Meister Eck(e)hart (um 1260 – 1328)

Bedeutendster und geistvollster deutscher Mystiker. Mit 30 Jahren wird der Dominikanermönch Prior seines Erfurter Klosters und Vikar von Thüringen. 1293—94 war er als lector sententiarum in Paris und erwarb 1302 dort den Magister-Grad, der ihm seinen Beinamen Meister eintrug. 1303 wurde ihm die Leitung der Ordensprovinz Sachsen übertragen, 1307 kommt noch das Vikariat in Böhmen hinzu. 1311—13 war als Magister regens wieder in Paris tätig, um dann 1313 Prior in Straßburg zu werden. Von hier aus betreute er im Auftrag seines Ordensgenerals insbesondere im Elsaß, später in der Schweiz Frauenklöster. Zuletzt war er Prediger und Magister in Köln. Der wegen seiner Lehren gegen ihn geführte Prozess führte ihn nach Avignon. Nach seinem Tod wurden 28 seiner Sätze von Papst Johannes XXII. verurteilt (1329). Seine volle Wirksamkeit entfaltete Eckehart vor allem in seinen Predigten, die die scholastische Gelehrsamkeit für das innere Leben umprägten und das »Ungeschaffene in der Seele« (das »Seelenfünklein«) hervorheben. Als »Lebemeister« begründete er damit einen neuen Typ christlicher Volksfrömmigkeit. Die Heilsgeschichte, die Kirche und die Schrift treten zurück gegenüber der unmittelbaren Begegnung zwischen Gott und der gläubigen Seele. Aus dem ekstatischen Gotteserlebnis seiner mystischen Erfahrung erwuchs Eckehart eine neue spekulative Theologie, die - er in der ihm eigenen feurigartigen Einzigkeit - mit einzigartigem Bekennermut vertrat und in beispielloser wortschöpferischer und seelenaufreißender Sprachgewalt vorzutragen wusste. Heinrich Seuse und Johannes Tauler waren Schüler von ihm. Bis zum 18. Jahrhundert nahezu vergessen, nahm ihn der deutsche Idealismus als seinen Vorläufer an.

Siehe auch Wikipedia , Heiligenlexikon
und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Die Vereinigung mit Gott geschieht in einem Licht
Von der Vollendung der Seele
Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht
In Gott ist die Fliege edler als der höchste Engel
  Wo die geschöpfliche Welt endet, da beginnt Gott zu sein
Was ist Gott?

>>>Christus
Maria und Martha

Die Vereinigung mit Gott geschieht in einem Licht, in dem die Seele Gott angeglichen wird
... Unsere Gelehrten sagen: Vereinigung verlangt das Einander-Gleichen. Vereinigung kann nicht stattfinden, wenn sie das Einander-Gleichen nicht hat. Was immer verbunden und eingeschlossen ist, bewirkt Vereinigung. Nicht dadurch entsteht das Einander-Gleichen, dass etwas mir nahe ist — dass ich zum Beispiel bei ihm sitze oder mit ihm an einem Ort wäre. Deshalb sagt Augustinus: Herr, als ich mich fern von dir befand, kam das nicht von der Ferne des Ortes, sondern es kam von der Ungleichheit mit dir, in der ich mich befand. Ein Meister lehrt: Wessen Sein und Werk ganz in der Ewigkeit ist und wessen Sein und Werk ganz in der Zeit ist, die vertragen sich nie; sie kommen niemals zusammen. Unsere Gelehrten sagen: Zwischen den Dingen, deren Sein und Werk in der Ewigkeit ist, und den Dingen, deren Sein und Werk in der Zeit ist, muss es notwendig ein Vermittelndes geben. Wo immer etwas ganz zusammengeschlossen und verbunden ist, muss es notwendig einander gleichen. Wo Gott und die Seele sich vereinigen sollen, kann das nur auf Gleichheit beruhen. Wo keine Ungleichheit ist, ist notwendig eines; es wird nicht nur durch Anschluss vereinigt, sondern es wird eines; nicht nur einander gleichend, sondern gleich. Darum sagen wir, dass der Sohn dem Vater nicht gleiche, sondern dass er mit ihm das Gleiche ist, er ist eins mit dem Vater.

Unsere besten Lehrer sagen: Wenn ein Bild, das in einem Stein ist oder an einer Wand, nicht etwas darunter zudeckte, so wäre das Bild für den, der es als Bild aufnähme, ganz eins mit dem, dessen Abbild es ist. Immer wenn die Seele eintritt in das Abbild, in dem nichts Fremdes anwesend ist, nur das Urbild, mit dem es als Bild eins ist, dann ist die Lehre gut. Sobald man in das Bild versetzt ist, in dem man Gott gleicht, dann nimmt man Gott dort wahr, dann findet man Gott dort. Wo etwas bis zu Ende zergliedert wird, dort findet man Gott nicht. Wenn die Seele in das Gottesbild kommt und allein sich in dem Bild wiederfindet, dann findet sie Gott in dem Bild; und indem sie Gott und sich findet, vollbringt sie ein und dieselbe Handlung, und die ist ohne Zeit: dort findet sie Gott. Soweit sie darin ist, soweit ist sie mit Gott eins. Der Evangelist meint: soweit ein Mensch sich dort, wo die Seele Gottes Bild ist, eingeschlossen hat. Sofern er darin ist, ist er göttlich; sofern er darin ist, ist er in Gott — nicht eingeschlossen, nicht vereinigt, sondern: Es ist Eines. S.97f. [...]

Gott hat das Werk, und die Seele hat das Begehren und das Vermögen, daß Gott in sie hineingeboren werde und sie in Gott. Das bewirkt Gott: dass die Seele ihm gleich werde. Zwangsläufig ist es so: Sie wartet darauf, dass Gott in ihr geboren werde und dass sie in Gott Bestand gewinne; und sie begehrt eine Vereinigung, damit sie in Gott bestehen könne. Die göttliche Natur gießt sich in das Licht der Seele, und sie kann darin bestehen. Hier, so ist Gottes Absicht, soll er in ihr geboren und mit ihr vereinigt werden und in ihr Bestand gewinnen. Wie kann das sein? Wir sagen doch, dass Gott durch sich selbst besteht? Immer, wenn er die Seele dort hineinzieht, dann findet sie, dass Gott durch sich selbst besteht, und dort gewinnt sie Dauer, sonst bliebe sie ohne Dauer. [...] Gott hat Bestand und Dauer in seinem Sein; und es gibt darum keinen anderen Weg, als dass man von der Seele alles abschält und abscheidet, was ihr angehört: ihr Leben, ihre Kräfte und ihre Natur (alles das muss weg), und dass sie in dem reinen Licht dasteht, in dem sie mit Gott übereinstimmend gebildet ist: Dort findet sie Gott. S.101 [...]

