Richard Rothe (1799 – 1867)

Deutscher Theologe, der vor allem bei Hegel in Heidelberg und Berlin, aber auch bei Daub, Schleiermacher und Neander studierte. Rothe war wohl der bedeutendste spekulative Systematiker der Vermittlungstheologie. Selbst tief religiös, erfüllt mit einem lebendigen (pietistisch angehauchten) Christusglauben, war er aufgeschlossen für die humane Bildung, Wissenschaft und Kultur der Neuzeit. Seine innere Freiheit und seine tiefe Frömmigkeit ergänzten einander in seltener Harmonie. Rothe spekuliert, dass im geschichtlichen Verlaufe des Evolutionsprozesses in der Menschheit der Heilsratschluss Gottes realisiert wird, wobei die göttliche Offenbarung (resp. Weissagung) eine vorbereitende und auslösende Rolle spielt. Endziel sei eine »absolute Theokratie (Gottesherrschaft)«, in der das Gottes-bewusstsein und die Gott-tätigkeit mit derjenigen des voll entwickelten Verstandes-bewusstseins und Willens-tätigkeit im menschlichen Wesen zusammenfällt, was in seiner voll realisierten harmonischen Totalität »die vollendete Menschwerdung Gottes« sei.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis

Das vollendete Reich Gottes
Die endgültige Menschwerdung Gottes
  Zweck und Bedeutung der göttlichen Offenbarung
Die gegenwärtige Lage und Aufgabe der deutsch-evangelischen Kirche

Das vollendete Reich Gottes
Da in den moralischen Prozess seinem Begriff zufolge der religiöse eingeschlossen ist, so involviert die Vollendung von jenem, wie sie in dem hier erreichten Punkte eingetreten ist, wesentlich auch die von diesem. Die vollendete Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit muss gedacht werden als wesentlich zugleich das absolute Bestimmtsein derselben durch Gott und folglich das absolute Zugeeignetsein des Menschen an Gott. Oder näher: das vollendete menschliche Verstandesbewusstsein, und zwar wie es beides ist, individuelles Bewusstsein aller Einzelnen einerseits und absolut in organische Einheit aufgegangenes Gesamtbewusstsein (Gemeinbewusstsein) andrerseits, muss gedacht werden als wesentlich zugleich schlechthin vollständiges Gottesbewusstsein, — und die vollendete menschliche Willenstätigkeit, und zwar wie sie beides ist, individuelle Willenstätigkeit aller Einzelnen einerseits und absolut in organische Einheit aufgegangene Gesamttätigkeit (Gemeintätigkeit) adrerseits, als wesentlich zugleich schlechthin vollendete Gottestätigkeit.

Mit anderen Worten: mit der vollendeten (normalen) Entwicklung des menschlichen Verstandesbewusstseins und der menschlichen Willenstätigkeit sind wesentlich zugleich auch das Gottesbewusstsein und die Gottestätigkeit schlechthin realisiert in der Menschheit. Das Gleiche gilt sofort auch von der religiösen Gemeinschaft. Jener allgemeine Staatenorganismus muss gedacht werden als wesentlich zugleich das schlechthin vollendete Reich Gottes, als die absolute Theokratie (Gottesherrschaft). Eben damit koinzidieren aber dann auch die religiös-sittliche Gemeinschaft und die ausschließend religiöse ihrem Umfange nach schlechthin, und es fällt sonach die letztere, d. h. die Kirche schlechthin, hinweg
. S. 228
Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen

Die endgültige Menschwerdung Gottes
Da aber der moralische Prozess der Menschheit als religiöser, wenn er aus dem Gesichtspunkte nicht des Menschen, sondern Gottes angesehen wird, die Menschwerdung Gottes ist: so ist die Vollendung des moralischen Prozesses wesentlich auch die Vollendung der Menschwerdung Gottes. In dem hier in Rede stehenden Vollendungspunkt ist vermöge des moralischen Prozesses innerhalb des irdischen Schöpfungskreises das vollständig erreicht, worauf das Absehen Gottes bei allem seinem Schaffen letztlich geht, nämlich sich selbst, nach seinem aktuellen Sein oder als die göttliche Person, in der Kreatur sein Sein zu geben oder kosmisch zu werden.

Dass in diesem Abschlusspunkte des moralischen Prozesses das menschliche Verstandesbewusstsein in seiner vollendeten Entwicklung wesentlich zugleich schlechthin Gottesbewusstsein ist und die menschliche Willenstätigkeit in ihrer vollendeten Entwicklung wesentlich zugleich schlechthin Gottestätigkeit, das ist in der Tat nichts anderes als ein reelles Sein Gottes in dem menschlichen Geschöpf in seiner Totalität oder die vollendete Menschwerdung Gottes.
S. 229
Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen

Zweck und Bedeutung der göttlichen Offenbarung
… Dies also ist es, worin die Offenbarung zu allererst bestehen wird: Gott tritt mittels einer unzweideutig übernatürliche, eigentümlich göttlichen Geschichte selbst als handelnde Person ein in die natürliche Geschichte und stellt sich damit dem Menschen in solche Nähe, dass er auch dem durch die Sünde verdunkelten Auge desselben evident werden kann. Gerade in dieser Gestalt aber fällt uns ja auch in den biblischen Urkunden die göttliche Offenbarung zu allernächst ins Auge. Um eine kurze Bezeichnung zu haben, wollen wir dieses Moment der Offenbarung fortan die Manifestation Gottes nennen.

Indes an ihrem Ziel ist die göttliche Offenbarung doch mit der Manifestation noch nicht angelangt, sondern sie muss dazu dieses ihr äußeres und objektives Moment notwendig durch ein inneres und subjektives ergänzen, das wir die Inspiration nennen wollen.

Soll nämlich die Manifestation ihren Zweck wirklich erreichen, so muss sie von dem Menschen, dem sie zu teil wird, verstanden, und zwar richtig verstanden werden. Ohne dies würde sie ein wirkungsloses Wetterleuchten bleiben, und sie könnte auch gar nicht festgehalten werden, wie doch die offenbarende Wirksamkeit Gottes dies bezweckt, eine Erlösung der sündigen Menschheit geschichtlich einzuleiten.

Bei der Erweckung des Gottesbewusstseines kommt es ja nicht allein auf die verhältnismäßige Stärke des Eindrucks an, in Ansehung derer allerdings durch die Manifestation für sich allein das Nötige vorgekehrt werden kann, sondern ebenso wesentlich auch auf die Richtigkeit desselben. Gott will durch seine Offenbarung zur Evidenz bringen nicht nur, dass er ist, sondern auch, wer er ist, wie denn ohne das letztere das erstere, im vollen Sinne, auch gar nicht möglich ist, weil jede unrichtige, in sich selbst irgendwie sich widersprechende Vorstellung immer in betreff der Realität ihres Objekts ein Skepsis hervorrufen muss. Kann denn nun aber der sündige Mensch die an ihn gelangende göttliche Manifestation richtig verstehen?

Der Christ muss das verneinen, auf Grund seiner eigenen religiösen Erfahrung, und ebenso leuchtet aus der Natur der Sache die Unmöglichkeit davon ein. Durch die Sünde ist im Menschen mit der persönlichen Bestimmtheit überhaupt auch das erkennende Organ, das Bewusstsein, alteriert, und sein krankes Auge vermag überhaupt nichts wahrhaft richtig anzufassen, mithin auch nicht die göttliche Manifestation. Soll diese ihr richtiges Verständnis finden, so muss folglich Gott seine äußere Kundgebung mit einer inneren und sohin unmittelbaren Einwirkung auf das Bewusstsein des jene Empfangenden begleiten, kraft welcher dieses in seiner Richtung auf dieselbe sich richtig zu vollziehen und so eine richtige – nämlich nach Maßgabe der jedesmaligen bestimmten Manifestation – Gotteserkenntnis zu erzeugen vermag.

Es muss zur Manifestation noch eine innere Erleuchtung durch Gott hinzutreten, eine unmittelbare Hervorbringung von Erkenntnissen im Menschen bei der Aufnahme der äußeren Kundgebung mittels übernatürlicher Geschichtsereignisse zum Behuf ihres richtigen Verständnisses, und sie nennen wir die Inspiration. Dafür aber, dass diese nicht ins Magische falle, d. h. nicht eine für den Menschen unvermittelte sei, ist bereits gesorgt. Es ist ja für sie in dem letzteren ein bestimmter Anknüpfungspunkt gegeben in der in ihm durch die Manifestation, dem natürlichen psychologischen Gesetze zufolge, eigentümlich gesteigerten religiösen Erregtheit, welche ihrer Natur nach eine eigentümliche Empfänglichkeit für die innere Einwirkung Gottes begründet,* und jene religiöse Erregtheit nimmt in ihm überdies unvermeidlich ihre Richtung ausdrücklich auf die Enträtselung der in ihrer Übernatürlichkeit geheimnisvollen äußeren Tatsachen, welche die Manifestation vor seine Wahrnehmung heraufführt.

*Es scheinen mir deshalb diejenigen ihr eigenes Interesse sehr schlecht zu verstehen, die, um den wahrhaft menschlichen Hergang, die »Naturwahrheit« bei der Offenbarung zu sichern, bei ihr nichts von übernatürlich bewirkten äußeren Geschichtstatsachen, mit einem Worte, von Wundern, zulassen wollen. Gerade ohne Wunder würde die göttliche Offenbarung unvermeidlich ins Magische geraten.

