Valentin Weigel (1533 – 1588)
Deutscher Pfarrer und Mystiker, in dem sich ein tiefsinniger Philosoph, ein gewaltiger Ketzer und Schwärmer verbarg, der dem mystischen Geistesgut Eckeharts, Taulers, des Frankfurters, Sebastian Francks nahe stand. 1554 - 63 studierte er Theologie, Philosophie, Medizin und Naturwissenschaft an der Leipziger Universität, wo er es zum Magister brachte. Mit seiner Ablehnung aller Religionsentstellungen durch äußere Mittel, Beschränkung der Religion auf auf inneres seelisches Erleben, Erkenntnis Gottes als des Lebens an sich (Eckehart), Verlegung des Gottesreiches in das innere Reich der Seele, Überwindung der historischen und dogmatischen Beschränkungen, die innere Frömmigkeit als Antrieb zu sittlichem Handeln, die praktische Hinführung zu einem religiösen Idealismus kann Weigel in der Geschichte der deutschen Frömmigkeit und des deutschen Idealismus zwischen Meister Eckehart und Fichte angesiedelt werden. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Der Mensch als Mikrokosmos
Idealismus
Vom Wesen Gottes
>>>Christus
Das moralische Gesetz in uns
Von der Einwohnung Gottes
Metaphysik ist mehr als Hystorie
Der
Mensch als Mikrokosmos
1.Warum Gott zuletzt, am sechsten Tage, nach allen
andern Geschöpfen den Menschen gemacht habe, so er doch die edelste Kreatur
unter dem Himmel ist?
Wenn ich den Mikrokosmos, d. i. den Menschen, vollkommen beschreiben sollte,
so müsste ich auch vollkommene Erkenntnis aller Kreaturen in der ganzen
Welt haben. Das heißt: ich müsste totam mundi machinam, Himmel
und Erde samt den Geschöpfen kennen; denn aus Himmel und aus allen Kreaturen
ist der Mensch formiert, nach seinem sterblichen und tödlichen Teil, dieweil
dieser Erdenkloß – d. i. die größte Welt – ganz
in einem Menschen zusammengebracht ist.
Denn
alles, was im Himmel und auf Erden ist, dasselbe ist auch im Menschen. Ja, der
Mensch ist die Welt selber, darum
er auch Mikrokosmos geheißen wird. Wenn ich nun, sage ich, den
Menschen vollkommentlich beschreiben sollte, so müßte ich diese Stücke
als die ganze Welt erkennen und wissen. Dann kennte ich (gleichsam) den Vater
und aus dem Vater könnte ich den Sohn beschreiben, welcher edler als die
Welt ist. Aber ich erkenne mich als nicht imstande, ein so hohes kunstreiches
Werk wie den Mikrokosmos zu beschreiben, welcher edler als die Welt ist und
über Tiere und Elemente herrscht, daher begehre ich nur einfältigerweise
Teile des Menschen zu betrachten und die Kräfte und Wirkungen derselben
zu erklären, auf daß andere neben mir ermuntert und erweckt werden,
sich selbst hinfort fleißiger zu erkennen und die Wunderwerke Gottes mehr
in acht zu nehmen.
Anfänglich schuf Gott das Licht, d. h. die Engel; am anderen Tage machte
er das Firmament zwischen den Wassern; am dritten Tage ließ er die sichtbare
Welt aus dem Wasser hervorgehen, und die Erde ward geziert mit Kräutern,
Bäumen und Gewächsen; am vierten Tage schuf Gott das augenscheinliche
Licht als die Sonne, Monde und Sterne; am fünften Tage schuf er Fische,
Vögel und kriechende Tiere; am sechsten und letzten Tage und letztlich
aus diesen den Adam. Die ganze Welt hat Gott aus Nichts geschaffen und sie ins
Nichts gesetzt (denn sie steht an keinem Orte) und wird sie wiederbringen in
ihr Nichts (dann alle Werke werden verbrennen), den Menschen aber hat er nicht
aus Nichts geschaffen, sondern aus Etwas: dies Etwas war der Erdenkloß,
d. i. diese große sichtbare Welt.
Wenn ich das Letzte und Beste erkennen will, so muß ich das Vorhergehende
lernen. Z. B. ich will die lateinische Sprache wissen: solche kann ich nicht
kennen oder wissen, ich habe denn zuvor gelernt partes orationis, die Teile
der lateinischen Rede, und habe alle partes grammaticas wohl erkannt. Oder so
will ich ein Haus bauen, so muß ich zuvor haben: Holz, Steine, Kalk und
alles, was dazu gehört.
