Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf (1700 – 1760)
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Deutscher Prediger und Bischof, der 1722 auf seinem Gut Berthelsdorf (Oberlausitz) für die hier aufgenommenen Böhmischen Brüder die Herrnhuter Brüdergemeine gründete, die zur Pflanzstätte des eigenständigen politisch-kirchlichen Gemeinwesens der »erneuerten Brüderunität« wurde. Zur Absicherung seines Werks gegenüber den Landeskirchen ließ sich Zinzendorf 1734 zum lutherischen Geistlichen ordinieren und 1737 die mährische Bischofswürde übertragen. Nach Ausweisung aus Kursachsen (1736 und 1738) verbreitete er seine Gedanken auf vielen Reisen in ganz Europa. 1747 gestattete Kursachsen seine Rückkehr.— Zinzendorf stellt einen selbständigen originellen Typus innerhalb des deutschen Pietismus dar. In der christologischen Ausrichtung seines Glaubens und Denkens verbindet er lutherische Kreuzestheologie mit einer mystischrealistischen Blut- und Wundenfrömmigkeit. Die Macht der Sünde werde durch den Heiligen Geist überwunden, dessen geheimnisvolle Krafteinwirkung den Einzelnen (Wiedergeburt) und die Gemeinde durchdringe. Pietistische Gesetzlichkeit (Bußübungen) werden ebenso abgelehnt wie die Ethisierung des Christentums durch die Aufklärung. Es sind Gottes »Gnaden«, die das neue Leben bewirken. Die Leitung der Kirche liege bei Christus selbst als dem »Generalältesten«, der durch Wort und Geist die Seinen regiere (Losverfahren; Bibelworte als »Losungen« für jeden Tag). Theologisch begründete er seine kirchlichen Bestrebungen in der »Tropenidee«, nach der die verschiedenen Kirchengemeinschaften von Gott je mit besonderen Gnadengaben ausgestattete Erscheinungsformen der einen Kirche sind. Seine »Tropenlehre« geht von der Annahme aus, dass keine der bestehenden Konfessionen (Tropoi) »die Wahrheit ganz«, sondern immer nur mit mehr oder weniger Irrtum vermischt habe, jede aber auch besondere geistliche »Kleinodien« besitze. Daraus resultieren sowohl eine Ablehnung voreiliger Unionen als auch die Forderung gegenseitiger Toleranz in Praxis und Lehre sowie die Bereitschaft zu wechselseitigem Austausch. Mit diesem ökumenischen Gedanken verband sich ein starker Impuls zur Heidenmission. Nachwirkungen Zinzendorfs sind bei Lessing, Herder, Wesley und Schleiermacher, Novalis und Kierkegaard sowie in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts zu spüren. Siehe auch Wikipedia, Heiligenlexikon und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die
Mannigfaltigkeit der geistlichen Gaben
Alle Christen werden in Worten und Werken durch einen
Heiligen Geist getrieben, die Gaben aber sind unterschiedlich. Darüber
soll keiner den anderen verachten noch in seinem Amt hindern, keiner soll sich
einer Gabe anmaßen, die er empfangen hat, im übrigen aber sollen
sie sich alle zur Handreichung. . . leben und Lieb und Leid miteinander teilen.
Es gehört unter die wunderbaren Werke des Heiligen Geistes, dass ein
Knecht oder Magd des Heilands in sano sensu ein vor sich selbst bestehendes
Wesen ist, nicht ohne ihn, aber ohne Comparaison mit andern. Er ist vor allem,
und alles besteht durch ihn und in ihm, aber sonst ist ein jedes ein isoliertes
Wesen, sowohl der Gnaden als Gaben nach, und keins hat des andern seine Gestalt,
sowenig als ein Bruder dem andern oder ein Kind seinen Eltern jemals ganz gleich
wird... So ist‘s auch mit den Gaben und Gnaden, mit dem Eindruck, den
eine Seele vom Heiland kriegt, in der Repräsentation und dem Bild von ihm
in ihren Augen. Seine Gestalt blickt aus einer jeden mit einer anderen Schönheit
heraus, zwar allemal mit einer von ihrer puren Menschlichkeit sich gut distinguierenden,
aber doch mit einer anderen als des oder jenes seine Gnade.