Im höchsten Maße findet dies alles augenscheinlich statt bei den unmittelbaren Organen der göttlichen Manifestation (die ja als Geschichtsvorgang nur mittels menschlicher Aktoren sich vollziehen kann), und gerade bei ihnen haben wir deshalb die Inspiration bestimmt zu suchen. Wie die unmittelbare innere Hervorbringung von Erkenntnissen an der Manifestation ihren ausdrücklichen Anknüpfungspunkt hat, so findet sie dann aber an den objektiven Tatsachen derselben auch ihre unerbittliche Kontrolle. Sie muss diese, wie sie unverrückbar gegeben sind, für das Bewusstsein liquid machen, und nur so viel sie dies vermag, ist sie legitimiert, so dass also beide, Manifestation und Inspiration, nicht voneinander lassen können, und wie sie die eine ohne die andere nicht möglich wären, ebenso sich auch gegenseitig aneinander zu bewähren haben. Die Manifestation ohne die Inspiration wäre ein stummes portentum (Wunderzeichen), die Inspiration ohne die Manifestation ein phantastisches Irrlichtern; die Probe beider besteht darin, dass sie gegenseitig ineinander aufgehen. Erst beide in ihrer unauflöslichen Einheit konstituieren die wirkliche Offenbarung, die Manifestation als ihre äußere und objektive, die Inspiration als ihre innere und subjektive Seite.

Die Inspiration nimmt übrigens verschiedene Formen an, »je nachdem sie in dem Menschen die Erkenntnis, die sie ihm übernatürlich mitteilt, entweder unter dem individuellen Charakter oder unter dem universellen erzeugt, entweder als Ahnung oder als Gedanken, je nachdem der Inspirierte entweder Seher ist oder Prophet. Im ersteren Falle vollzieht sie sich wegen ihres unauflöslichen Zusammenhanges zwischen Ahnen und Anschauen als Vision; im anderen Falle berührt Gott die Klaviatur der menschlichen Seele in der Weise, dass er aus der Gesamtmasse der in ihr vorhandenen Begriffe und Vorstellungen mehrere so untereinander verknüpft, dass aus ihrer Verbindung ein wesentlich neuer Gedanke in dem Bewusstsein hervorspringt, von dem der Mensch sich bestimmt bewusst ist, ihn nicht selbst erzeugt, d. h. die Gedankenkombination, auf der genetisch beruht, nicht selbstbewusster- und selbsttätiger vollzogen zu haben, ungeachtet er hintennach gar wohl vermag, dieselben nachzukonstruieren und so die neue Entdeckung zu bewähren«. (Theologische Ethik, II S.270f.)

Es darf jedem, der in diesen Dingen mitspricht, zugemutet werden, dass er von dem belebenden Wehen des göttlichen Geistes im Innern seiner Seele, von dem Dahinrauschen der Finger Gottes über die Tasten und Saiten seines Gemüts und den schnell verbrauchenden Akkorden aus einer höheren Welt, die sie aus den eigensten Tönen seines Innern zusammengreifen, irgend eine eigene Erfahrung habe und die Rede davon nicht für ein Märchen halte. Namentlich zu der zweiten Art der Inspiration bildet das, was wir die geniale Konzeption nennen, ein ganz bestimmtes Analogon. Auf ihre Rechnung wird jeder reichere Geist den besten Teil seiner geistigen Errungenschaft setzen, und er wird gern mit Friedrich Perthes (Leben, III, S.246) bekennen, dass »ihm in seinem Leben sehr viel mehr ohne alles Zutun plötzlich eingefallen sei, als er jemals hätte durch Nachdenken oder Nachsinnen gewinnen können«, und seine eigenen Erinnerungen in der ebenso treuen als warmen Schilderung aus der Feder Franz Baaders (Werke, Bd. XI, S.154f.) wieder erkennen, die hier anzufügen ich mir nicht versagen kann:

»Die Erfindungen finden uns, nicht wir sie,
sagt Claudius, und dieser Behauptung liegt eine große Wahrheit zu Grunde. Man besinne sich genau jener lichten, seltenen Momente, in denen er eine – Wahrheit wie ein neuer Stern näher oder ferner den Horizont unserer Geistessehe heraufstieg oder emporflammte! Da ist sie nun, fremd und doch innig erkannt, lange oft im Dunklen gesucht, geahnt, aber doch so ganz neu, so ganz unerwartet, voll süßen Wunders angestaunt von unserem Geiste, der immer dabei zurücksieht auf seine Irrgänge: also so und nicht dies, nicht jenes, wie ich wohl dachte x., da ist sie nun ganz Wärme, ganz Licht, meine Seele – und einige Momente hernach – weg ist sie: sie kam ungerufen wie ein Himmelsbote und wie ein solcher schwand sie hin! Jene segnet ihr nach und erfreut sich am phosphoreszierenden Lichte, das sie ihrem Standorte zurückließ, und an der Wärme, mit der sie ihr innerstes Bewusstsein zum neuen, Leben ahnenden Gefühl weckte! Ich kann diese Lichtmomente nicht anders als Momente – poetischer Begeisterung, Inspiration nennen: und so gewiss es ist, dass dieses Inspiration ohne unser Zutun kommt und wieder schwindet, so deutlich unser Geist fühlt und erkennt, dass auch diese Gabe, die ihm das ist, was der Odem dem Kindesleben, gegeben wird, so gewiss ist es, dass alles Wahre, Große und Schöne, was die Menschenkinder dachten und taten, nicht dem, was gewöhnlich Fleiß und Nachforschen heißt, sondern ähnlichen Inspirationen sein Dasein zu verdanken hat. – Uns bleibt nur die Ehre des Aussagens, Verteilens dessen, was uns im geheimen anvertraut ward – Echo – Wenn ich es genau angeben soll, was in mir in einem solchen Momente vorgeht, so muss ich sagen, dass ich mich als tätiges Organ fühle, nicht aber als ein bloßes, blindes Werkzeug. Es ist nicht Impulsion von außen, wohl aber Impulsion von innen. Wenn ich diese Begeisterung poetisch nenne, so nehme ich Poesie in jenem Sinne, in welchem das Weltall nur ein Poem, eine Epoöe der Einbildung der Gottheit ist«.


Die Herbeiziehung dieser Analogie aus dem Gebiete der allgemeinen Erfahrung mit der Inspiration kann allerdings mit einem gewissen Schein zur Bestreitung der Realität einer eigentlichen Offenbarung gewendet werden, wie denn z. B. Schleiermacher (Der christliche Glaube I, S.71f.) die Schwierigkeit, den Begriff des spezifisch Geoffenbarten gegen den des durch Begeisterung auf natürlichem Wege ans Licht Getretenen abzugrenzen, stark hervorhebt. Allein diese Schwierigkeit würde doch nur dann bestehen, wenn die Inspiration schon für sich allein die ganze Offenbarung wäre und die Manifestation zu ihrer Voraussetzung hätte und ihr korrelat wäre. Denn eben daran ist die inspirierte Idee in ihrem Unterschiede von allen jenen analogen Escheinungen mit Sicherheit kenntlich, dass sie zu einer objektiven göttlichen Manifestation in einem ausdrücklichen Verhältnis steht, in einem kausalen als in einem teleologischen, d. h. dass sie sowohl durch diese göttliche Manifestation allein sich geschichtlich motiviert, als auch in der Eröffnung des Verständnisses derselben allein ihre Abzweckung findet.

Hierbei darf nun aber nicht übersehen werden, dass beide, Manifestation und Inspiration, geschichtlich bedingt und folglich auch geschichtlich beschränkt sind, woraus dann wieder folgt, dass die göttliche Offenbarung sich nur allmählich vollziehen kann, nur über eine Reihe von Stufen hinweg. Denn Gott muss sich mit den Geschichtstatsachen, vermöge welcher er sich den Menschen erkennbar machen will, jedesmal innerhalb der Grenzen der Bedingungen des Verständnisses halten, die in dem Kreise, an den er sich wendet, vorhanden sind; er kann nicht mit solchen Geschichtsdaten hervortreten, die demselben unverständlich bleiben müssten, weil ihm die intellektuellen Voraussetzungen ihres Verständnisses doch mangeln würden. Und ebenso kann er bei der Auslegung, die er durch Inspiration von seiner jedesmaligen Manifestation gibt, im Bewusstsein des Inspirierten das Verständnis derselben nur insoweit erzeugen, als in ihm die einzelnen Elemente sich vorfinden, durch deren unmittelbare Verknüpfung diejenigen Vorstellungen ich hervorrufen lassen, welches jenes Verständnis konstituieren.

Nun versteht es sich freilich, dass schon die Manifestation selbst nach Maßgabe dieser Bedingungen bemessen sein wird; denn sonst würde sie ja überhaupt eine unverständliche und ihr richtiges Verständnis durch Inspiration nicht zu ermöglichen sein: aber dass sie auch darauf berechnet sein müsste, sofort unmittelbar vollständig verständlich zu sein mit Hilfe der Inspiration: dies anzunehmen nötigt nichts. Denn da die Manifestation bestimmt ist, ein bleibendes Datum innerhalb des Horizonts der Menschheit zu werden (mittels der Geschichtsüberlieferung), so kommt es, wenn anders ihre Auffassung von vorneherein in die richtige Bahn hineingeleitet worden ist, im Laufe der Zeit in ihrem Kreise, eben infolge der von ihr ausgehenden geschichtlichen Wirkungen, je länger desto vollständiger zu den Bedingungen des Verständnisses auch derjenigen Elemente von ihr, die bei ihrem Eintritt noch unfasslich waren, und so braucht sie nicht lediglich für den Moment ihres Geschehens angelegt zu sein, sondern kann zugleich mit für die ganze Reihe der künftigen Momente, soweit sie von ihr abfließen, bemessen werden.

