuosität betrifft, der zweiten Abteilung gleich.
Von der kirchlichen
Statistik leuchtet dies ein. Aber auch im Gebiet der Dogmatik
ist nicht nur jede einzelne Lehre fast ins Unendliche bestimmbar, sondern
auch ihre Darstellung in Bezug auf abweichende Vorstellungsarten anderer Zeiten
und Örter ist ein Unendliches.
§ 100. Jeder muss sich, sowohl
was die Kenntnis des Gesamtverlaufs, als auch, was die des vorliegenden Momentes
betrifft, seine geschichtliche Anschauung selbst bilden.
Sonst würde auch die auf beiden
gleichmäßig beruhende Tätigkeit in der Kirchenleitung keine
selbsttätige sein.
§ 101. Müssen hiezu
geschichtliche Darstellungen gebraucht werden, welche nie frei sein können
von eigentümlichen Ansichten und Urteilen des Darstellenden: so muss auch
jeder die Kunst besitzen, aus denselben das Materiale für seine eigene
Bearbeitung möglichst rein auszuscheiden.
Auch dieses gilt für die Dogmatik
und Statistik nicht minder als für
die Kirchengeschichte.
§ 102. Historische Kritik
ist, wie für das gesamte Gebiet der Geschichtskunde, so auch für die
historische Theologie das allgemeine und unentbehrliche
Organon.
Sie steht als vermittelnde Kunstfertigkeit
den materiellen Hilfswissenschaften gegenüber.
Erster Abschnitt.
Die exegetische Theologie.
Umfang und
Begriff des Kanons (§§
103-109)
§ 103. Nicht alle christliche
Schriften aus dem Zeitraum des Urchristentums sind schon deshalb Gegenstände
der exegetischen Theologie, sondern nur, sofern sie dafür gehalten werden,
zu der ursprünglichen, mithin (vgl. § 83)
für alle Zeiten normalen Darstellung des Christentums beitragen zu können.
Es liegt in der Natur der Sache und
ist auch vollkommen begründet, dass es gleich anfangs auch unvollkommene,
mithin zum Teil falsche Auffassung - also auch Darstellung - des eigentümlich
christlichen Glaubens gegeben hat.
§ 104. Die Sammlung dieser
das Normale in sich tragenden Schriften bildet den neutestamentischen Kanon
der christlichen Kirche.
Das richtige Verständnis von
diesem ist mithin die einzige wesentliche Aufgabe der exegetischen Theologie,
und die Sammlung selbst ihr einziger ursprünglicher Gegenstand.
§ 105. In den neutestamentischen
Kanon gehören wesentlich sowohl die normalen Dokumente von der Wirksamkeit
Christi, an und mit seinen Jüngern, als auch die von der gemeinsamen Wirksamkeit
seiner Jünger zur Begründung des Christentums.
[...] Einen Unterschied in Bezug auf
kanonische Dignität zwischen diesen beiden Bestandteilen festzusetzen,
ist an und für sich kein Grund vorhanden. Welches doch gewissermaßen
der Fall sein würde, wenn man behauptete, beide verhielten sich zu einander,
wie Entstehung und Fortbildung, noch mehr, wenn man der sich selbst überlassenen
Wirksamkeit der Jünger die normale Dignität absprechen dürfte.
§ 106. Da weder die Zeitgrenze
des Urchristentums, noch das Personale desselben genau bestimmt werden kann:
so kann auch die äußere Grenzbestimmung des Kanon nicht vollkommen
fest sein.
Für beides gemeinschaftlich,
Zeit und Personen, ließe sich zwar eine feste Formel für das Kanonische
aufstellen; sie würde aber doch zu keiner sicheren Unterscheidung über
das Vorhandene führen, wegen der über die Persönlichkeit mehrerer
einzelner Schriftsteller obwaltenden Ungewissheit.
§ 107. Diese Unsicherheit
ist ein Schwanken der Grenze zwischen dem Gebiet der Schriften apostolischer
Väter und dem Gebiet der kanonischen Schriften.
Denn das Zeitalter der apostolischen
Väter liegt zwischen dem, in welchem der Kanon erst anfing, zu werden,
und dem, in welchem er schon abgesondert bestand. Und der Ausdruck Apostolische
Väter ist hier in solchem Umfange zu verstehen, dass die Unsicherheit den
ersten Teil des Kanon ebenso trifft, wie den zweiten.
§ 108. Da auch der Begriff
der normalen Dignität nicht kann auf unwandelbar feste Formeln gebracht
werden: so lässt sich auch aus innern Bestimmungsgründen der Kanon
nicht vollkommen sicher umschreiben.
Wenn wir zum normalen Charakter der
einzelnen Sätze auf der einen Seite die vollkommene Reinheit rechnen, auf
der andern die Fülle der daraus zu entwickelnden Folgerungen und Anwendungen:
so haben wir nicht Ursache, die erste anderswo, als nur in Christo schlechthin,
anzunehmen, und müssen zugeben, dass auch auf die zweite bei allen andern
die natürliche Unvollkommenheit hemmend einwirken konnte.
§ 109. Christliche Schriften
aus der kanonischen Zeit, welchen wir die normale Dignität absprechen,
bezeichnen wir durch den Ausdruck Apokryphen, und
der Kanon ist also auch gegen diese nicht vollkommen fest begrenzt.
Die meisten neutestamentischen
Apokryphen führen diesen Namen freilich nur, weil sie dafür
genommen wurden, oder dafür gelten wollten, der kanonischen Zeit anzugehören.
Der Ausdruck selbst ist in dieser Bedeutung willkürlich, und würde
besser mit einem andern vertauscht.
Über
höhere und niedere Kritik (§§
110-124)
§ 110. Die protestantische
Kirche muss Anspruch darauf machen, in der genaueren Bestimmung des Kanon noch
immer begriffen zu sein; und dies ist die höchste exegetisch-theologische
Aufgabe für die höhere Kritik.
Der neutestamentische Kanon hat seine
jetzige Gestalt erhalten durch, wenngleich nicht genau anzugebende, noch in
einem einzelnen Akt nachzuweisende Entscheidung der Kirche, welcher wir ein
über alle Prüfung erhobenes Ansehen nicht zugestehen, und daher berechtigt
sind, an das frühere Schwanken neue Untersuchungen anzuknüpfen. Die
höchste Aufgabe ist diese, weil es wichtiger ist zu entscheiden, ob eine
Schrift kanonisch ist oder nicht, als ob sie diesem oder einem andern Verfasser
angehört, wobei sie immer noch kanonisch sein kann.
§ 111. Die Kritik hat beiderlei
Untersuchungen anzustellen, ob nicht im Kanon Befindliches genau genommen unkanonisch,
und ob nicht außer demselben Kanonisches unerkannt vorhanden sei.
Noch neuerlich ist eine Untersuchung
der letzten Art im Gange gewesen; die von der ersten haben eigentlich nie aufgehört.
§ 112. Beide Aufgaben gelten
nicht nur für ganze Bücher, sondern auch für einzelne Abschnitte
und Stellen derselben.
Ein unkanonisches Buch kann neue kanonische
Stellen enthalten; so wie das meiste, was einem kanonischen Buch von späterer
Hand eingeschoben ist, Unkanonisches sein wird.
§ 113. Wie die höhere
Kritik ihre Aufgabe großenteils nur durch Annäherung löset,
und es keinen andern Maßstab gibt für die Tüchtigkeit eines
Ausspruches, als die Kongruenz der innern und äußern Zeichen: so
kommt es auch hier nur darauf an, wie bestimmt äußere Zeichen darauf
hindeuten, dass ein fragliches Stück entweder dem späteren Zeitraum
der apostolischen Väter oder dem vom Mittelpunkt der Kirche entfernten
Gebiet der apokryphischen Behandlung angehöre, und innere darauf, dass
es nicht in genauem Zusammenhang mit dem Wesentlichen der kanonischen Darstellung
aufgefasst und gedacht sei.
Solange noch beiderlei Zeichen gegeneinander
streiten, oder in jeder Gattung einige auf dieser, andere aber auf jener Seite
stehen, ist keine kritische Entscheidung möglich. - Dass hier unter dem
Mittelpunkt der Kirche weder irgend eine Räumlichkeit, noch auch eine amtliche
Würde zu verstehen sei, sondern nur die Vollkommenheit der Gesinnung und
Einsicht, bedarf wohl keiner Erörterung.
§ 114. Die Kritik könnte
beiderlei ausgemittelt und mit vollkommner Sicherheit, was kanonisch sei, und
was nicht, neu und anders bestimmt haben, ohne dass deshalb notwendig wäre,
den Kanon selbst anders einzurichten.
Notwendig wäre es nicht, weil
das Unkanonische doch als solches kann anerkannt werden, wenn es auch seine
alte Stelle behält, und ebenso das erwiesen Kanonische, wenn es auch außerhalb
des Kanons bliebe. Zulässig aber müsste es dann sein, den Kanon in
zweierlei Gestalt zu haben, in der geschichtlich überlieferten und in der
kritisch ausgemittelten.
§ 115. Dasselbe gilt von
der Stellung der alttestamentischen Bücher in unserer Bibel.
Dass der jüdische Kodex keine
normale Darstellung eigentümlich christlicher Glaubenssätze enthalte,
wird wohl bald allgemein anerkannt sein. Deshalb aber ist nicht nötig -
wiewohl es auch zulässig bleiben muss - von dem altkirchlichen Gebrauch
abzuweichen, der das Alte Testament mit dem Neuen zu einem Ganzen als Bibel
vereinigt.
§ 116. Die Vervielfältigung
der neutestamentischen Bücher aus ihren Urschriften musste denselben Schicksalen
unterworfen sein, wie die aller andern alten Schriften.
Der Augenschein hat alle Vorurteile,
welche hierüber ehedem geherrscht haben, längst schon zerstört.
§ 117. Auch die übergroße
Menge und Verschiedenheit unserer Exemplare von den meisten dieser Bücher
gewährt keine Sicherheit dagegen, dass nicht dennoch die ursprüngliche
Schreibung an einzelnen Stellen kann verloren gegangen sein.
Denn dieser Verlust kann sehr zeitig,
ja schon bei der ersten Abschrift erfolgt sein, und zwar möglicherweise
auch so, dass dies nicht wieder gut gemacht werden konnte.
§ 118. Die definitive Aufgabe
der niederen Kritik, die ursprüngliche Schreibung überall möglichst
genau und auf die überzeugendste Weise auszumitteln, ist auf dem Gebiet
der exegetischen Theologie ganz dieselbe wie anderwärts.
Die Ausdrücke niedere und höhere
Kritik werden hier hergebrachtermaßen gebraucht, ohne weder ihre Angemessenheit
rechtfertigen, noch ihre Abgrenzung gegeneinander genauer bestimmen zu wollen.
§ 119. Der neutestamentische
Kritiker hat also auch, so wie die Pflicht, denselben Regeln zu folgen, so auch
das Recht auf den Gebrauch derselben Mittel.
Weder kann es daher verboten sein,
im Fall der Not (vgl. § 117) Vermutungen zu
wagen, noch kann es besondere Regeln geben, die nicht aus den gemeinsamen müssten
abgeleitet werden können.
§ 120. In demselben Maß,
als die Kritik ihre Aufgabe löst, muss sich auch eine genaue und zusammenhängende
Geschichte des neutestamentischen Textes ergeben und umgekehrt, so dass eines
dem andern zur Probe und Gewährleistung dient.
Selbst was auf dem Wege der Vermutung
Richtiges geleistet wird, muss sich auf Momente der Textgeschichte berufen können,
und umgekehrt müssen auch wieder schlagende Verbesserungen die Geschichte
des Textes erläutern.
§ 121. Für die theologische
Abzweckung der Beschäftigung mit dem Kanon hat die Wiederherstellung des
Ursprünglichen nur da unmittelbaren Wert, wo der normale Gehalt irgendwie
beteiligt ist.
Keineswegs aber soll dies etwa auf
so genannte dogmatische Stellen beschränkt werden, sondern sich auf alles
erstrecken, was für solche auf irgend eine Weise als Parallele oder Erläuterung
gebraucht werden kann.
§ 122. Dies begründet
den, da die kritische Aufgabe ein Unendliches ist, hier notwendig aufzustellenden
Unterschied zwischen dem, was von jedem Theologen zu fordern ist, und dem Gebiet
der Virtuosität.
Die Forderung gilt eigentlich nur
für den protestantischen Theologen; denn der römisch-katholische hat
streng genommen das Recht, zu verlangen, dass ihm die Vulgata, ohne dass eine
kritische Aufgabe übrig bleibe, geliefert werde.
§ 123. Da jeder Theologe
- auch im weiteren Sinne des Wortes - um der Auslegung willen
(vgl. § 89) in den Fall kommen kann (vgl.
§ 121), auch einer kritischen Überzeugung zu bedürfen:
so muss jeder, um sich die Arbeiten der Virtuosen selbsttätig anzueignen
und zwischen ihren Resultaten zu wählen, sowohl die hier zur Anwendung
kommenden kritischen Grundsätze und Regeln inne haben, als auch eine allgemeine
Kenntnis von den wichtigsten kritischen Quellen und ihrem Wert.
Eine notdürftige Anleitung hiezu
findet sich teils in den Prolegomenen der kritischen Ausgaben, teils wird sie
auch unter jenem Mancherlei mitgegeben, welches man Einleitung ins N. Test.
zu nennen pflegt.
§ 124. Von jedem Virtuosen
der neutestamentischen Kritik ist alles zu fordern, was dazu gehört, sowohl
den Text vollständig und folgerecht überall nach gleichen Grundsätzen
zu konstituieren, als auch einen kritischen Apparat richtig und zweckmäßig
anzuordnen.
Dies sind rein philologische Aufgaben.
Es ist aber nicht leicht zu denken, dass ein Philologe ohne Interesse am Christentum
seine Kunst daran wenden sollte, sie für das Neue Testament zu lösen,
da dieses an sprachlicher Wichtigkeit hinter andern Schriften weit zurücksteht.
Sollte es indes jemals der Theologie an solchen Virtuosen fehlen: so gäbe
es auch keine Sicherheit mehr für dasjenige, was für die theologische
Abzweckung dieses Studiums geleistet werden muss.
Über
die sprachlichen Grundlagen der Bibelwissenschaft (§§
125-131)
§ 125. Bei allem Bisherigen
(§§ 116-124) liegt die Voraussetzung
zum Grunde, dass eigene Auslegung nur derjenige bilden kann, welcher mit dem
Kanon in seiner Grundsprache umgeht.
Die kritische Aufgabe hätte sonst
nur einen Wert für den Übersetzer, und zwar auch nur in dem
§ 121 beschriebenen Umfang.
§ 126. Da auch die meisterhafteste
Übersetzung nicht vermag die Irrationalität der Sprachen aufzuheben:
so gibt es kein vollkommenes Verständnis einer Rede oder Schrift anders
als in ihrer Ursprache.
Unter Irrationalität wird nur
dieses Bekannte verstanden, dass weder ein materielles Element, noch ein formelles
der einen Sprache ganz in einem der andern aufgeht. Daher kann eine Rede oder
Schrift vermittelst einer Übersetzung, mithin auch die Übersetzung
selbst als solche, nur demjenigen vollkommen verständlich sein, der sie
auf die Grundsprache zurückzuführen weiß.
§ 127. Die Ursprache der
neutestamentischen Bücher ist die griechische; vieles
(nach § 121) Wichtige aber ist teils unmittelbar als Übersetzung
aus dem Aramäischen anzusehen, teils hat das Aramäische mittelbaren
Einfluss darauf geübt.
Die früheren Behauptungen, dass
einzelne Bücher ursprünglich aramäisch geschrieben seien, sind
schwerlich mehr zu berücksichtigen. Vieles aber von dem, was als Rede oder
Gespräch aufbewahrt worden, ist ursprünglich aramäisch gesprochen.
Der mittelbare Einfluss ist die unter dem Namen des Hebräismus bekannte
Sprachmodifikation.
§ 128. Schon die vielfältigen
direkten und indirekten, in neutestamentischen Büchern auf alttestamentische
genommenen Beziehungen machen eine genauere Bekanntschaft mit diesen Büchern,
also auch in ihrer Grundsprache, notwendig.
Umso mehr, als diese sich zum Teil
auf sehr wichtige Sätze beziehen, worüber die Auslegung selbst gebildet
sein muss, mithin auch. ein richtiges Urteil über das Verhältnis der
gemeinen griechischen Übersetzung des Alten Testaments zur Grundsprache
unerlässlich ist.
§ 129. Je geringer die Verbreitung
und die Produktivität einer Mundart ist, um desto weniger ist sie anders,
als im Zusammenhange mit allen ihr verwandten ganz verständlich. Welches,
auf das Hebräische angewendet, für das vollkommenste Verständnis
des Kanon auch eine hinreichende Kenntnis aller semitischen Dialekte in Anspruch
nimmt.
Von jeher ist daher auch das Arabische
und Rabbinische für die Erklärung der Bibel zugezogen worden.
§ 130. Diese Forderung, welche vielerlei der Abzweckung
unserer theologischen Studien unmittelbar ganz Fremdes in sich schließt,
ist indes nur an diejenigen zu stellen, welche es in der
exegetischen Theologie zur Meisterschaft bringen wollen, und zwar in
dieser bestimmten Beziehung.
Von dieser rein philologischen Richtung
gilt dasselbe, was zu § 124 gesagt worden
ist.
§ 131. Jedem Theologen aber
ist aus dem Gebiet der Sprachkunde zuzumuten eine gründliche Kenntnis der
griechischen, vornehmlich prosaischen Sprache in ihren verschiedenen Entwicklungen,
die Kenntnis beider alttestamentischen Grundsprachen, und vermittelst derselben
eine klare Anschauung von dem Wesen und Umfang des neutestamentischen Hebräismus;
endlich, um die Arbeiten der Virtuosen zu benutzen, außer einer Bekanntschaft
mit der Literatur des ganzen Faches, besonders ein selbstgebildetes Urteil über
das Zuviel und Zuwenig, das Natürliche und das Erkünstelte in der
Anwendung des Orientalischen.
Denn hierin ist aus Liebhaberei von
den einen, aus Vorurteil von den andern, immer wieder nach beiden Seiten hin
gefehlt worden.
Ideen
und Prinzipien der biblischen Hermeneutik
(§§ 132-139)
§ 132. Das vollkommne Verstehen einer Rede oder Schrift ist eine Kunstleistung,
und erheischt eine Kunstlehre oder Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik
bezeichnen.
Kunst, schon in einem engeren Sinne,
nennen wir jede zusammengesetzte Hervorbringung, wobei wir uns allgemeiner Regeln
bewusst sind, deren Anwendung im einzelnen nicht wieder auf Regeln gebracht
werden kann. Mit Unrecht beschränkt man gewöhnlich den Gebrauch der
Hermeneutik nur auf größere Werke oder schwierige Einzelheiten. Die
Regeln können nur eine Kunstlehre bilden, wenn sie aus der Natur des ganzen
Verfahrens genommen sind, und also auch das ganze Verfahren umfassen.
§ 133. Eine solche Kunstlehre
ist nur vorhanden, sofern die Vorschriften ein auf unmittelbar aus der Natur
des Denkens und der Sprache klaren Grundsätzen beruhendes System bilden.
So lange die Hermeneutik noch als
ein Aggregat von einzelnen, wenn auch noch so feinen und empfehlenswerten Beobachtungen,
allgemeinen und besonderen, behandelt wird, verdient sie den Namen einer Kunstlehre
noch nicht.