Aus: Ebersdorfer Bibel.1727. 5. 247. O. Uttendörfer,
Zinzendorfs Weltbetrachtung. 1929. S. 19, Jüngerhausdiarium. Uttendörfer,
a. a. O. S. 21
Beurteilung
anderer Kinder Gottes
Es muss unparteiisch gedacht und versichert werden können: ich habe
dich ebenso lieb, als wenn du dächtest und tätest wie ich. Das bezieht
sich nicht gerade auf Grundsachen, ohne die einer kein Kind Gottes sein kann,
aber auf sehr viele andere Sachen. . . die wohl den Gnadenbund verherrlichen,
die aber vom Heiland so distribuiert und vom Heiligen Geist dispensiert werden,
dass es unmöglich ist, alle Individua in einer Gemeinde hierinnen
über einen Leisten zu schlagen. . . Die Sachen zeitig werden zu lassen
sowohl im Verstande als im Herzen, ist der selige Effekt von unserer Gemeinde
Gnade und Verfassung. Wir sind darum selig, weil uns niemand zwingen kann auf
anderer Gewissen zu schlagen, weil wir Leib und Leben ließen, um Gewissensfreiheit
zu haben, um der Brüder Gewissen auf das zärtlichste zu menagieren.
Das ist ein Privilegium, das wir vor dem ordinären Gang in der Christenheit
voraushaben, und wofür wir dem Heilande mit vieler Empfindlichkeit und
Freude des Herzens danken werden. Denn es ist doch wirklich ein seliger Zustand,
wenn man so in Zucht und heiliger Gemeinschaft miteinander leben und sich der
Welt präsentieren kann, daß sie sich über unsere Gnade, Gesundheit,
Einigkeit, Vollkommenheit verwundert, da wir aber am besten wissen, mit wieviel
Schwachheit, Fehlern und Mängel wir unsere Geschwister noch behaftet sehen
und sie darin herzlich, brüderlich und mütterlich tragen und auswarten.
Aus: Jüngerhausdiarium. Uttendörfer, a.
a. O. S. 21
Seelsorge
Gottes
Gott sieht dabei nach seiner Weisheit, wie er einer jeden Seele am besten beikommen
kann. Es sind die Arten, Gelegenheit und Stunden ungleich, daß man sie
nicht determinieren kann. Den einen ergreift der Herr in der Predigt, den anderen
in seinem Hause, einen auf der Gasse, wieder einen auf dem Felde, einen anderen
mitten in seinen Sünden. Daher ist es nicht evangelisch, gewisse Regeln
vorzuschreiben oder Methoden und Fassungen zu fordern, drinnen die Seelen vorher
sein müssen, oder eine gleiche Beschaffenheit der Seelen zu begehren. Man
muß es der Gnade und des Heilands freiem Willen überlassen, wie er
kann und will den Seelen beikommen. Aus: Berliner
Reden an die Männer. 1738. S. 24. Uttendörfer, a. a. O. S. 27 f.
Berufsethik
Nun muss ich noch mit ein paar Worten gedenken, wie man sich zu verhalten
habe bei seinem Beruf, dass man ihn nicht verleugnet. . . Man kann alles
sein in der Welt, was nicht an und für sich sündlich ist. Was einer
für besondere Überzeugung von seinem Zustand hat, das ist ein anderes.
Denn es ist einem schädlich, was dem andern nützlich ist. . . Aber
überhaupt hat das keine andere Abmessung in allen äußerlichen
Ständen, in allen Verfassungen, in allen Hantierungen, sie mögen in
der Heiligen Schrift befohlen oder stehengelassen sein, indem sie getan werden,
kann der Heiland Herr darüber sein, denn alle Menschen in der Welt sind
seine, alle Kreaturen sind seine Knechte. Ihr dienet dem Herrn Christo, sagt
der Apostel. Sogar auch die Knechte, die bei den Heiden unter dem Joch stunden,
sollten ihrer Herren Geschäfte, die oft wunderlich herauskamen, dem Heiland
tun. Daher auch Luther saget: Wenn eine Magd die Stube auskehret, kann sie ein
Werk in Gott tun. Ihr esset oder trinket, oder was ihr tut, so tut es alles
zu Gottes Ehre. 1. Kor. 10,31. Der Heiland ist so genau mit seinen Knechten
und Mägden verbunden, daß er sich in alle ihre Kleinigkeiten melieret.
Was sie mit wahrer Freudigkeit tun, und zwar nicht aus der Absicht, sich zu
bereichern, ein gemächliches Leben zu führen, geehrt zu werden, ihre
Affekte zu erfüllen, sondern aus dem wahrhaftigen Grund: es ist meines
Amtes, es ist mir befohlen, ich will‘s von Herzen tun, das segnet, das
regieret er, das fördert er, das schützt er, da ist er mit dabei .
. . Als der Erhalter der ganzen Welt will er, dass jede Sache soll in ihrer
Ordnung geschehen, und er hat es gerne, wenn seine Kinder auf dem Erdboden hie
und da ausgestreuet sind und daß seine Jünger alle Stände, alle
Ämter, alle Geschäfte heiligen. Aus:
Berliner Reden an die Männer. S. 209. 159. Uttendörfer, a. a. O. S.
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Wesentliches
Christentum
Ich mag mit den Rechten und Befugnissen einer äußerlichen Kirche
nichts zu tun haben und habe daher schon Anno 41 die Funktion eines mährischen
Bischofs aufgegeben. Nach meiner Erkenntnis, wie ich von Jugend auf denke, weiß ich nichts Besseres, als dass der Heiland unser aller Heiland und seine
Leute seine Leute sind und dass alles, was seit seinem auf Erdensein dreingekommen
ist von diversen Namen und Modifikationen in doctrina et praxi, mehr oder weniger
gut menschlich Ding ist. Das Christentum kommt auf sehr
wenig an und kann auf eine Oktavseite geschrieben werden . . . Diese
Generalität lasse ich mir nicht nehmen, die macht mich zu einer extraordinären
Kreatur... Denn so präzis man sich nach eines jeden captu richten und keinem
Lutheraner reformiert et vice versa predigen muß, so müssen die Leute,
die den Heiland im Herzen haben, universal werden, so dass der Gedanke,
was ihre Brüder für Nebenideen und Religionsjargon haben, einem unter
der Rede verschwindet. Denn es muss sich doch alles auf Joh. 17 reduzieren
. . . Die Generalreligion des Heilands ist gleichwohl so präzis, daß
man darum nicht unorthodox werden darf; denn die einige Oktavseite enthält
alle Stamina der Orthodoxie, und wer die nicht begreifen kann, der gehört
nicht zum Hause Gottes. Aber ich werde von keinem Collegio theologico vor orthodox erklärt werden. Aus: Uttendörfer, a. a.
O. S. 52
Wert
und Notwendigkeit verschiedener christlicher »Religionen«
Eine jede Sache hat ihre äußerliche besondere Form. . . eins kann
nicht aussehen wie das andere, denn es hat nicht ein jeder Mensch die formam
concipiendi, wie sie der andere hat, und dadurch unterscheidet man sich auf
eine unschuldige und unanstößige Weise. Denn sobald sich einer darauf
beruft, daß er‘s nicht mit eines andern Logik hält, so hört
den Augenblick des andern sein Recht auf, ihn zu verurteilen... Der Unterschied
der Religion ist eine göttliche Weisheit, darein ein Partikulier nicht
stören muß; aber alle die Ideen verraten doch ihren menschlichen
Ursprung, von denen man sagen kann; vor 300, vor 500, vor 1000 Jahren dachte
man noch nicht so. Es ist nur einer, von dem man sagen kann: Gestern und heute
und in alle Ewigkeit, und seine Kirche steht noch da.
Ich weiß wohl, meine Freunde, daß die größten Streitigkeiten
in der Kirche, seitdem uns Christus Freiheit erworben hat, darüber entstanden,
ob Christen über Ordnungen halten sollen, ob die Zeremonien bei der Religion
ein Zwang oder auch eine unnötige Sache sind. Ich weiß aber, daß
alle Knechte Jesu Christi allemal darauf geantwortet haben: Gott ist ein Gott
der Ordnung. Das muß nicht so verstanden werden, als wenn an allen Orten
dieselbigen Ordnungen sein müssen. Das wäre Unordnung. Wenn alle Religionen,
alle Verfassungen in den Religionen einerlei Ordnung halten, die Leute auf einerlei
Art traktieren sollten, einerlei Kleidung haben sollten, was würde nach
dem Unterschied des Landes, der Nationen, des Klimatis vor Unordnung daraus
entstehen? Aber es bleibt dabei, daß Ordnung an jedem Ort sein muß.
Religionen sind Gottes Ökonomie, die Wahrheit und Liebe zu seinem
Sohn an die Menschen zu bringen nach ihrer Faßlichkeit und nach des Landes
Temperatur und Luft. Zur englischen Luft schickt sich just die englische Religion,
zur spanischen und portugiesischen Luft die katholische, zur französischen
will sie schon nicht so passen, daher kommt ecclesia gallicana, ein Mischmasch
von Katholischen und Reformierten, wo mehr Freiheit ist als in andern katholischen
Ländern. In Deutschland schickt sich‘s ziemlich zum Protestantismo
und in den nordischen Ländern noch mehr. Daher sind auch diese Religionen
in den Ländern. Der Heiland hat die Religionen alle unter seiner Geduld
und will sie nicht abgeschafft wissen. Daher, wenn die katholische Religion
in einem Lande angeschafft würde, wo sie ist, so würde nicht der Lutheranismus
an ihre Stelle kommen, sondern der Atheismus.
Die diversen Bilder der Kirche in einem Leibe sind ganz independent voneinander.
Da macht‘s ein jedes, wie‘s für sein Klima, Atmosphäre.
. . und nach dem Risse am besten paßt, den der Heiland von einem jeden
derselben in seinen Händen hat. Ihre Verschiedenheit macht eine eigene
Schönheit. . ., das eine ist irregulär schön, das andere akkurat
angular schön. . ., und alles zusammen ist eine Ehre für den Hausherrn.
Aus: Neun Reden. 1746. S. 136. Uttendörfer, a.
a. O. S.76; .Pennsylvanische Reden. 1744. Uttendörfer, a. a. O. S. 79.
Homilien über die Wundenlitanei. 1747. Uttendörfer, a. a. O. S. 84
Die
Entwicklung der religiösen Erkenntnis
Eine ökonomische Grundwahrheit kann zu andern Zeiten ein Irrtum sein, und
ein ökonomischer Irrtum kann zu einer andern Zeit eine Grundwahrheit sein;
ich weiß es nicht anders auszudrücken. Wenn zum Exempel die Leute
hundert Jahre zuvor so reden wollten wie die hundert Jahre hernach, so wäre
es ein Irrtum, und wenn sie nach tausend Jahren so reden wollten, wie sie vor
tausend Jahren geredet, so wär‘s wieder ein Irrtum. Das Alte und
Neue Testament zeigt uns hundert dergleichen Exempel, da der Satz selber ein
positiver Irrtum ist. Es steht mancher Spruch in der Bibel mit so viel Worten,
der damals eine Hauptwahrheit war, und wenn ich ihn jetzt mit so vielen Worten
brauchen wollte, so wär‘s ein Grundirrtum. Zum Exempel: Laß
vom Bösen, tue Gutes, wasche deine Hände in Unschuld; das wird eure
Gerechtigkeit sein, wenn ihr meine Gebote und Rechte haltet, und wenn David
betet: Vergilt mir nach der Gerechtigkeit meiner Hände usw. Was dächten
wir wohl, wenn jemand heutzutage so redete? Und die Sachen stehen doch alle
in der Bibel. Daher ist‘s eine ausgemachte Sache, dass die Ökonomie
Gottes Wahrheiten zu Irrtümern und wiederum Irrtümer zu Wahrheiten
macht. Aus: Uttendörfer, a. a. O. S. 156 f.
Glaube
und Gefühl
Warum sind wir nun so sehr gegen den Enthusiasmus und Fanatismus? Der Enthusiasmus
ist nichts anderes als eine im höchsten Grade lebhafte, jedoch gerade und
aufrichtige Repräsentation einer Sache im Gemüt, die entweder nicht
ist oder nicht so ist oder nicht immer so ist. Der Fanatismus hingegen ist ein
ab origine schiefliegender Enthusiasmus, wenn sich schon entweder das Fleisch
oder der eigene Geist oder sonst ungeziemende und ungegründete Absichten
von dem Enthusiasmo bemächtigt haben und nicht mehr um des Gewissens willen
von innen herauswärts, sondern um des Genusses willen von außen hereinwärts
agieren. Alles, was dem Sehen nahekommt, muß uns suspekt sein. Alles,
was Gefühl genannt wird, muß er uns aus seinem Wort machen. Alles,
was sich auf ein Sehen bezieht, müssen wir nicht glauben, und alles, was
selbstgemachtes Gefühl ist, müssen wir unfehlbar für fremd halten
und nicht von ihm her, es mag noch so gut, unschuldig und hübsch sein.
Denn statt des Sehens hat Er uns das Glauben gegeben. Das ist eine Gemütssache,
und für das Gefühl hat Er uns gar nichts gegeben, sondern sich vorbehalten,
es uns mechanisch (d. h. wohl: unmittelbar) fühlen zu machen, wenn er da
ist und uns anrührt. . .
Daher sind das gläubige Erblicken und das wahre Gefühl von ihm her
die zwei großen und unaussprechlichen Seligkeiten, darin unsere ganze
Sache geht, und wir können ohne Glauben und Gefühl nicht subsistieren.
Der Glaube muss Tag und Nacht währen, und das Gefühl muss eine Festtagssache sein, eine liturgische Sache, die vielleicht des Tages dreimal
kommt, wenn‘s nötig ist, und manchmal ein paar Tage ausbleibt, wenn‘s
wieder nötig ist, allemal zu einem gewissen Zweck, wenn‘s gleich
den Tag zu keinem angenehmen Tag macht. Aus: Jüngerhausdiarium.
Uttendörfer, a. a. O.S. 194 f.
Die
Wahrheit der Bibel wird im Herzen bewiesen
Es gibt keinen andern Beweis der Bibelwahrheit als: mein Herz sagt mir‘s.
. . das ist der evangelische Beweis. Ich sage nicht, dass das der evangelische
Text selbst ist, meine Geschwister, das müsst ihr wohl unterscheiden.
Wenn man sagt: Mein Herz sagt mir das und jenes, und das ist mein Text, so ist
das ein fanatischer Irrtum. Die Deutlichkeit und Auswicklung der Wahrheit macht
einem das Herz nicht, sondern der Text, das rheton.
Den Propheten, wenn sie im höchsten Grad ihrer Weissagungsgnade standen,
hat ihr Herz die Sache noch immer verdeckt und dunkel gesagt, gefühlig
genug für ihr Inwendiges, aber nicht klar genug für die Leute, die
sie gehört, ja, nicht einmal für ihren eigenen Verstand. Denn hätten
sie die Sache ausgewickelt gehabt, die ihnen ihr Herz gesagt hätte, so
hätten sie ihre Aussprüche gewiß mehr auseinandergelegt und
das Wort der Wahrheit besser geteilt. Aber sie haben selbst im Verstande keinen
deutlichen Begriff davon gehabt, sondern nur einen Herzensbegriff, der zwar,
wie gesagt, genug war, sie dem Heilande mit Leib und Seele entgegen hüpfend
zu machen, aber nicht genug, einen klaren, lichten Begriff zu kriegen, den sie
andern mitteilen könnten. Darum forschten sie selber so sorgfältig
nach, um dahinter zu kommen, auf welche und was vor eine Zeit der Geist Christi,
der in ihnen war, deutete. 1. Petri 1,10 und 11. Also die evangelische Wahrheit
müssen wir aus dem Worte kriegen. Da ist sie uns aus Gnaden gesammelt worden
. . . in dem Testament . . ., das die vergangenen und zukünftigen Dinge
kettenweise aneinanderhängend darlegt.
Wenn jemand hernach fragt, woher soll ich‘s wissen, dass das wahr
ist, womit soll das Buch bewiesen und ich gewiß werden, dass es das
Testament Gottes mit seinen Menschen ist, oder wie soll ich das beweisen, so
antwortet man einem solchen: wenn dir‘s nicht so ist, wenn dir‘s
dein Herz nicht sagt, so glaub‘s nicht! Spricht er weiter: aber ihr könnt
mir doch einen andern zureichenden Grund geben, so antwortet man ihm: nein!
man könne nicht, und wenn man ihm einen sagen könnte, so möge
man nicht. Warum nicht? Antwort: der Fragende müsse noch ein Feind des
Heilands sein. Wenn er das nicht wäre, so wüsste er soviel, als
wir wissen. Du bist ein Mensch, sagt man ihm, vor dem sich der Heiland noch
verbirgt. . . der Platz ist noch nicht für dich zurechtgemacht.Aus:
Gemeindereden I. 1748. Anhang S. 17 f. Uttendörfer, a. a. O. S. 233 f.
Alle Beiträge auch enthalten in: Die Söhne Gottes, Aus den heiligen
Schriften der Menschheit, (S.430-434)
Auswahl und Einleitungen von Gustav Mensching, R. Löwit . Wiesbaden