Unter dem Einfluss der Gnade steigt das Licht der Vernunft auf. Dort glänzt Gott in ein Licht hinein, das sich nicht zudecken läßt. Wer so machtvoll ergriffen wäre von diesem Licht, der wäre so viel edler als ein anderer Mensch, wie ein lebender Mensch edler ist als einer, der an die Wand gemalt ist. Das Licht hat so viel Kraft, daß es nicht nur in sich ohne Zeit und Ort ist, sondern dass es überdies dem, worauf es sich ergießt, Zeit und Ort wegnimmt, leibhaftige Abbilder und alles, was ihm fremd ist. Ich habe das öfter gesagt: Gäbe es weder Zeit noch Ort und auch nichts anderes, dann wäre alles ein Sein. Wer in diesem Sinne eins wäre und sich in den Grund der Demut stürzte, der würde dort mit Gnaden übergossen. S.103f.

Man muss groß sein und hoch erhaben, wenn man Gott sehen will. Das Licht der Sonne ist gering im Vergleich mir dem Licht der Vernunft, und die Vernunft ist gering im Vergleich mir dem Licht der Gnade. Gnade ist ein Licht, das über allem schwebt und über alles hingeht, was Gott je schuf oder schaffen könnte. Wie groß das Licht der Gnade auch ist, so ist es doch gering im Vergleich mit dem göttlichen Licht. Unser Herr tadelte seine Jünger und sprach: »In euch ist das Licht noch gering« [Joh. 12,35]. Sie waren nicht unerleuchtet; das Licht war aber gering. Man muss in der Gnade aufgehen und groß werden. Während man in der Gnade zunimmt, ist das Licht, in dem man Gott von weitem erkennt, Gnade, und es ist gering. Wenn sich aber die Gnade bis ins Höchste steigert, dann ist es nicht mehr Gnade, sondern es ist ein göttliches Licht, in dem man Gott sieht. Der heilige Paulus spricht: »Gott wohnt in einem Licht und wohnt einem Licht inne, zu dem es keinen Zugang gibt« [1. Tim. 6,16]. Dahinein gibt es keinen Zugang, aber es gibt da ein Hineinkommen. Moses sagt: »Nie hat ein Mensch Gott gesehen« [Ex. 33,20]: solange wir Menschen sind und solange etwas Menschliches an uns lebt und wir im Stande des Unterwegs-Seins sind, sehen wir Gott nicht; wir müssen hoch erhoben werden und in reine Ruhe versetzt, so dass wir Gott sehen. Der heilige Johannes spricht: »Wir sollen Gott ganz so erkennen, wie Gott sich selbst erkennt« [1 Joh. 3,2].

Gottes Eigentümlichkeit ist es, da
ss er sich selber erkennt ohne mikroskopisches Gedankenbild und ohne dies und das. Ebenso erkennt der Engel Gott, so, wie er sich selbst erkennt. Der heilige Paulus sagt: »Wir werden Gott erkennen, wie wir erkannt werden« [1 Kor 13,12]. Nun ergänze ich: »Wir sollen ihn ganz so erkennen, wie er sich selbst erkennt« in dem Ebenbild, das allein Gott und die Gottheit abbildet, das heißt die Gottheit nur insoweit, wie sie Vater ist. Insofern wir dem Ebenbild gleich sind, aus dem alle Abbilder ausgeflossen sind und das alle Abbilder zurückgelassen hat, und insofern wir durch das Ebenbild zu Ebenbildern geworden sind und gleichberechtigt hineingetragen in das Urbild des Vaters — insoweit, wie er das in uns erkennt, insoweit erkennen wir ihn, wie er sich selbst erkennt. S.137f.
Aus: Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Eine Auswahl . Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch
Auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi« herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ute Störmer-Caysa
Reclams Universalbibliothek Nr. 181127 © 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Von der Selbsterkenntnis oder:
Vollendung der Seele
Wer zum höchsten Adel seines Wesens gelangen will und zur Anschauung des höchsten Gutes, das Gott selber ist, der muß ein Erkennen seiner selbst haben, wie auch der Dinge, die um ihn sind, bis zum Höchsten. Nur so gelangt er zu seiner wahren Lauterkeit. Darum, mein lieber Mensch, lerne du dich selbst erkennen; das ist dir besser, als wenn du alle Kräfte der Kreatur kenntest. Wie du aber dich selber erkennen kannst, dazu merke zweierlei Weise.

Zuerst siehe zu, wie es um deine äußeren Sinne steht: Das Auge steht allezeit dem Bösen ebenso bereit zum Sehen wie dem Guten; ebenso das Ohr dem Hören, und so ist es mit allen Sinnen. Darum müßt ihr euch mit großem Ernst dem Guten zuwenden.

Sodann vernehmt von den inneren Sinnen. Das sind die edlen Kräfte, die in der Seele sind, die niederen wie die höheren. Die niederen dienen den höheren Kräften und zugleich auch den äußeren Sinnen. Darum sind sie den äußeren Sinnen so nahe gelegen, daß sie das, was das Auge sieht und was das Ohr hört, sogleich dem Begehren zuführen. Ist es dann eine ordentliche Sache, so bietet sie das Begehren sofort einer anderen Kraft dar, die heißt Betrachtung. Die schaut das Ding an und bietet es einer dritten Kraft dar, die heißt Vernunft. Also wird das Angeschaute geläutert, ehe es zu den höchsten Kräften gelangt. So edel ist die Kraft der Seele, daß sie das Angeschaute sonder Gleichnis und sonder Bild aufnimmt und in die höchsten Kräfte emporträgt. Dort wird das Angeschaute vom Gedächtnis behalten, vom Verständnis erfaßt und vom Willen erfüllt. Dieses sind die höchsten Kräfte der Seele und sie sind in einer Natur vereinigt. Und alles, was die Seele wirkt, das wirkt auch die eine Natur in den Kräften.