§ 134. Die protestantische Theologie kann keine Vorstellung
vom Kanon aufnehmen, welche bei der Beschäftigung mit demselben die Anwendung
dieser Kunstlehre ausschlösse.
Denn dies könnte nur geschehen,
wenn man irgendwie ein wunderbar inspiriertes vollkommenes Verständnis
desselben annähme.
§ 135. Die neutestamentischen
Schriften sind sowohl des inneren Gehaltes, als der äußeren Verhältnisse
wegen von besonders schwieriger Auslegung.
Das erste, weil die Mitteilung eigentümlicher,
sich erst entwickelnder religiöser Vorstellungen in der abweichenden Sprachbehandlung
nichtnationaler Schriftsteller zum großen Teil aus einer minder gebildeten
Sphäre sehr leicht missverstanden werden kann. Letzteres weil die Umstände
und Verhältnisse, welche den Gedankengang modifizieren, uns großenteils
unbekannt sind, und erst aus den Schriften selbst müssen erraten werden.
§ 136. Sofern nun der neutestamentische
Kanon vermöge der eigentümlichen Abzweckung der exegetischen
Theologie als Ein Ganzes soll behandelt werden, an und für sich
betrachtet aber jede einzelne Schrift ein eignes Ganze ist, kommt noch die besondere
Aufgabe hinzu, diese beiden Behandlungsweisen gegeneinander auszugleichen und
miteinander zu vereinigen.
Die gänzliche Ausschließung
des einen oder andern dieser Standpunkte, wie sie aus entgegengesetzten theologischen
Einseitigkeiten folgt, hat zu allen Zeiten Irrtümer und Verwirrungen in
das Geschäft der Auslegung gebracht.
§ 137. Die neutestamentische
Spezialhermeneutik kann nur aus genaueren Bestimmungen
der allgemeinen Regeln in Bezug auf die eigentümlichen Verhältnisse
des Kanon bestehen.
Sie kann um so mehr nur allmählich
zu der strengeren Form einer Kunstlehre ausgebildet werden, als sie zu einer
Zeit gegründet wurde, wo auch die allgemeine Hermeneutik
nur noch als eine Sammlung von Observationen bestand.
§ 138. Die Kunstlehre der
Auslegung kann auf zweifache Weise gestaltet werden, ist aber in jeder Fassung
der eigentliche Mittelpunkt der exegetischen Theologie.
Die allgemeine
Hermeneutik kann entweder ganz hervortreten, so dass das Spezielle nur
als Korollarien erscheint, oder umgekehrt kann das Spezielle zusammenhängend
organisiert und auf die allgemeinen Grundsätze dann nur zurückgewiesen
werden. - Die Ausübung ist zwar allerdings durch Sprachkunde und Kritik
bedingt; aber die Grundsätze selbst haben den entschiedensten Einfluss,
sowohl auf die Operationen der Kritik, als auch auf die feineren Wahrnehmungen
in der Sprachkunde.
§ 139. Daher gibt es auch
hier nichts, weshalb sich einer auf andere verlassen dürfte: sondern jeder
muss sich der möglichsten Meisterschaft befleißigen.
Je mehr der Gegenstand schon bearbeitet
ist, um desto weniger darf sich diese gerade in neueren Auslegungen zeigen wollen.
Allgemeine
Schlussbemerkungen (§§
140-148)
§ 140. Keine Schrift kann
vollkommen verstanden werden, als nur im Zusammenhang mit dem gesamten Umfang
von Vorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntnis
aller Lebensbeziehungen, sowohl der Schriftsteller, als derjenigen, für
welche sie schrieben.
Denn jede Schrift verhält sich
zu dem Gesamtleben, wovon sie ein Teil ist, wie ein einzelner Satz zu der ganzen
Rede oder Schrift.
§ 141. Der geschichtliche
Apparat zur Erklärung des Neuen Testamentes umfasst daher die Kenntnis
des älteren und neueren Judentums, sowie die Kenntnis des geistigen und
bürgerlichen Zustandes in den Gegenden, in welchen und für welche
die neutestamentischen Schriften verfasst wurden.
Daher sind die altteatamentischen
Bücher zugleich das allgemeinste Hilfsbuch zum Verständnis des Neuen
Testamentes, nächstdem die alttestamentischen und neutestamentischen Apokryphen,
die späteren jüdischen Schriftsteller überhaupt, sowie die Geschichtsschreiber
und Geographen dieser Zeit und Gegend. Alle diese wollen ebenfalls in ihrer
Grundsprache kritisch und nach den hermeneutischen Regeln gebraucht werden.
§ 142. Viele von diesen Hilfsquellen
sind bis jetzt noch weder in möglichster Vollständigkeit, noch mit
der gehörigen Vorsicht gebraucht worden.
Beides gilt besonders von den gleichzeitigen
und späteren jüdischen Schriften.
§ 143. Dieser Gesamtapparat
nimmt also noch auf lange Zeit die Tätigkeit vieler Theologen in Anspruch,
um die bisherigen Arbeiten der Meister dieses Fachs zu berichtigen und zu ergänzen.
Von einer andern Seite gehen diese
Arbeiten in die Apologetik zurück, indem die
Gegner des Christentums sich immer wieder die Aufgabe stellen, es ganz ans dem,
was schon gegeben war, und zwar nicht immer als Fortschritt und Verbesserung,
zu erklären. Hierher gehört aber nur die reine und vollständige
Zubereitung des geschichtlichen Materials.
§ 144. Was sich hievon zum
Gemeinbesitz eignet, wird, teils unter dem Titel jüdischer und christlicher
Altertümer, teils mit vielerlei anderem verbunden, in der so genannten
Einleitung zum Neuen Testament mitgeteilt.
In der letzteren, die überhaupt
wohl einer Umgestaltung bedürfte, wird noch manches vermisst, was doch
vorzüglich nach § 141 hierher gehört,
weil man es zur Lesung des Neuen Testamentes mitbringen muss. - Was sich jeder
von den Virtuosen dieses Fachs geben lassen kann, findet sich teils in Sammlungen
aus einzelnen Quellen, teils in Kommentaren zu den einzelnen neutestamentischen
Büchern.
§ 145. Die Hauptaufgabe der
exegetischen Theologie ist noch keineswegs als
vollkommen aufgelöst anzusehen.
Selbst wenn man abrechnet, dass es
einzelne Stellen gibt, die teils nie werden mit vollkommener Sicherheit berichtigt,
teils nie zu allgemeiner Befriedigung erklärt werden.
§ 146. Auch für die
hierher gehörigen Hilfskenntnisse besteht die doppelte Aufgabe fort, das
Materiale immer mehr zu vervollständigen, und von dem Verarbeiteten immer
mehr in Gemeinbesitz zu verwandeln.
Schon das erste Studium unter der
Anleitung der Meister muss nicht nur den Grund zu dem letzten legen, und vermittelst
desselben die Ausübung der Kunstlehre gemäß beginnen, sondern
auch die verschiedenen einzelnen Gebiete in Bezug auf die darin noch zu erwerbende
Meisterschaft wenigstens aufschließen.
§ 147. Eine fortgesetzte
Beschäftigung mit dem neutestamentischen Kanon, welche nicht durch eigenes
Interesse am Christentum motiviert wäre, könnte nur gegen denselben
gerichtet sein.
Denn die rein philologische und historische
Ausbeute, die der Kanon verspricht, ist nicht reich genug, um zu einem solchen
zu reizen. Aber auch die Untersuchungen der Gegner (vgl.
§ 143) sind sehr förderlich geworden und werden es auch in
Zukunft werden.
§ 148. Jede Beschäftigung mit dem Kanon ohne philologischen
Geist und Kunst muss sich in den Grenzen des Gebietes der Erbauung halten; denn
in dem der Theologie könnte sie nur durch pseudodogmatische Tendenz Verwirrung
anrichten.
Denn ein reines und genaues Verstehenwollen
kann bei einem solchen Verfahren nicht zum Grunde liegen.
Zweiter Abschnitt.
Die historische Theologie
im engeren Sinn oder die Kirchengeschichte.
Die allgemeinen
Prinzipien der Geschichtswissenschaft (§§
149-159)
§ 149. Die Kirchengeschichte
im weiteren Sinne (vgl. § 90) ist das Wissen
um die gesamte Entwicklung des Christen¬tums, seitdem es sich als geschichtliche
Erscheinung festgestellt hat.
Was dasselbe abgesehen hievon nach
außen hin gewirkt hat, gehört nicht mit in dieses Gebiet.
§ 150. Jede geschichtliche
Masse lässt sich auf der einen Seite ansehen als Ein untrennbares werdendes
Sein und Tun, auf der andern als ein Zusammengesetztes aus unendlich vielen
einzelnen Momenten. Die eigentlich geschichtliche Betrachtung ist das Ineinander
von beiden.
Das eine ist nur der eigentümliche
Geist des Ganzen, in seiner Beweglichkeit angeschaut, ohne dass sich bestimmte
Tatsachen sondern; das andere nur die Aufzählung der Zustände in ihrer
Verschiedenheit, ohne dass sie in der Identität des Impulses zusammengefasst
werden. Die geschichtliche Betrachtung ist beides, das Zusammenfassen eines
Inbegriffs von Tatsachen in Ein Bild des Innern, und die Darstellung des Innern
in dem Auseinandertreten der Tatsachen.
§ 151. So ist auch jede Tatsache
nur eine geschichtliche Einzelheit, sofern beides identisch gesetzt wird, das
Äußere, Veränderung im Zugleichseienden, und das Innere, Funktion
der sich bewegenden Kraft.
Das Innere ist in diesem Ausdruck
als Seele gesetzt, das Äußere als Leib, das Ganze mithin als ein
Leben.
§ 152. Das Wahrnehmen und Im-Gedächtnis-Festhalten
der räumlichen Veränderungen ist eine fast nur mechanische Verrichtung,
wogegen die Konstruktion einer Tatsache, die Verknüpfung des Äußeren
und Inneren zu einer geschichtlichen Anschauung, als eine freie geistige Tätigkeit
anzusehen ist.
Daher auch, was mehrere ganz als dasselbe
wahrgenommen, sie doch als Tatsache verschieden auffassen.
§ 153. Die Darstellung der
räumlichen Veränderungen als solcher in ihrer Gleichzeitigkeit und
Folge ist nicht Geschichte, sondern Chronik; und eine solche von der christlichen
Kirche könnte sich nicht als eine theologische Disziplin geltend machen.
Denn sie gäbe von dem Gesamtverlauf
dasjenige nicht, was in einer Beziehung zur Kirchenleitung steht.
§ 154. Nur der Stetigkeit
wegen müssen auch in die geschichtliche Auffassung solche Ereignisse mit
aufgenommen werden, die eigentlich nicht als geschichtliche Elemente anzusehen
sind.
Dahin gehört der Wechsel der
Personen, welche an ausgezeichneten Stellen wirksam waren, wenn auch ihre persönliche
Eigentümlich¬keit keinen merklichen Einfluss auf ihre öffentlichen
Handlungen gehabt hat.
§ 155. Die geschichtliche
Auffassung ist ein Talent, welches sich in jedem durch das eigne geschichtliche
Leben, wiewohl in verschiedenem Grade, entwickelt, niemals aber jener mechanischen
Fertigkeit ganz entbehren kann.
Wie im gemeinen Leben, so auch im
wissenschaftlichen Gebiet verfälscht ein aufgeregtes selbstisches Interesse,
mithin auch jedes Parteiwesen, am meisten den geschichtlichen Blick.
§ 156. Zu dem geschichtlichen
Wissen um das nicht Selbsterlebte gelangt man auf zwiefachem Wege, unmittelbar,
aber mühsam zusammenschauend, durch die Benutzung der Quellen, leicht,
aber nur mittelbar, durch den Gebrauch geschichtlicher Darstellungen.
Nicht leicht wird es auf irgend einem
geschichtlichen Gebiet möglich sein, auf dem der Kirchengeschichte aber
gewiss nicht, der letzteren zu entraten.
§ 157. Quellen im engeren
Sinn nennen wir Denkmäler und Urkunden, welche dadurch für eine Tatsache
zeugen, dass sie selbst einen Teil derselben ausmachen.
Geschichtliche Darstellungen von Augenzeugen
sind in diesem strengeren Sinn schon nicht mehr Quellen. Doch verdienen sie
den Namen um so mehr, je mehr sie sich der Chronik nähern, und ganz anspruchslos
nur das Wahrgenommene wiedergeben.
§ 158. Aus geschichtlichen
Darstellungen kann man nur zu einer eigenen geschichtlichen Auffassung gelangen,
indem man das von dem Schriftsteller Hineingetragene ausscheidet.
Dies wird erleichtert, wenn man mehrere
Darstellungen derselben Reihe von Tatsachen vergleichen kann, um so mehr, wenn
sie aus verschiedenen Gesichtspunkten genommen sind.
§ 159. Zu dem Wissen um einen
Gesamtzustand, wie er ein Bild des Inneren (vgl. §
150) darstellt, gelangt man nur durch beziehende Verknüpfung einer
Masse von zusammen¬gehörigen Einzelheiten.
Dies ist daher die größte,
alles andere voraussetzende und in sich schließende Leistung der geschichtlichen
Auffassungsgabe.
Die allgemeine Aufgabe der Kirchengeschichte
(§§ 160-165)
§ 160. Die Kirchengeschichte
im weiteren Sinn (vgl. § 90) soll als theologische
Disziplin vorzüglich dasjenige, was aus der eigentümlichen Kraft des
Christentums hervorgegangen ist, von dem, was teils in der. Beschaffenheit der
in Bewegung gesetzten Organe, teils in der Einwirkung fremder Prinzipien seinen
Grund hat, unterscheiden, und beides in seinem Hervortreten und Zurücktreten
zu messen suchen.
Nur war es eine sehr verfehlte Methode,
um deswillen die Darstellung selbst zu teilen in die der günstigen und
der ungünstigen Ereignisse.
§ 161. Von dem ersten Eintritt
des Christentums an, also auch schon in der Zeit des Urchristentums, kann man
verschiedene, selbst wieder mannigfaltig teilbare Funktionen dieses neuen wirksamen
Prinzips unterscheiden, und auch in der geschichtlichen Darstellung voneinander
sondern.
Auch dies gilt allgemein von allen
bedeutenden geschichtlichen Erscheinungen, von allen religiösen Gemeinschaften
nicht nur, sondern auch von den bürgerlichen.
§ 162. Keine von diesen Funktionen
aber ist in ihrer Entwicklung ohne ihre Beziehung auf die anderen vollkommen
zu verstehen; und jeder als ein relatives Ganze auszusondernde Zeitteil wird
nur durch die Gegenseitigkeit ihrer Einwirkungen aufeinander, was er ist.
Denn die lebendige Kraft ist in jedem
Momente ganz gesetzt, und kann daher nur ergriffen werden in der gegenseitigen
Bedingtheit aller verschiedenen Funktionen.
§ 163. Der Gesamtverlauf des Christentums kann also nur
vollständig aufgefasst werden durch die. vielseitige Kombination beider
Verfahrungsarten, indem jede, was der andern auf einem Punkte gefehlt hat, auf
einem andern ergänzen muss.
Während wir nur die eine Funktion
verfolgen, bleibt uns die Anschauung des Gesamtlebens aus den Augen gerückt,
und wir müssen uns vorbehalten, diese nachzuholen. Während wir die
gleichzeitigen Züge zu Einem Bilde zusammenschauen, vermögen wir nicht
die einzelnen Elemente genau zu schätzen, und müssen uns vorbehalten,
sie an dem gleichartigen Früheren und Späteren zu messen.
§ 164. Je mehr man die verschiedenen
Funktionen bei der geschichtlichen Betrachtung ins Einzelne und Kleine zerspaltet,
desto öfter muss man Punkte zwischeneinschieben, welche das getrennt Gewesene
wieder vereinigen. Je größer die parallelen Massen genommen werden,
desto länger kann man die Betrachtung der einzelnen ununterbrochen fortsetzen.
Die Perioden können also desto
größer und müssen desto kleiner sein, je größere
oder kleinere Funktionen man behandelt.
§ 165. Die wichtigsten Epochenpunkte
indes sind immer solche, die nicht nur für alle Funktionen des Christentums
den gleichen Wert haben, sondern auch für die geschichtliche Entwicklung
außer der Kirche bedeutend sind.
Da die Erscheinung des Christentums
selbst zugleich ein weltgeschichtlicher Wendepunkt ist: so kommen diesem andere
auch nur in dem Maße nahe, als sie ihm hierin gleichen.
Die Außenseite
der Kirchengeschichte (Kirchengeschichte
im engeren Sinne; Verfassungsgeschichte)
(§§
166-176)
§ 166. Die Bildung der Lehre,
oder das sich zur Klarheit bringende fromme Selbstbewusstsein, und die Gestaltung
des gemeinsamen Lebens, oder der sich in jedem durch alle und in allen durch
jeden befriedigende Gemeinschaftstrieb sind die beiden sich am leichtesten sondernden
Funktionen in der Entwicklung des Christentums.
Dies gibt sich dadurch zu erkennen,
dass auf der einen Seite große Veränderungen vor sich gehen, während
auf der andern alles beim Alten bleibt, und für die eine Seite ein Zeitpunkt
bedeutend ist als Entwicklungsknoten, der für die andere bedeutungslos
erscheint.
§ 167. Die Bildung des kirchlichen Lebens wird vorzüglich
mitbestimmt (vgl. § 160) durch die politischen
Verhältnisse und den gesamten geselligen Zustand; die Entwicklung der Lehre
hingegen durch den gesamten wissenschaftlichen Zustand, und vorzüglich
durch die herrschenden Philosopheme.
Dieses Mitbestimmtwerden ist natürlich
und unvermeidlich, bedingt mithin nicht schon an und für sich krankhafte
Zustände, enthält aber allerdings den Grund ihrer Möglichkeit.
- Allgemeinere epochemachende Punkte, welche von einer neuen Entwicklung der
Erkenntnis ausgehen, werden sich in der christlichen Kirche auch am meisten
in der Geschichte der Lehre, solche hingegen, welche von Entwicklungen des bürgerlichen
Zustandes ausgehen, werden sich auch am meisten in dem kirchlichen Leben kundgeben.
§ 168. Auf der Seite des
kirchlichen Lebens sondern sich wiederum am leichtesten die Entwicklung des
Kultus, d. h. der öffentlichen Mitteilungsweise religiöser Lebensmomente,
und die Entwicklung der Sitte, d. h. des gemeinsamen Gepräges, welches
der Einfluss des christlichen Prinzips den verschiedenen Gebieten des Handelns
aufdrückt.
Der Kultus verhält sich zu der
Sitte, wie das beschränktere Gebiet der Kunst im engeren Sinne zu dem unbestimmteren
des geselligen Lebens überhaupt.
§ 169. Die Entwicklung des
Kultus wird vorzüglich mitbestimmt durch die Beschaffenheit der dazu geeigneten,
in der Gesellschaft vorhandenen Darstellungsmittel, und durch deren Verteilung
in der Gesellschaft. Die Fortbildung der christlichen Sitte hingegen durch den
Entwicklungs- und Verteilungszustand der geistigen Kräfte überhaupt.