Weil also Gott den Menschen machen wollte, als welcher alle Geschöpfe in
sich beschlossen habe, ihn auch edler machen wollte als alle anderen Geschöpfe
unter dem Himmel: darum schuf er Himmel und Erde und alle Kreaturen zuvor, alsdann
hernachmals zog er das feinste Wesen aus allen Geschöpfen und brachte es
zusammen in einen Menschen. Also ist der Mensch aus allen Kreaturen zusammengesetzt,
aus dem Erdenkloß, d. i. aus dieser sichtbaren Welt: Er ist aus den vier
Elementen und hat die Elemente in sich, alle Tiere, Fische, Vögel, Kräuter,
Bäume, Steine, Metalle sind in ihm, und von all denen muß er seinen
Leib ernähren und erhalten, er isst und trinkt dasjenige, aus dem
er geschaffen ist, die Tiere, Fische, Vögel, Kräuter, Früchte
sind seine Speise, die Elemente sind seine Führung und Erhaltung, so hat
auch der siderische Geist seine Speise aus dem Firmament, denn alle Künste,
Handwerke, Sprachen, Fakultäten, und alle natürliche Weisheit empfängt
er vom Firmament. Denn das Gestirn ist vom Schöpfer begabt mit aller natürlichen
zeitlichen Weisheit, mit allen Künsten und Handwerken; alles, was zu diesem
sterblichen Leben gehört, kommt vom Gestirn, das Firmament mit seinen Sternen
ist das Licht der Natur, daraus die Menschen auf Erden geboren werden, ein jeder
zu dem Seinigen. Wie der Leib aus den Elementen seine Speise, Trank und Nahrung
hat, also der Geist aus dem Firmament dergleichen auch nach seiner Art. Und
endlich die neugeborenen Menschen haben auch ihre Speise und Trank, d. i. das
Fleisch und Blut Christi zum Himmel ins ewige Leben. Damit also der Mensch ein
Inbegriff und ein Beschluß aller Geschöpfe wäre, gleichsam ein
Zentrum und ein Punkt aller Kreaturen, auf welchen alle Kreaturen sehen sollten,
und ihn als Herrn erkennen, hat Gott denn einen solchen gewaltigen Schöpfer
haben wir, daß er diese große Welt in eine Faust fassen, d. h. in
den Mikrokosmos beschließen kann. S.153-154
Idealismus
1. Daß der äußere sichtbare Leib
nicht der Mensch selbst sei, sondern nur ein Haus oder ein Werkzeug des rechten
Menschen
Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Hause und dem Einwohner des
Hauses. Denn das Inwendige ist allezeit besser und edler als das Auswendige.
Der äußerliche greifbare Leib ist eigentlich nicht der Mensch, sondern
nur ein Haus oder Werkzeug des unsichtbaren Menschen. Darum: Kunst, Weisheit,
Verstand, Vernunft machen den Menschen uns sind der Mensch, aber Hände
und Füße machen keinen Menschen, sie sind nur ein Werkzeug des unsichtigen
Menschen. Der äußere greifbare Leib ist gemacht um des unsichtbaren
Menschen willen, daß er darin wohne, und dadurch als durch ein Werkzeug
seine Arbeit vollbringe. Dieser Leib wird genannt eine sterbliche Hülle,
ein Tabernacul, von der Natur gemacht, ein Werkzeug der Seele (2. Kor. 5), ein
Vorhang vor dem Allerheiligsten (Hebr. 9). Beachte, dass die Schrift hier
den ganzen natürlichen Leib – den sichtbaren und unsichtbaren –
einen Vorhang oder Decke nennt, corpus peccati; sobald aber der sündhafte
Leib durch Christum gewürgt, geopfert und getötet wird, so ist uns
vergönnt, einzugehen in das Heilige, davon die Epistel an die Hebräer
weitläufig handelt. Nun, der äußere Leib ist eine Wohnung, von
Lehm gemacht, oder ein Werkzeug, damit der innere Mensch wirkt. Der natürliche
Mensch ist ein Haus der Seele. Die Seele ist ein Haus oder Wohnung Gottes, ein
Tempel Gottes. Die Einfältigen sehen allein auf das Äußere und
Auswendige, das Inwendige achten sie nicht groß: denn viel sind, die Achtung
geben auf auswendige Zier: Geschmuck oder Kleider am Menschen, und bedenken
wenig, was da sei die Geschicklichkeit des Leibes, unter den Kleidern verdeckt,
ob derselbe ein Gebrechen oder Mangel habe. Ebenso sehen die Menschen oftmals
nur auf den Leib, ob er schön, gerade und stark sei, fragen aber wenig
nach Weisheit oder Kunst und Verstand des Menschen. Und weiter: ebenso sieht
man oftmals an, wie gelehrt, geschickt und klug ein Mensch, man fragt aber nicht,
ob solche Klugheit und Kunst aus Gott komme oder aus der Natur. Also, sage ich,
stellen die Einfältigen gemeiniglich das Äußere über das
Inwendige, so doch das Inwendige alle Zeit köstlicher, edler und gewaltiger
ist als das Äußerliche. Es begibt sich oftmals, dass ein Krüppel
oder Narr geboren wird, welcher von Natur verderbt ist, und darum wird er von
den Unwissenden verachtet und verspottet als ein Narr. Wer aber den Menschen
kennt, was er für ein Geschöpf sei, der tut dies nicht: denn obschon
der äußere Mensch von der Natur verderbt ist, also dass das
Haus oder der Leib nicht, wie er sein soll, so geht der Seele darinnen nichts
ab, die bleibt allemal vollkommen. Das äußere Haus sie gleichwie
es wolle, darum soll kein Mensch verachtet werden: daß er nicht so schön
noch wohlgestaltet ist wie andere, denn im ewigen Leben wird ihm solches gar
nicht schaden. Also soll man keinen Narren verachten, denn nur sein natürlicher
siderischer Teil ist ein Narr und nicht die Seele oder der rechte Mensch. Es
kommt oft, daß das Gestirn in der Empfängnis des Menschen fehlt,
und wird also ein narr geboren, der nicht so fuchslistig ist wie die Weltweisen.
