Simone Weil (1909 – 1943)

>>>Gott

Über Christus

Die Leere ist die höchste Fülle, aber der Mensch Rat nicht das Recht dies zu wissen. Der Beweis liegt darin, daß Christus selber, für die Dauer eines Augenblicks, jedes Wissen davon abhanden gekommen ist. Ein Teil meiner selbst soll es wissen, aber nicht die anderen; denn wüßten sie es auf ihre niedrige Weises so gäbe es keine Leere mehr.

Christus hat das ganze menschliche Elend gehabt, außer der Sünde. Doch er hat alles gehabt, was den Menschen zur Sünde fähig macht. Was den Menschen zur Sünde fähig macht, das ist die Leere. Alle Sünden sind Versuche, eine Leere auszufüllen. Also ist mein Leben voller Makel seinem vollkommen reinen Leben nahe, und das gleiche gilt von jedem, noch so viel niedrigeren Leben, Wie tief ich auch falle, ich entferne mich nicht weit von ihm. Aber wenn ich falle, werde ich dies nicht mehr wissen können.

Verleugnung des heiligen Petrus. Zu Christus sagen: ich werde dir treu bleiben, hieß schon, ihn verleugnen; denn es hieß annehmen, der Urquell der Treue entspringe in einem selbst und nicht in der Gnade. Glücklicherweise, da er ein Auserwählter war, ist diese Verleugnung offenkundig geworden für alle und für ihn. Wie viele andere verfallen in ähnliche Prahlereien -und kommen niemals zur Erkenntnis!

Es war schwer, Christus die Treue zu halten. Es war eine Treue ins Leere. Sehr viel leichter, Napoleon die Treue zu halten bis in den Tod. Auch für die Märtyrer, hernach, war es sehr viel leichter, die Treue zu halten, denn da gab es schon die Kirche, eine Gewalt, mit zeitlichen Verheißungen. Man stirbt für das, was stark, nicht für das, was schwach ist, oder zumindest für etwas, das in seiner augenblicklichen Schwachheit einen verklärenden Glanz der Stärke bewahrt. Die Treue zu Napoleon auf Sankt Helena war keine Treue ins Leere. Zu sterben für das, was stark ist, nimmt dem Tod seine Bitterkeit. Und, gleichzeitig, seinen ganzen Wert.

Aus: Simone Weil, Schwerkraft und Gnade. Mit einer Einführung von Gustave Thibon (S.90-92)
© 1952 by Kösel-Verlag KG, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlages, München