Dem Gesetz der Sparsamkeit zufolge wird es sich dann auch tatsächlich auf diese Weise mit ihr verhalten. So dass mithin die Inspiration hinter der Manifestation zurückbleiben wird, sofern sie zwar eine richtige Auslegung derselben in authentischer Weise an die Hand geben wird, nicht aber schon die volle. Dem Propheten (mit alleiniger Ausnahme Christi) geht die Manifestation nicht (was die unfehlbare Probe sein würde) rein auf in seinem Verständnis derselben, es bleibt ihm ein irrationaler Rest an ihr zurück. (Vergl. 1. Petr. 1, 10ff.)

Nur bei der Offenbarung in ihrer Vollendung, also bei der in Christo, verhält es sich anders in dieser Beziehung. In dem Erlöser als dem Gottmenschen decken sich die Manifestation und Inspiration schlechthin, eben sofern jede von beiden die in sich vollendete ist. Wie er als der Gottmensch die vollendete Manifestation Gottes ist, so versteht er sich selbst auch vollkommen als der schlechthin Inspirierte, und als schlechthinige ist seine Inspiration eine stetige, womit sie dann aber in ein anderes Genus umschlägt, aus der bloßen Inspiration durch Gott, in das Erfüllt- und Bewohntsein von Gott, in das Einssein mit ihm.

Eben damit wohnt ihm das volle Verständnis der göttlichen Manifestation, die in seiner Person stattfindet, bei. Aber auch nur ihm selbst, nicht auch den übrigen Personen, die mit auftreten bei der neutestamentlichen Offenbarung. Er allein ist daher der schlechthin authentische Ausleger seiner selbst oder der göttlichen Manifestation in ihm; jeder andere kann ihn nur annäherungsweise verstehen, auch durch Inspiration, und auch die Apostel können in dieser Beziehung keine Ausnahme machen, so unzweifelhaft sie übrigens vermöge ihrer geschichtlichen Situation im Vergleich mit allen anderen eine spezifisch bevorzugte Stellung einnehmen. Er allein, in seiner Person und in seinem Geschick, konstituiert die ganze Manifestation im neuen Bunde, nichts von allem dem, was sich um ihn her bewegt, gehört mit zu derselben; und eben darin ist er die vollendete Manifestation Gottes, dass ein individuelles Menschenleben in seiner einheitlich in sich geschlossenen Totalität (so dass nichts aus ihm herauszudenken ist als nicht Element der Manifestation Gottes) Gott abspiegelt.

Ist aber er die ganze und alleinige neutestamentliche Manifestation, und koinzidieren in der neutestamentlichen Offenbarung Manifestation und Inspiration schlechthin: so fällt auch diese ganz und ausschließend in ihn hinein. Es gibt mithin in der neutestamentlichen Offenbarung im strengen und eigentlichen Sinne des Worts nur einen Inspirierten, Christum selbst, - der aber als der ganz oder schlechthin Inspirierte mehr ist als ein Inspirierter, nämlich der, in welchem Gott selbst wohnt. Er legt die göttliche Manifestation schlechthin authentisch der Welt aus dadurch, dass er sich selbst auslegt, der Welt von sich selbst Zeugnis gibt; außer Ihm aber gibt es im Bereich der neutestamentlichen Offenbarung keine Inspiration, welche die Manifestation Gottes, d. i. eben Christum, auf schlechthin authentische Weise zu interpretieren vermöchte. Auch die apostolische Inspiration vermag es nicht; sondern die Apostel vermögen es nur in dem Maße, in welchem sie das eigene Zeugnis Christi von sich selbst treu und vollständig zu reproduzieren und zu überliefern imstande sind.

Hat derjenige Begriff der Offenbarung seine Richtigkeit, dessen Grundzüge wir bisher verzeichnet haben, so ist es selbstverständlich, dass ihr wesentlich Übernatürlichkeit zukommt, d. h. dass sie ein Erzeugnis lediglich der eignen Entwicklung unserer Welt aus sich selbst heraus nicht ist. Denn dass sie mit Evidenz aus der letzteren als alleiniger Kausalität unbegreifbar ist, das bildet ja das Grundmerkmal in dem vorhin aufgestellten Begriff von ihr. Die Übernatürlichkeit ist demnach das charakteristische Merkmal der Offenbarung. Dies aber nicht etwa in dem Sinne, dass sie nicht auch der Entwicklung unserer Welt aus sich selbst heraus mitangehöre, was vielmehr entschieden behauptet werden soll, - sondern nur dies meinen wir, dass sie aus dieser Entwicklung unserer Welt nur insofern hervorgeht, als in dieser über die in ihr selbst liegenden Kausalitäten hinaus noch eine anderweitige, ihr an sich selbst nicht angehörige, näher die göttliche Kausalität mit wirksam ist. Daher gerät unser Begriff der Offenbarung keineswegs mit sich selbst in Widerspruch, wenn sich nun nach der anderen Seite hin aus demselben nicht minder notwendig auch das entgegengesetzt lautende Prädikat der Natürlichkeit für sich ergibt. Denn auch diese muss ihr ja freilich eignen, wenn sie, wie wir gefunden haben, wesentlich in der Form der Geschichte in die Welt eintritt.

Eine Geschichte gibt es ja nur, wo es einen Verlauf von naturgemäß unter sich zusammenhängenden Begebenheiten gibt. Die Offenbarung ist auch nicht bloß wesentlich Geschichte, sondern sie will nicht minder wesentlich auch geschichtlich werden und wirken und selbst Geschichte machen. Die ist aber wieder nicht anders möglich als sofern sie Natur an sich nimmt und in die Natur eingeht. Nur so kann sie in der Welt haften, in sich ihr einbürgern, als Entwicklungsprinzip oder geschichtliche Potenz in die Geschichte eingreifen und sich der geschichtlichen Faktoren immer vollständiger bemächtigen, um sich in sie zu transsubstanzieren.
Bei der Beurteilung der konkreten Offenbarungen ist dieses Moment der Natürlichkeit, d. h. mit anderen Worten: der Geschichtlichkeit, sogar von höchster Erheblichkeit. Denn es folgt aus ihm der Kanon, dass überhaupt nichts sich als Offenbarung geltend machen kann, was in der Geschichte vereinzelt dasteht, was nicht organisch eingreift in die große geschichtliche Entwicklungsreihe der Offenbarungen Gottes.

In der Wirklichkeit, insbesondere den biblischen Urkunden zufolge, durchdringen sich beide Seiten der Offenbarung, die Übernatürlichkeit und die Natürlichkeit, aufs innigste, und ganz ebenso gehören sie auch im Begriff der Offenbarung unablöslich zusammen.

Und in diesem Punkte hat sich unsere ältere Theologie allerdings schlimm versündigt. Weil sie den Begriff der Offenbarung überhaupt in einem falschen Lichte sah, so ging ihr der Sinn für die natürliche Seite an ihr nur allzu gründlich ab. Sie meinte wohl, die Übernatürlichkeit der Offenbarung werde desto evidenter, je unnatürlicher diese erscheine. Dass die Offenbarung eine eigentliche Geschichte habe, dass sie ein streng und fest gegliedertes Kontinuum einer übernatürlichen geschichtlichen Entwicklung in dem Organismus der natürlichen Geschichte sei, das, was heute bereits eine Trivialität ist, lag noch gänzlich außer ihrem Gesichtskreise, in dem es nur von »übernatürlichen Belehrungen« etwas zu lesen gab. Und ebenso verschob sich ihr die Vorstellung von der göttlichen Offenbarung auch dadurch, dass sie gar nicht daran dachte, dass dieselbe wesentlich darauf abzielt, geschichtlich, d. h. eine in der Menschenwelt geschichtlich wirksame Potenz zu werden.

Gerade hierauf kommt es aber bei der Offenbarung ganz unumgänglich an, darauf vor allem, dass die von ihr enthüllte Idee Gottes in das Bewusstsein, insbesondere in das Gemeinbewusstsein der Menschheit eingehe, und mittels dieses auch in die objektiven Gestaltungen des menschlichen Daseins und hier zur Natur werde. Erst in zweiter Linie handelt es sich dann auch darum, dass die Kunde von ihr schriftlich aufgezeichnet, dass sie in ein Buch eingetragen werde; während wir Theologen in der Regel so gut wie allein an das letztere denken. Unserer älteren Theologie aber war eine solche Anschauungsweise von der Offenbarung völlig fremd. Sie dachte bei ihr immer nur an diejenigen erleuchtenden Wirkungen, welche sie unmittelbar hervorbringt bei ihrem Eintritt, - also eben in ihren Organen und unmittelbaren Zeugen, - nur an die Erkenntnisse, welche diese aus demjenigen Tun Gottes, das wir seine Offenbarung nennen, schöpften, - ja sie setzte eigentlich allein in diese Erkenntnisse die Offenbarung selbst, - eben weil sie dieselbe nur als Inspiration kannte, nicht auch, und zwar vor allen anderen – als Manifestation.

Diese Betrachtungsweise, die auch uns noch immer anzuhangen pflegt, müssen wir uns von vorneherein gründlich entschlagen. Es kommt bei der Offenbarung durchaus nicht allein auf diejenigen Kenntnisse an, welche sie unmittelbar aufleuchten lässt im unmittelbaren Kreise ihres Geschehens, sondern letztlich vielmehr darauf, dass die Tatsache, welche sie konstituieren, - also die Manifestation – und zwar in der Beleuchtung, in der sie vermöge der sie begleitenden Inspiration ursprünglich sich darstellten, auf bleibende Weise in unsern menschlichen Gesichtskreis eintreten, - dass sie bleibend eingereiht werden in den Komplex der Data, welche für das menschliche Bewusstsein in die Wahrnehmung fallen.