Aber solchen soll man nicht verachten, er hat in sich die unverrückte und
unzerbrechliche Seele, welche nicht von dem Gestirn kommt wie der natürliche
Mensch, sondern allezeit von Gott. Gott fehlet nimmer in seinem Werk, obschon
das Gestirn bisweilen sein Werk verderbt. Darum: eben was in dir ist, das ist
auch im Narren, denn aus einem Erdenkloß bist du mit ihm gemacht. Daß
er aber des Witzes und der Fuchslistigkeit und andrer Weltwerke nicht so gebrauchen
kann, wie du, das ist des Hauses Schuld, und destoweniger hat er vor Gott zu
verantworten. Du aber wirst vor dem Richter von einem jeden Wort Rechenschaft
geben, denn solches bedarf der Narr nicht. Die Seele in einem jungen Kinde und
die Seele in einem Menschen von 60 Jahren hat ein gleiches Wesen, Kraft und
Vermögen. Daß es aber nicht auswendig erscheint, das bewirkt das
Werkzeug, der Leib, der noch so zart und klein ist. S.156-158
2. Cognito est in cognocente, non
in cognito
... In aller natürlichen Erkenntnis sind zwei Dinge: erstlich das Erkennen
als das Auge, danach das Objectum oder der Gegenstand, der da gesehen oder erkannt
werden soll. Ohne diese zwei wird kein Sehen oder Erkennen vollbracht, gleichviel
im sichtbaren oder im unsichtbaren Licht der Natur. Dieweil nun alle natürliche
Erkenntnis vom Auge vollbracht wird und vom Auge selbst kommt, und nicht vom
Gegenstand, so folgt notwendig, daß sich das Sehen und Erkennen wandelt
und ändert nach Art, Eigenschaft und Geschicklichkeit des Auges, und nicht
nach Art des objecti oder des Gegenstandes. Nun ist nicht allein im Menschen
ein dreifaches Auge [Weigel unterscheidet das sinnliche
Auge (carnis), das Auge der Vernunft (rationis), und das Auge des Verstandes
(mentis): sinnliche Wahrnehmung, Denken und religiöses Erleben],
sondern jedes Auge für sich kann Unterschiede machen oder haben: so ist
das sinnliche, unterste Auge, ocularis carnis, genannt, nicht allein unedler
gegenüber dem Auge der Vernunft, sondern es kann auch für sich selbst
mancherlei Unterschied haben: also daß es in etlichen Menschen dunkel
und stumpf ist, in etlichen klar und scharf, in etlichen sehr geschickt und
sehr scharf. Ebenso verhält es sich mit der Vernunft, oculus rationis genannt:
sie ist einmal weit unter dem oculo mentis, - denn was dem oculo intellectuali
leicht ist, vermag oftmals die Vernunft gar nicht zu begreifen – und neben
solcher Vergleichung mit dem obersten Auge hat die Vernunft für sich selber
mancherlei Unterschied: in etlichen Menschen findet man eine ganz stumpfe und
dunkle Vernunft, in etlichen eine lautere, klare, scharfe, in etlichen eine
sehr klare, scharfe und wohlgeschickte. Und ebenso hat der oculus mentalis,
das edelste und höchste Auge auch für sich selbst mancherlei Unterschied.