Nämlich was das erste betrifft,
so beruht die Mitteilung oder der Umlauf religiöser Erregungen, welcher
nach denselben bewirkt werden soll, lediglich auf der Darstellung. Was das andere
betrifft, so ruhen in diesem Zustand alle Motive, deren sich die religiöse
Gesinnung bemächtigen soll.
§ 170. Beide aber, Sitte
und Kultus, sind in ihrer Fortbildung auch so sehr aneinander gebunden, dass,
wenn sie in dem Maß von Bewegung oder Ruhe zu sehr voneinander ab weichen,
entweder der Kultus das Ansehen gewinnt, in leere Gebräuche oder Aberglauben
ausgeartet zu sein, während das christliche Leben sich in der Sitte bewährt,
oder umgekehrt ruht auf der herrschenden Sitte der Schein, dass sie, während
die christliche Frömmigkeit sich durch den Kultus erhält, nur das
Ergebnis fremder Motive darstelle.
In dieser verschiedenen Beurteilungsweise
bekundet sich ein mit jener Ungleichmäßigkeit zusammenhängender
innerer Gegensatz unter den Gliedern der Gemeinschaft.
§ 171. Je plötzlicher
auf einem von beiden Gebieten bedeutende Veränderungen eintreten, nm desto
mehreren Reaktionen sind sie ausgesetzt; wogegen nur die langsameren sich als
gründlich bewähren.
Das erste versteht sich indes nur
von solchen Veränderungen, die nicht zugleich auch mehrere Gebiete umfassen.
Dergleichen werden daher leicht voreilig als epochemachende Punkte angesehen,
da doch oft wenig Wirkungen von ihnen zurückbleiben.
§ 172. Langsame Veränderungen
können nicht als fortlaufende Reihe aufgefasst, sondern nur an einzeln
hervorzuhebenden Punkten zur Anschauung gebracht werden, welche die Fortschritte
von einer Zeit zur andern darstellen.
Auch diese aber dürfen nicht
willkürlich gewählt werden, sondern sie müssen, wenn auch nur
in untergeordnetem Sinn, eine Ähnlichkeit haben mit epochemachenden Punkten.
§ 173. Die geschichtliche
Auffassung ist auf diesem Gebiet desto vollkommener, je bestimmter das Verhältnis
des christlichen Impulses zu der sittlichen und künstlerischen Konstitution
der Gesellschaft vor Augen tritt, und je überzeugender, was der gesunden
Entwicklung des religiösen Prinzips angehört, von dem Schwächlichen
und Krankhaften geschieden wird.
Denn dadurch wird den Ansprüchen
der Kirchenleitung an eine christliche Geschichtskunde genügt.
§ 174. Die kirchliche Verfassung kann zumal in der evangelischen
Kirche, wo es ihr an aller äußeren Sanktion fehlt, nur als dem Gebiet
der Sitte angehörig betrachtet werden.
Dieser Satz liegt, recht verstanden,
jenseits aller über das evangelische Kirchenrecht noch obwaltenden Streitigkeiten,
und spricht nur den wesentlichen Unterschied zwischen bürgerlicher und
kirchlicher Verfassung aus.
§ 175. Diejenigen größeren
Entwicklungsknoten, welche außer der Kirche auch das bürgerliche
Leben affizieren, werden sich in der Kirche am unmittelbarsten und stärksten
in der Verfassung offenbaren.
Weil doch kein anderer Teil der christlichen
Sitte so sehr (vgl. § 167) mit den politischen
Verhältnissen zusammenhängt.
§ 176. Die kirchliche
Verfassung ist am meisten dazu geeignet, dass sich an ihre Entwicklung
die geschichtliche Darstellung des gesamten christlichen Lebens anreihe.
Denn sie hat den unmittelbarsten Einfluss
auf den Kultus, verdankt ihre Haltung dem Gesamtzustand der Sitte, und ist zugleich
der Ausdruck von dem Verhältnis der religiösen Gemeinschaft zur bürgerlichen.
Die Innenseite
der Kirchengeschichte (Dogmengeschichte)
(§§ 177-183)
§ 177. Der Lehrbegriff entwickelt
sich einerseits durch die fortgesetzt auf das christliche Selbstbewusstsein
in seinen verschiedenen Momenten gerichtete Betrachtung, andrerseits durch das
Bestreben, den Ausdruck dafür immer übereinstimmender und genauer
festzustellen.
Beide Richtungen hemmen sich gegenseitig,
indem die eine nach außen geht, die andere nach innen. Daher charakterisieren
sich verschiedene Zeiten durch das Übergewicht der einen oder der andern.
§ 178. Die Ordnung, in welcher
hiernach die verschiedenen Punkte der Lehre hervortreten und die Hauptmassen
der didaktischen Sprache sich gestalten, muss im großen wenigstens begriffen
werden können aus dem eigentümlichen Wesen des Christentums.
Denn es wäre widernatürlich,
wenn Vorstellungen, die diesem am nächsten verwandt sind, sich zuletzt
entwickeln sollten.
§ 179. Nur in einem krankhaften
Zustande der Kirche können einzelne persönliche oder gar außerkirchliche
Verhältnisse einen bedeutenden Einfluss auf den Gang und die Ergebnisse
der Beschäftigung mit dem Lehrbegriff ausüben.
Wenn dies dennoch nicht selten der
Fall gewesen ist: so haben doch zumal neuere Geschichtsschreiber weit mehr,
als der Wahrheit gemäß ist, auf Rechnung solcher Verhältnisse
geschrieben.
§ 180. Je weniger die Entwicklung
des Lehrbegriffs frei bleiben kann von Schwanken und Zwiespalt: um desto mehr
tritt auch das Bestreben hervor, teils die Übereinstimmung eines Ausdrucks
mit den Äußerungen des Urchristentums nachzuweisen, teils ihn auf
anderweitig zugestandene, nicht aus dem christlichen Glauben erzeugte Sätze,
die dann Philosopheme sein werden, zurückzuführen.
Beides würde, wiewohl später
und nicht in demselben Maße, geschehen, wenn auch kein Streit obwaltet;
denn zu jenem treibt schon der christliche Gemeingeist, zu dem andern das Bedürfnis,
sich von der Zusammenstimmung des zur Klarheit gekommenen frommen Selbstbewusstseins
und der spekulativen Produktion zu überzeugen.
§ 181. Nur in einem krankhaften
Zustande kann beides so gegeneinander treten, dass die einen nicht
wollen über die urchristlichen Äußerungen hinaus die Lehre bestimmen,
die andern philosophische Sätze in die christliche Lehre einführen,
ohne auch nur durch Beziehung auf den Kanon nachweisen zu wollen, dass sie auch
dem christlichen Bewusstsein angehören.
Jene wirken hemmend auf die Entwicklung
der Lehre, diese trüben und verfälschen ebenso das Prinzip derselben.
§ 182. Die Änderungen,
welche das Verhältnis beider Richtungen erleidet, zu kennen, gehört
wesentlich zum Verständnis der Entwicklung der Lehre.
Nur zu oft erhält man durch Verabsäumung
solcher Momente nur eine Chronik statt der Geschichte, und die theologische
Abzweckung der Disziplin geht ganz verloren.
§ 183. Eben so wichtig ist,
Kenntnis zu nehmen von dem Verhältnis in den Bewegungen der theoretischen
Lehren und der praktischen Dogmen, und, wo sie weit auseinander gehen, ist es
natürlich, die eigentliche Dogmengeschichte zu trennen von der Geschichte
der christlichen Sittenlehre.
Im ganzen ist allerdings die eigentliche
Glaubenslehre durch vielfältigere und heftigere Bewegungen gebildet worden;
doch darf die entgegengesetzte Richtung um so weniger übersehen werden.
Zur Methode
des kirchengeschichtlichen Studiums (§§
184-194)
§ 184. Bedenken wir, wieviel
Hilfskenntnisse erfordert werden, um diese verschiedenen Zweige der Kirchengeschichte
zu verfolgen: so ist dieses Gebiet offenbar ein unendliches, und postuliert
einen großen Unterschied zwischen dem, was jeder inne haben muss, und
dem, was (vgl. § 92) nur durch die Vereinigung
aller Virtuosen gegeben ist.
Zu diesen Hilfskenntnissen gehört,
wenn alles im Zusammenhang verstanden werden soll, die gesamte irgend zeitverwandte
Geschichtskunde, und, wenn alles aus den Quellen entnommen werden soll, das
ganze betreffende philologische Studium und vornehmlich die diplomatische Kritik.
§ 185. Im allgemeinen kann
nur gesagt werden, dass aus diesem unendlichen Umfang jeder Theologe dasjenige
inne haben muss, was mit seinem selbständigen Anteil an der Kirchenleitung
znsammen hängt.
Diese dem Anschein nach sehr beschränkte
Formel setzt aber voraus, dass jeder außer seiner bestimmten lokalen Tätigkeit
auch einen allgemeinen, wenn gleich in seinen Wirkungen nicht bestimmt nachzuweisenden
Einfluss auszuüben strebt.
§ 186. Wie nun der jedesmalige
Zustand, aus welchem ein neuer Moment entwickelt werden soll, nur aus der gesamten
Vergangenheit zu begreifen ist, zunächst aber doch der letzten epochemachenden
Begebenheit angehört: so ist die richtige Anschauung von dieser, durch
alle früheren Hauptrevolutionen nach Maßgabe ihres Zusammenhanges
mit derselben deutlich gemacht, das erste Haupterfordernis.
Dass hier keine besondere Rücksicht
darauf genommen werden kann, ob der gegenwärtige Moment schon mehr die
künftige Epoche vorbereitet, liegt am Tage; denn dies selbst muss zunächst
aus seinem Verhältnis zur letzten beurteilt werden.
§187. Damit aber dieses nicht
eine Reihe einzelner Bilder ohne Zusammenhang bleibe, müssen sie verbunden
werden durch das nicht dürftig ausgefüllte Netz (vgl.
§ 91) der Hauptmomente aus jedem kirchengeschichtlichen Zweige in
jeder Periode.
Und dieses muss als Fundament selbständiger
Tätigkeit auch ein womöglich aus verschiedenartigen Darstellungen
Zusammengeschautes sein.
§ 188. Zu einer lebendigen,
auch als Impuls kräftigen, geschichtlichen Anschauung gedeiht aber auch
dieses nur, wenn der ganze Verlauf zugleich (vgl. §
150) als die Darstellung des christlichen Geistes in seiner Bewegung
aufgefasst, mithin alles auf Ein Inneres bezogen wird.
Erst unter dieser Form kann die Kenntnis
des Gesamtvorlaufs auf die Kirchenleitung einwirken.
§ 189. Jede lokale Einwirkung
erfordert eine genauere und, nach Maßgabe des Zusammenhanges mit der Gegenwart,
der Vollständigkeit annähernde Kenntnis dieses besonderen Gebietes.
Die Regel modifiziert sich von selbst
nach dem Umfang der Lokalität, indem die kleinste einer einzelnen Gemeine
oft in dem Fall ist, eine besondere Geschichte nicht zu haben, sondern nur als
Teil eines größeren Ganzen gelten zu können.
190. Jeder muss auch wenigstens
an einem kleinen Teil der Geschichte sich im eigenen Aufsuchen und Gebrauch
der Quellen üben.
Sei es nun, dass er nur beim Studium
genau und beharrlich auf die Quellen zurückgehe, oder dass er selbständig
aus den Quellen zusammensetze. Sonst möchte einem schwerlich auch nur so
viel historische Kritik zu Gebote stehen, als zum richtigen Gebrauch abweichender
Darstellungen erfordert wird.
§ 191. Eine über diesen
Maßstab hinausgehende Beschäftigung mit der Kirchengeschichte muss
neue Leistungen beabsichtigen.
Nichts ist unfruchtbarer, als eine
Anhäufung von geschichtlichem Wissen, welches weder praktischen Beziehungen
dient, noch sich anderen in der Darstellung hingibt.
§ 192. Diese können
sowohl auf Berichtigung oder Vervollständigung des Materials, als auch
auf größere Wahrheit und Lebendigkeit der Darstellung gehen.
Die Mängel in allen diesen Beziehungen
sind noch leicht zu erklären.
§ 193. Das kirchliche Interesse
und das wissenschaftliche können bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte
nicht in Widerspruch miteinander geraten.
Da wir uns bescheiden, für andere
keine Regeln zu geben, beschränken wir den Satz auf unsere Kirche, welcher,
als einer forschenden und sich selbst fortbildenden Gemeinschaft, auch die vollkommenste
Unparteilichkeit nicht zum Nachteil gereichen, sondern nur förderlich sein
kann. Darum darf auch das lebhafteste Interesse der evangelischen Theologen
an seiner Kirche doch weder seiner Forschung, noch seiner Darstellung Eintrag
tun. Und ebensowenig ist zu fürchten, dass die Resultate der Forschung
das kirchliche Interesse schwächen werden; sie können ihm im schlimmsten
Fall nur den Impuls geben, zur Beseitigung der erkannten Unvollkommenheiten
mitzuwirken.
§ 194. Die kirchengeschichtlichen
Arbeiten eines jeden müssen teils aus seiner Neigung hervorgehen, teils
durch die Gelegenheiten bestimmt werden, die sich ihm darbieten.
Ein lebhaftes theologisches Interesse
wird immer die erste den letzten zuzuwenden, oder für erstere auch die
letztere herbeizuschaffen wissen.
Dritter Abschnitt.
Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums
Einleitung
§ 195. Wir haben es hier
zu tun (vgl. § 94-97) mit der dogmatischen
Theologie, als der Kenntnis der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden
Lehre, und mit der kirchlichen Statistik, als der Kenntnis des gesellschaftlichen
Zustandes in allen verschiedenen Teilen der christlichen Kirche.
Der hier der dogmatischen Theologie
angewiesene Ort, welche sonst auch unter dem Namen der systematischen Theologie
eine ganz andere Stelle einnimmt, muss sich selbst vermittelst der weiteren
Ausführung rechtfertigen. Hier ist nur nachzuweisen, dass die beiden genannten
Disziplinen die Überschrift in ihrem ganzen Umfang erschöpfen. Dies
erhellt daraus, dass es eigentlich in der Kirche, wie sie ganz Gemeinschaft
ist, nichts zu erkennen gibt, was nicht ein Teil ihres gesellschaftlichen Zustandes
wäre. Die Lehre ist nur aus diesem, weil ihre Darstellung einer eigentümlichen
Behandlung fähig und bedürftig ist, herausgenommen. Dies konnte allerdings
mit anderen Teilen des gesellschaftlichen Zustandes auch geschehen; solche sind
aber noch nicht als theologische Disziplinen besonders bearbeitet. Kann aber
in Zeiten, wo die Kirche geteilt ist, (nach § 98)
nur jede einzelne Kirchengemeinschaft ihre eigene Lehre dogmatisch bearbeiten:
so fragt sich, wie kommt der evangelische Theologe zur Kenntnis der in andern
christlichen Kirchengemeinschaften geltenden Lehre, und welchen Ort kann unsere
Darstellung dazu anweisen? Am unmittelbarsten durch die dogmatischen Darstellungen,
welche sie selbst davon geben, die aber für ihn mir geschichtliche Berichte
werden. Der Ort aber in unserer Darstellung ist die bis auf den gegenwärtigen
Moment verfolgte Geschichte der christlichen Lehre, für welche jene Darstellungen
die echten Quellen sind. Aber auch die Statistik kann bei jeder Gemeinschaft
einen besonderen Ort haben für die Lehre derselben.
I. Die dogmatische Theologie.
Begriff
und Aufgabe der Dogmatik
(§§ 196-202)
§ 196. Eine dogmatische Behandlung
der Lehre ist weder möglich ohne eigne Überzeugung, noch ist notwendig,
dass alle, die sich auf dieselbe Periode derselben Kirchengemeinschaft beziehen,
unter sich übereinstimmen.
Beides könnte man daraus schließen
wollen, dass sie es nur (vgl. §§ 97 und 98)
mit der zur gegebenen Zeit geltenden Lehre zu tun habe. Allein wer von
dieser nicht überzeugt ist, kann zwar über dieselbe, und auch über
die Art, wie der Zusammenhang darin gedacht wird, Bericht erstatten, aber nicht
diesen Zusammenhang durch seine Aufstellung bewähren. Nur dieses letzte
aber macht die Behandlung zu einer dogmatischen; jenes ist nur eine geschichtliche,
wie einer und derselbe sie bei gehöriger Kenntnis auf die gleiche Weise
von allen Systemen geben kann. - Die gänzliche Übereinstimmung aber
ist in der evangelischen Kirche deshalb nicht notwendig, weil auch zu derselben
Zeit bei uns Verschiedenes nebeneinander gilt. Alles nämlich ist als geltend
anzusehen, was amtlich behauptet und vernommen wird, ohne amtlichen Widerspruch
zu erregen. Die Grenzen dieser Differenz sind daher allerdings nach Zeit und
Umständen weiter und enger gesteckt.
§ 197. Weder eine bewährende
Aufstellung eines Inbegriffs von überwiegend abweichenden und nur die Überzeugung
des einzelnen ausdrückenden Sätzen würden wir eine Dogmatik nennen,
noch auch eine solche, die in einer Zeit auseinander gehender Ansichten nur
dasjenige aufnehmen wollte, worüber gar kein Streit obwaltet.
Das erste wird niemand in Abrede stellen.
Aber auch die von da ausgehende Streitfrage, ob Lehrbücher wirklich für
dogmatische gelten können, welche über die geltende Lehre nur geschichtlich
berichten, bewährend aber nur Sätze aufstellen, gegen welche amtlicher
Einspruch erhoben werden könnte, gereicht noch unserm Begriff zur Bestätigung.
- Eine lediglich irenische Zusammenstellung wird großenteils so dürftig
und unbestimmt ausfallen, dass es nicht nur, um eine Bewährung hervorzubringen,
überall an den Mittelgliedern fehlen wird, sondern auch an der nötigen
Schärfe der Begriffsbestimmung, um der Darstellung Vertrauen zu verschaffen.
§ 198. Die dogmatische
Theologie hat für die Leitung der Kirche zunächst den Nutzen,
zu zeigen, wie mannigfaltig und bis auf welchen Punkt das Prinzip der laufenden
Periode sich nach allen Seiten entwickelt hat und wie sich dazu die der Zukunft
anheim fallenden Keime verbesserter Gestaltungen verhalten. Zugleich gibt sie
der Ausübung die Norm für den volksmäßigen Ausdruck, um
die Rückkehr alter Verwirrungen zu verhüten und neuen zuvorzukommen.
Dieses Interesse der Ausübung
fällt lediglich in die erhaltende Funktion der Kirchenleitung, und ursprünglich
hievon ist die allmähliche Bildung der Dogmatik ausgegangen. Die Teilung
des ersten erklärt sich aus dem, was über den Gehalt eines jeden Momentes
im Allgemeinen (vgl. § 91) gesagt ist.
§ 199. In jedem für
sich darstellbaren Moment (vgl. § 93) tritt
das, was in der Lehre aus der letztvorangegangenen Epoche herrührt, als
das am meisten kirchlich Bestimmte auf, dasjenige aber, wodurch mehr der folgenden
Bahn gemacht wird, als von einzelnen ausgehend.
Das erste nicht nur mehr kirchlich
bestimmt, als das letzte, sondern auch mehr, als das aus früheren Perioden
mit Herübergenommene; das letztere um so mehr nur auf einzelne zurückzuführen,
je weniger noch eine neue Gestaltung sich bestimmt ahnden lässt.