Die Offenbarung will gewisse Daten, welche die Welt nicht aus sich selbst erzeugen kann, in sie und den menschlichen Gesichtskreis hineinpflanzen, und zwar als feste und permanente Elemente, weil die Konzeption der wahren Gottesidee durch ihre Miteinrechnung bedingt ist. Gott macht sich durch große Tatsachen von einer Art, wie sie in dem Weltverlauf als solchem nicht vorkommen und nicht vorkommen können, in einem einzelnen Punkte der Geschichte evident; aber er tut dies mit der Absicht, dass dieselben fort und fort, wie die Sonne am Firmament, dem menschlichen Bewusstsein in seinem Gesichtsfelde als leuchtende Data sollen vor Augen stehen bleiben. Ihr Erkenntnisgehalt ist nicht mit einem Blicke zu erschöpfen, und es kommt auch gar nicht darauf an, dass sie unmittelbar bei ihrer erstmaligen Wahrnehmung schon vollständig verstanden werden; aber eben dieserhalb müssen sie dauernd in Sicht bleiben, damit das Auge des menschlichen Denkens immer wieder von neuem auf ihnen verweilen nicht nur kann, sondern auch muss. Solchergestalt wirkt die göttliche Offenbarung stetig fort als Koeffizient bei allem menschlichen Erkennen, selbst unabhängig von ihrem Erkannt- und Anerkanntsein als Offenbarung. Der Inbegriff ihrer Tatsachen steht als die Sonne da am menschlichen Himmel, und das ist die Hauptsache. Sie leuchtet tatsächlich allen, die sie erblicken, und erleuchtet ihnen ihre Welt, auch wenn sie nicht wissen, dass sie Offenbarung ist.
S. 22-31 […]

Wenn nach den Kriterien der Offenbarung gefragt wird, so sollte diese Frage billig nicht als eine Frage darnach verstanden werden, woran wir jetzt eine schon längst in die Geschichte eingetretene und durch ihre geschichtlichen Wirkungen legimitierte Offenbarung als solche erkennen können, – sondern danach vielmehr will gefragt werden, wodurch eine Offenbarung, indem sie geschah, sich denjenigen, an welche sie sich unmittelbar wendete, als Offenbarung auszuweisen hatte, – durch welche Merkmale allein sie sich bei diesen mit Recht und Fug Anerkennung verschaffen und hierdurch sich in ein geschichtliches Dasein und geschichtliche Wirklichkeit einführen konnte. Und auf diese letztere Frage antworte ich, zugleich auf die Geschichte selbst mich stützend, zuversichtlich, dass dies nicht ohne Wunder und Weissagung geschehen konnte. Ich sage mit Absicht: nicht ohne Wunder und Weissagung; denn das kommt mir natürlich nicht in den Sinn, jene oder überhaupt irgend welche Kriterien, auch die inneren nicht ausgenommen, als schon an sich ausreichend zur Erzeugung des wahren Glaubens an die Offenbarung und einer ihr entsprechenden wirklichen Frömmigkeit zu betrachten, auch nur für die unmittelbaren Empfänger der Offenbarung. S. 33 […]

Wo Wunder und Weissagungen statthaben, da wird Gott evident,
und Gott kann sich nicht anders evident machen als durch Wunder und Weissagungen, die er wirkt. Weshalb es auch eine ungenaue und missleitende Ausdrucksweise ist, wenn man sagt, die Offenbarung sei von Wundern und Weissagungen begleitet. Vielmehr: sie besteht in Wundern und Weissagungen. Ich wiederhole es also: eben dadurch ist mir eine geschichtliche Erscheinung eine göttliche Offenbarung, dass sie Wunder und Weissagungen wesentlich in sich schließt; denke ich mir von ihr übernatürliche Taten (Wunder) und übernatürliche Kenntnisse (die Weissagung) – und zwar »übernatürlich« im strengen Sinne genommen – hinweg: so weiß ich nicht, welcherlei Übernatürliches mir an ihr noch zurückbleiben sollte, von einer übernatürlichen Offenbarung ist aber doch hier ausdrücklich die Rede.

Das Motiv der göttlichen Offenbarung liegt mir ja, wie oben gesagt ist, eben in dem Umstande, dass der Naturverlauf (im weitesten Sinne) dem sündigen Menschen Gott nicht mit Evidenz wahrnehmbar macht, folglich nur solche Data dies können, die außerhalb desselben liegen, d. h. eben Wunder. Daher ist mir das Wunder selbst ein konstitutives Element der göttlichen Manifestation selbst, eben als das »Zeichen«, in welchem der über den Naturverlauf erhabene Gott sich in der Geschichte unzweideutig wahrnehmbar macht. Außer Verbindung mit der Weissagung aber würde das Wunder ein stummes Bild sein, so dass ich also auch diese hier gar nicht wegdenken kann. Ich sage unbedenklich mit Martensen (Dogmatik, S.31): »Der Begriff der heiligen Geschichte ist unzertrennlich von dem Begriff des Wunders.«

Und auch dieses Bekenntnisses schäme ich mich nicht, dass ich außerstande bin, eine göttliche Offenbarung zu denken, in welcher das »Übernatürliche« oder das »göttliche Wirken« sich nicht soll in »roher Handgreiflichkeit konstatieren lassen.*
*J. H. Fichte, spekulative Theologie, S.627f.: »Das göttliche Wirken drängt sich niemals als ein abstrakt (!) Übernatürliches in vereinzelter Handgreiflichkeit ein unter die übrigen Handlungen, so dass du mit empirischer Sicherheit zu sagen vermöchtest, hier sei es, oder da sei es gewesen; es versteckt sich stets unter andere Gestalt, in den Namen des Menschen, und lässt diesen für sich eintreten,. Wie sich überhaupt aber das Ewige, Göttliche, eben weil es das Allwirksame ist, jener rohen Handgreiflichkeit entzieht, so mutet ihm dennoch der gemeinsinnliche Verstand ebensowohl wie der Aberglaube unaufhörlich dergleichen an; sonst hat es für beide keine Realität mehr. Der innere, lebendige Glaube« (es handelt sich ja hier gerade darum, diesen erst zu ermöglichen!) »verlangt solche Bewährungen ebensowenig als die freie Vernunfteinsicht; denn beiden ist Gott in keiner Weltbegebenheit fern.«

Nur soviel räume ich gerne ein, dass, je mehr ein bestimmter Akt im Drama der göttlichen Offenbarung in der stetig fortschreitenden inneren Vervollkommnung der durch eine bereits in geschichtlicher Wirksamkeit stehenden Offenbarung gegebenen Gottesidee besteht, desto mehr bei ihm das Wunder zurücktreten kann
S. 35f. […]

Es kann niemand befremden, wenn der Pantheismus und Determinismus das Wunder für ein Unding erklären; sie vollziehen damit nur eine Konsequenz, die unmittelbar in ihrem Begriffe liegt. Wenn Spinoza das Wunder leugnet, so fließt dies so direkt aus seinen Begriffen von Gott und der Welt, dass man sich höchstens darüber wundern kann, dass er eine so umständliche Begründung seiner Leugnung für nötig erachtet. Ebenso begreift man es vollkommen, wenn Schleiermacher von jedem eigentlich so zu nennenden Wunder nichts hören will. Nicht nur sein Zug zum Pantheismus, sondern fast mehr noch seine durchaus deterministische Vorstellung von der Welterhaltung und der Weltregierung führten ihn notwendig dahin. Von dieser letzteren aus musste er folgerichtig in der Tat behaupten (Der christliche Glaube, I, S.260f.), dass, »da dasjenige, woran sich ein Wunder begibt, mit allen endlichen Ursachen in Verbindung stehe«, jedes eigentliche Wunder »den ganzen Naturzusammenhang zerstören würde«. Von seinen Vordersätzen aus schreibt er durchaus folgerichtig:

»Indem dasjenige nicht erfolgt, was durch die Gesamtheit der endlichen Ursachen erfolgt sein würde, so wird eine Wirkung verhindert, und zwar nicht durch den Einfluss anderer auf natürliche Weise gegenwirkender und auch im Naturzusammenhang gegebener endlicher Ursachen, sondern ohnerachtet aller wirksamen Ursachen zur Hervorbringung dieser Wirkung zusammenstimmen. Alles also, was von jeher hierzu beitrug, wird gewissermaßen vernichtet, und statt nur ein einzelnes Übernatürliches mitten in den Naturzusammenhang hineinzustellen, wie man es eigentlich will, muss man den Begriff der Natur ganz aufheben. Die positive Seite ist nun die, dass etwas erfolgen soll, was aus der Gesamtheit der endlichen Ursachen nicht zu begreifen ist. Aber indem dieses nun als ein wirksames Glied mit in den Naturzusammenhang eintritt, so wird nun in alle Zukunft alles ein anderes, als wenn dieses einzelne Wunder nicht geschehen wäre; und jedes Wunder hebt nicht nur den ganzen Zusammenhang der ursprünglichen Anordnung für alle Zukunft auf, sondern jedes spätere Wunder auch alle früheren, sofern sie schon in die Reihe der wirksamen Ursachen eingetreten sind«.

Gewiss, wenn der Weltverlauf ein solches Rechenexempel ist, dessen Faktoren, auch die »freien Ursachen« ausdrücklich mit eingeschlossen, in sich selbst schlechthin unveränderliche Größen sind, und die göttliche Weltregierung das Abdrehen eines Walzwerks einer Spieluhr, dem von Ewigkeit her die abzuspielende Melodie in dem vollständig ausgeführten Satz von einzelnen Stiften fest aufgehämmert ist: dann gibt es keinen Raum in der Welt für das Wunder.

Das Wunder hat zu seiner Voraussetzung eine wirklich relative Selbstständigkeit der Welt gegenüber von Gott, ihrer unbedingten Abhängigkeit von ihm (die mit jener sehr wohl zusammen besteht), unbeschadet, die unsere kirchlich-dogmatische Lehre von der Welterhaltung ihr allerdings nicht einräumt, – ein wirkliches Unterschiedensein und Auseinandertreten der göttlichen Kausalität und der kreatürlichen, und ebenso, und zwar im engsten logischen Zusammenhange hiermit, auch einen Spielraum für die Bewegung der Freiheit in der Welt, der Freiheit Gottes sowohl als der der persönlichen Geschöpfe, den unsere kirchlich-dogmatische Lehre von der Weltregierung freilich wiederum nicht offen lässt. Aber diese doppelte Voraussetzung fordere ich ja auch ohnehin, ganz unabhängig von der Frage wegen der Wunder, mit aller Entschiedenheit, zu oberst im Interesse der Idee Gottes selbst, wofür ich mich hier auf die anderwärts (Theol. Ethik, I, S. 110-125) gegebene Ausführung berufen darf. Wem aber diese Voraussetzungen gelten, – und meiner Überzeugung nach sind sie die unumgänglichen Konsequenzen des Glaubens an den persönlichen und damit zugleich lebendigen Gott, – wie für den der Gedanke des Wunders Schwierigkeiten unterliegen soll, das weiß ich mir in der Tat nicht klar zu machen
.*
*Zeller in den Theol. Jahrb. Bd. I, H. 2, S.285: »Das Wunder ist die unmittelbarste Konsequenz des gewöhnlichen Theismus. Wird Gott einmal als außerweltlicher Wille gedacht, so muss man auch eine Betätigung dieses Willens in der Welt zugeben, diese Betätigung aber, als Hereingreifen eines transzendenten Prinzips in den Weltlauf, kann nur eine übernatürliche, ein Wunder sein«.

Gerade ebensowenig wie die jetzt so beliebte Beweisart, dass unsere fortgeschrittene Einsicht in die Naturgesetze als Instanz wider das Wunder angerufen wird. Ich habe immer geglaubt, gerade erst von der Erkenntnis der strengen Gesetzmäßigkeit der Natur her falle das vollste Licht auf den Gedanken des Wunders. Denn Naturgesetz und Wunder sind ja Korrelatbegriffe, und wo eine klare Vorstellung von einem Naturgesetz und eine sichere Erkenntnis der wirklichen Naturgesetze noch gar nicht aufgekommen ist, da gibt es bekanntlich auch noch gar kein Wunder für den Menschen, weil alles für ihn Wunder ist. S. 37ff. […]

Wäre die göttliche Offenbarung lediglich Manifestation, so würde es , so weit es sich um äußere Kriterien derselben handelt, bei dem Wunder sein Bewenden haben. Allein sie ist ja wesentlich auch Inspiration, und so tritt dem Wunder die Weissagung zur Seite. Diese ist nämlich eben die spezifische Wirkung der Inspiration (gerade so, wie das Wunder sich uns als ein konstitutives Element der Manifestation gezeigt hat), und zwar – da der Zweck der Inspiration auf das richtige Verständnis der Manifestation abzielt – die authentische Auslegung der göttlichen Manifestation kraft der Inspiration.

Mit diesem Begriff der Weissagung, der aus dem oben aufgestellten Begriff der Offenbarung unmittelbar abfließt, ist nun sofort auch der richtige Gesichtspunkt für die Behandlung diese Kriteriums der Offenbarung gegeben, die allerdings aus dem Wege, den sie in unserer älteren Dogmatik eingeschlagen hat, herausgeleitet werden muss. Wenn irgendwo, so bewährt es sich hier recht augenscheinlich, dass das Zurückgehen auf die Schriftlehre unmittelbar zugleich eine Berichtigung der wissenschaftlichen Fassung unserer dogmatischen Begriffe mit sich bringt.
[…]

Denn im eigentlichen und strengen Sinne des Worts hat auf den Namen einer Weissagung nur dasjenige Wissen oder überhaupt Erkenntnis Anspruch, das sich evident darüber ausweisen kann, dass es unter den in dem bestimmten zeitlichen Moment und räumlichen Punkt seiner Entstehung gegebenen empirischen Bedingungen in seinem Inhaber das Erzeugnis des menschlichen Erkennungsprozesses für sich allein nicht sein kann und folglich auf die göttliche Kausalität, sei es nun als direkt oder als durch ein übermenschliches kreatürliches Medium wirkende, zurückgeführt werden muss. Allein das Objekt eines derartigen Wissens ist im Begriff der göttlichen Offenbarung bereits ausdrücklich mitgesetzt, nämlich nicht etwa das Zukünftige und vollends näher das zukünftige Zufällige, sondern die eben nur vermöge der göttlichen Kausalität, und zwar als inspirierender, richtig zu verstehende göttliche Manifestation. Die Weissagung ist eben das zu der göttlichen Offenbarungstat, wenn sie ihren Zweck erreichen soll, hinzugeforderte, sie zutreffend auslegende göttliche Offenbarungswort.

Eine göttliche Manifestation, welche keine Weissagung in ihrem Geleite hätte, wäre keine Offenbarung, so wie es auch wieder eine Weissagung (im Unterschied von der bloßen Wahrsagung) nicht anders gibt, als in ausdrücklicher Beziehung auf eine zu ihr gehörige göttliche Manifestation. Die Weissagung geht folglich der Manifestation fort und fort zur Seite und ist daher auch, wie diese, was die altkirchliche Theologie ganz übersehen hat, ein sich organisch in sich entwickelndes Kontinuum.

Ungeachtet so die Weissagung nicht ohne weiteres und nicht ausschließend Voraussetzung ist, so ist doch die Hinausschau in die Zukunft bei ihr allerdings ein wesentliches Moment. Nämlich eben ihrem Begriff als Auslegung der göttlichen Manifestation zufolge. Zum richtigen Verständnis dieser kommt es ja in letzter Beziehung darauf an, ihren Zweck richtig zu verstehen; eben das teleologische Verständnis eines historischen Details ist das allein richtige Verständnis desselben.

Es kommt bei ihr wesentlich darauf an, zu verstehen, worauf Gott mit seiner Offenbarung letztlich hinaus will, d. h. zu erkennen, dass sie das vorbereitende Mittel sein will zur endlichen Bewirkung einer wirklichen Erlösung, und wie der jedesmalige geschichtliche Stand der Offenbarung zu diesem ihrem Endziel sich verhält. Darin liegt nun aber auch schon die weitere Bestimmung, dass sie als Voraussagung der Zukunft wesentlich Verheißung ist, nämlich Voraussagung künftiger Erlösung, also Heilsverheißung oder messianische Weissagung. Wie entschieden gerade dies die Anschauung der Bibel und namentlich des N. T. von der Weissagung ist, daran braucht nur erinnert zu werden. Vergl. 2. Kor. 1, 20., Apost-G. 3, 18. 24., Joh. 5, 39.,45-47., Luk. 10, 23. 24. 24,27, 44.

Dagegen mag ausdrücklich hervorgehoben werden, dass in der geschichtlichen Entfaltung der Weissagung in ihr die Vorhersagung mit innerer Notwendigkeit je länger desto mehr zurücktritt. Denn je vollständiger der göttliche Heilsratschluss nach und nach seinen Inhalt geschichtlich auslegt, desto mehr wird es möglich, durch das natürliche Denken für sich allein, ohne Inspiration, aus dem bisherigen Verlauf der göttlichen Offenbarungsgeschichte den künftigen zu erschließen. Sobald der Heilsratschluss Gottes einmal sein wahres Wesen vollständig geschichtlich aufgeschlossen hat, wie dies in Christo geschehen ist, so ist hiermit die sichere Konstruktion auch seiner noch nicht geschichtlich realisierten wesentlichen Momente ermöglicht, und von nun an gibt es, objektiv betrachtet, keinen Ort mehr für eine voraussagende Weissagung, die mehr wäre als eine nur abgeleitete. Daher ergänzt Christus die Totalität der voraussagenden Prophetie vollständig und schließt ihre Reihe ab (Vergl. Matth. 11, 18., 2. Kor. 1, 20.), wenngleich nicht die der Prophetie überhaupt.

Wie die Weissagung zu den wesentlichen Kriterien der Offenbarung zählt, und zwar namentlich auch als Vorhersagung, ist hiernach von selbst klar, und zumal nach der eindringenden Erörterung dieses Punkts von Twesten (Dogmatik I, S. 379-388) würde ein Verweilen bei demselben zwecklos sein. Statt dessen warne ich, wie es auch schon bei den Wundern geschah, so auch bei der Weissagung, sofern sie Vorhersagung ist, vor dem apologetischen Gebrauche, den unsere ältere Theologie von ihr zu machen liebte. Die prophetische Vorhersagung hat den Zweck, den weiteren Vollzug der göttlichen Offenbarungsaktion nach ihren jedesmal noch rückständigen Momenten in der Zukunft, je in den bestimmt geordneten Zeitpunkten zu ermöglichen*, und damit hat sie eine Bestimmung von höchster Wichtigkeit, keineswegs aber hat sie den Beruf, nach bereits geschichtlich vollendeter Offenbarung hintennach den Glauben an diese in den nachfolgenden Geschlechtern zu begründen, wie ihr dies letztere denn auch niemals gelungen ist.