Was aber ist die Natur der Seele? Gewißheit. Und diese Natur ist also unmeßbar, daß der Raum sie so wenig kümmert, als ob er gar nicht da wäre. Hätte ein Mensch einen lieben Freund über tausend Meilen, so strömte doch seine Seele ihm zu mit all ihrem Vermögen und minnte dort den lieben Freund.

Herzensfreunde, merket nun wohl auf, wie recht und wie edel eine jegliche Kraft geordnet und an ihre Stelle gesetzt ist, und sind doch einer Natur. Das Gedächtnis ist eine bewahrende Kraft alles dessen, was die anderen Kräfte ihm zubringen. Dazu ist sie berufen. Die andere Kraft heißt Vernunft. Die ist so edel, daß ihr, wenn sie das höchste Gut, das Gott selber ist, verstehen soll, alle anderen Kräfte dienen müssen nach ihrem Vermögen. Die dritte Kraft heißt Wille. Diese Kraft ist so edel, daß sie gebietet und verbietet, je nachdem, wie sie will. Was sie also nicht will, des ist sie ledig und frei.

Es ist eine Frage unter den Meistern, ob Vernunft oder Wille edler sei. Die Vernunft erfaßt selbst solche Dinge, die uns jetzt unzugänglich sind. Darin liegt ihre Edelkeit. Der Wille aber vermag für sich selbst alle Dinge. Und wo die Vernunft nichts mehr vermag, da schwingt sich der Wille auf in das Licht und in die Edelkeit des Glaubens. Das ist die Edelkeit des Willens. Doch hat der Wille diese Überlegenheitsgewalt nicht aus eigenem Vermögen. Ihm wird Hilfe von den anderen Kräften zuteil. Und vom Glauben.

Welches aber ist die Kraft in dieser Dreifaltigkeit der Seele, aus der der Glaube zuerst entspringt? Aus der vermittelnden Kraft der Seele: aus dem Erkennen entspringt der Glaube. Der Glaube aber wird fruchtbar im Willen und der Wille wiederum wird fruchtbar im Glauben. So ist also das Licht des Glaubens die Ursache des Überschwungs in den Willen.

Daß dies aber ein Höheres ist, das versteht das Erkennen gar wohl. Und hier ist dann das Erkennen über dem Willen. Jedoch in seiner Eigenschaft als Wille hat der Wille Hoheit und Edelkeit, und das empfängt er von dem höchsten Gut, das Gott selber ist. Und er empfängt Gnade und das höchste Gut selber in dieser Gnade. Denn was die Seele empfängt, das empfängt sie durch den Willen und anders nicht. Durch die Gnade des höchsten Gutes werden die anderen Vermögen in der Einheit einer Natur gekräftigt, und da wird dann das Licht entzündet in der Kraft des Heiligen Geistes. Und aus diesem Licht werden alle Werke der Seele gewirkt. Eine wahre Urkunde dieses gnädiglichen Lichtes ist es, wenn dann ein Mensch mit freiem Willen sich abwendet von den vergänglichen Dingen und sich hinkehret zu dem höchsten Gute, das Gott selber ist.

Nun merket, wie die Seele zu ihrer höchsten Vollendung kommen kann: Wenn Gott in die Seele getragen wird, dann entspringt in der Seele ein göttlicher Liebesquell, der treibt die Seele wieder in Gott zurück, so daß der Mensch nichts mehr wirken mag denn geistliche Dinge.

O Wunder über Wunder, wenn ich an die Vereinigung denke, die die Seele mit Gott hat: Er macht die Seele freudewonnig aus sich selber fließen und alle nennbaren Dinge genügen ihr nicht mehr. Ja, sie genügt auch sich selber nicht. Der göttliche Liebesquell strömt auf sie über und reißt sie aus sich selber hinüber in ihren ersten Ursprung, der Gott alleine ist. In ihm kommt die Seele zu ihrer höchsten Vollendung.

St. Augustinus spricht: Gerade wie es um Gott ist, so ist es auch um die Seele. Seht, wie sie gebildet ist nach dem Bilde der Heiligen Dreifaltigkeit.

Gott ist dreifach von Person und doch einfach von Natur. Gott ist auch an allen Orten, und an jedem Ort ist Gott ganz. Das will soviel sagen, daß alle Orte ein Ort Gottes sind. Also ist es auch mit der Seele. Gott hat die Voraussicht aller Dinge und bildet alle Dinge in seiner Voraussicht. Das ist Gottes Natur. Also ist es auch mit der Seele. Sie ist auch dreifach von Kräften und einfach von Natur. Die Seele ist auch in allen Gliedmaßen des Körpers, und in einem jeglichen Gliede ist sie ganz. Also sind alle Gliedmaßen eine Stätte der Seele. Und auch die Seele hat Voraussicht und bildet alle Dinge, die ihr möglich sind. So hat die Seele von allem, was man von Gott aussagen kann, etwas Gleiches

Nun will ich noch mit euch reden von dem Namen der Heiligen Dreifaltigkeit: Wenn man vorn Vater oder vom Sohne oder vom Heiligen Geist spricht, dann spricht man von den göttlichen Personen. Spricht man aber von der Gottheit, dann spricht man von der Natur. In der Gottheit sind die drei Personen eins vermöge der Einheit ihrer Natur. Und sind darin als ein Ineinanderfließen ohne Unterscheidung. In diesem selben Flusse fließt der Vater in den Sohn und der Sohn in den Vater zurück, und sie beide fließen in den Heiligen Geist und der Heilige Geist fließet wieder in sie beide. Darum sagt unser Herr Jesus Christus: »Wer mich siehet, der siehet den Vater. Mein Vater ist in mir und ich bin in ihm«.

Dies Ineinanderfließen in der Gottheit ist ein Sprechen sonder Wort und sonder Laut, ein Hören sonder Ohren, ein Sehen sonder Augen. Und hiervon vernehmt ein Gleichnis von der edlen Seele, die hat auch dies wunderbar gleiche Fließen in sich. Wo die höchsten Kräfte und die Natur gleiche Eigenschaft haben, da fließt eine Kraft in die andere und wird offenbar ohne Wort und ohne Laut. Selig die Seele, die da zur Anschauung des Ewigen Lichtes gelangt. Was aber die göttliche Natur sei, davon ist nie noch einer Kreatur Mitteilung zugekommen. Ein Meister sagt: Gottes Natur ist Gottes Schönheit. Dazu sage ich: In dieser Schönheit da geschieht ein Leuchten und Widerstrahlen, da leuchtet eine jegliche der drei göttlichen Personen der anderen wie sich selber. In diesem Leuchten ist die Vollkommenheit der Schönheit.