§ 200. Alle Lehrpunkte, welche durch das die Periode dominierende
Prinzip entwickelt sind, müssen unter sich zusammenstimmen; wogegen alle
andern, solange man von ihnen nur sagen kann, dass sie diesen Ausgangspunkt
nicht haben, als unzusammenhängende Vielheit erscheinen.
Das dominierende Prinzip kann aber
selbst verschieden aufgefasst sein, und daraus entstehen mehrere in sich zusammenhangende,
aber voneinander verschiedene dogmatische Darstellungen, welche, und vielleicht
nicht mit Unrecht, auf gleiche Kirchlichkeit Anspruch machen. - Wenn die heterogenen
vereinzelten Elemente zusammengehen, geben sie sich entweder als eine neue Auffassung
des schon dominierenden Prinzips zu erkennen, oder sie verkündigen die
Entwicklung eines neuen.
§ 201. Wie zur vollständigen
Kenntnis des Zustandes der Lehre nicht nur dasjenige gehört, was in die
weitere Fortbildung wesentlich verflochten ist, sondern auch das, was, wenn
es auch als persönliche Ansicht nicht unbedeutend war, doch als solche
wieder verschwindet: so muss auch eine umfassende dogmatische Behandlung alles
in ihrer Kirchengemeinschaft gleichzeitig Vorhandene verhältnismäßig
berücksichtigen.
Der Ort hierzu muss sich immer finden,
wenn in dem Bestreben, den aufgestellten Zusammenhang zu bewähren, Vergleichungen
und Parallelen nicht versäumt werden.
202. Eine dogmatische Darstellung
ist desto vollkommener, je mehr sie neben dem Assertorischen
auch divinatorisch ist.
In jenem zeigt sich die Sicherheit
der eigenen Ansicht; in diesem die Klarheit in der Auffassung des Gesamtzustandes.
Orthodoxie
und Heterodoxie (§§
203-208)
§ 203. Jedes Element der
Lehre, welches in dem Sinne konstruiert ist, das bereits allgemein Anerkannte
zusamt den natürlichen Folgerungen daraus festzuhalten, ist orthodox; jedes
in der Tendenz Konstruierte, den Lehrbegriff beweglich zu erhalten und anderen
Auffassungsweisen Raum zu machen, ist heterodox.
Es scheint zu eng, wenn man diese
Ausdrücke ausschließlich auf das Verhältnis der Lehrmeinungen
zu einer aufgestellten Norm beziehen will; derselbe Gegensatz kann auch stattfinden,
wo es eine solche nicht gibt. Nach obiger Erklärung kann vielmehr aus der
orthodoxen Richtung erst das Symbol hervorgehen, und so ist es oft genug geschehen.
Was aber fremd scheinen kann an dieser Erklärung, ist, dass sie gar nicht
auf den Inhalt der Sätze an und für sich zurückgeht; und doch
rechtfertigt sich auch dieses leicht bei näherer Betrachtung.
§ 204. Beide sind, wie für
den geschichtlichen Gang des Christentums überhaupt, so auch für jeden
bedeutenden Moment als solchen, gleich wichtig.
Wie es bei aller Gleichförmigkeit
doch keine wahre Einheit gäbe ohne die ersten: so bei aller Verschiedenheit
doch keine bewusste freie Beweglichkeit ohne die letzten.
§ 205. Es ist falsche Orthodoxie,
auch dasjenige in der dogmatischen Behandlung noch festhalten zu wollen; was
in der öffentlichen kirchlichen Mitteilung schon ganz antiquiert ist, und
auch durch den wissenschaftlichen Ausdruck keinen bestimmten Einfluss auf andere
Lehrstücke ausübt.
Eine solche Bestimmung muss offenbar
wieder beweglich gemacht, und die Frage auf den Punkt zurückgeführt
werden, wo sie vorher stand.
§ 206. Es ist falsche Heterodoxie, auch solche Formeln
in der dogmatischen Behandlung anzufeinden, welche in der kirchlichen Mitteilung
ihren wohlbegründeten Stützpunkt haben, und deren wissenschaftlicher
Ausdruck auch ihr Verhältnis zu andern christlichen Lehrstücken nicht
verwirrt.
Hierdurch wird also die knechtische
Bequemlichkeit keineswegs gerechtfertigt, welche alles, woran sich viele erbauen,
stehen lassen will, wenn es sich auch mit den Grundlehren unseres Glaubens nicht
verträgt.
§ 207. Eine dogmatische Darstellung für die evangelische
Kirche wird beiderlei Abweichungen vermeiden, und ungeachtet der von uns in
Anspruch genommenen Beweglichkeit des Buchstaben doch können in allen Hauptlehrstücken
orthodox sein; aber auch, ungeachtet sie sich nur an das Geltende hält,
doch an einzelnen Orten auch Heterodoxes in Gang bringen müssen.
Das hier Aufgestellte wird, wenn diese
Disziplin sich von ihrem Begriff aus gleichmäßig entwickelt, immer
das natürliche Verhältnis beider Elemente sein, und sich nur ändern
müssen, wenn lange Zeit eines von beiden Extremen geherrscht hat.
§ 208. Jeder auf einseitige
Weise neuernde oder das Alte verherrlichende Dogmatiker ist nur ein unvollkommenes
Organ der Kirche, und wird von einem falsch heterodoxen Standpunkt aus auch
die sachgemäßeste Orthodoxie für falsche erklären, und
von einem falsch orthodoxen aus auch die leiseste und unvermeidlichste Heterodoxie
als zerstörende Neuerung bekriegen.
Diese Schwankungen sind es vornehmlich,
welche bis jetzt fast immer verhinderten, dass die dogmatische Theologie der
evangelischen Kirche sich nicht in einer ruhigen Fortschreitung entwickeln konnte.
Der kirchliche
Charakter der Dogmatik (§§
209-212)
§ 209. Jeder in die dogmatische
Zusammenstellung aufgenommene Lehrsatz muss die Art, wie er bestimmt ist, bewähren,
teils durch unmittelbare oder mittelbare Zurückführung seines Gehaltes
auf den neutestamentischen Kanon, teils durch die Zusammenstimmung des wissenschaftlichen
Ausdrucks mit der Fassung verwandter Sätze.
Alle Sätze aber, auf welche in
diesem Sinn zurückgegangen wird, unterliegen derselben Regel; so dass es
hier keine andere Unterordnung gibt, als dass diejenigen Sätze am wenigsten
beider Operationen bedürfen, für welche der volksmäßige,
der schriftmäßige und der wissenschaftliche Ausdruck am meisten identisch
sind, so dass jeder Glaubensgenosse sie gleich an der Gewissheit seines unmittelbaren
frommen Selbstbewusstseins bewährt. - Diese Unterscheidung wird wohl zurückbleiben
von der, wie sie gewöhnlich gefasst wurde, schon als antiquiert zu betrachtenden,
von Fundamentartikeln und anderen.
§ 210. Wenn sich die Behandlung des Kanon bedeutend ändert,
muss sich auch die Art der Bewährung einzelner Lehrsätze ändern,
ungeachtet ihr Inhalt unverändert derselbe bleibt.
Das orthodoxe dogmatische Interesse
darf niemals den exegetischen Untersuchungen in den Weg treten oder sie beherrschen;
aber das Wegfallen einzelner so genannter Beweisstellen ist auch an und für
sich kein Zeugnis gegen die Richtigkeit eines geltenden Lehrsatzes. Wogegen
fortgeltende kanonische Bewährung einem Lehrsatz Sicherheit gewähren
muss gegen die heterodoxe Tendenz.
§ 211. Für Sätze, welche den eigentümlichen
Charakter der gegenwärtigen Periode bestimmt aussprechen, kann das Zurückführen
auf das Symbol die Stelle der kanonischen Bewährung vertreten, wenn wir
uns die damals geltende Auslegung noch aneignen können.
In diesen Fällen wird es auch
ratsam sein, die Übereinstimmung mit dem Symbol hervorzuheben, um diese
Sätze bestimmter von anderen (vgl. §§ 199,
200, 203) zu unterscheiden. Dasselbe gilt aber keineswegs für Sätze,
welche aus früheren Perioden durch reine Wiederholung in das Symbol der
laufenden herüber genommen sind.
§ 212. Da der eigentümliche Charakter der evangelischen
Kirchenlehre unzertrennlich ist von dem durch den Ausgang der Reformation erst
fixierten Gegensatz zwischen der evangelischen und römischen Kirche: so
ist auch jeder auf unsere Symbole zurückzuführende Satz nur insofern
vollständig bearbeitet, als er den Gegensatz gegen die korrespondierenden
Sätze der römischen Kirche in sich trägt.
Denn weder ein Satz, in Beziehung
auf welchen der Gegensatz unsererseits schon wieder aufgehoben wäre, noch
einer, dem dieser Gegensatz fremd wäre, könnte hinreichende Bewährung
in der Beziehung auf das Symbol finden.
Der wissenschaftliche
Charakter des Dogmatik (§§
213-217)
§ 213. Der streng didaktische
Ausdruck, welcher durch die Zusammengehörigkeit der einzelnen Formeln dem
dogmatischen Verfahren seine wissenschaftliche Haltung gibt, ist abhängig
von dem jedesmaligen Zustand der philosophischen Disziplinen.
Teils wegen des logischen Verhältnisses
der Formeln zu einander, teils weil viele Begriffsbestimmungen auf psychologische
und ethische Elemente zurückgehen.
§ 214. Das dialektische Element
des Lehrbegriffs kann sich an jedes philosophische System anschließen,
welches nicht das religiöse Element, entweder überhaupt, oder in der
besonderen Form, welcher das Christentum zunächst angehören will,
durch seine Behauptungen ausschließt oder ableugnet.
Daher alle entschieden materialistischen
und sensualistischen Systeme, die man aber wohl schwerlich für wahrhaft
philosophisch gelten lassen wird - und alle eigentlich atheistischen werden
auch diesen Charakter haben - nicht für die dogmatische Behandlung zu brauchen
sind. Noch engere Grenzen im Allgemeinen zu ziehen, ist schwierig.
§ 215. Einzelne Lehren können daher sowohl in gleichzeitigen
dogmatischen Behandlungen verschieden gefasst sein, als auch zu verschiedenen
Zeiten verschieden lauten, während in beiden Fällen ihr religiöser
Gehalt keine Verschiedenheit, darbietet.
Wegen Verschiedenheit der gleichzeitig
bestehenden oder aufeinander folgenden Schulen und ihrer Terminologien. Solche
Differenzen werden aber auch nur durch Missverständnis Gegenstand eines
dogmatischen Streites.
§ 216. Ebenso kann ein Schein
von Ähnlichkeit entstehen zwischen Sätzen, deren religiöser Gehalt
dennoch mehr oder weniger verschieden ist.
Nicht nur kann sich im einzelnen die
Differenz verschiedener theologischer Schulen derselben Kirche verbergen hinter
der Identität der wissenschaftlichen Terminologie, sondern auch protestantische
und katholische Sätze, zumal bei einiger Entfernung von den symbolischen
Hauptpunkten, können gleichbedeutend erscheinen.
§ 217. Die protestantische
dogmatische Behandlung muss danach streben, das Verhältnis eines jeden
Lehrstücks zu dem unsere Periode beherrschenden Gegensatz zum klaren Bewusstsein
zu bringen.
Dies ist ein nur auf diesem Wege zu
befriedigendes Bedürfnis der Kirchenleitung, in welches unrichtige Vorstellungen
von dem Zustande dieses Gegensatzes, ob und wo er durch Annäherung beider
Teile schon im Verschwinden begriffen sei, oder umgekehrt, ob und wo er sich
erst bestimmter zu entwickeln anfange, die schwierigsten Verwirrungen hervorbringen
muss.
Zur Methode
des dogmatischen Studiums (§§
218-222)
§ 218. Die dogmatische Theologie
ist in ihrem ganzen Umfang ein Unendliches, und bedarf einer Scheidung des Gebietes
besonderer Virtuosität und des Gemeinbesitzes.
Dieser bezieht sich aber natürlich
nur auf den Umfang des zu verarbeitenden Stoffes, nicht auf die Sicherheit und
Stärke der Überzeugung, oder auf die Art, wie diese gewonnen wird.
§ 219. Von jedem evangelischen
Theologen ist zu verlangen, dass er im Bilden einer eignen Überzeugung
begriffen sei über alle eigentlichen Örter des Lehrbegriffs, nicht
nur so, wie sie sich aus den Prinzipien der Reformation an sich und im Gegensatz
zu den römischen Lehrsätzen entwickelt haben, sondern auch, sofern
sich Neues gestaltet hat, dessen für den Moment wenigstens geschichtliche
Bedeutung nicht zu übersehen ist.
Unter einem Ort verstehe ich einen
solchen Satz oder Inbegriff von Sätzen, welche teils im Kanon und Symbol
einen bestimmten Sitz haben, teils nicht übergangen werden können,
ohne dass andere von demselben Umfang und Wert dunkel und unverständlich
werden. - Der Ausdruck »Im Bilden der Überzeugung begriffen
sein« schließt keineswegs einen skeptischen Zustand ein,
sondern nur das dem Geist unserer Kirche wesentliche innere Empfänglichbleiben
für neuere Untersuchungen, insofern teils die Behandlung des Kanon sich
ändern, teils eine andere Quelle für den dogmatischen Sprachgebrauch
sich eröffnen kann. Auch bezieht diese Forderung sich zunächst nicht
auf den Glauben, so wie er ein Gemeingut der Christen ist, sondern auf die streng
didaktische Fassung der Aussagen über denselben.
§ 220. Das dogmatische Studium muss daher beginnen mit
der Auffassung und Prüfung einer oder mehrerer streng zusammenhängender
Darstellungen des kirchlich Festgestellten,als weiterer Ausbildung der ihrer
Natur nach nur fragmentarischen Symbole.
Dogmengeschichte muss dabei, wenn
auch nur so, wie auch der Laie die Grundzüge davon innehaben kann, notwendig
vorausgesetzt werden. - Man unterscheide übrigens und stelle zusammen solche
Darstellungen, welche ihre Sätze überwiegend aus dem symbolischen
Buchstaben entwickeln, und solche, welche dem Geist der Symbole treu zu bleiben
behaupten, wenn sie auch ihren Buchstaben ebenfalls der Kritik unterwerfen.
§ 221. In Bezug auf das Neue,
aus dem Symbol nicht Verständliche, muss, inwiefern es in dieses Gebiet
gehöre, zunächst die Betrachtung entscheiden, ob mehreres auf einengemeinsamen
Ursprung zurückweist und eine gemeinsame Abzweckung verrät.
Denn je mehr dies der Fall ist, um
desto sicherer kann ein geschichtliches Eingreifen solcher Ansichten vermutet
werden.
§ 222. Genaue Kenntnis aller
gleichzeitigen Behandlungsweisen und schwebenden Streitfragen, sowie aller gewagten
Meinungen, und festes Urteil über Grund und Wert dieser Formen [Formeln?]
und Elemente bilden das Gebiet der dogmatischen Virtuosität.
Das feste Urteil ist zu verstehen
mit Vorbehalt der frischen Empfänglichkeit (vgl.
§ 218), die dem Meister nicht minder notwendig ist, als dem Anfänger.
- Unter gewagten Meinungen sind nicht nur die ephemeren Erscheinungen launenhafter
und ungeordneter Persönlichkeiten zu verstehen, sondern auch alles, was
als eigentlich krankhaft auf antichristliche oder mindestens antievangelische
Impulse zu reduzieren ist und Gegenstand der polemischen Ausübung wird.
Glaubens-
und Sittenlehre (§§
223-231)
§ 223. In der bisherigen
Darstellung ist auf die jetzt überwiegend übliche Teilung der dogmatischen
Theologie in die Behandlung der theoretischen Seite des Lehrbegriffs, oder die
Dogmatik im engeren Sinn, und in die Behandlung
der praktischen Seite, oder die christliche Sittenlehre, um so weniger Rücksicht
genommen, als diese Trennung nicht als wesentlich angesehen werden kann; wie
sie denn auch weder überhaupt, noch in der evangelischen Kirche etwas Ursprüngliches
ist.
Weder die Bezeichnungen theoretisch
und praktisch, noch die Ausdrücke Glaubens- und Sittenlehre sind völlig
genau. Denn die christlichen Lebensregeln sind auch theoretische Sätze,
als Entwicklungen von dem christlichen Begriff des Guten; und sie sind nicht
minder Glaubenssätze, wie die eigentlich dogmatischen, da sie es mit demselben
christlich frommen Selbstbewusstsein zu tun haben, nur so, wie es sich als Antrieb
kundgibt. - Wenn nun gleich nicht geleugnet werden kann, dass die vereinigte
Behandlung beider einer in vieler Hinsicht unvollkommenen Periode der theologischen
Wissenschaften angehört: so lässt sich doch eine fortschreitende Verbesserung
auch dieses Gebietes sehr wohl ohne eine solche Trennung denken.
§ 224. Wenn die Trennung
beiderlei Sätzen den Vorteil gewährt, leichter in ihrer Zusammengehörigkeit
aufgefasst zu werden: so hat sie der christlichen Sittenlehre noch den besonderen
Vorteil gebracht, dass sie nun eine ausführlichere Behandlung erfährt.
Das letztere ist indes nicht wesentlich
eine Folge der Trennung. Denn es lässt sich auch eine vereinigte Behandlung
denken in umgekehrtem Verhältnis, als wirklich früher stattgefunden
hat; und dann würde derselbe Vorteil auf Seiten der Dogmatik gewesen sein.
Dem ersten steht gegenüber, dass eine wohlgeordnete, lebendige Vereinigung
beider eine vorzügliche Sicherheit dagegen zu gewähren scheint, dass
die eigentlichen dogmatischen Sätze nicht so leicht sollten in geistlose
Formeln, noch die ethischen in bloß äußerliche Vorschriften
ausarten können.
§ 225. Aus der Teilung des
Gebietes kann sehr leicht die Meinung entstehen, als ob bei ganz verschiedener
Auffassung der Glaubenslehre doch die Sittenlehre auf dieselbige Weise könnte
aufgefasst werden und umgekehrt.
Dieser Irrtum ist in unser kirchliches
Gemeinwesen schon sehr tief eingedrungen, und ihm kann nur von der wissenschaftlichen
Behandlung ans wirksam entgegengearbeitet werden.
§ 226. Die Teilung findet
eine große Rechtfertigung sowohl darin, dass die Bewährung aus dem
Kanon und Symbol sich bedeutend anders gestaltet bei den ethischen Sätzen,
als bei den dogmatischen, als auch darin, dass die Terminologie für die
einen und die andern aus verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten herstammt.
Wir haben zwar in dieser Beziehung
die theologischen Wissenschaften überhaupt auf die Ethik und die von ihr
abhängigen Disziplinen zurückgeführt; betrachten wir aber die
dogmatische Theologie insbesondere, so rührt doch die Terminologie der
eigentlichen Glaubenslehre großenteils aus der philosophischen Wissenschaft
her, die unter dem Namen rationaler Theologie ihren Ort in der Metaphysik hatte,
wogegen die christliche Sittenlehre überwiegend nur aus der Pflichtenlehre
der philosophischen Ethik schöpfen kann.
§ 227. Die Trennung beider
Disziplinen hat auch ein verkehrtes eklektisches Verfahren erzeugt, indem man
meinte, ohne Nachteil bei der christlichen Sittenlehre auf eine andere philosophische
Schule zurückgehen zu dürfen, als bei der Glaubenslehre.