Denn viele Menschen haben einen dunklen stumpfen unlautern Verstand, können
nicht weiter kommen als ihre fünf Sinne reichen, in etlichen aber ist der
Verstand gereinigt und geläutert, hell und klar, in etlichen sehr scharf,
subtil und klar. Aus diesem allem siehst du, wie sich das natürliche Erkennen
und Sehen ändern und wandeln muß nach Art und Geschicklichkeit des
Auges, und nicht nach dem unwandelbaren Gegenstand, und dass alle Erkenntnis
in der sichtbaren und unsichtbaren Natur herfließe und komme vom Auge
und vom Erkennen selbst, und nicht vom objecto oder Gegenstand, d. i. von dem,
das da erkannt werden soll. Grund: So die Erkenntnis vom Gegenstand herkäme
und flösse, und nicht vom Auge selbst, so müsste von Einem Gegenstand
auch gleichförmige und einerlei Begreifung oder Erkenntnis folgen, es seien
die Augen, wie sie wollen.
Ein Exempel vom sinnlichen Auge: Das Gesicht erkennt seinen Gegenstand in Einem
Blick auch in der Weite, aber der tactus erkennt seinen Gegenstand langsam,
indem er einen Teil nach dem andern fühlt, und dazu in der Nähe und
nicht in der Ferne. Ich sehe z. B. am Tage einen Turm und erkenne mit Einem
Blick, daß er viereckig ist; in der Nacht aber komme ich zum Turme und
fühle einen Teil nach dem andern, solange bis ich erkenne, daß es
ein Turm ist, und daß er viereckig ist. Hier sieht man klar, daß
ein einiger Gegenstand bleibt und daß doch die Erkenntnis schnell und
langsam, recht und falsch wird, je nach Art und Eigenschaft der Augen. Daraus
folgt: daß die Erkenntnis vom Auge selbst herkommt und nicht vom objecto: wie das Auge ist, also ist auch die Erkenntnis.
Ein ander Exempel vom unsichtbaren (übersinnlichen) Auge: Die Welt zu erkennen,
worauf sie steht, sei der einige Gegenstand oder das Objekt; dann kommt nun
die imaginatio, die da sonst unleibliche unsichtbare Dinge von fern sehen kann,
und wollte gern wissen, worauf die Welt stünde: aber sie meint, sie steht
auf Stützen, auf daß sie nicht fällt. Dagegen sieht ratio, die
Vernunft, leichtlich, wie die Welt vom höchsten Schöpfer gesetzt sei
auf die Tiefe und nirgends auf die Seite fallen kann. So nun die Erkenntnis
vom Gegenstande fließen sollte und nicht vom Auge selbst, so müßte
beides, ratio und imaginatio, einerlei und gleichförmige Erkenntnis erlangen
von Einem vorgesetzten Gegenstand.
Ein andres Beispiel: Die Engel zu erkennen und zu sehen, wie sie keines Orts
oder leiblicher Stätte bedürfen, vermag allein oculus mentalis, die
untersten Augen vermögen solches nicht. Daraus wird abermals erwiesen,
wie die Erkenntnis und Begreifung nur vom Erkennen selbst, als vom Auge kommen
kann, und nicht vom Erkannten als vom Objekt oder Gegenstand. Sonst müßte
ein einiger Gegenstand auch einerlei Erkenntnis in die Augen gießen, sie
seien nun dunkel oder klar, geschickt oder ungeschickt.
Ein ander Exempel! Die Bibel ist ein unbeweglicher Gegenstand allen natürlichen
Theologen. Sollte nun der Verstand oder die Erkenntnis vom Gegenstand fließen
– wie vermeint wird – und nicht vom Auge selbst, so müßte
gewiß die Bibel als der einige Gegenwurf allen Theologen eine gleichförmige
Auslegung oder eine ungespaltene Erkenntnis bringen. Aber wir erfahren das Widerspiel,
nämlich daß nicht vom Gegenstande, sondern von Gott selbst die Erkenntnis
fließt, dieweil ein jeder die Schrift erkennt und beurteilt je nachdem
er ein Auge hat. Was mit diesem Exempel gemeint ist, gebe ich jedem Gottesgelehrten
zu treffen. Christus sagt: Ist das Auge licht, so wird dein ganzer Leib licht
sein, das heißt: so dein Herz oder Verstand rein und lauter ist, so wird
auch all dein Tun und Lassen rechtschaffen sein. Alsdann wird die dein Erkennen
und Lesen aus der Bibel nütze sein, so tut’s hier nicht der natürliche
Mensch, sondern der Neugeborene aus Christo, es tut’s auch nicht der Buchstabe,
sondern der Verstand des Buchstabens soll uns erretten: Gott wolle unsre Augen
erleuchten. S.158-160
3.Stellung der heiligen Schrift
Die Wahrheit redet durch die Menschheit Christi also: Es kann niemand zu mir
kommen, es ziehe ihn der Vater. Wer es nun höret vom Vater und lernt es,