Wie aber ist es mit dem ewigen Wort des Vaters? Sankt Augustinus spricht darüber in fünf Gleichnissen, gerade als ob er sie auf die Person unseres Herrn Jesu Christi bezöge: »Ich bin kommen als ein Wort aus dem Herzen. daraus es gesprochen ist. Ich bin kommen als ein Schein aus der Sonne. Ich bin kommen als ein Blitz aus dem Feuer. Ich bin kommen als ein Duft der Blumen. Ich bin kommen als ein Strom des ewigen Quells.«

Also ist das ewige Wort ausgesprochen in der Person des Sohnes und ist Gott geblieben kraft seiner Natur und in dieser Natur. So auch sind alle Dinge kraft ihrer Begrenzung ausgeflossen in die Zeit. Aber in der Ewigkeit, da sind sie sonder Begrenzung. Da sind sie Gott in Gott. Dazu vernehmt ein Gleichnis: Wäre ein leistet, der alle Kunst in sich hätte, und er schüfe aus einer jeden Kunst ein Werk, so bliebe dennoch alle seine Kunst in ihm selber beschlossen. Die Künste meistert der Meister. Also ist es mit der Erstheit aller Urbilder der Dinge. Sie sind Gott in Gott.

Es ist nun die Frage: wie alle Dinge in ihren ersten Ursprung zurückfließen? Dazu vernehmt: Alle Kreatur ändert in der menschlichen Natur ihren Namen und wird durch sie geadelt; in menschlicher Natur verläßt sie ihre Natur und kommt in den Ursprung zurück.

Das geschieht auf zweierlei Art: Zum ersten hat die menschliche Natur das Vermögen, in geistlichen Dingen das Edelste zu wirken; denn in geistlichen Dingen fließt der Geist wieder in seinen Ursprung zurück. Das zweite ist dies: Was der Mensch an Speise und Trank empfängt, das wird zu Fleisch und Blut in ihm. Seht, nun ist des Christen Glaube, daß dieser Leib am Jüngsten Tag wieder auferstehen soll. Da erstehen auch alle Dinge nicht an sich selber, sondern an dem, der sie in sich verwandelt hat. Da wird der Mensch vergeistet und wird alles ein Geist und fließt mit dem Geist zurück in den ewigen Ursprung. Daran wird sich erweisen, ob eine jede Kreatur in menschlicher Natur etwas Ewiges errungen hat. Daran sieht man auch die Treue und die Güte und die Minne Gottes, daß er seinen treuen Knecht ganz und gar will zu sich nehmen. Da ist dann alles in allem beschlossen und alles in allem Eines.

Nun könnte man mir sagen: Das ist alles schön und wohl gesprochen, Herzensfreund. Aber wie geschieht das, daß ich zu der lauteren Edelheit komme? Verstehet recht: Gott ist, was er ist; und was er ist, das ist mein; und was mein ist, das liebe ich; und was ich liebe, das liebt mich und zieht mich in sich hinein; und was mich also an sich genommen hat, dem gehöre ich mehr an als mir selber. Seht, darum minnet Gott, dann werdet ihr Gott mit Gott. Hiervon will ich nichts mehr sagen.

Merket aber noch von der Freiheit des Geistes dieses: Der Geist soll also frei sein, daß er an allen nennbaren Dingen nicht hange und daß sie nicht an ihm hangen. Ja, er soll noch freier sein: also frei, daß er für all seine Werke keinerlei Lohn erwarte von Gott. Die allergrößte Freiheit aber soll dies sein, daß er all seine Selbstheit vergesse und mit allem, was er ist, in den grundlosen Abgrund seines Ursprungs zurückfließe. Die auf sich selbst verzichten und Gott also folgen in rechter Vernichtigung: wie könnte Gott es lassen, daß er ihnen nicht seine Gnade in die Seele gösse, die sich also in der Minne vernichtigt hat? Er gießt seine Gnade in sie und erfüllt sie und gibt sich ihr selber in Gnaden hin und bringt die Seele in die Anschauung seiner Gottheit.

Das geschieht in der Ewigkeit und nicht in der Zeit. Doch empfängt die Seele einen Vorgeschmack hier in der Zeit von dem, was von jenem heiligen Leben gesagt worden ist. Dies aber ist darum gesagt, damit ihr wisset, daß niemand zu seiner höchsten, lautersten Edelkeit kommen kann im Erkennen und im Leben, er müßte denn der freiwilligen Armut folgen oder den Armen gleich sein. Das ist für alle Leute das allerbeste.

Nun loben wir Gott um seiner ewigen Güte willen und bitten ihn, er möge uns am Ende zu sich nehmen. Dazu verhelfe uns der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Aus: Meister Eckehart, Vom Wunder der Seele, Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten Neu durchgesehen und herausgegeben von Friedrich Alfred Schmid Noerr
Reclams Universalbibliothek Nr. 7319 (S. 13-19) © 1951 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht - ich bin die Ursache meiner selbst und aller Dinge
Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott; ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war nur ein Sein und wollte kein ander Ding. Was ich wollte, das war ich; und was ich war, das wollte ich, und stand ledig Gottes und aller Dinge. Aber als ich herausging aus meinem freien Willen und mein geschaffenes Wesen empfing, da bekam ich auch einen Gott. Denn ehe die Kreaturen waren, war Gott nicht ,,Gott“: Er war das, was er war. Da die Kreaturen wurden und ihr geschaffenes Wesen anfingen, da war Gott nicht mehr allein in sich selber Gott, sondern er ward Gott in den Kreaturen. Demnach ist er ihnen Gott nach ihrer Kreatur und hat genauso viele Allmacht und Reichtum, als sie in ihrer geringen Kreatur zu fassen vermögen. Und wär es so, daß eine Fliege Vernunft hätte und wollte den ewigen Abgrund göttlicher Wahrheit, aus dem sie kam, mit Vernunft zu erfassen versuchen, so sagen wir: daß Gott [als Gottheit] mit all dem, was er „Gott“ [als gedachter Gegenstand] ist, nicht möchte die Fliege erfüllen noch ihr genugtun.