Man darf sich nur die Möglichkeit
einer ungeteilten Behandlung der dogmatischen Theologie vergegenwärtigt
haben, um dies schlechthin unstatthaft zu finden.
§ 228. Die abgesonderte Behandlung ist desto sachgemäßer,
je ungleichförmiger auf beiden Seiten der Verlauf der Periode in Bezug
auf die Entwicklung des Prinzips und die Spannung des Gegensatzes entweder wirklich
gewesen ist, oder je weniger gleichmäßig doch die wissenschaftliche
Betrachtung dem wirklichen Verlauf gefolgt ist.
Man würde vielleicht mit Unrecht
behaupten, dass in Bezug auf die Sittlichkeit selbst der Gegensatz zwischen
Protestantismus und Katholizismus minder entwickelt sei, als in Bezug auf den
Glauben; aber dass er in unsern christlichen Sittenlehren bei weitem nicht so
ausgearbeitet ist, als in unserer Dogmatik, scheint unleugbar.
§ 229. Viele Bearbeitungen
der christlichen Sittenlehre lassen unleugbar von dem Typus einer theologischen
Disziplin nur wenig durchschimmern, und sind von philosophischen Sittenlehren
wenig zu unterscheiden.
Dass dies von dem nachteiligsten Einfluss
auf die Kirchenleitung sein muss, leuchtet ein. Bei einer ungeteilten Behandlung
könnte sich für die sittenlehrigen Sätze ein solches Resultat
nicht gestalten, es müsste denn auch die Glaubenslehre ihren Charakter
verleugnen.
§ 230. Die abgesonderte Behandlung
beider Zweige der dogmatischen Theologie wird desto unverfänglicher sein,
je vollständiger alles von §§ 196-216 Gesagte
auch auf die christliche Sittenlehre angewendet wird, und je mehr man in jeder
von beiden Disziplinen den Zusammenhang mit der andern durch einzelne Andeutungen
wiederherstellt.
Das erste kann hier nicht besonders
ausgeführt werden; die Möglichkeit des letzten erhellt aus dem zu
§ 224 Gesagten.
§ 231. Wünschenswert
bleibt immer, dass auch die ungeteilte Behandlung sich von Zeit zu Zeit wieder
geltend mache.
Nur bei einer sehr großen Ausführlichkeit
möchte dies kaum möglich sein, ohne dass die Masse alle Form verlöre.
II. Die kirchliche Statistik.
Begriff
und Aufgabe der Statistik (§§
232-241)
§ 232. In dem Gesamtzustand
einer kirchlichen Gesellschaft unterscheiden wir die innere Beschaffenheit und
die äußeren Verhältnisse, und in der ersten wieder den Gehalt,
der sich darin nachweisen lässt, und die Form, in welcher sie besteht.
Manches scheint allerdings eben so
leicht unter die eine, als unter die andere Hauptabteilung gebracht werden zu
können, immer aber doch in einer andern Beziehung, so dass dies der Richtigkeit
der Einteilung keinen Eintrag tut.
§ 233. Die Aufgabe umfasst
in Zeiten, wo die christliche Kirche nicht äußerlich eines ist, alle
einzelnen Kirchengemeinschaften.
Jede ist dann für sich zu betrachten,
und die Verhältnisse einer jeden zu den übrigen finden von selbst
ihren Ort in der zweiten Hälfte. - Aber auch wenn einzelne Kirchengemeinschaften
nicht bestimmt voneinander geschieden wären, würden doch einzelne
Teile der Kirche sich sowohl ihrer inneren Beschaffenheit, als ihren Verhältnissen
nach so sehr von andern unterscheiden, dass Einteilungen dennoch müssten
gemacht werden.
§ 234. Der Gehalt einer kirchlichen
Gemeinschaft in einem gegebenen Zeitpunkt beruht auf der Stärke und Gleichmäßigkeit,
womit der eigentümliche Gemeingeist derselben die ganze ihr zugehörige
Masse durchdringt.
Zunächst also und im Allgemeinen
der Gesundheitszustand derselben in Bezug auf Indifferentismus
und Separatismus (vgl. §§
56 u. 57). Dieser wird aber erkannt einerseits aus den Entwicklungsexponenten
des Lehrbegriffs mit Rücksicht auf die Einstimmigkeit oder Mannigfaltigkeit
der Resultate und auf das Interesse der Gemeinde an dieser Funktion, andererseits
aus dem Einfluss des kirchlichen Gemeingeistes auf die übrigen Lebensgebiete,
und aus der Manifestation desselben in dem gottesdienstlichen Leben.
§ 235. Je größere
Differenzen sich hierüber in weit verbreiteten Kirchengemeinschaften vorfinden,
um desto zweckwidriger ist es, bei bloßen Durchschnittsangaben sich zu
begnügen.
Das Lehrreichste für die Kirchenleitung
würde verloren gehen, wenn nicht die am meisten verschiedenen Massen in
Bezug auf die wichtigsten in Betracht kommenden Punkte miteinander verglichen
würden.
§ 236. Das Wesen der Form,
unter welcher eine Kirchengemeinschaft besteht, oder ihrer Verfassung, beruht
auf der Art, wie die Kirchenleitung organisiert ist, und auf dem Verhältnis
der Gesamtheit zu denen, welche an der Kirchenleitung teilnehmen, oder zu dem
Klerus im weiteren Sinn.
Die große Mannigfaltigkeit der
Verfassungen macht es notwendig, sie unter gewisse Hauptgruppen zu verteilen,
wobei aber Vorsicht zu treffen ist, sowohl, dass man nicht zu viel Gewicht auf
die Analogie mit den politischen Formen lege, als auch, dass man nicht über
den allgemeinen Charakteren die spezifischen Differenzen übersehe.
§ 237. Die Darstellung der
innern Beschaffenheit ist desto vollkommner, je mehr Mittel sie darbietet, den
Einfluss der Verfassung auf den inneren Zustand, und umgekehrt, richtig zu schätzen.
Denn dies hängt mit der größten
Aufgabe der Kirchenleitung zusammen, und ohne diese Beziehung bleiben alle hierher
gehörigen Angaben nur tote Notizen, wie alle statistischen Zahlen ohne
geistvolle Kombination.
§ 238. Die äußeren Verhältnisse einer Kirchengemeinschaft,
die nur Verhältnisse zu andern Gemeinschaften sein können, sind teils
die zu gleichartigen, nämlich sowohl die des Christentums unds einzelner
christlichen Gemeinschaften zu den außerchristlichen, als auch die der
christlichen Kirchengemeinschaften zu einander, teils die zu ungleichartigen,
und hierunter vornehmlich zu der bürgerlichen Gesellschaft und zur Wissenschaft
im ganzen Umfang des Wortes.
Wir betrachten die letzte als eine
Gemeinschaft schon deshalb, weil die Sprache alle wissenschaftliche Mitteilung
bedingt, und jede doch ein besonderes Gemeinschaftsgebiet bildet, so dass die
Verhältnisse derselben Kirchengemeinschaft ganz verschieden sein können
in verschiedenen Sprachgebieten.
§ 239. Jede Kirchengemeinschaft
steht mit den sie berührenden in einem Verhältnis der Mitteilung sowohl,
als der Gegenwirkung, welche auf das mannigfaltigste können abgestuft sein
vom Maximum des einen zum Minimum des andern bis umgekehrt.
Unter Berührung soll nicht etwa
nur lokales Zusammenstoßen verstanden werden, sondern jede Art von Verkehr.
Gegenwirkung aber ist, auch abgesehen von aller nach außen gehenden Polemik,
teils durch das gemeinsame Zurückgehen auf den Kanon, teils durch die von
außen anbildende Tätigkeit, die nicht als gänzlich fehlend angesehen
werden kann, bedingt.
§ 240. Das Verhältnis
kirchlicher Gemeinschaften zu eigentümlichen Ganzen des Wissens schwankt
zwischen den beiden Einseitigkeiten: der, wenn die Kirche kein Wissen gelten
lassen will, als dasjenige, welches sie sich zu ihrem besondern Zweck aneignen,
mithin auch selbst hervorbringen kann, und der, wenn das objektive Bewusstsein
die Wahrheit des Selbstbewusstseins in Anspruch nehmen will.
Denn auf diesen beiden Punkten schließen
beide Gemeinschaften einander aus. Zwischen beiden in der Mitte liegt als gemeinsamer
Annäherungspunkt ein gegenseitiges tätiges Anerkennen beider. Die
Aufgabe ist, ins Licht zu setzen, wie sich ein bestehendes Verhältnis zu
diesen Hauptpunkten stellt.
§ 241. Das Gleiche gilt von
dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Nur dass man hier, wo sich bestimmtere
Formeln [Formen?] entwickeln, leichter sieht, teils
wie nicht leicht ein gegenseitiges Anerkennen stattfindet, ohne doch ein kleines
Übergewicht auf die eine oder andere Seite zu legen, teils wie zumal das
evangelische Christentum seine Ansprüche bestimmt begrenzt.
Dass eine Theorie über dieses
Verhältnis nicht hierher gehört, versteht sich von selbst. Viele aber
von den hier nachgewiesenen Örtern werden auch in dem so genannten Kirchenrecht
behandelt, nur, wie auch schon der Name andeutet, überwiegend ans dem bürgerlichen
Standpunkt betrachtet.
Zur Methode
des statistischen Studiums (§§
242-248)
§ 242. Die kirchliche Statistik
ist nach diesen Grundzügen einer Ausführung ins Unendliche fähig.
Diese muss aber natürlich immer
erneuert werden, indem nach eingetretener Veränderung die jedesmaligen
Elemente der Kirchengeschichte zuwachsen.
§ 243. Dass man sich bei
uns nur zu häufig auf die Kenntnis des Zustandes der evangelischen Kirche,
ja nur des Teiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt,
wirkt höchst nachteilig auf die kirchliche Praxis.
Nichts begünstigt so sehr das
Verharren bei dem Gewohnten und Hergebrachten, als die Unkenntnis fremder, aber
doch verwandter Zustände. Und nichts bewirkt eine schroffere Einseitigkeit,
als die Furcht, dass man anderwärts werde Gutes anerkennen müssen,
was dem eigenen Kreise fehlt.
§ 244. Eine allgemeine Kenntnis
von dem Zustande der gesamten Christenheit in den hier angegebenen Hauptverhältnissen,
nach Maßgabe wie jeder Teil mit dem Kreise der eignen Wirksamkeit zusammenhängt,
ist die unerlässliche Forderung an jeden evangelischen Theologen.
Die hieraus freilich folgende Verpflichtung
zu einer genaueren Kenntnis des Näheren und Verwandteren ist doch nur untergeordnet.
Denn eine richtige Wirksamkeit auf die eigne Kirchengemeinschaft ist nur möglich,
wenn man auf sie als auf einen organischen Teil des Ganzen wirkt, welcher sich
in seinem relativen Gegensatz zu den andern zu erhalten und zu entwickeln hat.
§ 245. Durch besondere Beschäftigung
mit diesem Fach ist noch vieles zu leisten, sowohl was den Stoff anlangt, als
was die Form.
Die neueste Zeit hat zwar viel Material
herbeigeschafft; aber es ist selten aus den rechten Gesichtspunkten aufgefasst.
Und umfassendere Arbeiten gibt es noch so wenige, dass die beste Form noch nicht
gefunden sein kann.
§ 246. Die bloß äußerliche Beschreibung
des Vorhandenen ist für diese Disziplin, was die Chronik für die Geschichte
ist.
Bei dem gegenwärtigen Zustand
derselben aber ist es schon verdienstlich, Unbekannteres und Abweichenderes
auch nur auf dies Weise zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Bloß topographische
und onomastische oder bibliographische Notizen sind natürlich das am wenigsten
Fruchtbare.
§ 247. Eine ins einzelne gehende Beschäftigung mit
dem gegenwärtigen Zustande des Christentums, welche, nicht vom kirchlichen
Interesse ausgehend, auch keinen Bezug auf die Kirchenleitung nähme, könnte
nur, wenn auch ohne wissenschaftlichen Geist betrieben, ein unkritisches Sammelwerk
sein; je wissenschaftlicher aber, um desto mehr würde sie sich zum Skeptischen
oder Polemischen neigen.
Der Impuls kann wegen Beschaffenheit
der Gegenstände nicht von einem rein wissenschaftlichen Interesse herrühren.
Fehlt also das für die Sache: so muss eins gegen die Sache wirksam sein.
Ähnliches gilt von der Kirchengeschichte.
§ 248. Ist das religiöse
Interesse von wissenschaftlichem Geist entblößt: so wird die Beschäftigung,
statt ein treues Resultat zu geben, nur der Subjektivität der Person oder
ihrer Partei dienen.
Denn mir der wissenschaftliche Geist
kann, wo ein starkes Interesse vorwaltet, welches vom Selbstbewusstsein ausgeht,
vor unkritischer Parteilichkeit - sicherstellen.
Folgerungen (§§
249-250)
§ 249. Die Disziplin, welche
man gewöhnlich Symbolik nennt, ist nur aus Elementen der kirchlichen Statistik
zusammengesetzt, und kann sich in diese wieder zurückziehn.
Sie ist eine Zusammenstellung des
Eigentümlichen in dem Lehrbegriff der noch jetzt bestehenden christlichen
Parteien; und da diese nicht nach Weise der Dogmatik
(vgl. §§ 196 u. 233) mit Bewährung
des Zusammenhanges vorgelegt werden können: so muss die Darstellung rein
historisch sein. Der nicht ganz der Sache entsprechende Name, weil nämlich
nicht alle Parteien Symbole in dem eigentlichen Sinne des Wortes haben, kann
nur sagen wollen, dass der Bericht sich an die am meisten klassische und am
allgemeinsten anerkannte Darstellung einer jeden Glaubensweise halte. Ein solcher
Bericht muss aber in unserer Disziplin (vgl. § 284)
die Grundlage bilden zu der Darstellung der Verhältnisse des Lehrbegriffs
in der Gemeinschaft; und der Unterschied ist nur der, dass dort der Lehrbegriff
einer Gemeinschaft beschrieben wird in Verbindung mit ihren übrigen Zuständen,
in der Symbolik aber in Verbindung mit den Lehrbegriffen der andern Gemeinschaften,
wiewohl wir auch für die Statistik schon (vgl. §
235) das komparative Verfahren empfohlen haben.
§ 250. Auch die biblische
Dogmatik kommt der Weise der Statistik in der Behandlung des Lehrbegriffs näher,
als der eigentlichen Dogmatik.
Denn unsere Kombinationsweise ist
so sehr eine andere, und teils ist für die nentestamentischen biblischen
Sätze das Zurückgehen auf den alttestamentischen Kanon nur ein sehr
ungenügendes Surrogat für unser Zurückgehn auf den neutestamentischen,
teils fehlt uns dort überall die weitere Entwicklung der späteren
Zeiten, die in unsere Überzeugung so eingegangen ist, dass wir uns jene
nicht so aneignen können, wie es einer eigentlich dogmatischen Behandlung
wesentlich ist. Die Darstellung des Zusammenhanges der biblischen Sätze
in ihrem eigentümlichen Gewand ist also überwiegend eine historische.
Und wie jedes zusammenfassende Bild (vgl. § 150)
eines als Einheit gesetzten Zeitraums eigentlich die Statistik dieser Zeit und
dieses Teils ist: so ist die biblische Dogmatik nur ein Teil von diesem Bilde
des apostolischen Zeitalters.
Schlussbetrachtungen
über die historische Theologie (§§
251-256)
§ 251. Wiewohl im ganzen
in der christlichen Kirche die hervorragende Wirksamkeit einzelner auf die Masse
abnimmt, ist es doch für die historische Theologie mehr, als für andere
geschichtliche Gebiete, angemessen, die Bilder solcher Zeiten, die, als, wenn
auch nur in untergeordnetem Sinne, epochemachend, als Einheit aufzufassen sind,
an das Leben vorzüglich wirksamer Einzelner anzuknüpfen.
Ab nimmt diese Wirksamkeit, weil sie
in Christo absolut war, und wir keinen Späteren
den Aposteln gleichstellen, von denen doch nur wenige eine bestimmte persönliche
Wirksamkeit übten. Je weiter hin, desto mehr immer der gleichzeitigen Einzelnen,
welche einen neuen Umschwung bewirkten. Jedoch ist dies keineswegs nur auf das
Zeitalter der so genannten Kirchenväter zu beschränken. Wohl aber
können wir sagen, dass sich jeder einzelne hiezu desto mehr eigne, je mehr
er dem Begriff eines Kirchenfürsten entspricht, dass aber solche, je weiter
hinaus, desto weniger zu erwarten seien. Auch einzelne als Andeutung und Ahndung
merkwürdige Abweichungen im Lehrbegriff werden oft am besten mit dem Leben
ihrer Urheber verständlich.
§ 252. Die Kenntnis des geschichtlichen
Verlaufs, welche schon zum Behuf der philosophischen Theologie
(vgl. § 65) vorausgesetzt werden muss, darf
nur die der Chronik angehörige sein, welche unabhängig ist vom theologischen
Studium: hingegen die wissenschaftliche Behandlung des geschichtlichen Verlaufs
in allen Zweigen der historischen Theologie setzt die Resultate der philosophischen
Theologie voraus.
Dies gilt, wie aus dem Obigen erhellt,
für die exegetische Theologie und die dogmatische
nicht minder, als für die historische im engeren Sinn. Denn alle leitenden
Begriffe werden in den Untersuchungen, welche die philosophische
Theologie bilden, definitiv bestimmt.
§ 253. Hieraus und aus dem dermaligen Zustand der philosophischen
Theologie (vgl. § 68) erklärt
sich, wenn nicht die große Verschiedenheit in den Bearbeitungen aller
Zweige der historischen Theologie, doch der Mangel an Verständigung über
den ursprünglichen Sitz dieser Verschiedenheit.
Denn sie selbst würde bleiben,
weil, was § 51 von der Apologetik
gesagt und § 64 auch auf die Polemik
ausgedehnt ist, nicht nur in Bezug auf die verschiedenen Gestaltungen,
die das Christentum in verschiedenen Kirchengemeinschaften erhält, gelten
muss, sondern auch von den nicht unbedeutenden Verschiedenheiten, die noch innerhalb
einer jeden stattfinden. Hat aber jede Partei ihre philosophische
Theologie gehörig ausgearbeitet: so muss auch deutlich werden, welche
von diesen Verschiedenheiten mit einer ursprünglichen Differenz in der
Auffassung des Christentums selbst zusammenhängen, und welche nicht.
§ 254. Philosophische und
historische Theologie müssen noch bestimmter auseinander treten, können
aber doch nur mit- und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit gelangen.
Alle Zweige der historischen Theologie
leiden darunter, dass die philosophische in ihrem eigentümlichen Charakter
(vgl. § 33) noch nicht ausgearbeitet ist.
Aber die philosophische Theologie würde ganz
willkürlich werden, wenn sie sich von der Verpflichtung losmachte, alle
ihre Sätze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen. Und ebenso
würde die historische alle Haltung verlieren, wenn sie sich nicht auf die
klarste Entwicklung der Elemente der philosophischen Theologie
beziehen wollte.
§ 255. In der gegenwärtigen
Lage kann der Vorwurf, dass einer in der historischen
Theologie nach willkürlichen Hypothesen verfahre, eben so leicht
unbillig sein, als er auch gegründet sein kann.
Gegründet ist er, wenn jemand
die Elemente der philosophischen Theologie durch
bloße Konstruktion konstituieren will, und dann die Begebenheiten darnach
deutet. Unbillig ist er, wenn jemand nur nicht Hehl hat, dass seine philosophische
Theologie, wie sie ihm mit der historischen wird, sich auch durch ihre
Angemessenheit für diese bestätigt.
§ 256. Dasselbe gilt von
dem Vorwurf, dass einer die historische Theologie in
geistlose Empirie verwandle.
Er ist gegründet, wenn jemand
die in der philosophischen Theologie zu ermittelnden
Begriffe, um sie in der historischen zu gebrauchen, als etwas empirisch Gegebenes
aufstellt. Unbillig ist er, wenn jemand nur gegen die apriorische Konstruktion
dieser Begriffe protestiert, und auf dem kritischen Verfahren (vgl.
§ 32) besteht.
Dritter Teil.
Von der praktischen Theologie.
Die Grundprobleme
der praktischen Theologie (§§
257-266)
§ 257. Wie die philosophische
Theologie die Gefühle der Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand
der Kirche zum klaren Bewusstsein bringt: so ist die Aufgabe der praktischen
Theologie, die besonnene Tätigkeit, zu welcher sich die mit jenen Gefühlen
zusammenhängenden Gemütsbewegungen entwickeln, mit klarem Bewusstsein
zu ordnen und zum Ziel zu führen.
Wie die philosophische
Theologie hier aufgefasst ist in der Einwirkung ihrer Resultate auf einen
unmittelbaren Lebensmoment: so auch die praktische, wie ihre Resultate in einen
solchen Lebensmoment eingreifen.
§ 258. Die
praktische Theologie ist also nur für diejenigen, in welchen kirchliches
Interesse und wissenschaftlicher Geist vereinigt sind.
Denn ohne das erste entstehen weder
jene Gefühle, noch diese Gemütsbewegungen, und ohne wissenschaftlichen
Geist keine besonnene Tätigkeit, welche sich durch Vorschriften leiten
ließe, sondern der dem Erkennen abgeneigte Tätigkeitstrieb verschmäht
die Regeln.
§ 259. Jedem besonnen Einwirkenden
entstehen seine Aufgaben aus der Art, wie er den jedes Mal vorliegenden Zustand
nach seinem Begriff von dem Wesen des Christentums und seiner besonderen Kirchengemeinschaft
beurteilt.
Denn da die Aufgabe im allgemeinen
nur Kirchenleitung ist: so kann er nur jedes Mal alles, was ihm gut erscheint,
fruchtbar machen, das Entgegengesetzte aber unwirksam machen und umändern
wollen.
§ 260. Die
praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern
indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu tun mit der richtigen Verfahrungsweise
bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden
Aufgaben.
Für die richtige Fassung der
Aufgaben ist durch die Theorie nichts weiter zu leisten, wenn philosophische
und historische Theologie klar und im richtigen
Maß angeeignet sind. Denn alsdann kann auch der gegebene Zustand in seinem
Verhalten zum Ziel der Kirchenleitung richtig geschätzt, mithin auch die
Aufgabe demgemäß gestellt werden. Wohl aber müssen zum Behuf
der Vorschriften über die Verfahrungsweise die Aufgaben, indem man vom
Begriff der Kirchenleitung ausgeht, klassifiziert und in gewissen Gruppen zusammengestellt
werden.
§ 261. Will man diese Regeln
als Mittel, wodurch der Zweck erreicht werden soll, betrachten: so müsste
doch wegen Unterordnung der Mittel unter den Zweck alles aus diesen Vorschriften
ausgeschlossen bleiben, was, indem es vielleicht die Lösung einer einzelnen
Aufgabe förderte, doch zugleich im allgemeinen das kirchliche Band lösen
oder die Kraft des christlichen Prinzips schwächen könnte.
Der Fall ist so häufig, dass
dieser Kanon notwendig wird. Offenbar kann die einzelne gute Wirkung eines solchen
Mittels nur eine zufällige sein; wenn sie nicht auf einem bloßen
Schein beruht, so dass die Lösung doch nicht die richtige ist.
§ 262. Ebenso, weil der Handelnde
die Mittel nur anwenden kann mit derselben Gesinnung, vermöge deren er
den Zweck will: so kann keine Aufgabe gelöst werden sollen durch Mittel,
welche mit einem von beiden Elementen der theologischen Gesinnung streiten.
Auch dieses beides, Verfahrungsarten,
welche dem wissenschaftlichen Geist zuwiderlaufen, und solche, welche das kirchliche
Interesse im ganzen gefährden, indem sie es in irgend einer einzelnen Beziehung
zu fördern scheinen, sind häufig genug vorgekommen in der kirchlichen
Praxis.
§ 263. Da aber alle besonnene Einwirkung auf die Kirche,
um das Christentum in derselben reiner darzustellen, nichts anders ist, als
Seelenleitung; andere Mittel aber hierzu gar nicht anwendbar sind, als bestimmte
Einwirkungen auf die Gemüter, also wieder Seelenleitung: so kann es, da
Mittel und Zweck gänzlich zusammenfallen, nicht fruchtbar sein, die Regeln
als Mittel zu betrachten, sondern nur als Methoden.
Denn Mittel muss etwas außerhalb
des Zweckes Liegendes, mithin nicht in und mit dem Zwecke selbst Gewolltes sein,
welches hier nur von dem Alleräußerlichsten gesagt werden kann, während
alles näher Liegende selbst in dem Zweck liegt, und ein Teil desselben
ist. Welches Ver¬hältnis des Teils zum Ganzen in dem Ausdruck Methode
das Vorherrschende ist.
§ 264. Die in der Kirchenleitung
vorkommenden Aufgaben klassifizieren und die Verfahrungsweisen angeben, lässt
sich beides aufeinander zurückführen.
Denn jede besondere Aufgabe, sowohl
ihrem Begriff nach, als in ihrem einzelnen Vorkommen, ist ebenso ein Teil des
Gesamtzweckes, nämlich der Kirchenleitung, wie jede bei den besondern Aufgaben
anzuwendende Methode nur ein Teil derselben ist. Daher lässt sich dies
nicht wie zwei Hauptteile der Disziplin auseinander halten, indem die Klassifikation
auch nur die Methode angibt, um die Gesamtaufgabe zu lösen.
§ 265. Alle Vorschriften
der praktischen Theologie können nur allgemeine
Ausdrücke sein, in denen die Art und Weise ihrer Anwendung auf einzelne
Fälle nicht schon mit bestimmt ist (vgl. § 132),
d. h. sie sind Kunstregeln im engeren Sinne des Wortes.
In allen Regeln einer mechanischen
Kunst ist jene Anwendung schon mit enthalten; wogegen die Vorschriften der höheren
Künste alle von dieser Art sind, so dass das richtige Handeln in Gemäßheit
der Regeln immer noch ein besonderes Talent erfordert, wodurch das Rechte gefunden
werden muss.
§ 266. Die Regeln können daher nicht jeden, auch unter
Voraussetzung der theologischen Gesinnung, zum praktischen Theologen machen,
sondern nur demjenigen zur Leitung dienen, der es sein will und es seiner innern
Beschaffenheit und seiner Vorbereitung nach werden kann.
Damit soll weder gesagt sein, dass
zu dieser Ausübung ganz besondere, nur wenigen verliehene Naturgaben gehören,
noch auch, dass die gesamte Vorbereitung dem Entschluss vorausgehen müsse.
Disposition
der praktischen Theologie (§§
267-276)
§ 267. Wie die christliche
Theologie überhaupt, mithin auch die praktische, sich erst ausbilden konnte,
als das Christentum eine geschichtliche Bedeutung erhalten hatte
(vgl. §§ 2-5), und dieses nur vermittelst der Organisation
der christlichen Gemeinschaft möglich war: so beruht nun alle eigentliche
Kirchenleitung auf einer bestimmten Gestaltung des ursprünglichen Gegensatzes
zwischen den Hervorragenden und der Masse.
Ohne einen solchen, der mannigfachsten
Abstufungen fähigen, in dem Verhältnis der Mündigen zu den Unmündigen
aber naturgemäß begründeten Gegensatz könnte aller Fortschritt
zum Besseren nur in einer gleichmäßigen Entwicklung erfolgen, nicht
durch eine besonnene Leitung. Ohne eine bestimmte Gestaltung desselben aber
könnte die Leitung nur ein Verhältnis zwischen einzelnen sein, die
Gemeinschaft also nur aus losen Elementen bestehen, und nie als Ganzes wirken,
woran doch die geschichtliche Bedeutung gebunden ist.
§ 268. Diese bestimmte Gestaltung
ist die zum Behuf der Ausgleichung und Förderung festgestellte. Methode
des Umlaufs, vermöge deren die religiöse Kraft der Hervor ragenden
die Masse anregt, und wiederum die Masse jene auffordert.
Dass auf diese Weise eine Ausgleichung
erfolgt, und die Masse den Hervorragenden näher tritt, ist natürlich;
Förderung aber ist nur zu erreichen, wenn man die religiöse Kraft
überhaupt und namentlich unter den Hervorragenden in der Gemeinschaft als
zunehmend voraussetzt.
§ 269. In der Übereinstimmung
mit allem Bisherigen werden wir sonach in der christlichen Kirchenleitung vornehmlich
zu betrachten haben die Gestaltung des Gegensatzes behufs der Wirksamkeit vermittelst
der religiösen Vorstellungen, und die behufs des Einflusses auf das Leben,
oder die leitende Tätigkeit im Kultus und die in der Anordnung der Sitte.
Beides unterscheidet sich zwar sehr
bestimmt in der Erscheinung, ist aber der Formel nach allerdings nur ein unvollkommner
Gegensatz. Denn der Kultus selbst besteht nur als geordnete Sitte; und da es
den Anordnungen an aller äußeren Sanktion fehlt, so beruht ihre Gültigkeit
auch nur auf der Wirksamkeit vermittelst der Vorstellung. Dies zwiefache Verhältnis
wird aber auch sein Recht behaupten.
§ 270. Da die Hervorragenden
dieses nur sind vermöge der beiden Elemente der theologischen Gesinnung,
das Gleich¬gewicht von diesen aber nirgends genau vorauszusetzen ist: so
wird es auch eine leitende Wirksamkeit geben, welche mehr klerikalisch ist,
und eine mehr theologische im engeren Sinne des Wortes.
Es ist nicht nachzuweisen, dass diese
Differenz mit der vorigen zusammenfällt, noch weniger, dass sie nur das
eine Glied derselben teilt; mithin sind beide vorläufig als koordiniert
und sich kreuzend zu betrachten.
§ 271. Das Christentum wurde
erst geschichtlich, als die Gemeinschaft aus einer Verbindung mehrerer räumlich
bestimmter Gemeinden bestand, die aber auch jede den Gegensatz zur Gestalt gebracht
hatten, als wodurch sie erst Gemeinden wurden. Daher nun gibt es eine leitende
Wirksamkeit, deren Gegenstand die einzelne Gemeinde als solche ist, und die
also nur eine lokale bleibt, und eine auf das Ganze gerichtete, welche die organische
Verbindung der Gemeinen, das heißt die Kirche, zum Gegenstand hat.
Auch dieser Gegensatz ist unvollständig,
indem mittelbar aus der Leitung der einzelnen Gemeine etwas für das Ganze
hervorgehen kann; und ebenso kann eine aus dem Standpunkt des Ganzen bestimmte
leitende Tätigkeit zufällig nur eine einzelne Gemeine treffen. Im
wirklichen Verlauf findet sich beides sehr bestimmt.
§ 272. In Zeiten der Kirchentrennung
sind nur die Gemeinden Eines Bekenntnisses organisch verbunden, und die allgemeine
leitende Tätigkeit in ihrer Bestimmtheit nur auf diesen Umfang beschränkt.
Es gibt allerdings auch Einwirkungen
von einer Kirchengemeinschaft aus auf andere; aber sie können nicht den
Charakter einer leitenden Tätigkeit haben. - Aber auch wenn keine solche
Trennung wäre, würden doch bei der gegenwärtigen Verbreitung
des Christentums äußere Gründe das Bestehen einer allgemeinen,
alle Christengemeinen auf Erden umfassenden Kirchenleitung unmöglich machen.
§ 273. Da nun die Verfahrungsweisen
sich richten müssen nach der Art, wie der Gegensatz gefasst und gestaltet
ist: so muss auch die Theorie der Kirchenleitung eine andere sein für jede
anders konstituierte Kirchengemeinschaft; und wir können daher eine praktische
Theologie nur aufstellen für die evangelische Kirche.
Ja nicht einmal ganz für diese,
da auch innerhalb ihrer zu viele Verschiedenheiten des Kultus und besonders
der Verfassung vorkommen. Wir werden daher nur die deutsche im Auge haben.
§ 274. Wir sehen den zuletzt
in § 271 ausgesprochenen Gegensatz als den
obersten Teilungsgrund an, und nennen die leitende Tätigkeit mit der Richtung
auf das Ganze das Kirchenregiment,
die mit der Richtung auf die einzelne Lokalgemeine den
Kirchendienst.
Nicht als ob es in der Natur der Sache
läge, dass dies die Haupteinteilung sein müsste, sondern weil dies
dem gegenwärtigen Zustand unserer Kirche das Angemessenste ist. Es gibt
anderwärts Verhältnisse, in denen von Kirchenregiment in diesem Sinne
wenig zu sagen wäre, weil es nur ein sehr loses Band ist, wodurch eine
Mehrheit von Gemeinen zusammengehalten wird. - Für unsere beiden Teile
bietet sich übrigens noch eine andere Benennungsweise dar, nämlich,
wenn der eine Kirchenregiment heißt, den andern Gemeinderegiment zu nennen.
Die obige ist aber aus demselben Grunde vorgezogen worden, aus welchem dies
die Haupteinteilung geworden, weil nämlich der Verband der Gemeinen, wie
wir ihn vorzugsweise Kirche nennen, hervorragt, und es daher angemessen ist,
auch den andern Teil auf diese Gesamtheit zu beziehen; da denn die Pflege eines
einzelnen Teils nur erscheinen kann als ein Dienst, der dem Ganzen geleistet
wird.
§ 275. Der Inhalt der
praktischen Theologie erschöpft sich in der Theorie des Kirchenregimentes
im engeren Sinne und in der Theorie des Kirchendienstes.
Die oben §§
269 und 270 angegebenen Gegensätze
müssen nämlich in diesen beiden Hauptteilen aufgenommen und durchgeführt
werden.
§ 276. Die Ordnung ist an
und für sich gleichgültig. Wir ziehen vor, den Anfang zu machen mit
dem Kirchendienst, und das Kirchenregiment folgen zu lassen.
Gleichgültig ist sie, weil auf
jeden Fall die Behandlung des vorangehenden Teiles doch auf den Begriff des
hernach zu behandelnden, und auf die mögliche verschiedene Gestaltung desselben
Rücksicht nehmen muss. - Es ist aber die natürliche Ordnung, dass
diejenigen, welche sich überhaupt zur Kirchenleitung eignen, ihre öffentliche
Tätigkeit mit dem Kirchendienste beginnen.
Erster Abschnitt.
Die Grundsätze des Kirchendienstes.
Gliederung
des Kirchendienstes (§§
277-279)
§ 277. Die örtliche
Gemeine, als ein Inbegriff in demselben Raum lebender und zu gemeinsamer Frömmigkeit
verbundener christlicher Hauswesen gleichen Bekenntnisses, ist die einfachste
vollkommen kirchliche Organisation, innerhalb welcher eine leitende Tätigkeit
stattfinden kann.
Der Sprachgebrauch gibt noch Landesgemeine,
Kreisgemeine; aber hier findet nicht immer eben eine gemeinsame Übung der
Frömmigkeit statt. Er gibt uns auch Hausgemeine; allein hier ist die leitende
Tätigkeit nicht eine eigentümlich vom religiösen Interesse ausgehende.
§ 278. Der Gegensatz überwiegender
Wirksamkeit und überwiegender Empfänglichkeit muss, wenn ein Kirchendienst
stattfinden soll, wenigstens für bestimmte Momente übereinstimmend
fixiert sein.
Ohne bestimmte Momente kein gemeinsames
Leben; und ohne Übereinkommen, wer mitteilend sein soll, und wer empfänglich,
wäre es nur Verwirrung. Die Verteilung wird eine willkürliche bei
Voraussetzung der größten Gleichheit; aber auch bei der größten
Ungleichheit muss doch Empfänglichkeit allen zukommen. - Die Bestimmung
dieses Verhältnisses für jede Gemeine gehört der Natur der Sache
nach dem Kirchenregiment an.
§ 279. Die leitende Tätigkeit
im Kirchendienst ist (vgl. § 269) teils die
erbauende, im Kultus oder dem Zusammentreten der Gemeine zur Erweckung und Belebung
des frommen Bewusstseins, teils die regierende, und zwar hier nicht nur durch
Anordnung der Sitte, sondern auch durch Einfluss auf das Leben der einzelnen.
Diese zweite Seite konnte oben
(§ 269) nur so bezeichnet werden, wie es auch für das Kirchenregiment
gilt. Der Kirchendienst aber würde einen großen Teil seiner Aufgabe
verfehlen, wenn die leitende Tätigkeit sich nicht auch einzelne zum Gegenstand
machte.
Die erbauende
Tätigkeit (§§
280-289)
§ 280. Die erbauende Wirksamkeit
im christlichen Kultus beruht überwiegend auf der Mitteilung des zum Gedanken
gewordenen frommen Selbstbewusstseins, und es kann eine Theorie darüber
nur geben, sofern diese Mitteilung als Kunst kann angesehen werden.
Das
überwiegend gilt zwar (vgl. §
49) vom Christentum überhaupt, in diesem aber wiederum vorzüglich
von dem evangelischen. - Gedanke
ist hier im weiteren Sinne zu nehmen, in welchem auch die Elemente der Poesie
Gedanken sind, Kunst in gewissem
Sinne muss in jeder zusammenhängenden Folge von Gedanken sein. Die Theorie
muss beides zugleich umfassen, in welchem Grade Kunst hier gefordert wird oder
zugelassen, und durch welche Verfahrungsweisen die Absicht zu erreichen ist.
§ 281. Das Materiale des
Kultus im engeren Sinne können nur solche Vorstellungen sein, welche auch
im Inbegriff der kirchlichen Lehre ihren Ort haben; und die Theorie hat also,
was den Stoff betrifft, zu bestimmen, was für Elemente der gemeinen Lehre,
und in welcher Weise [sie] sich für diese Mitteilung eignen.
Materiale im engern Sinne sind diejenigen
Vorstellungen, welche für sich selbst sollen mitgeteilt werden, im Gegensatz
derer, die diesen nur dienen als Erläuterung und Darstellungsmittel. -
Und da dieselben Vorstellungen in der mannigfaltigsten Weise vom Volksmäßigen
bis zum streng Wissenschaftlichen, von der Umgangssprache bis zur rednerischen
und dichterischen verarbeitet sind: so muss bestimmt werden, welche von diesen
Schattierungen allgemein oder in verschiedener Beziehung sich für den Kultus
eignen.