der kommt zu mir. Das heißt: Will mich jemand im Glauben annehmen, als
einen Zeugen der Wahrheit und mir nachfolgen oder in mein Leben treten, der
kann es nicht tun durch meine sichtbare Menschheit, sondern er muß zuvor
hören und lernen vom heiligen Geiste, daß ich es sei; alsdann erleuchtet
und gelehrt von Gott kommt er zu mir, und nimmt mich an mit Freuden: denn ich
rede, lehre und bezeuge eben das Auswendige mit meinem Leben und Wandel, was
ein solcher innerlich von Gott gehört und gelernt hat. Wie es nun zugeht
mit Christo, daß ihn niemand für einen Sohn Gottes annimmt, oder
an ihn glaubt, er sei denn vom Vater gelehrt, sein Herz sei zuvor durch den
heiligen Geist erleuchtet: also wird keiner die Schrift verstehen oder mit Frucht
lesen noch die wahrhaftigen Zeugnisse der Bibel annehmen können, er sei
denn zuvor von Gott gelehrt und erleuchtet, so daß er ein reines und lautres
Auge bringt und also die heilige Schrift zum Zeugnis nimmt. Denn alle äußeren
Dinge oder sichtbaren Gegenstände zeigen nur, erwecken, leiten und führen
ein, können aber nicht den Verstand oder das judicium hineinwirken: das
judicium muß zuvor im Auge sein, und nicht vom Objecto oder Gegenstand
genommen werden. Denn cognitio ist im cognoscente und nicht im cognito, judicium
steht in judicante und nicht judicato, d. h : alle Erkenntnis kommt und fließt
her vom Erkennen und aus dem Auge, das da sieht und erkennt, und mit nichten
aus dem Gegenstand, der da gesehen und erkannt werden soll. Das Urteil steht
in dem und geht aus dem, der das objectum beurteilt und nicht in dem ojecto
oder Gegenstand, das da beurteilt wird. Darum verhält sich solche Erkenntnis
wirksam, natürlich, und nicht leidend, d. i.: Das Erkennen oder das Auge
wirkt in das Objectum, urteilt und saget dies oder das davon und empfängt
nicht sein judicium oder Erkennen vom Gegenstand. Wie nun eines jeden Auge ist:
licht, dunkel, falsch oder klar, also wird auch das Urteil oder die Erkenntnis
über den Gegenstand (Mt. 6). Bringst du ein reines lauteres von Gott erleuchtetes
Auge zur Schrift, so ist sie dir ein angenehmes Zeugnis; bist du aber blind
im Urteil und nicht vom Geiste erleuchtet, so bleibst du ein Verführer
und Irrer mit deiner Schrift. Derhalben wird unwidersprechlich geschlossen,
daß die göttliche Erkenntnis der Schrift nicht solle kommen vom Buchstaben,
sondern vom Geiste selbst – als vom Auge. Versteht sich: nicht aus dem
natürlichen Geist aus der Welt, sondern vom Geiste Gottes selber im Menschen,
nicht außerhalb des Menschen. Gott von sich selber weiß zuvor alle
Dinge, das Verständnis der Schrift steht allein bei ihm: er ist selber
das Wort und hat alle Schriften selber diktiert, darum er auch selber will der
Lehrmeister bleiben und keinem andern seine Lehre geben. Daß nun Gott
solches weiß und ist, was hilft es dir, so er es nicht auch in dir und
durch dich wäre und wüßte? Darum mußt du durch ein inniges
Gebet ihn ersuchen um das Verständnis des Buchstabens, so wird er selbst in dir das Auge sein und dich erleuchten
wie der Blitz (Lc. 17). Er wird dir nicht Scorpiones oder Schlangen geben, sondern
den heiligen Geist. Du wirst kein Verführer noch Ketzer, denn Gott will
kein Verführer in dir sein, sondern ein wahrhaftiger Lehrer. Du mußt
notwendig das Verständnis aus dem göttlichen Auge in dir und bei dir
haben: Danach kannst du die Biblia lesen ohne Irregang und in ihr Zeugnis annehmen.
Sprichst du aber: Ei, ist doch die Biblia geschrieben, darum daß man den
Verstand daselbst her nehme, und nicht aus dem Geiste, auf daß ich nicht
ein Enthusiasta werde?! Antwort: Die Bibel ist nur geschrieben zur Wahrung,
Zeugnis, Unterricht, Lehre, Memorial,, Kundschaft, und Bewahr des Glaubens oder
des Geistes Gottes in uns. Hast du diesen nicht und lebst diesem nicht, so ist
die Schrift eine finstere Laterne, ja ein Strick, Anstoß, Gift; wie wir
leider bei allen Sekten erfahren, da eine jede die Schrift anführt, und
können doch nimmer miteinander einig sein, so nicht der Geist einig ist
und bleibt durch und durch. Und ob du schon das Urteil oder die Erkenntnis aus
dem Buchstaben der Schrift nehmen wolltest, so muß, - bei ewiger Wahrheit!