Darum bitten wir, daß wir ,,Gottes« ledig werden und die Wahrheit so empfangen und ewiglich genießen, wie die obersten Engel und die Fliege und die Seele, wo sie noch in dem sind, in dem auch ich urständete und wollte, was ich war, und war, was ich wollte: So arm soll der Mensch in seinem Willen sein und also wenig wollen und begehren, wie er wollte und begehrte, als er noch nicht war. S.35 [...]

Wir haben manchmal gesagt, der Mensch solle so leben, als ob er nicht lebte, weder sich selber noch der Wahrheit, noch Gott. Aber jetzt sprechen wir es anders und meinen mehr und sagen, der Mensch, der die Armut haben möchte, der soll dessen inne sein, was er war, da er noch nicht lebte, weder sich selber noch der Wahrheit, noch Gott. Er soll so ledig allen Wissens sein, daß keinerlei Vorstellung Gottes in ihm lebendig ist. Denn da der Mensch in dem ewigen Urstand Gottes war, da lebte in ihm nichts anderes. Was da lebte, das war Gott [die Gottheit] selbst. Daher sagen wir, daß der Mensch also ledig sein soll seines eigenen Wissens, wie er war, da er noch nicht im Dasein war, und er lasse Gott wirken, was er wolle, und stehe also ledig, wie da er aus Gott kam. S.36 [...]

Darum bitte ich Gott, daß er mich Gottes quitt mache, denn das noch unwesende Sein ist noch ohne alle Unterschiedenheit. In der war ich, ehe ich mich selber wollte und mich selbst erkannte als erschaffenen Menschen. Und darum bin ich Ursache meiner selbst, nicht sowohl nach meinem Wesen, das zeitlich ist, als nach meinem Wesen, das ewig ist. Und darum bin ich ungeboren und nach der Weise meiner Geburt, die ewig ist, vermag ich nimmer zu sterben. Nach der Weise meiner ewigen Geburt bin ich ewiglich gewesen und bin und soll ewiglich bleiben. Was ich bin nach der Zeit, das soll sterben und zunichte werden, denn es gehört dem Tag. Darum muß es mit dem Tag verderben. In meiner ewigen Geburt wurden alle Dinge geboren und ich ward Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich es da so gewollt, so wäre ich nicht, noch irgendein Ding. Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht.

Dies zu erkennen ist nicht nötig. Ein großer Meister sagt, des Menschen ringender Hindurchbruch sei edler als sein quellender Ursprung. Als ich aus Gott entsprang, sagten alle Dinge: Gott ist. Nun kann mich das nicht selig machen; denn hier erkenne ich nur als Kreatur. Hingegen im Münden, wo ich ledig stehen will im Willen Gottes und ledig stehen des Willens Gottes und all seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin das, was ich war und was ich bleiben soll, jetzt und immerdar. Da empfange ich einen Ruck, der mich über alle Engel bringt. Da empfange ich so großen Reichtum, daß mir Gott nicht genug sein kann in alledem, was er Gott ist nach seinen geschaffenen Werken; denn ich empfange in diesem Durchbruch, daß Gott und ich Eins sind. Da bin ich wieder das, was ich war; und da nehme ich weder ab noch zu, denn da bin ich ein unbewegliches Urwesen, das alle Dinge bewegt.

Allhier findet Gott keine Stätte mehr im Menschen, aber der Mensch erlangt mit seiner Armut das, was er ewiglich gewesen ist und immer bleiben soll. Allhier ist Gott Eins im Geist, und das ist die unmittelbarste Armut, die man finden kann.

Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Armut nicht gewachsen ist, solange wird er auch diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine Wahrheit, die nicht ausgedacht, sondern unmittelbar aus dem Herzen Gottes gekommen ist.
S.37f.
Aus: Meister Eckehart, Vom Wunder der Seele, Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten Neu durchgesehen und herausgegeben von Friedrich Alfred Schmid Noerr
Reclams Universalbibliothek Nr. 7319 © 1951 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


In Gott ist die Fliege edler als der höchste Engel an sich selbst
Gott gibt allen Dingen gleich, und wie sie von Gott fließen, sind sie gleich; ja, Engel und Menschen und alle Geschöpfe fließen in ihrem ersten Herausfließen gleich von Gott. Wer nun die Dinge nach ihrem ersten Herausfließen nähme, der nähme alle Dinge gleich. Wenn sie auf diese Weise gleich sind in der Zeit, so sind sie Gott in der Ewigkeit viel weitreichender gleich. Nimmt man eine Fliege in Gott, dann ist die edler in Gott, als der höchste Engel an sich selbst ist. Nun sind alle Dinge in Gott gleich und sind Gott selber. Hier ist es Gott in dieser Gleichheit so lustvoll zumute, daß er seine Natur und sein Sein in der Übereinstimmung mit sich selbst ganz und gar durchströmen läßt. Das ist ihm lustvoll; ebenso wie es die Natur eines Rosses wäre, das einer laufen läßt auf einer grünen Heide, die ganz eben und gleichmäßig ist, sich ganz zu verströmen mit seiner Kraft in Sprüngen auf der Heide; das wäre ihm lustvoll und wäre seine Natur. Ebenso ist es für Gott lustvoll und tut ihm Genüge, wo er Gleichrangiges findet. Es ist für ihn lustvoll, daß er seine Natur und sein Sein da ganz in die Gleichheit gießt, denn er ist das Gleichbleibende selbst.