*Vergl. Beck, Gedanken aus und nach der Schrift für christliches Leben und geistliches Amt (Frankfurt a.M. und Erlangen 1859) S. 574f.: »Weissagungen haben schon vor der Zeit ihrer Erfüllung die Bestimmung eben diese vorzubereiten, indem durch sie Gedanken, Neigungen und Richtungen in die Menschen gelegt werden sollen, wodurch diese befähigt werden, das Angekündigte teils zu empfangen, teils auszuführen«.

Sie soll namentlich Mittel sein für die geschichtliche Einführung späterer Träger der göttlichen Offenbarung, sowohl um ihnen selbst ihren Beruf als Aktoren im Drama der göttlichen Manifestation, und zwar die bestimmte Rolle, die sie darin übernehmen sollen, zum Bewusstsein zu bringen, als auch um ihnen bei denjenigen, in deren Kreise sie als Organe der göttlichen Offenbarung aufzutreten haben, bestimmte Anknüpfungspunkte zu gewähren und zur Beglaubigung zu gereichen. So lässt es sich ja insbesondere von dem Erlöser noch nachweisen, wie sein Bewusstsein um seine Person und seinen Beruf sich bestimmt an dem Leitfaden der messianischen Weissagung des A. T. entwickelt hat, und ebenmäßig weist er dann auch diejenigen, an welche er sich in seinem Berufe wendet, vielfältig auf die auf ihn hinzielenden alttestamentlichen Weissagungen hin. Vergl. Joh. 5 39,46. 13, 18. 17, 12. Matth. 26, 54. 56. Luk. 22, 37. 24, 26. 46.

Ob und in welchem Sinne diese von ihm und von seinen Aposteln angezogenen Weissagungen im A. T. selbst wirklich auf ihn gemeint sind, diese Frage ist von den hier aufgestellten Sätzen ganz unabhängig und bedarf einer selbständig exegetischen, durch keine dogmatische Voraussetzung beeinflussten Untersuchung. Wie viel diese auch von einzelnen Weissagungen fallen lassen mag, so wird sie doch das Vorhandensein einer sich je länger desto mehr aus sich selbst heraus zu immer konkreteren Gestalten entfaltenden, wesentlich messianischen Voraussagung im A. T., und zwar als den eigentlichen Kern der alttestamentlichen Vorausverkündigung des Heils, anerkennen müssen, und dass die geschichtliche Erscheinung Jesu sich zu ihr als Urbild verhält, welches ihr eigentlich vorschwebt, jedoch freilich, ohne dass sie es mit wirklicher Deutlichkeit in der vollen harmonischen Totalität und Einheit aller seiner besonderen Züge aufzufassen und festzuhalten vermag.

In betreff der dämonischen Weissagungen, die aber eben bloße Wahrsagungen sind, gilt das oben von den dämonischen Wundern Gesagte gleichmäßig. Die heilige Schrift nimmt ihr Vorkommen unzweideutig an (Sam. 28, 6ff., Apost-G. 16, 16-18., vergl. Auch 2. Thess. 2, 9.), und wenn bekanntlich die Kirchenväter die heidnischen Orakel von den Dämonen herleiten, so lag ihnen diese Vorstellung jedenfalls am allernächsten.

Unter den äußeren Kriterien der Offenbarung, führt unsere ältere Theologie auch noch das eigene Zeugnis der Empfänger der göttlichen Offenbarung mit auf, und um dieses Kennzeichen kann es misslich zu stehen scheinen. Etwas Missliches ist auch in der Tat dabei insofern im Spiele, als der Aufstellung desselben die einseitige Betrachtung der Offenbarung nach ihrer subjektiven Seite oder als Inspiration allein zum Grunde liegt. Diese Einseitigkeit hat namentlich die Folge gehabt, dass man sich der untergeordneten Bedeutung jenes Kriteriums nicht bewusst geworden ist, und der Unmöglichkeit, es, wenigstens in seinem ursprünglichen Sinne, auch auf diejenige Entwicklungsstufe der Offenbarung anzuwenden, für die man es gerade vorzugsweise zu gebrauchen liebt.

Untergeordnet ist die Bedeutung desselben schon darum, weil an seiner Stelle ein anderes weit gewichtigeres sich dargeboten haben würde, wenn man nur die objektive Seite an der Offenbarung nicht vergessen hätte. Man hätte doch nicht übersehen sollen, dass ja die innere Inspiration, an die man hier ausschließlich denkt, wie wir bereits hervorgehoben haben, im innigsten Zusammenhange steht mit einer äußeren geschichtlichen Manifestation, deren Deutung sie nur eben gibt, sodass sie mithin an dieser selbst wieder ein objektives Zeugnis hat und eben als ihre zupassende Auslegung sich auch objektiv bewährt.

Am evidentesten wird dies in Ansehung desjenigen, in welchem die göttliche Offenbarung sich auf absolute Weise vollendet, in Ansehung des Erlösers.
Denn in ihm fallen die objektive Manifestation und die subjektive Inspiration schlechthin zusammen, sodass bei ihm gar nicht mehr von einer besonderen, in vereinzelte Momente fallenden Inspiration die Rede sei sein kann; sondern wie seine ganze Lebenserscheinung unmittelbar die vollendete Manifestation Gottes ist, so ist auch sein Bewusstsein überhaupt unmittelbar die absolute Inspiration, und eben deshalb schlägt in ihm die Offenbarung Gottes durch ihn in das reale Menschsein Gottes in ihm um. Damit ist es aber auch klar, wie man von einem eigenen Zeugnis Christi in betreff der ihm zu teil gewordenen göttlichen Offenbarung gar nicht sprechen kann. Sieht man nämlich von denjenigen speziellen Offenbarungsmitteilungen an ihn ab, welche die Folge waren von seiner besonderen Berufsstellung als Prophet, so lässt sich überhaupt gar nicht von einer für ihn gewordenen Offenbarung reden, sondern nur von einer Offenbarung durch ihn, von einer Offenbarung, welche er selber ist. Zu dieser gehört doch allerdings sein eigenes Bewusstsein darum, diese zu sein, als durchaus wesentliches Moment mit, weil nur sein eigenes Bewusstsein von sich die authentische Auslegung derselben ist und nur er sie, weil sich selbst, vollkommen verstehen kann
(vgl. Joh. 8, 13-18).

So hat das eigene Zeugnis Christi von sich allerdings das entschiedenste Gewicht in der Frage wegen der neutestamentlichen Offenbarung, nur nicht als Beweis für eine ihm zu teil gewordene göttliche Offenbarung, für eine göttliche Offenbarung, von der er sich selbst und die er von sich selbst unterschieden hätte. Er konnte freilich mit der vollsten Berechtigung unbedingten Glauben für sich in Anspruch nehmen, aber nicht als Glauben an eine ihm gewordene und von ihm selbst unterschiedene göttliche Offenbarung, sondern als Glauben an seine Person als die absolute Offenbarung Gottes selbst. Sobald jedoch – wie dies notwendig in demselben Maße der Fall ist, in welchem eine Stufe der Offenbarung weiter gegen den Anfang hin zurückliegt, – die Offenbarung und ihr Organ auseinander fallen, also auch Manifestation und Inspiration: so leidet das hier in Rede stehende Kriterium allerdings seine Anwendung bei der Beurteilung, zwar nicht der auf dem objektiven Zeugnisse der Geschichte feststehenden Manifestation, wohl aber Inspiration.

In Bezug auf diese letztere ist auf den früheren Stufen der Offenbarung das eigene Zeugnis derjenigen, welche sie empfangen haben, durchaus unentbehrlich; denn es handelt sich hier um Tatsachen, von denen nur diejenigen eine, sozusagen, urkundliche, weil unmittelbare, Kenntnis besitzen können, in denen selbst sie sich zugetragen haben. Man wendet zwar ein, auch der, dem eine Inspiration widerfahren, befinde sich ja nicht im Besitz zuverlässiger Kriterien, um dessen gewiss zu werden, dass sie eine eigentlich so zu nennende, d. i. eine übernatürliche, gewesen sei; allein hierauf ist zunächst mit Twesten zu erwidern: Er könne dies ebenso füglich, ja noch leichter, wie jeder, der religiös erweckt werde, dieser seiner Erweckung als einer göttlichen und zwar übernatürlichen inne und gewiss werde. Demnächst aber ist einzuräumen, dass es einer weiteren Ergänzung der Sicherheit hierbei allerdings immer noch bedarf, zugleich jedoch daran zu erinnern, wie diese dem schon oben Gesagten gemäß eben darin liegt, dass ja jede solche Inspiration in bestimmter teleologischer Beziehung zu einer objektiven Manifestation Gottes stehen und sich durch ihre äußere und innere Zusammengehörigkeit mit dieser legimitieren und bewähren muss. Eine isoliert und außer ausdrücklichen Beziehung zu einer solchen geschichtlichen Manifestation stehenden Inspiration könnte freilich keinen Anspruch auf Anerkennung machen.

In Ansehung der Frage wegen der sogenannten Perfektibilität
(Fähigkeit zur Vervollkommnung) der Offenbarung besteht jetzt wohl ein ziemlich allgemeines Einverständnis darüber unter den Theologen, dass sie rundweg zu verneinen sei. Nämlich sofern es sich um die Offenbarung Gottes in Christo handelt, die ihrem Begriff selbst zufolge die schlechthin vollendete Offenbarung Gottes ist. Als solche ist sie auch in dem frommen Bewusstsein des Christen unmittelbar gesetzt, das wesentlich Bewusstsein von der dem Gläubigen potentia schlechthin eröffneten Gemeinschaft mit Gott ist. Ist in Christo wirklich Gott selbst schlechthin Mensch geworden, so ist er in ihm auch dem Menschen schlechthin offenbar geworden, und eine über Christum hinausgehende Offenbarung Gottes für uns Menschen ist mithin undenkbar (Hebr. 1, 1).

Aber freilich wenn nach Christo an eine Vervollkommnungsfähigkeit der göttlichen Offenbarung selbst nicht mehr gedacht werden kann, so ist desto mehr fort und fort zu reden von einer Vervollkommnungsfähigkeit und Vervollkommnungsbedürftigkeit unserer menschlichen Auffassung derselben, beides, der theoretischen in dem wissenschaftlichen Verständnis derselben und der praktischen in dem christlich-frommen Leben. Und hier erhebt sich allerdings eine Frage von großer Bedeutung, die nämlich, ob auch die apostolische Auffassung der christlichen Offenbarung, wie sie uns im N. T. urkundlich vorliegt, noch einer Vervollkommnung fähig sei. Allein diese Frage kann erst im Zusammenhange mit der Lehre von der heil. Schrift ihre Erledigung finden und muss deshalb hier noch ausgesetzt bleiben.

Ich schließe mit dem Wunsche, dass man doch bei der Behandlung der Lehre von der Offenbarung je länger desto mehr den von altersher sie beherrschenden apologetischen Gesichtspunkt fallen lassen möge. Von ihm aus angesehen, tritt sie notwendig in ein falsches Licht. Das Dasein einer göttlichen Offenbarung lässt sich nun einmal nicht andemonstrieren; sie ist eben nur für den Glauben da, – nur für denjenigen, dem sie sich dadurch als das erweist, wofür sie sich gibt, dass sie durch ihre Wirkung auf ihn in ihm den Glauben an sie erzeugt. In der Beweiskraft aller der äußeren und inneren Kriterien, die man nur immerhin aufstellen möchte, um eine Offenbarung als solche zu konstatieren, muss schlechterdings die persönliche Erfahrung von den die Frömmigkeit erweckenden und belebenden Wirkungen derselben hinzukommen, wenn in uns ein wirklicher religiöser Glaube an sie entstehen soll. Nur in ihrem eigenen Lichte vermögen wir sie als das zu erkennen, was sie ist. »Denn«, sagt Twesten schlagend, »die Wahrheit und die Heiligkeit des Evangeliums kann demjenigen nicht einleuchten, der sie nach falschen (z. B. heidnischen oder jüdischen) Begriffen vom Wahren und Heiligen schätzt; denn Sinn für die Wahrheit und Heiligkeit und die Liebe zu ihnen aber müssen wir eben selbst erst durch die Berührung mit der Offenbarung in uns erwecken lassen. In demselben Maße nun, in welchem dies wirklich bei uns geschieht, in welchem wir mittels der Offenbarung selbst unsere religiösen Bedürfnisse kennen und empfinden lernen, wird uns auch das Bewusstsein um ihre Göttlichkeit aufgehen.«
S. 60-68
Aus: Ausgewählte Schriften von Dr. Richard Rothe. Neu herausgegeben von Th. Schneider Bibliothek der Gesamtlitteratur No. 1381/1382. Verlag von Otto Hendel, Halle a. d. Saale 1899 (Texte wurden unter Berücksichtigung der neuen Rechtschreibung übertragen)

Die gegenwärtige Lage und Aufgabe der deutsch-evangelischen Kirche
… Nichts würde bei der dermaligen Lage der Dinge diesen seinen Einfluss mehr erschweren als eine falsche Kirchlichkeit, welche alles auf die Kirche stellt im Christentum und, auf sie allein den Akzent legend, die Wechselbeziehung zwischen ihr und den übrigen Gemeinschaftskreisen leugnet oder doch ignoriert und aufhebt. Allerdings soll die Kirche auch jetzt von allen ihren Gliedern Kirchlichkeit verlangen; denn wie könnte es doch ohne diese überhaupt eine Mitgliedschaft in der Kirche geben? Aber sie soll von ihr genau nur dasjenige Maß fordern, welches den gerade jetzt gegebenen geschichtlichen Verhältnissen entspricht. Und hierin liegt bestimmt schon mit, dass sie nicht von allen das gleiche Maß von Kirchlichkeit verlangen darf. Auch ganz abgesehen von der Differenz, die in dieser Beziehung schon der Unterschied der Individualitäten, je nachdem nämlich in ihnen eine größere oder geringere Richtung auf die Frömmigkeit als solche natürlich angelegt ist, mit sich führt, begründet auch die Verschiedenheit der Bildungsstufen eine solche.

Je unumwundener man sich nämlich gegen die abgeschmackt hochmütige Borniertheit zu erklären hat, in der so viele unserer sogenannten Gebildeten sich über die Kirche und das Bedürfnis der Teilnahme an derselben erhaben wähnen: desto unverhohlener muß man zugleich anerkennen, dass in demselben Maße, in welchem einem die sittliche Welt eine christliche nicht nur, sondern auch bestimmt eine christlich religiöse ist und in welchem er mithin schon in der staatlichen Gemeinschaft als in einer wesentlich zugleich christlich religiösen Gemeinschaft lebt, das Bedürfnis der kirchlichen christlichen Gemeinschaft und die Empfänglichkeit für sie bei ihm zurücktreten muss. Es ist unverantwortlich, unsre wirklich Gebildeten mit der Kirche zu quälen und einen Enthusiasmus für sie aus ihnen herauspressen zu wollen, der bei aller Lebendigkeit und Reinheit ihrer christlichen Frömmigkeit in ihnen nun einmal keine Wahrheit haben kann. Die Kirche selbst kann nur erröten über solche Ungebühr, die vemeintlich ihr zu Ehren geschieht.

Damit will jedoch wahrlich nicht etwa verkannt werden, dass sie bei den großen Massen — und dieser Begriff, in unserm Sinne, greift sehr weit aus, ausnahmslos durch alle Stände hindurch — die Unkirchlichkeit auch heutzutage auf unchristlichen und schlechten Motiven beruht. Es sind dies aber im wesentlichen ganz dieselben, auf denen früher die Kirchlichkeit derselben beruhte: geistiger Indifferentismus, unwürdige Abhängigkeit von fremder Autorität und fremdem Beispiele, überhaupt vom Zeitgeist, Gemeinheit der Gesinnung usw., so dass sich in diesem Stücke in der Tat gar nichts geändert hat, ebensowenig zum Schlimmeren als zum Besseren. Es muss also der Kirche unserer Tage zugemutet werden, dass sie sich auf den möglichst kompendiösen Fuß einrichte und wohl hüte vor der Losung: »Wir wollen nicht weniger Kirche, sondern mehr!«, ungeachtet sie der Wahlspruch grade der Allertrefflichsten unter den Zeitgenossen zu sein pflegt. Auch durch diese darf sie sich nicht verführen lassen, eigensinnigerweise darauf zu bestehen, dass das wahre Christentum der Zukunft schlechterdings ein kirchliches sein müsse, ohne vorerst zuzusehen, ob die kirchliche Form ihm denn auch zupasse oder nicht, gleich als wäre das Christentum an die Kirche als sein einzig brauchbares Instrument gebunden. Nein, sie hat sich vielmehr zu bescheiden, jetzt die abnehmende Größe zu sein, nicht mehr wie im Anfange die zunehmende. Die Zeit ihrer alles überragenden Macht und ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung ist längst vorüber.

Das war die Zeit, da sie wirklich der eigentliche, wo nicht der alleinige Herd des geistigen Lebens war, da die geistige Entwicklung der Christenheit in dem Klerus kulminierte und an ihm ihren wesentlichen Träger hatte. Bedarf es aber auch nur noch erst der Frage, ob unser Klerus jetzt eine ähnliche Stellung einnimmt, und ob er sie jemals werde wiedergewinnen können? Uns wenigstens steht es fest, dass die Kirche auch für die Zukunft sich nicht mit der törichten Hoffnung schmeicheln darf, jemals die Hegemonie in der christlichen Entwicklung der Welt wieder zu erlangen. Der Klerus soll und muss sich darein finden lernen, dass die Leitung der Geschichte des Reiches Christi nicht mehr in seiner Hand liegen kann. Aus der Stellung, welche er vornherein einnahm, zusammen mit der Kirche, muss er sich samt dieser unvermeidlich zurückziehen.

Die geschickte Führung eines solchen wohlgeordneten Rückzuges ist aber auch noch eine große, Ruhm bringende Feldherrnaufgabe. Ganz im allgemeinen geht also jetzt die Pflicht der Kirche dahin, ihren anfänglichen Beruf, das prinzipielle Organ der geschichtlichen Wirksamkeit des Erlösers zu sein, in treuer und einträchtiger Weise auf ihren Nachfolger in dieser Beziehung, den Staat, als die allgemeine sittliche Gemeinschaft, zu übertragen, sich selbst aber streng in ihren dermaligen geschichtsmäßigen Schranken zu halten, um innerhalb derselben eine desto kräftigere Wirksamkeit auszuüben, und indem sie im Lauf der Zeit auf ein immer engeres Gebiet zurückgedrängt wird, sich doch nie das ihr von Rechts wegen gebührende Maß von freiem Spielraum schmälern zu lassen. Auf der einen Seite hat sie selbst an ihrer friedlichen Auflösung in eine höhere Form der christlichen Gemeinschaft zu arbeiten.

Sie hat in ruhiger und besonnener Weise die allmähliche Übersetzung des Christentums aus der kirchlichen Form in die nichtkirchliche (weltliche) zu betreiben und zu leiten, in der Art, dass der Übergang stetig und ohne Unordnungen erfolge und bei dieser Umkleidung des Christentums von seinem wirklichen Gehalt nichts abhanden komme. Sie hat die Auflösung der kirchlichen Frömmigkeit in die Frömmigkeit des christlichen Bewusstseins zu fördern und zu überwachen. Diese Auflösung ist nun einmal nicht zu verhindern, denn die Geschichte ist unerbittlich; aber daran liegt bei ihr unberechenbar viel im Interesse des Christentums, dass das sich nach und nach konsolidierende christliche Bewusstsein ausdrücklich die großen geschichtlichen Tatsachen der Offenbarung Gottes in Christo und im Zusammenhange mit dieser die geschichtlichen Tatsachen der göttlichen Offenbarung überhaupt (nicht etwa die Dogmen von ihnen) unverkürzt und unentstellt in sich aufnehme. Und dafür hat grade die Kirche treulich zu sorgen, nämlich durch ihre Theologie. Die Vorbedingung dazu, dass dieser große Prozess glücklich vonstatten gehe, ist die volle Klarheit über das Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und der Frömmigkeit im Christentum, und deshalb sollte die Kirche mit der ernstesten Bemühung um eine allgemeine Verständigung über diesen Punkt vorangehn. Solange sie noch auf sich selbst als dem A und O des Christentums besteht, kann es freilich nimmermehr zu einem solchen Einvernehmen kommen. Sofern ihr das soeben bezeichnete Vermittlungsgeschäft obliegt, dürfen auch die Kleriker ihren Lehrberuf durchaus nicht auf die Mitteilung der religiösen Lehre beschränken.

Als Kleriker sind sie zwar nur Lehrer der christlichen Religion lediglich als solcher, und zwar die alleinigen (denn dass sie etwa auch die ausschließlichen Lehrer des Christentums seien, das wäre heutzutage ein völlig gedankenloser Wahn); aber sie dürfen eben gegenwärtig nicht mehr bloß als Kleriker wirken, wenn sie in vollem Segen stehen und ihrer Aufgabe wirklich genugtun wollen. Ist ihnen die Förderung des Christentums selbst (nicht allein der Kirche) in ihrem Berufskreise ein wahres Anliegen, so mögen sie nur immerhin auch mancherlei nicht lediglich religiöse Lehre ihren Gemeindegenossen zuzuführen bemüht sein, wenn auch nicht von der Kanzel herab, um sie zu dem Bewusstsein hinzuleiten, dass auch das s. g. weltliche Gebiet, d. h. das sittliche, heiliges, d. i. christliches Land ist und ein Boden, auf dem die christliche Frömmigkeit und überhaupt das Christentum fröhlich fortblühen, wenn sie gleich in der Kirche sichtlich je länger desto mehr eingehen. Es ist zwar viel Missbrauch mit dem Satz getrieben worden, der Beruf des evangelischen Klerikers sei, ein Volksschullehrer zu sein; aber es liegt auch eine große Wahrheit in ihm, die man um jenes Missbrauchs willen nicht verkennen sollte.

Nach dieser Seite hin ist insbesondere auch die Beteiligung des Geistlichen bei der Volkschule von so hoher Bedeutung, und grade in dem Maße, in welchem sich das Verhältnis dieser zur Kirche, die freilich zu ihr auch in einer bestimmten Beziehung steht, durch ihre immer tiefere Eingliederung in den Staat, ordnungsmäßig aufgelockert, muss die persönliche Anteilnahme des Klerikers an dem Werk derselben sich immer höher steigern.

Auf der andern Seite ist die Aufgabe der Kirche die christliche Erziehung derjenigen, für welche das Christentum nur erst als Religion (noch nicht auch als Sittlichkeit, nämlich religiös beseelte) und im Zusammenhang damit dann auch nur erst als Kirche vorhanden und kenntlich ist. Nur diese Christen können jetzt beim Christentum den Hauptakzent auf die Kirche legen. Die direkte Wirksamkeit der Kirche hat daher jetzt ganz überwiegend auf diejenigen Klassen der Gesellschaft zu gehen, welche vermöge des Standes ihrer sittlichen Bildung das Christentum nur erst als Frömmigkeit (Religion) aufzufassen und folglich ein klares und lebendiges Bewusstsein um eine christliche Sittlichkeit noch nicht in sich zu tragen vermögen.

Diese sind nun allerdings der Natur der Sache nach die niederen Volksklassen, und es ist deshalb nichts weniger als unbegründet, wenn man in unseren Tagen die Aufgabe der Kirche vorzugsweise auf sie bezieht.

Den Gebildeten kann in der Tat die Kirche dermalen direkt weit weniger für ihre christliche Förderung leisten. Sie fühlen das auch sehr bestimmt, wenngleich immerhin nur unklar, und es wird eine völlig vergebliche Mühe sein, wenn man ihnen die entgegengesetzte Überzeugung aufreden will. So liegt es denn auch in der Natur der Sache, dass die Kirche unserer Tage ganz vorzugsweise im Pietismus ihr kräftigstes Leben hat, und es darf uns durchaus nicht Wunder nehmen, dass unsere würdigsten, eifrigsten und wirksamsten Kleriker in der Regel zu dieser Richtung hinneigen.

In der Frömmigkeit als solcher steht nun einmal das Wesen und Leben der Kirche und folglich auch des Klerikats. Gerade mit einer solchen Kirche wie die gegenwärtige aber, die so ganz von aller geschichtlichen und weltlichen Herrlichkeit herabgekommen ist, verträgt sich der Pietismus gar wohl. Und eben dies ist wieder höchst charakteristisch für den jetzigen Stand der Kirche, dass sie ihre besten Lebenskräfte aus einer Richtung beides ziehen kann und ziehen muss, die ihr in ihrer frischen Lebenskräftigkeit gegenüber sich von ihr abwendet und gegen die sie, so lange sie noch von freudigem Gesundheits- und Lebensgefühl erfüllt ist, eine tiefe Antipathie empfindet.

Das eigentliche Arbeitsfeld für unsere jetzige Kirche ist die sogenannte innere Mission. Hier hat sie gerade in einer Zeit wie der unsrigen, die als Übergangszeit zugleich eine Zeit des Verfalls der bestehenden Ordnung und Sitte ist, eine unabsehbare und unaussprechlich wichtige Aufgabe. Und zwar eine Aufgabe, die niemand sonst an ihrer Stelle übernehmen kann. Denn sie bezieht sich auf solche, die zum allergrößten Teil, die einen vermöge ihrer Bildungsstufe, die andern vermöge ihrer Verwilderung, das Christentum durchaus erst an seiner religiösen Seite allein zu erkennen imstande sind, und die Frömmigkeit wieder nur, sofern sie ihnen unmittelbar als solche entgegentritt. Und ebenso findet sich auf der andern Seite auch das kirchliche, das heißt rein religiöse (und eben als solches dem Pietismus zugewendete) Christentum vorzugsweise grade zu dieser Aufgabe hingezogen, weil ja seiner Natur zufolge in seinem Verhältnis zu dem an sich sittlichen Leben seine Richtung ganz überwiegend die reinigende ist, nicht die auszubildende, die negative, nicht die positive. In der Vollbringung dieser erhabenen Mission wird dann die Kirche auch den jetzt so zahlreichen auf Autorität hin Ungläubigen für sich, und hiermit zugleich für das Christentum selbst, wieder Respekt abnötigen; denn diese können durch nichts anderes überführt werden als durch Taten heldenmütiger Liebe, Hingebung und Selbstaufopferung.

Dabei ist es aber sehr bezeichnend für den dermaligen Stand der Geschichte, dass der unzweideutig vorliegenden Erfahrung zufolge die Kirche an dieser erhabenen Aufgabe der Diakonie mit Erfolg nicht als Kirche arbeiten kann, sondern nur als religiöse Assoziation.

Warum sonst gelingt es ihr damit nicht, wenn sie dies Geschäft als Kirche in die Hand nimmt, als deshalb, weil die Lebenskraft des Kircheninstituts zu sehr nachgelassen hat, als dass auf der Basis des kirchlichen Verbandes und in kirchlicher Form eine Vereinigung der vorhandenen Kräfte christlicher Liebe und Selbstaufopferung ausführbar wäre?

Die religiösen Vereine fördern dagegen jene Aufgabe der christlichen dienenden Liebe augenscheinlich mit schönem Erfolg; sie sind aber unzweifelhaft – schon als aus den verschiedensten christlichen Konfessionen gemischte Verbindungen – außerkirchliche Vereine, und es liegt überdies auf der Hand, dass sie nur dann gedeihen können, wenn sie diesen nichtkirchlichen Charakter festhalten. Diese der Diakonie und der inneren Mission gewidmeten religiösen Vereine, gegen welche die der äußeren Mission dienenden, was die Gediegenheit christlicher Frömmigkeit angeht, doch in die zweite Linie zurücktreten, sind das eigentümliche Erzeugnis und Lebenszeichen der modernen christlichen Frömmigkeit in ihrer Erscheinung rein als solche, und in ihnen hat die Kirche der Gegenwart ihren wahren Lebensherd. Sie soll sie deshalb mit aller Liebe und Sorgfalt pflegen und sie zu immer kräftigerer Regsamkeit zu beseelen suchen. In ihnen hauptsächlich hat sie ihr Leben zu führen. Aber auch darin bestätigt sich nur von neuem das oben über das Verhältnis der heutigen Kirche zum Pietismus Gesagte. Denn jene Vereine sind unbestreitbar von dem Pietismus ausgegangen, und haben ihre Lebenskraft fortwährend in ihm.
S. 86 - 94
Aus: Ausgewählte Schriften von Dr. Richard Rothe. Neu herausgegeben von Th. Schneider Bibliothek der Gesamtlitteratur No. 1381/1382. Verlag von Otto Hendel, Halle a. d. Saale 1899 (Texte wurden unter Berücksichtigung der neuen Rechtschreibung übertragen)