– das Urteil oder die Erkenntnis zuvor in dir sein durch göttliche
Erleuchtung. Darum kehre es wie du willst, so wird bleiben unbeweglich: judicium
est in judicante et non in judicato, cognitio est in cognoscente et non in cognito.Wenn man die Bücher vornimmt, so da geschrieben sind von
der Natur oder Geschöpfen, und will dieselben lesen – oder verstehen,
so muß der Verstand oder das Urteil zuvor im Leser sein, wie es verborgen
im Menschen ist . . . . Daraus folgt schließlich, daß alle Bücher
nicht den Verstand bringen noch hineinwirken, sonder er muß kommen aus
dem, der es verstehen will. Alle natürliche oder übernatürliche
Weisheit oder Erkenntnis liegt zuvor im Menschen verborgen. Aus dieser Ursache
werden auch die Bücher nur geschrieben, damit sie uns erinnern, erwecken,
ermuntern, unterrichten, lehren, überzeugen von dem, das zuvor in uns vergraben
liegt. Lebten wir allezeit innerlich im Geiste, so bedürften wir keiner
Bücher noch Schriften, wie die Propheten, so aus dem Geiste ihre Bücher
geschrieben haben, und nicht aus anderen Büchern gestohlen. Denn das rechte Buch ist im innersten Grunde des Menschen und ist Gott selber.
Aber weil wir äußerlich und fleischlich geworden sind durch die Sünde,
so werden die Bücher geschrieben wegen unserer Schwachheit, Unwissenheit,
Blindheit, da wir uns selber nicht kennen. Sie werden aber geschrieben zum Zeugnis,
Anweisung, Unterrichtung, Einführung, ja zur Erweckung, Erinnerung, Ermunterung
oder Memorial. Darum die da innerlich nicht geschickt noch gelehrt sind, lesen
umsonst alle Bücher.
Ein Steinmetze hat in seiner Imagination oder in seinem Gemüt ein Bild
zu hauen in den Stein: solche Kunst ist nicht aus dem Leibe, sondern aus dem
inneren Menschen: derselbe ist der Künstler, nämlich der Geist des
Menschen, und ist der Mensch selbst.
Wir dürfen den Himmel oder Christum nicht außer
uns suchen, auch nicht in den Himmel flattern oder über Meer fahren: er
ist uns nahe, nämlich in uns. Wir jedoch hindern
uns selbst und erkennen uns selbst nicht, suchen den in uns verborgenen Schatz
nicht, welcher größer ist als Himmel und Erde.
In einem Weizenkorn ist verborgen gegenwärtig die Wurzel, der Stengel,
die Ähre und andere dreißig Körnlein. Willst du solches alles
haben, so mußt du es in die Erde säen. Säest du es nicht, so
hast du es auch nicht, und doch ist alles zuvor da. Von inwendig muß es
herausquellen. Darum wächst der Weizen vom Samen und aus dem Samen, aber
nicht von der Erde. Denn so er von sich selber wüchse, vom Acker und nicht
vom Samen, so brauchten wir nicht zu säen, sondern der Acker trüge
von selber den Weizen, was doch nicht ist. Natura prior arte est, die Natur
ist ja eher denn die Künste; sind nun alle Künste aus der Natur, so
muss ja alle natürliche Kunst zuvor in uns sein. Das Reich Gottes
ist zuvor in uns, es braucht nicht erst zu uns kommen: sondern wir sehen nur
zu, dass wir auch hinein kommen, welches durch Beten, Suchen und Anklopfen
geschehen muß. Es folgt nicht: die Weisheit oder Kunst ist zuvor in mir,
darum will ich sie nicht lernen, gleichwie auch nicht folgt: ich suche und lerne
die Kunst, darum ist sie zuvor in mir. Es ist in dir verborgen und unerkannt,
darum mußt du sie suchen und lernen und lernen. Ja, eben darum, weil solches
in uns ist, darum beten wir, suchen und lernen wir. So es nicht in uns wäre,
so wäre auch alles Suchen, Beten und Lernen umsonst. Eben darum wird es
geschrieben, gepredigt und gelehrt, weil es zuvor in uns ist und nicht außer
uns. Kennst du dich selber, so bist kein Vieh, sondern ein Mensch, und wirst
mit Paulo begehren zu erkennen und zu ergreifen, wie du zuvor von Gott erkannt
und ergriffen bist. Gal. 4, Kol. 3.
Das göttliche Gesetz ist zuvor in uns, und derhalben ward es durch Moses
in steinerne Tafeln gebildet. Wäre es nicht zuvor in uns oder in Moses,
nimmermehr wäre es in den steinernen Tafeln!