Nun fragt sich in Hinsicht auf die Engel, ob die Engel, die mit uns hier wohnen und uns dienen und uns behüten, an ihren Freuden nicht zu wenig haben, um den Engeln gleichzustehen, die in der Ewigkeit sind; ob sie nicht beeinträchtigt werden von ihrer Aufgabe, uns zu behüten und uns zu dienen. Ich antworte: Nein, das werden sie nicht. Ihre Freude und ihr Gleichmaß sind deshalb nicht geschmälert; denn was der Engel tut, ist der Wille Gottes, und der Wille Gottes ist die Tat des Engels. Dadurch wird er weder in seiner Freude noch in seiner Gleichrangigkeit, noch in seinen Taten behindert. Wenn Gott den Engel anwiese, zu einem Baum zu gehen und Raupen abzulesen, dann wäre der Engel dazu bereit, die Raupen abzulesen, und es wäre sein Glück und Gottes Wille.
S.63f.
Aus: Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Eine Auswahl . Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch
Auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi« herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ute Störmer-Caysa
Reclams Universalbibliothek Nr. 181127 © 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Wo die geschöpfliche Welt endet, da beginnt Gott zu sein
Wo die geschöpfliche Welt endet, da beginnt Gott zu sein. Nun begehrt Gott nicht mehr von dir, als dass du aus dir, wie du in geschöpflicher Weise bist, selbst herausgehst und Gott in dir sein läßt. Das kleinste Abbild von Kreatürlichem, das sich jemals in dir bildet, ist so groß wie Gott. Warum? Dort hindert es dich ganz an Gott. Wo folglich das Bild hineingeht, dort muss Gott weichen und alle seine Göttlichkeit. Aber wo das Bild hinausgeht, dort geht Gott ein. Gott begehrt so sehr, dass du aus deinem geschöpflichen Ich hinausgehst, als hinge alle seine Seligkeit davon ab. Nun aber, lieber Mensch, was schadet es dir, dass du Gott gönnst, daß Gott in dir Gott sein möge? Geh völlig aus dir heraus um Gottes willen, dann geht Gott völlig aus sich heraus um deinetwillen. Wo diese zwei herausgehen, was dann übrigbleibt, das ist ein ungeteiltes Eines. In diesem Einen gebiert der Vater seinen Sohn in dem innersten Quell. Da blüht der Heilige Geist heraus, und da entspringt in Gott ein Wille, der der Seele zugehört. Solange der Wille unberührt von allen Kreaturen und von aller Geschaffenheit besteht, ist der Wille frei. Christus spricht: »Niemand kommt in den Himmel, der nicht vom Himmel gekommen ist« [Joh. 3,13]. Alle Dinge sind aus nichts geschaffen; darum ist ihr rechter Ursprung das Nichts, und insoweit sich dieser edle Wille den Kreaturen zuneigt, zerfließt er zusammen mit den Kreaturen zu ihrem Nichts.

Nun ist die Frage, ob dieser edle Will so zerfließe, dass er nie wieder zurückkommen kann. Die Gelehrten sagen dazu üblicherweise, daß er insofern, als er mit der Zeit verflossen ist, nie wieder zurückkommen kann. Aber ich sage: Wenn sich dieser Wille von sich selbst und von aller Geschaffenheit abkehrt und einen Augenblick wieder auf seinen ersten Ursprung richtet, dann steht dort der Wille in seiner wahren, freien Gestalt und ist frei, und in diesem Augenblick wird alle verlorene Zeit zurückgebracht.

Die Leute sagen oft zu mir: Bittet für mich. Dann denke ich: Warum geht ihr heraus? Warum bleibt ihr nicht in euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit dem Wesen nach in euch.

Dass wir so wahrhaft innen bleiben werden, dass wir alle Wahrheit besitzen werden, ohne Vermittlung und ohne Differenz, in richtigem Glück, dazu helfe uns Gott. Amen.

Aus: Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Eine Auswahl . Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch
Auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi« herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ute Störmer-Caysa
Reclams Universalbibliothek Nr. 181127 (S. 29, 31) © 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Was ist Gott?
,Wie ein Morgenstern mitten im Nebel, wie ein Vollmond in seinen Tagen und wie eine widerscheinende Sonne, so hat dieser geleuchtet im Tempel Gottes‘ [Sir 50,6].

Nun nehme ich das letzte Wort: ,Tempel Gottes‘. Was ist ,Gott‘, und was ist ,Tempel Gottes‘?

Vierundzwanzig Gelehrte kamen zusammen und wollten besprechen, was Gott sei. Sie kamen zu passender Zeit zueinander, und jeder von ihnen brachte seinen Spruch vor, davon nehme ich jetzt zwei oder drei. Der eine sagte: Gott ist etwas, demgegenüber alle veränderlichen und zeitlichen Dinge nichts sind, und alles, das Sein hat, ist vor ihm klein. Der zweite sagte: Gott ist etwas, das notwendig über dem Sein ist, das in sich selbst niemanden braucht, das aber alle Dinge brauchen. Der dritte sagte: »Gott ist eine Vernunft, die in der Erkenntnis ihrer selbst und nur ihrer selbst lebt.«

Ich lasse das erste und das letzte beiseite und spreche von dem zweiten: daß Gott etwas ist, das notwendig über dem Sein ist. Was Sein hat, Zeit oder Ort, das berührt Gott nicht, er ist darüber. Gott ist in allen geschöpflichen Dingen, sofern sie Sein haben, und ist doch darüber. Dasselbe, was er in allen geschöpflichen Dingen ist, ist er dennoch darüber hinaus. Was in vielen Dingen übereinstimmt, das muß notwendig diesen Dingen übergeordnet sein. Manche Gelehrte meinten, daß die Seele allein im Herzen wäre. Das stimmt nicht, und darin haben große Gelehrte geirrt. Die Seele ist ganz und unzerteilt bald im Fuß, bald im Auge und in jedem Körperglied. Nehme ich ein Stück von der Zeit, so ist es weder der Tag heute noch der Tag gestern. Nehme ich aber das Jetzt, das umgreift in sich alle Zeit. Das Jetzt, in dem Gott die Welt machte, ist der Zeit so nahe wie das Jetzt, in dem ich gerade spreche, und der Jüngste Tag ist diesem Jetzt so nahe wie der Tag, der gestern war.

Ein Gelehrter sagt: Gott ist etwas, das in Ewigkeit ungeteilt in sich selbst tätig ist, das niemandes Hilfe und kein Hilfsmittel braucht und in sich selbst besteht, das nichts nötig hat, dessen alle Dinge bedürfen und wohinein alle Dinge münden als in ihr letztes Ziel. Dieses Ziel hat keine Art und Weise, es entwächst der Art und Weise und geht in die Breite. Der heilige Bernhard sagt: Gott zu lieben, das ist eine weiselose Weise. Ein Arzt, der einen Kranken gesund machen will, der kennt keine Art von Gesundheit, auf die er ihn gesund machen wollte. Wohl kennt er eine Methode, mit der er ihn gesund machen will, aber wie gesund er ihn machen will, das ist ohne Art und Weise; so gesund, wie er nur kann. Wie lieb wir Gott haben sollen, dazu gibt es keine bestimmte Art. So lieb, wie wir nur können, das ist ohne Art und Weise.