§ 282. Da der christliche Kultus, und besonders auch der
evangelische, aus prosaischen und poetischen Elementen zusammengesetzt ist:
so ist, was die Form anlangt, zuerst zu handeln von dem religiösen Stil,
dem prosaischen sowohl, als dem poetischen, wie er dem Christentum eignet; dann
aber auch von den verschiedenen Mischungsverhältnissen beider Elemente,
wie sie in dem evangelischen Kultus vorkommen können.
Die Theorie der kirchlichen Poesie
gehört wenigstens insoweit in die Lehre vom Kirchendienst, als auch die
Auswahl aus dem Vorhandenen nach denselben Grundsätzen muss gemacht werden.
§ 283. Einförmigkeit und Abwechselung haben auf die
Wirksamkeit aller Darstellungen dieser Art unverkennbaren Einfluss; daher ist
auch die Frage zu beantworten, inwiefern, rein aus dem Interesse des Kultus,
der besseren Einsicht die Rücksicht auf das Bestehende aufgeopfert werden
muss, oder umgekehrt.
Zunächst scheint die Frage nur
hierher zu gehören in dem Maß, als sie innerhalb der Gemeine selbst
entschieden werden kann, ohne Zutritt des Kirchenregiments. Allein da die Gemeine
doch auch ganz frei sein kann in dieser Beziehung, so wird diese Sache am besten
ganz hierher gezogen.
§ 284. So sehr es auch dem
Geist der evangelischen Kirche gemäß ist, die religiöse Rede
als den eigentlichen Kern des Kultus anzusehen: so ist doch die gegenwärtig
unter uns herrschende Form derselben, wie wir sie eigentlich durch den Ausdruck
Predigt bezeichnen, in dieser
Bestimmtheit nur etwas Zufälliges.
Dies geht hinreichend schon aus der
Geschichte unseres Kultus hervor; noch deutlicher wird es, wenn man untersucht,
wovon die große Ungleichheit in der Wirksamkeit dieser Vorträge eigentlich
abhängt.
§ 285. Da die Disziplin,
welche wir Homiletik nennen, gewöhnlich
diese Form als feststehend voraussetzt, und alle Regeln hauptsächlich auf
diese bezieht: so wäre es besser, diese Beschränktheit fahren zu lassen,
und den Gegenstand auf eine allgemeinere und freiere Weise zu behandeln.
Der Unterschied zwischen eigentlicher
Predigt und Homilie, welcher seit einiger Zeit so berücksichtigt zu werden
anfängt, dass man für die letztere eine besondere Theorie aufstellt,
tut der Forderung unseres Satzes bei weitem nicht Genüge.
§ 286. Fast überall
finden wir in der evangelischen Kirche den Kultus aus zwei Elementen bestehend:
dem einen, welches ganz der freien Produktivität dessen, der den Kirchen
dienst verrichtet, anheim gestellt ist, und einem andern, worin dieser sich
nur als Organ des Kirchenregimentes verhält.
In der ersten Hinsicht ist er vorzüglich
der Prediger, in der andern der
Liturg.
§ 287. Von dem liturgischen
Element kann hier nur die Rede sein unter der Voraussetzung, dass und in welchem
Maß eine freie Selbstbestimmung auch hierbei noch stattfindet.
Die Frage über die Selbstbestimmung
kann nur aus dem Standpunkt des Kirchenregiments entschieden werden. Hier könnte
sie es nur, sofern nachzuweisen wäre, dass eine gänzliche Verneinung
mit dem Begriff des Kultus in der evangelischen Kirche streitet.
§ 288. Da der Kirchendienst im Kultus wesentlich an organische
Tätigkeiten gebunden ist, welche eine der Handlung gleichzeitige Wirkung
hervorbringen: so ist zu entscheiden, ob und inwiefern auch diese ein Gegenstand
von Kunstregeln sein können, und solche sind demgemäß aufzustellen.
Die Regeln wären dann eine Anwendung
der Mimik in dem weiteren Sinne des Wortes auf das Gebiet der religiösen
Darstellung.
§ 289. Da die Handlungen
des Kirchendienstes an eine beschränkte Räumlichkeit gebunden sind,
welche ebenfalls durch ihre Beschaffenheit einen gleichzeitigen Eindruck machen
kann: so ist zu entscheiden, inwiefern ein solcher zulässig ist oder wünschenswert,
und demgemäß Regeln darüber aufzustellen.
Da die Umgrenzung des Raumes nur eine
äußere Bedingung, mithin Nebensache, nicht ein Teil des Kultus selbst
ist: so würden die Regeln nur sein können eine Anwendung der Theorie
der Verzierungen auf das Gebiet der religiösen Darstellung.
Die leitende
Tätigkeit (§
290)
§ 290. Sehen wir lediglich
auf den Gegensatz überwiegend Produktiver und überwiegend Empfänglicher
innerhalb der Gemeine, so dass wir die letzteren als gleich betrachten: so kann
es in der Gemeine eine leitende Tätigkeit geben, welche Gemeinsames hervorbringt;
sofern aber unter den Empfänglichen ein Teil hinter dem Ganzen zurückbleibt:
so ist ihr Zustand als Einzelner Gegenstand der leitenden Tätigkeit.
Die letztere ist schon unter dem Namen
der Seelsorge bekannt; und wir machen mit ihr den Anfang, da immer die Aufhebung
einer solchen Ungleichheit als die erste Aufgabe erscheint. Erstere nennen wir
die anordnende, und sie bringt sowohl Lebensweisen hervor, als einzelne gemeinsame
Werke.
Seelsorge
(§§ 291-302)
§ 291. Gegenstände der
Seelsorge im weiteren Sinn sind zunächst die Unmündigen, in der Gemeine
zu Erziehenden; und die Theorie der zur Organisation des Kirchendienstes gehörenden,
auf sie zu richtenden Tätigkeit wird die Katechetik
genannt.
Der Name ist nur von einer zufälligen
Form der unmittelbaren Ausübung hergenommen, mithin für den ganzen
Umfang der Aufgabe zu beschränkt.
§ 292. Das katechetische
Geschäft kann nur richtig geordnet werden, wenn zwischen allen Beteiligten
eine Einigung über den Anfangspunkt und Endpunkt desselben besteht.
Sofern also ist, wenn diese Einigung
sich nicht von selbst ergibt, das Geschäft sowohl, als die Theorie abhängig
von der ordnenden Tätigkeit.
§ 293. Vermöge des Zweckes,
die Unmündigen den Mündigen gleich zu machen, sofern nämlich
diese die Empfänglichen sind, muss das Geschäft aus zwei Teilen bestehen:
dass sie nämlich ebenso empfänglich werden für die erbauende
Tätigkeit und auch ebenso (vgl. § 279) für
die ordnende; und die Aufgabe ist, beides durch ein und dasselbe Verfahren zu
erreichen.
Das erste ist die Belebung des religiösen
Bewusstseins nach der Seite des Gedankens hin, das andere die Erweckung desselben
nach der Seite des Impulses.
§ 294. Sofern aber zugleich
der Zweck sein muss, sie zu einer größeren Annäherung an die
überwiegend Selbsttätigen vorzubereiten: so ist zu bestimmen, wie
dies geschehen könne, ohne ihr Verhältnis zu den andern Mündigen
zu stören.
Wie die Katechetik überhaupt
auf die Pädagogik als Kunstlehre zurückgeht: so ist auch dieses eine
allgemein pädagogische Aufgabe, die sich aber doch in Bezug auf das religiöse
Gebiet auch besondere bestimmt.
§ 295. Da nach beiden Seiten
(vgl. § 293) hin, nicht nur die Frömmigkeit im Gegensatz gegen
das sinnliche Selbstbewusstsein, sondern auch in ihrem christlichen Charakter
und als die evangelische zu entwickeln ist: so ist auch hier das Verhalten der
individuellen und universellen Richtung zu einander, sowohl in Bezug auf die
Ausgleichung als die Fortschreitung (vgl. § 294),
zu bestimmen.
Es ist um so notwendiger, diese Aufgabe
in die Theorie aufzunehmen, als in der neuesten Zeit die merkwürdigsten
Verirrungen in diesem Punkt vorgekommen sind.
§ 296. Aus ähnlichem
Grunde können diejenigen Einzelnen Gegenstände einer ähnlichen
Tätigkeit werden, welche als religiöse Fremdlinge im Umkreis oder
der Nähe einer Gemeine leben, und dies erfordert dann eine Theorie über
die Behandlung der Konvertenden.
Je bestimmter die Grundsätze
der Katechetik aufgestellt sind, um desto leichter müssen sich diese daraus
ableiten lassen.
§ 297. Da aber diese Wirksamkeit
nicht so natürlich begründet ist: so wären auch Merkmale aufzustellen,
um zu erkennen, ob sie gehörig motiviert ist.
Denn es kann hier auf beiden Seiten
gefehlt werden, durch zu leichtes Vertrauen und durch zu ängstliche Zurückhaltung.
§ 298. Bedingterweise könnte
sich eben hier auch die Theorie des Missionswesens anschließen, welche
bis jetzt noch so gut als gänzlich fehlt.
Am leichtesten freilich nur, wenn
man davon ausgeht, dass alle Bemühungen dieser Art nur gelingen, wo eine
christliche Gemeine besteht.
§ 299. Einzeln können
solche Mitglieder der Gemeine Gegenstände für die Seelsorge werden,
welche ihrer Gleichheit mit den andern durch innere oder äußere Ursachen
verlustig gegangen sind; und die Beschäftigung mit diesen nennt man die
Seelsorge im engeren Sinne.
Da nämlich die Gleichheit in
der Wirklichkeit immer nur das Kleinste der Ungleichheit ist: so sollen diejenigen,
die unter den Gleichen die Letzten sind, hier nicht gemeint sein; wie denn diese
auch immer vorhanden sind, jene aber nur zufällig.
§ 300. Da nun in diesem Falle
ein besonderes Verhältnis anzuknüpfen ist: so hat die Theorie zunächst
zu bestimmen, ob es überall auf beiderlei Weise entstehen kann, von dem
Bedürftigen aus und von dem Mitteilenden aus, oder unter welchen Verhältnissen
welche Weise die richtige ist.
Die große Verschiedenheit der
Behandlung dieses Gegenstandes in ver¬schiedenen Teilen der evangelischen
Kirche ist bis jetzt weder konstruiert, noch beseitigt.
§ 301. Da ein solcher Verlust der Gleichheit aus innern
Ursachen sich nur in einer Opposition zeigen kann gegen die erbauende oder die
ordnende Tätigkeit: so ist demnächst zu bestimmen, ob und wie im Geist
der evangelischen Kirche das Verfahren aus beiden Elementen (vgl.
§ 279) zusammenzusetzen ist; endlich auch, ob, wenn die Seelsorge
ihren Zweck nicht erreicht, ihr Geschäft immer nur als noch nicht beendigt
anzusehen ist, oder ob und wann und inwiefern der Zusammenhang der unempfänglich
Gewordenen mit den Leitenden als aufgehoben kann angesehen werden.
Die Aufhebung dieses Zusammenhanges
zöge auch die des Zusammenhanges mit der Gemeine als solcher nach sich.
§ 302. In Hinsicht der durch
die Wirksamkeit äußerer Ursachen notwendig gewordenen Seelsorge ist
außer der ersten Aufgabe (vgl. § 300) nur
noch zu bestimmen, wie die Übereinstimmung dieser amtlichen Wirksamkeit,
die wesentlich die geistige Krankenpflege umfasst, mit der geselligen der Empfänglichen
aus der Gemeine zu erreichen ist.
Denn das im § 301 in Frage Gestellte
kann hier kaum streitig sein, da hier nur zu ergänzen ist, was durch den
momentan aufgehobenen Anteil im gemeinsamen Leben versäumt wird. Die erbauende
Tätigkeit grenzt hier zu nahe an das gewöhnliche Gespräch, um
einer besonderen Theorie zu bedürfen.
Organisation
des Gemeindelebens (§§
303-306)
§ 303. Die innerhalb der
Gemeine anordnende Tätigkeit (vgl. § 290) erscheint
in Beziehung auf die Sitte beschränkt, teils durch die umfassenderen Einwirkungen
des Kirchenregimentes, teils durch die unabweisbaren Ansprüche der persönlichen
Freiheit.
Man kann nur sagen: erscheint; denn
die Leitenden müssen durch ihr eigenes persönliches Freiheitsgefühl
zurückgehalten werden, nicht in dieses Gebiet einzugreifen. Eben dadurch
aber sollten auch die Leitenden im Kirchenregiment abgehalten werden, nicht
zentralisierend in das Gebiet der Gemeine einzugreifen.
§ 304. Da die evangelische
Sitte ebenso wie die Lehre, im Gegensatz gegen die katholische Kirche, noch
in der Entwicklung begriffen ist: so sind nur im allgemeinen Regeln aufzustellen,
wie das Gesamtleben von einem gegebenen Zustande aus allmählich der Gestalt
näher gebracht werden kann, welche der reiferen Einsicht der Vorgeschrittenen
gemäß ist.
Der gegebene Zustand kann entweder
noch unerkannt mancherlei vom Katholizismus in sich tragen, oder auch irrtümlich
Schranken, welche das Christentum selbst stellt, überschritten haben.
§ 305. Da das Leben auch
in der christlichen Gemeine zugleich durch gesellige und bürgerliche Verhältnisse
bestimmt wird: so ist anzugeben, auf welche Weise auch in diesem Gebiet, so
weit dies von lokalen Bestimmungen ausgehen kann, dem Einfluss des christlichen
und evangelischen Geistes größere Geltung zu verschaffen ist.
Überall kann hier nur von der
Verfahrungsweise die Rede sein, indem das Materielle der ordnenden Tätigkeit
von der geltenden Auffassung der christlichen Lehre, besonders der Sittenlehre
abhängt.
§ 306. Da von der ordnenden
Tätigkeit auch die Aufforderungen zur Vereinigung der Kräfte ausgehen
müssen zum Behuf aller solcher gemeinsamen Werke, welche in dem Be griff
und Bereich der Gemeine liegen: so ist es wichtig, diese Grenze (vgl.
§ 303) zu bestimmen.
Die Aufgabe ist, dasjenige, was für
die amtliche Wirksamkeit gehört, und beständig fortgeht, z. B. das
ganze Gebiet des Diakonats im ursprünglichen Sinn, von dem zu scheiden,
was nur von dem persönlichen Verhältnis einzelner Leitenden auf einen
Teil der Masse ausgehen kann.
Epilog
(§§307-308)
§ 307. Der Kirchendienst
ist hier als Ein Gebiet behandelt worden, ohne die verschiedene mögliche
Weise der Geschäftsverteilung irgend beschränken zu wollen.
Sonst hätten wir schon die Theorie
der kirchlichen Verfassung vorwegnehmen müssen. Wir können daher auch
hier nur nach alter Weise alle, die an den Geschäften des Kirchendienstes
teilnehmen, in dem Ausdruck Klerus auf dieser Stufe zusammenfassen.
§ 308. Auch nur in dieser
Allgemeinheit kann daher die Frage behandelt werden, ob und was für einen
Einfluss das kirchliche Verhältnis zwischen Klerus und Laien auf das Zusammensein
der ersten mit den letzten, sowohl in den bürgerlichen, als in den geselligen
und wissenschaftlichen Verhältnissen werde zu äußern haben.
Die Aufgaben, welche gewöhnlich
unter dem Namen der Pastoralklugheit behandelt wurden, erscheinen hier als ganz
untergeordnet, und ihre Lösung beruht auf der Erledigung der Frage, ob
und welcher spezifische Unterschied stattfinde zwischen den Mitgliedern des
Klerus, welche den Kultus leiten, und den übrigen.
Zweiter Abschnitt.
Die Grundsätze des Kirchenregimentes.
Prolegomena
(§§309-314)
§ 309. Wenn das Kirchenregiment
in der Gestaltung eines Zusammenhanges unter einem Komplexes von Gemeinden beruht:
so ist zunächst die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, welche sich
zwischen dem Kirchenregiment und den Gemeinden entwickeln können, zu verzeichnen,
und zu bestimmen, ob durch den eigentümlichen Charakter der evangelischen
Kirche einige Formen bestimmt ausgeschlossen oder andere bestimmt postuliert
werden.
Es wird nämlich vorausgesetzt,
dass die Gestaltung eines solchen Zusammenhanges weder dem Wesen des Christentums
widerspricht, noch die Selbsttätigkeit der Gemeinen aufhebt.
§ 310. Da die Art und Weise,
wie sich die überwiegend Selbsttätigen in einem solchen geschlossenen
Komplexus zur Ausübung des Kirchenregiments gestalten, und wie sich dessen
Wirksamkeit und die freie Selbsttätigkeit der Gemeinen gegenseitig erregt
und begrenzt, die innere Kirchenverfassung bildet: so hat die obige Aufgabe
die Tendenz, diese für die evangelische Kirche, sowohl in ihrer Mannigfaltigkeit,
als in ihrem Gegensatz gegen die katholische, auf Grundsätze zurückzuführen.
Die Lösung muss einerseits auf
dogmatische Sätze zurückgehen, und kann andererseits nur durch zweckmäßigen
Gebrauch der Kirchengeschichte und der kirchlichen Statistik gelingen.
§ 311. Da die evangelische
Kirche dermalen nicht Einen Komplexus von Gemeinen bildet, und in verschiedenen
auch die innere Verfassung eine andere ist, die Theologie hingegen für
alle dieselbe sein soll: so muss die Theorie des Kirchenregimentes ihre Aufgaben
so stellen, wie sie für alle möglichen evangelischen Verfassungen
dieselben sind, und von jeder aus können gelöst werden.
Das dermalen
soll nur bevorworten, dass die Unmöglichkeit einer jeden äußeren
Einheit der evangelischen Kirche wenigstens nicht entschieden ist.
§ 312. Da jedes geschichtliche
Ganze nur durch dieselben Kräfte fortbestehen kann, durch die es entstanden
ist: so besteht das evangelische Kirchenregiment aus zwei Elementen, dem gebundenen,
nämlich der Gestaltung des Gegensatzes für den gegebenen Komplexus,
und dem ungebundenen, nämlich der freien Einwirkung auf das Ganze, welche
jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt.
Die evangelische Kirche, nicht nur
in Bezug auf die Berichtigung der Lehre, sondern auch ihre Verfassung oder ihr
gebundenes Kirchenregiment, ist ursprünglich aus dieser freien Einwirkung
entstanden, ohne welche auch, da das gebundene mit der Verfassung identisch
ist, eine Verbesserung der Verfassung denkbarer Weise nicht erfolgen könnte.
- Damit die letzte Bestimmung nicht tumultuarisch erscheine, muss nur bedacht
werden, dass, wenn sich einer, der nicht zu den über¬wiegend Produktiven
gehört, doch berufen glauben sollte, der Versuch von selbst in nichts zerfallen
würde.
§ 313. Beide können
nur denselben Zweck haben (vgl. § 25), die
Idee des Christentums nach der eigentümlichen Auffassung der evangelischen
Kirche in ihr immer reiner zur Darstellung zu bringen, und immer mehr Kräfte
für sie zu gewinnen. Das organisierte Element aber, die kirchliche Macht
oder richtiger Autorität, kann dabei ordnend oder beschränkend auftreten,
das nicht organisierte oder die freie geistige Macht nur aufregend und warnend.
Einverstanden jedoch, dass auch
der kirchlichen Macht jede äußere Sanktion für ihre Aussprüche
fehlt; so dass der Unterschied wesentlich darauf hinausläuft, dass diese
als Ausdruck des Gemeingeistes und Gemeinsinnes wirken, die freie geistige Macht
aber etwas erst in den Ge¬meinsinn und Gemeingeist bringen will.
§ 314. Der Zustand eines
kirchlichen Ganzen ist desto befriedigender, je lebendiger beiderlei Tätigkeiten
ineinander greifen, und je bestimmter auf beiden Gebieten. mit dem Bewusstsein
ihres Gegensatzes gehandelt wird.
Die kirchliche Autorität hat
also zu vereinigen, und die Theorie muss die Formel dafür
(vgl. § 310) aufsuchen, wie ihr überwiegend obliegt, das durch
die letzte Epoche gebildete Prinzip zu erhalten und zu befestigen, zugleich
aber auch die Äußerungen freier Geistesmacht zu begünstigen
und zu beschützen, welche allein die Anfänge zu um¬bildenden Entwicklungen
hervorbringen kann. Ebenso für die freie Geistesmacht, wie sie, ohne der
Stärke der Überzeugung etwas zu ver¬geben, sich doch mit dem begnügen
könne, was durch die kirchliche Autorität ins Leben zu bringen ist.
Die kirchliche Autorität
Kirchendienst
(§§315-317)
§ 315. Da ein größerer
kirchlicher Zusammenhang nur stattfinden kann bei einem gewissen Grade von Gleichheit
oder einer gewissen Leichtigkeit der Ausgleichung unter den ihn konstituierenden
Gemeinden: so hat auch überall die kirchliche Autorität einen Anteil
an der Gestaltung und Aufrechthaltung des Gegensatzes zwischen Klerus und Laien
in den Gemeinen.
Nämlich nur einen Anteil, weil
die Gemeine früher ist, als der kirchliche Nexus, und weil sie nur ist,
sofern dieser Gegensatz in ihr besteht.
§ 316. Da dieser Anteil ein
Größtes und ein Kleinstes sein kann: so hat die Theorie diese Verschiedenheit
erst zu fixieren, und dann zu bestimmen, welchen anderweitigen Verhältnissen
und Zuständen jede Weise zukomme, und ob sie dieselbige sei für alle
Funktionen des Kirchendienstes oder eine andere für andere.
Denn dass in - diesem scheinbar stetigen
Übergang vom Kleinsten zum Größten sich doch gewisse Punkte
als Hauptunterschiede feststellen lassen, versteht sich aus allen ähnlichen
Fällen von selbst.
§ 317. Da ferner jene Gleichheit weder als unveränderlich,
noch als sich immer von selbst wiederherstellend angesehen werden kann, mithin
sie zugleich ein Werk der kirchlichen Autorität sein muss: so ist die Art
und Weise, diesen Einfluss auszuüben, das heißt der Begriff der kirchlichen
Gesetzgebung, zu bestimmen.
Zugleich:
weil sie nämlich in gewissem Sinne schon vorhanden sein muss vor der kirchlichen
Autorität. - Der Ausdruck Gesetzgebung bleibt, weil die kirchliche Autorität
ebenfalls aller äußeren Sanktion entbehrt, immer ungenau.
Kirchengesetzgebung
(§§ 318-327)
§ 318. Da nun diese Gleichheit
zunächst nur erscheinen kann im Kultus und in der Sitte, beide aber an
sich der adäquate Ausdruck der an jedem Orte herrschenden Frömmigkeit
sein sollen: so entsteht die Aufgabe, beides durch die kirchliche Gesetzgebung
zu vereinigen und vereint zu erhalten.
Es liegt in der Natur der Sache, dass
dies nur durch Annäherung geschehen kann, und dass also die Theorie vorzüglich
darauf sehen muss, das Schwanken zwischen dem Übergewicht des einen und
des andern in möglichst enge Grenzen einzuschließen.
§ 319. Da beide nur, sofern
sie sich selbst gleich bleiben, als Ausdruck der kirchlichen Einheit fortbestehen
können, alles aber, was und sofern es Ausdruck und Darstellungsmittel ist,
seinen Bedeutungswert allmählich ändert: so entsteht die Aufgabe für
die Gesetzgebung, sowohl die Freiheit und Beweglichkeit von beiden anzuerkennen,
als auch ihre Gleichförmigkeit zu begründen.
Hierdurch muss sich zugleich auch
das Verhältnis der kirchlichen Autorität zum Kirchendienst in der
Konstitution des Kultus und der Sitte wenigstens in bestimmte Grenzen einschließen.
§ 320. Der kirchlichen Autorität
muss ferner geziemen, im Falle einer Opposition in den Gemeinen, rühre
sie nun her (vgl. § 299) von einzelnen, aus
der Einheit mit dem Ganzen Gefallenen, oder von zurückgetretener Einheit
überhaupt, als höchster Ausdruck des Gemeingeistes, den Ausschlag
zu geben, wenn innerhalb der Gemeine keine Einigung zu erzielen ist.
Geltend wird dieser Ausschlag immer
nur, sofern auch die Opponenten nicht aufhören wollen, in diesem kirchlichen
Verein ihren christlichen Gemeinschaftstrieb zu befriedigen.
§ 321. Insofern die kirchliche
Autorität hierauf entweder durch allgemeine Bestimmungen einwirkt, oder
wenigstens solchen folgt, wo sie einzeln zutritt, muss hier die Frage erledigt
werden, ob und unter welchen Verhältnissen in einem evangelischen Kirchenverein
Kirchenzucht stattfinde oder auch Kirchenbann.
Letzterer nämlich, sofern die
Aufhebung des Verhältnisses eines einzelnen zur Gemeine oder zum Kirchenverein
von der Autorität ausgesprochen. werden kann. Ersteres, insofern eine stattgehabte
Opposition nur durch eine öffentliche Anerkennung ihrer Unrichtigkeit solle
beendigt werden können.
§ 322. Über das Verhältnis
der kirchlichen Autorität zu dem Lehrbegriff machen sich noch so entgegengesetzte
Ansichten geltend, dass es unmöglich scheint, einen gemeinsamen Ausgangspunkt
zu finden, so dass eine Theorie nur bedingterweise kann aufgestellt werden.
Ja, es möchte sogar nicht einmal
leicht sein, die Parteien zum Einverständnis über den Ort, wo der
Streit entschieden werden sollte, mithin gleichsam zur Wahl eines Schiedsrichters
zu bringen.
§ 323. Ausgehend einerseits
davon, dass der evangelische Kirchenverein entstanden ist mit und fast aus der
Behauptung, dass keiner Autorität zustehe, den Lehrbegriff festzustellen
oder zu ändern, andererseits davon, dass wir, ungeachtet der Mehrheit evangelischer
Kirchenvereine, welche verschiedenen Maximen folgen, doch Eine evangelische
Kirche und eine diese Einheit bezeugende Lehrgemeinschaft anerkennen: glauben
wir die Aufgabe nur so stellen zu dürfen. Es sei zu bestimmen, wie die
kirchliche Autorität eines jeden Vereins, anerkennend, dass Änderungen
in den Lehrsätzen und Formeln nur entstehen dürfen aus den Forschungen
einzelner, wenn diese in die Überzeugung der Gemeine aufgenommen werden,
diese Wirksamkeit der freien Geistesmacht beschützen, zugleich aber die
Einheit der Kirche in den Grundsätzen ihres Ursprungs festhalten könne.
Natürlich soll keineswegs ausgeschlossen
werden, dass nicht dieselben, welche als kirchliche Autorität wirken, auch
könnten die Wirksamkeit der freien Forschung ausüben; sondern nur
um so strenger ist darauf zu halten, dass sie dies nicht in der Weise und unter
der Firma der kirchlichen Autorität tun. - Ganz entgegengesetzt aber muss
die Aufgabe gestellt werden, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass die
Kirche nur durch eine in einem anzugebenden Grade genaue Gleichförmigkeit
der Lehre als Eine bestehe.
§ 324. Das Obige (vgl.
§ 322) gilt auch von den Rechten und Obliegenheiten der kirchlichen
Autorität in Bezug auf die Verhältnisse der Kirche zum Staat, indem
keine Handlungsweise, welche irgend vorgeschrieben werden könnte, sich
einer allgemeinen Anerkennung erfreuen würde.
Nur dies scheint bemerklich zu sein,
dass da, wo die evangelische Kirche gänzlich vom Staat getrennt ist, niemand
andere Wünsche hegt; da. aber, wo eine engere Verbindung zwischen beiden
stattfindet, die Meinungen in der Kirche geteilt sind.
§ 325. Ausgehend einerseits
davon, dass, wenn die Kirche nicht will eine weltliche Macht sein, sie auch
nicht darf in die Organisation derselben verflochten sein wollen, andererseits
davon, dass, was Mitglieder der Kirche, welche an der Spitze des bürgerlichen
Regiments stehen, in dem kirchlichen Gebiet tun, sie doch nur in der Form der
Kirchenleitung tun können, vermögen wir die Aufgabe nur so zu stellen.
Es sei zu bestimmen, auf welche Weise die kirchliche Autorität unter den
verschiedenen gegebenen Verhältnissen dahin zu wirken habe, dass die Kirche
weder in eine kraftlose Unabhängigkeit vom Staat, noch in eine wie immer
angesehene Dienstbarkeit unter ihm gerate.
Die Theorie ist höchst schwierig
aufzustellen, und gewährt doch wenig Ausbeute, weil, wenn die kirchliche
Autorität schon eine Verschmelzung der Kirche mit der politischen Organisation
oder eine den Einfluss äußerer Sanktion benutzende Verfahrungsart
in kirchlichen Angelegenheiten vorfindet, sie unter ihrer Form nur indirekt
dagegen wirken kann, alles andere aber von den allmählichen Einwirkungen
der freien Geistesmacht erwarten muss. - Und wie wenig Übereinstimmung
auch in den ersten Grundsätzen ist, wird am besten daraus klar, dass, wo
die Kirche sich in einer Dienstbarkeit ohne Ansehen befindet, immer einige vorziehen
werden, in der Dienstbarkeit Ansehen zu erwerben, andere aber unangesehen zu
bleiben, wenn sie nur unabhängig werden können.
§ 326. Dieselbe Aufgabe kehrt
noch in einer besonderen Beziehung wieder, wenn der Staat die gesamte Organisation
der Bildungsanstalten in die seinige aufgenommen hat, indem alsdann in Beziehung
auf die geistige Bildung, durch welche allein sowohl der evangelische Kultus
erhalten werden, als auch eine freie Geistesmacht in der Kirche bestehen kann,
ebenfalls kraftlose Unabhängigkeit oder wohlhabende Dienstbarkeit drohen.
Für dieses Gebiet kann unter
ungünstigen Umständen sehr leicht das schwierige und nicht auf einfache
Weise zu lösende Dilemma entstehen, ob der Kirchenverein sich solle mit
dem, wenn auch noch so dürftigen Apparat begnügen, den er sich unabhängig
erwerben und bewahren kann, oder ob er es wagen solle, auch aus mit nicht-evangelischen
Elementen versetzten Quellen zu schöpfen.
§ 327. Da die verschiedenen
für sich abgeschlossenen Gemeinvereine, welche zusammen die evangelische
Kirche bilden, teils durch äußerliche, der Veränderung unterworfene
Verhältnisse, teils durch Differenzen in der Sitte oder Lehre, deren Schätzung
ebenfalls der Veränderung unterworfen ist, gerade so begrenzt sind, die
meisten aber sich durch diese Begrenzung an ihrer Selbständigkeit gefährdet
finden: so entsteht die Aufgabe für jeden von ihnen, sich einem genaueren
Zusammenhang mit den übrigen offen zu halten und ihn in seinem Innern vorzubereiten,
damit keine günstige Gelegenheit, ihn hervorzurufen, versäumt werde.
Diese Aufgabe bezeichnet zugleich
das Ende des Gebietes der kirchlichen Autorität; denn nicht nur stirbt
mit der Lösung der Aufgabe jedes bisherige Kirchenregiment seinem abgesonderten
Sein ab, sondern auch die Lösung selbst, weil sie über das Gebiet
der abgeschlossenen Autorität hinausgeht, kann nur durch die Wirksamkeit
der freien Geistesmacht hervorgerufen werden.
Die freie Geistesmacht
§§328-334
Einleitung
§§328-329
§ 328. Da das ungebundene
Element des Kirchenregimentes (vgl. § 312), welches
wir durch den Ausdruck freie Geistesmacht in der evangelischen Kirche bezeichnen,
als auf das Ganze gerichtete Tätigkeit einzelner, eine möglichst unbeschränkte
Öffentlichkeit, in welcher sich der einzelne äußern kann, voraussetzt:
so findet es sich jetzt vornehmlich in dem Beruf des akademischen Theologen
und des kirchlichen Schriftstellers.
Bei dem ersten Ausdruck ist nicht
gerade an die nur zufällige, jetzt noch bestehende Form zu denken; doch
wird immer eine mündliche, große Massen der zur Kirchenleitung bestimmten
Jugend vielseitig anregende Überlieferung etwas höchst Wünschenswertes
bleiben. - Unter dem letzten sind in dieser Beziehung diejenigen nicht mit begriffen,
welche nur ihre Verrichtungen im Kirchendienst auf die Schrift übertragen.
§ 329. Beide werden ihre
allgemeinste Wirkung (vgl. §§ 313, 314)
nur in dem Maß vollbringen, als sie dem Begriff des Kirchenfürsten
(vgl. § 9) nahe kommen.
Des in §
9 erwähnten Gleichgewichts bedürfen beide um so weniger, als
sie sich mit ihrer Produktion in dem Gebiet einer besonderen wissenschaftlichen.
Virtuosität bewegen. Aber in demselben Maß werden sie auch keine
allgemeine anregende Wirkung auf das Kirchenregiment ausüben.
Der
akademische Lehrer (§§
330-331)
§ 330. Da der akademische
Lehrer in der von religiösem Interesse vorzüglich belebten Jugend
den wissenschaftlichen Geist in seiner theologischen Richtung erst recht zum
Bewusstsein bringen soll: so ist die Methode anzugeben, wie dieser Geist zu
beleben sei, ohne das religiöse Interesse zu schwächen.
Wie wenig man noch im Besitz dieser
Methode ist, lehrt eine nur zu zahlreiche Erfahrung. Es bleibt übrigens
dahingestellt, ob diese Methode eine allgemeine sei, oder ob es bei verschiedenen
Disziplinen auf Verschiedenes ankommt.
§ 331. Da, das Vorhandene
um so weniger genügt, als (je mehr) der wissenschaftliche Geist die einzelnen
Disziplinen durchdringt: so ist eine Verfahrungsweise aufzustellen, wie die
Aufmunterung und Anleitung, um die theologischen Wissenschaften weiter zu fördern,
zugleich zu verbinden sei mit der richtigen Wertschätzung der bisherigen
Ergebnisse, und mit treuer Bewahrung des dadurch in der Kirche niedergelegten
Guten.
Eine gleiche Erfahrung bewährt
hier denselben Mangel, und unleugbar kommt von der allzuscharfen Spannung zwischen
denen, welche Neues bevorworten, und denen, welche sich vor dem Alten beugen,
vieles auf Rechnung der Lehrweise.
Der theologische
Schriftsteller (§§
332-334)
§ 332. Sofern die schriftstellerische
Tätigkeit auf Bestreitung des Falschen und Verderblichen gerichtet ist:
so ist dem theologischen Schriftsteller besonders die Methode anzugeben, wie
er sowohl das Wahre und Gute, woran sich jenes findet und womit es zusammenhängt,
nicht nur auffinden, sondern auch zur Anerkenntnis bringen kann, als auch dem
Eigentümlichen, worin es erscheint, seine Beziehung auf das kirchliche
Bedürfnis anweisen.
Der Satz, dass aller Irrtum nur an
der Wahrheit ist, und alles Schlechte nur am Guten, ist die Grundbedingung alles
Streites und aller Korrektion. Der letzte Teil der Aufgabe ruht einerseits auf
der Voraussetzung, dass Irriges und Schädliches, wenn nicht durch Eigentümlichkeit
getragen, wenig Einfluss ausüben kann, andererseits auf der, dass alle
Gaben in der Kirche sich erweisen können zum gemeinen Nutzen.
§ 333. Sofern sie Neues zur Anerkenntnis bringen und empfehlen
will, wäre eine Formel zu finden, wie die Darstellung des Gegensatzes zwischen
dem Neuen und Alten, und die des Zusammenhanges zwischen beiden, sich am besten
unterstützen können.
Denn ohne Gegensatz wäre es nicht
neu, und ohne Zusammenhang wäre es nicht anzuknüpfen.
§ 334. Da die öffentliche Mitteilung sich leicht weiter
verbreitet, als sie eigentlich verstanden wird: so entsteht die Aufgabe, jene
Darstellung so einzurichten, dass sie nur für diejenigen einen Reiz hat,
von denen auch ein richtiger Gebrauch zu erwarten ist.
Die sonst hiezu fast ausschließend
empfohlene und angewendete Regel, sich bei Darstellungen, von denen Missdeutung
oder Missbrauch zu erwarten ist, nur der gelehrten Sprache zu bedienen, ist
den Verhältnissen nicht mehr angemessen.
Schlussbetrachtungen über die praktische
Theologie (§§ 335-338)
§ 335. Von der Scheidung
zwischen dem, was jedem obliegt, und dem, was eine besondere Virtuosität
konstituiert, konnte hier keine Erwähnung geschehen.
Denn sie kann nur auf zufälligen
oder fast persönlichen Beschränkungen beruhen, und ergibt sich dann
von selbst. An und für sich betrachtet, kann jeder zur Kirchenleitung Berufene
auf jede Weise wirksam sein; und es gibt nicht sowohl verschiedene trennbare
Gebiete, als nur verschiedene Grade erreichbarer Vollkommenheit.
§ 336. Die Aufgaben, zumal
im Gebiet des Kirchenregiments, wird derjenige am richtigsten stellen, der sich
seine philosophische Theologie am vollkommensten durch gebildet hat. Die richtigsten.
Methoden werden sich demjenigen darbieten, der am vielseitigsten auf geschichtlicher
Basis in der Gegenwart lebt. Die Ausführung muss am meisten durch Naturanlagen
und allgemeine Bildung gefördert werden.
Wenn nicht alles, was in dieser enzyklopädischen
Darstellung auseinander gelegt ist. hier gefordert würde, so wäre
sie unrichtig, so wie die Forderung unrichtig wäre, wenn sie etwas enthielte,
was in keiner enzyklopädischen Darstellung enthalten sein kann.
§ 337. Der Zustand der praktischen
Theologie als Disziplin zeigt, dass, was im Studium jedes einzelnen das Letzte
ist, auch als das Letzte in der Entwicklung der Theologie überhaupt erscheint.
Schon deshalb, weil sie die Durchbildung
der philosophischen Theologie (vgl. §§ 66 und 259) voraussetzt.
§ 338. Da sowohl der Kirchendienst,
als das Kirchenregiment, in der evangelischen Kirche wesentlich durch ihren
Gegensatz gegen die römische bedingt ist: so ist es die höchste Vollkommenheit
der praktischen Theologie, beide jedes Mal so zu gestalten, wie es dem Stande
dieses Gegensatzes zu seinem Kulminationspunkte angemessen ist.
Hierdurch geht sie besonders auf die
höchste Aufgabe der Apologetik (vgl. § 63)
zurück. S. 1-131
Aus: Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des
theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Wissenschaftliche
Buchgesellschaft Darmstadt 1961