O mein Schöpfer und Gott, durch
dein Licht erkenne ich, wie wunderbarlich ich gemacht bin. Aus der Welt bin
ich gemacht und bin in der Welt und die Welt ist in mir. Ich bin auch von dir
gemacht und ich bleibe in dir und du in mir. Aus der Welt bin ich, die Welt
trägt mich, sie umgreift mich, und ich trage die Welt und umgreife die
Welt. Ich bin ihr Kind und Sohn, sie ist geworden, was ich bin, und ich bin
geblieben, was sie ist. Denn alles, was in der großen Welt ist, das ist
auch alles in mir geistlich, darum bin ich und sie eins und kann ohne sie nicht
sein noch leben. Sie muss mich speisen, ernähren
und erhalten, soviel das sterbliche Leben angeht. Also hast du mich, Herr, auch
geschaffen zu deinem Bildnis, und gibst mir den Geist: du bist in mir und ich
in dir und kann ohne dich nicht leben einen Augenblick. Dieses
alles sehe ich in dir und du in mir, ja meine Augen sind deine Augen und meine
Erkenntnis ist deine Erkenntnis, sie sehen, was du willst, und nicht, was ich
will. Du erkennst und siehst dich selber, das ist: durch mich, und davon bin
ich selig: in deinem Licht sehe ich wahrlich das Licht! S. 160-164
Vom
Wesen Gottes
1. Daß Gott auf zweierlei Weise angesehen
oder betrachtet werden kann
Gott ist in sich selber einig und hat keinen Namen. Er heißt gut, und
niemand ist gut, denn allein er, Gott. Er wird aber entweder für sich selbst,
absolute, betrachtet, ohne alle Kreaturen, wie er in seiner verborgenen Einigkeit
ist, oder respectu creaturarum, wie er sich hält und erzeigt in der Offenbarung
mit seiner Kreatur. Absolute, allein für sich selbst, ohne alle Kreatur,
ist und bleibt Gott personlos, zeitlos, stättelos, wirkungslos, willenlos,
affektlos, und also ist er weder Vater noch Sohn noch heiliger Geist, er ist
die Ewigkeit selber ohne Zeit, er schwebt und wohnt in sich selber an jedem
Ort, er wirkt nichts, will auch nichts, begehrt auch nichts. Denn was sollte
er wirken, begehren oder wollen? Ist er doch mit seiner seligen Ruhe und Ewigkeit
das vollkommene All, es ist in ihm alles gegenwärtig und nichts zukünftig
noch vergangen, darum begehrt er nichts, darum hofft er nichts, er besitzt alle
Dinge in sich selbst, und ist keines Dinges bedürftig. Deus potentia quidem
semper, sed affectu non semper pater fuit, et antequam genuerat non erat pater,
sed omnipotens Deus.
Aber respektive d. i. in, mit und durch die Kreatur wird er persönlich,
wirkend, wollend, begehrend, nimmt Affekte an sich, oder lässt unserthalben
Personen und Affekte zuschreiben. Da wird er zum Vater und wird zum Sohne und
ist der Sohn selber, er wird zum hl. Geiste und ist selber der hl. Geist, er
will, wirkt und schafft alle Dinge und ist alle Dinge, er ist aller Wesen Wesen,
aller Lebendigen Leben, aller Lichter Licht, aller Weisen Weisheit, aller Vermögenden
Vermögen.
Siehe, also muss Gott betrachtet werden auf zweierlei Weise:
einmal absolute, für sich selber, darnach respective, wie er sich der Kreatur gegenüber
erweist. Hiernach ist die ganze Schrift zu verstehen.
2. Gott ist alle Dinge
Die platonici haben einen Spruch, der lautet also und ist auch wahr: Deus est
omnia, nihil tamen omnium, Gott ist alle Dinge, und ist doch nichts unter den
Dingen allen, die geursprungt sind oder die da einen Anfang haben. Daß
er alle Dinge ist, solches musst du auf zweierlei Weise verstehen. Erstlich
absolute, für sich selbst, ohne Kreatur, darnach respective, nach Erschaffung
der Kreatur, in, mit und durch die Kreatur. Und solches wiederum auf zweierlei
Weise: entweder ist er alle Dinge per naturam, oder er ist per gratiam auch
alle Dinge.
So wir unser inwendiges Auge erheben, über die Zeit, über die Welt,
und steigen über alle Geschöpfe zu dem ewigen unwandelbaren Gut, so
müssen wir bekennen, dass Gott aller Dinge Wesen, Ursprung und Wille complicite
sei, wie ein Same des Baumes complicite alle Dinge ist, denn er ist ja die Wurzel,
der Stamm, die Äste, die Zweiglein, die Blüte und alle Früchte,
und doch ist der Same keins dieser Dinge explicite, denn der Same ist nicht
eine Wurzel noch ein Stamm, noch ein Blatt - nämlich explicite -. Also
ist Gott in sich selbst ein Beschluß oder Begriff aller Geschöpfe,
der Engel und der Sterne und der Menschen, und ist doch explicite deren keines.