Jedes Ding handelt im Sein, kein Ding kann über sein Sein hinaus handeln. Das Feuer kann nur im Holz wirken. Gott handelt über dem Sein, in der Weite, in der er sich bewegen kann, er handelt im Nichtsein. Ehe Sein war, da wirkte Gott; Gott schuf das Sein, als es kein Sein gab. Ungebildete Lehrer sagen, Gott sei reines Sein. Er ist so hoch über dem Sein wie der oberste Engel über einer Mücke. Ich hätte ebenso unrecht, wenn ich Gott ein Sein nennen würde, als hieße ich die Sonne bleich oder schwarz. Gott ist weder dies noch das. Und es sagt ein Lehrer: Wer da glaubt, daß er Gott erkannt habe, wenn der etwas erkannt hat, dann erkannte er nicht Gott. Wenn ich wiederum gesagt habe, Gott sei nicht ein Sein und sei über dem Sein, dann habe ich ihm damit nicht das Sein abgesprochen, sondern ich habe es vielmehr in ihm erhöht. Wenn ich Kupfer im Gold hernehme, dann ist das da, und es ist in einer höheren Weise da, als es an sich ist. Der heilige Augustinus spricht: Gott ist weise ohne Weisheit, gut ohne Güte, gewaltig ohne Gewalt.

Unbedeutende Gelehrte sagen in der Vorlesung, daß alles Sein in zehn Bestimmungen eingeteilt sei, und diese sprechen sie Gott sämtlich ab. Von diesen Bestimmungen reicht keine bis zu Gott, und er entbehrt auch keine davon. Die erste, die am meisten an Sein besitzt, worin alle Dinge Sein annehmen, ist die Substanz, und die letzte, die am wenigsten Sein trägt, ist die Relation. Sie ist in Gott der allerhöchsten Bestimmung, die am meisten Sein hat, gleich; sie haben das gleiche Ur- und Abbild in Gott. In Gott sind die Abbilder aller Dinge gleich; aber sie sind die Urbilder ungleicher Dinge. Der höchste Engel und die Seele und die Mücke haben in Gott dasselbe Abbild. Gott ist weder das Sein noch das Gute. Das Gute klebt am Sein und reicht nicht weiter als das Sein, denn wäre kein Sein, dann wäre auch kein Gutes, und das Sein ist noch reiner als das Gute. Gott ist weder gut noch besser noch der allerbeste. Wer da behauptete, daß Gott gut sei, der täte ihm so unrecht, als würde er die Sonne schwarz nennen.

Nun sagt Gott aber: Niemand ist gut außer Gott allein [Markus 10,18]. Was ist gut? Gut ist, was sich der Gemeinschaft mitteilt. Wir nennen den einen guten Menschen, der in Gemeinschaft lebt und ihr nützt. Deshalb sagt ein heidnischer Gelehrter: Ein Einsiedler ist in seinem Trachten weder gut noch böse, weil er weder in Gemeinschaft lebt noch ihr nützt. Gott ist das Allergemeinschaftlichste. Kein Ding findet aus sich selbst heraus Gemeinschaft, denn nichts Geschöpfliches ist aus sich selbst heraus. Was sie auch einer Gemeinschaft mitteilen, das haben sie von einem anderen. Sie geben sich auch nicht selbst. Die Sonne gibt ihren Schein und bleibt doch bestehen, das Feuer gibt seine Hitze und bleibt doch Feuer, aber Gott teilt der Allgemeinheit das Seine mit, denn er ist durch sich selbst, was er ist, und in allen Gaben, die er gibt, gibt er sich selbst immer zuerst. Er gibt sich als Gott, wie er in allen seinen Gaben ist, sofern es jemanden betrifft, der ihn empfangen möchte. Der heilige Jakobus sagt: ,Alle guten Gaben fließen von oben herab von dem Vater allen Lichts‘ [Jac 1,17].

Wenn wir Gott im Sein auffassen, nennen wir ihn nach seinem Vorbezirk, denn das Sein ist sein Vorbezirk, in dem er wohnt. Wo ist er denn in seinem Tempel, in dem er heilig leuchtet? Die Vernunft ist der Tempel Gottes. Nirgends wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft. Wie der zweite Gelehrte sprach, daß Gott eine Vernunft sei, die in der Erkenntnis allein ihrer selbst lebt, bleibt Gott in sich selbst allein, wo ihn niemals etwas erreichte, sondern er allein ist in seiner Stille. Gott in der Erkenntnis seiner selbst erkennt sich selbst in sich selbst.

Nun betrachten wir, wie es in der Seele ist, die ein Tröpfchen Vernunft hat, ein Fünkchen, ein Reis. Die Seele hat Kräfte, die im Leib wirken. Es gibt eine Kraft, durch die der Mensch verdaut, die wirkt mehr in der Nacht als am Tage. Davon nimmt der Mensch zu und wächst. Die Seele hat auch eine Kraft im Auge, durch die das Auge so zierlich und vorzüglich ist, daß es die Dinge nicht in ihrer Grobheit aufnimmt, wie sie in sich selbst sind. Zuvor müssen sie unbedingt gesiebt und verkleinert werden in Luft und Licht; das liegt daran, daß das Auge die Seele bei sich hat. Eine andere Kraft ist in der Seele, mit der sie denkt. Diese Kraft bildet in sich Dinge, die nicht gegenwärtig sind, so daß ich diese Dinge ebenso gut erkenne, als ob ich sie mit Augen sähe, und noch besser — ich kann gut im Winter über eine Rose nachdenken — und mit dieser Kraft wirkt die Seele im Nichtsein und folgt Gott, der im Nichtsein wirkt.

Ein heidnischer Gelehrter sagt: Die Seele, die Gott liebt, die nimmt ihn unter dem Mantel des Guten. Noch sind alle Worte, die hier bisher angeführt sind, von heidnischen Meistern, die nicht anders als im natürlichen Licht erkannten; noch kam ich nicht zu den Worten der heiligen Meister, die in einem viel höheren Licht erkannten. Er sagt: Die Seele, die Gott liebt, die nimmt ihn unter dem Mantel des Guten. Die Vernunft zieht Gott den Mantel des Guten herunter und nimmt ihn nackt, wie er entkleidet ist von Güte und von Sein und von allen Namen.