Denn ob er wohl ein Begriff und Wesen aller Kreaturen ist, so ist er doch nicht
eine Kreatur, er ist kein Engel, er ist kein Stein, kein Fisch, kein Tier, kein
Mensch. – Ein Punkt ist in sich selbst der Begriff der Linie und aller
Dinge, so aus der Linie gemacht werden, als superficies. Also ist Gott alle
Dinge complicite und ist doch deren keines explicite. Gott beschließt
in sich alle Wesen, die da geschaffen sind, denn alle genita kommen und fließen
aus dem ingenito wie aus einem Brunnen. Darum ist Gott alle Dinge, alle Örter
und Stellen sind beschlossen und begriffen in Gott, denn er ist das Infinitum:
alle finita sind in dem infinito Eins und kommen daraus und müssen darin
beschlossen werden. Alle Zeiten sind in Gott eine Zeit, denn er ist aeternitas,
alle Zeiten kommen aus der Ewigkeit und müssen beschlossen sein in der
Ewigkeit. Und obgleich Gott als das ingenitum alle genita gebiert, sie sind
sichtbar oder unsichtbar, so ist er doch der genitorum keins, denn er ist von
sich selber, ohne Anfang , ohne Ursprung.
Item obgleich Gott aller Örter Ort ist – wie dem infinito gebührt
– so ist er doch der Örter keiner, weder hier noch da, also bleibt
er illimitatus. Item, obgleich Gott alle Zeiten ist – wie denn der Ewigkeit
gebührt -, so ist er doch der Zeiten keine, denn er ist nicht eine vergangene
Zeit, auch nicht eine zukünftige. Derohalben bleibt unwidersprechlich:
Gott ist alle Dinge und doch der Dinge keines, denn der Ungeborene kann nicht
geboren sein, und das Unendliche kann nicht endlich sein, und das Ewige kann
nicht zeitlich sein
.3. Wie Gott alle Dinge sei, mit
und durch die Kreatur, und doch der Dinge keins.
Dass Gott absolute betrachtet, ohne die Kreatur, alle Dinge sei, als ein
Brunn und Ursprung: complicite, und doch deren keins explicite, ist genugsam
im vorherigen Kapitel erklärt worden, aber wie nun solches auch respective,
in, mit, und durch die Kreatur wahr erfunden werde, wollen wir also bedenken.
Alle Kreaturen, sichtbare und unsichtbare, bestehen vielmehr in Gott als in
sich selbst und können außer und ohne Gott nicht sein, darum ist
Gott per naturam, als ein natürlicher Schöpfer der Dinge, im Bösen
und im Guten zugleich. Er ist auch alle Dinge per gratiam, aber allein in den
Guten und Gläubigen. Naturaliter ist Gott alle Dinge und doch der Dinge
keines, er gibt ihnen alle das Wesen, das Leben und die Bewegung, und ist in
allen alle Dinge, , als im Engel ist er das Wesen, Leben, Licht, also ist er
auch in den Teufeln das Leben und die Bewegung, welche ohne Gott und außerhalb
Gottes ebenso wenig sein, leben oder sich bewegen können als die Engel
im Himmel.
Also können die Bösen ohne Gott weder wollen noch wirken noch sich
bewegen. Gott ist und bleibt alles in allem – aber den Bösen zur
Verdammnis. Und ob er schon selber alle Dinge ist, so ist er doch kein Engel
noch Teufel noch Fisch noch Vogel noch Kraut noch Baum noch Mensch usw. Darnach
ist Gott per gratiam auch alle Dinge, aber allein in den Frommen und Gläubigen.
Darum sind sie selig, und das heißt Christus: wo Gott selber der Mensch
im Menschen ist, wo er selber das Leben ist und die Weisheit, und das Wirken,
wo die Gläubigen der Welt und sich selbst gestorben in Christo allein Gott
leben, wo Gott in seinem Tempel oder Himmel wohnt d. i. in gehorsamen Herzen
– da ist Gott wahrlich alle Dinge in, mit und durch die Gläubigen,
wie in Christo ausdrücklich ersehen wird. Und solches ist volle Genüge,
Seligkeit und ewiges Leben. S. 183-185
Aus: Deutsche Frömmigkeit. Stimmen deutscher Gottesfreunde
Eine Auswahl aus den Schriften der deutschen Mystiker. Herausgegeben von Walter
Lehmann
Verlegt bei Eugen Diederichs/Jena