Ich sagte in der Hochschule, daß Vernunft edler sei als der Wille und sie doch beide in dieses Licht gehören. Da sagte ein Magister an einer anderen Schule, der Wille sei edler als die Vernunft, denn der Wille nimmt die Dinge, wie sie in sich selbst sind, und die Vernunft nimmt die Dinge, wie sie in ihr sind. Das ist wahr. Ein Auge ist in sich selbst edler als ein Auge, das an eine Wand gemalt ist. Ich sage aber, daß die Vernunft edler ist als der Wille. Der Wille nimmt Gott unter dem Kleide des Guten. Die Vernunft nimmt Gott nackt, wie er entkleidet ist vom Guten und vom Sein. Das Gute ist ein Kleid, unter dem Gott verborgen ist, und der Wille nimmt Gott unter dem Kleide des Guten. Wäre kein Gutes an Gott, mein Wille wollte ihn nicht. Wer einen König kleiden wollte an dem Tag, an dem man ihn zum König machen sollte, und ihn in graue Kleider kleidete, der hätte ihn nicht gut gekleidet. Ich bin nicht dadurch selig, daß Gott gut ist. Ich werde keinesfalls begehren, daß Gott mich mit seiner Güte selig machen möge, denn er könnte es nicht tun. Ich bin allein dadurch selig, daß Gott vernünftig ist und ich das erkenne. Ein Gelehrter sagt: Die Vernunft Gottes ist das, wovon das Sein des Engels abhängt. Es fragt sich, wo das Sein eines Abbildes am eigentlichsten sei: im Spiegel oder in dem, wovon es ausgeht? Es ist eigentlicher in dem, wovon es ausgeht: Ich habe ein Bild, ich gebe ein Bild ab, und ich mache mir ein Bild. Solange der Spiegel unverändert meinem Gesicht gegenübersteht, ist mein Bild darin; fiele der Spiegel hin, dann zerfiele dieses Bild. Das Sein des Engels abhängt davon ab, daß ihm die göttliche Vernunft gegenübersteht, in der er sich erkennt.

,Gleichsam ein Morgenstern mitten in dem Nebel‘. Ich wende mich dem Wörtchen ,quasi‘ zu, das heißt ,gleichsam‘, das nennen die Schüler in der Schule ein Ad-verb: ein Bei-Wort. Dies ist es, was ich in allen meinen Predigten behandle. Das Allereigentlichste, was man von Gott sagen kann, das ist ,das Wort‘ und ,die Wahrheit‘. Gott nannte sich selber ein Wort. Der heilige Johannes schrieb: ,Im Anfang war das Wort‘ [Joh. 1,1], und das bedeutet, daß der Mensch ein Bei-Wort zu diesem Wort sein soll. Zum Beispiel hat der freie Stern, nach dem der Freitag genannt ist, Venus, viele Namen. Solange er vor der Sonne geht und eher aufgeht als die Sonne, solange heißt er Morgenstern. Wenn er der Sonne nachgeht, so daß die Sonne eher untergeht, dann heißt er Abendstern. Manchmal läuft er über der Sonne um, manchmal unter der Sonne. Mehr als alle anderen Sterne ist er der Sonne immer gleich nah; er kommt niemals weiter von ihr ab oder näher an sie heran. Und das bedeutet, daß ein Mensch, der dazu kommen will, immer bei Gott und in Gottes Gegenwart sein soll, so daß ihn von Gott weder Glück oder Unglück noch irgendein Geschöpf entfernen könne.

Der Evangelist sagt auch: ,Wie ein Vollmond in seinen Tagen.‘ Der Mond hat die Herrschaft über alle feuchte Natur. Nie ist der Mond der Sonne so nah wie im Vollmond und wenn er sein Licht vom Ursprung her, von der Sonne nimmt. Aber davon, daß er der Erde näher ist als jeder andere Stern, hat er zwei Schäden: daß er bleich und fleckig ist und daß er sein Licht verliert. Nie ist er so mächtig wie dann, wenn er der Erde am fernsten ist, denn dann wirft er das Meer am weitesten aus seinem Bett. Je mehr er abnimmt, desto weniger kann er es aus seinem Bett werfen. Je mehr die Seele über die irdischen Händel erhaben ist, desto kräftiger ist sie. Wer nichts als die Geschöpfe kennen würde, der brauchte sich um Predigten nicht länger Gedanken zu machen, denn alles Geschaffene ist voll von Gott und ist ein Buch. Der Mensch, der dahin kommen will, wovon hier gesprochen wird — hierin geht alles Gesagte völlig auf—, der soll wie ein Morgenstern sein: immer in Gottes Gegenwart und immer dabei und gleichbleibend nah, und erhaben über alle irdischen Händel und dem göttlichen Wort ein Bei-Wort sein.

Es gibt einmal das geschaffene Wort — das ist der Engel und der Mensch und alle Schöpfung. Es gibt weiterhin das gedachte und geschaffene Wort, mit dem ich es vermag, Abbilder in mir zu schaffen. Außerdem gibt es ein Wort, das ungeschaffen und ungedacht ist. Das entäußert sich nie, sondern es ist immer in dem, der es spricht; es ist immer in einem Empfangen begriffen im Vater, der es spricht, und es bleibt in ihm. Die Vernunft wirkt immer von außen nach innen. Je kleinteiliger und je geistiger das Ding ist, um so stärker wirkt es nach innen, und je stärker und differenzierter die Vernunft ist, desto mehr wird das, was sie erkennt, mit ihr vereint, um so mehr wird es eins mit ihr. Mit den leiblichen Dingen ist es nicht so; je stärker die sind, desto mehr wirken sie nach außen. Gottes Glück liegt in der Einwärtswirkung der Vernunft dorthin, wo das Wort darinbleibt und ist. Dort wird die Seele ein Bei-Wort sein und mit Gott ein Werk wirken, um in der heranschwebenden Erkenntnis daraus ihr Glück zu ziehen, woraus auch Gott glücklich ist.

Daß wir alle bei diesem Wort ein Bei-Wort sein dürfen, dazu verhelfe uns der Vater und das Wort selbst und der Heilige Geist. Amen.

Aus: Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Eine Auswahl . Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch
Auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi« herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ute Störmer-Caysa
Reclams Universalbibliothek Nr. 181127 (S. 45-57) © 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages