(Karl Wilhelm) Friedrich von Schlegel (1772 – 1829)
Deutscher Philosoph, Philologe, Literaturkritiker sowie politischer und theologischer Schriftsteller, der Wegbereiter der Jenaer Romantik war. Schlegel wurde neben Herder und seinem Bruder August Wilhelm einer der Begründer der modernen Geisteswissenschaft und der Kunst literarischer Interpretation. Die Bedeutung seiner philosophischen Gedanken (»Transzentalphilosophie«) und theologischen Einsichten werden bis heute noch nicht in ausreichendem Maße gewürdigt. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon Volltexte siehe Zeno und Projekt-Gutenberg |
Inhaltsverzeichnis
Von der wahren Liebe Gottes und dem falschen Mystizismus. (Theologia Empirica)
ONTOLOGIA SPIRITUALIS (1827)
Die Einheit von Glaube und Wissen
Die Einheit von Wissen und Leben
Die Wiederherstellung des Bewußtseins
Aus den »Athenäums«-Fragmenten
Der Satan der Dichter
THEOLOGIA
EMPIRICA
Von der wahren Liebe Gottes und dem falschen Mystizismus.
Ein Nachtrag zum heiligen Bernhardus (1819)
Die Betrachtungen des heiligen Bernhardus über die Liebe
Gottes, welche uns durch die schöne Übersetzung des Herrn Silbert
in die Hände gegeben worden, gehört zu denjenigen Schriften geistiger
Andacht, welche durch ihre Einfalt und Klarheit dem Verstande keine Schwierigkeiten
und kein Dunkel entgegenstellen; leicht und deutlich ansprechend berühren
sie die Gott suchende Seele in ihrer innersten Tiefe und erquicken und beleben
sie, indem sie ein helles und bleibendes Licht in dem Geiste verbreiten. Besonders
in dem Abschnitte von der höchsten Stufe der Liebe Gottes hören wir
einen Heiligen sprechen, der aus eigener Erfahrung redet und der uns wohl die
höchste und selige Liebe Gottes beschreiben kann, weil er selbst mit allen
seinen Gedanken in ihr einheimisch ist, in ihr lebt und wandelt. Die in diesem
Abschnitt ganz besonders und auch hier und da an andern einzelnen Stellen des
ganzen Werkchens vorkommende klare Deutung der salomonischen Gleichnisse und
Sinnbilder, von der sich unser Zeitalter mehrenteils so weit entfremdet findet,
erinnert an viele ähnliche Andeutungen der älteren deutschen Mystiker,
deren verborgener Liebesschatz wahrer Weisheit und geistiger Andacht immer noch
von so wenigen erkannt wird. In denjenigen Abschnitten, die von den unteren
Stufen handeln, durch welche der Mensch sich von der bloß natürlichen
Selbstliebe aus allmählich zu jener höchsten Stufe der göttlichen
Liebe erhebt, ist besonders auch die Mäßigung und Milde bemerkenswert,
mit welcher der ebenso weise als fromme Mann über die menschlichen Angelegenheiten
urteilt, wobei sich überall eine ganz klare Kenntnis des Menschen und des
Lebens kundgibt. Doch bleibt ihm freilich jene höchste Stufe der seligen
Liebe sein vorzüglichstes Augenmerk; in der Angabe der niederen Stufen
zu jener Vollkommenheit könnte vielleicht hie und da einiges noch genauer
bezeichnet oder auch anders bestimmt werden. — Möge man die nachfolgenden
Gedanken nur als einen Nachtrag zu der Schrift des großen und heiligen
Mannes betrachten und sie dieser Bestimmung nicht ganz unwürdig finden.
Es ist dabei nicht meine Absicht, die sich vielfach durchkreuzenden Gefühle
einer nach Gott und Seiner Liebe ringenden Seele auszusprechen oder mich diesen
zu überlassen. Vielmehr werde ich streben, mit der möglichsten Klarheit
des Gedankens und der gleichen Einfalt des Ausdrucks den rechten Sinn und Begriff
von der Liebe Gottes und ihren verschiedenen Stufen deutlich zu machen, und
zugleich alles Falsche, was sich in diesen Begriff auch bei sehr redlicher Meinung
und frommen Herzen mit einschleichen könnte, sorgfältigst abzusondern.
Denn so, wie auch in wichtigeren menschlichen Angelegenheiten, welche unsere
ganze Seele in Anspruch nehmen, nur dasjenige ein gedeihliches Ende erreicht,
was mit Ruhe, gleichmäßiger Kraft und Besonnenheit durchgeführt
wird, so ist selbst in der höchsten Angelegenheit des menschlichen Lebens,
nämlich in dem Streben, uns Gott zu nähern, ein heftiges, unruhiges,
in verworrenen Gefühlen leidenschaftlich bewegtes Verfahren keineswegs
dasjenige, welches am leichtesten und sichersten zum Ziele führt. Und so
wie in jeder menschlichen Verbindung, sei es Freundschaft, elterliche oder eheliche
Liebe, oder was immer sonst für ein Band starker und inniger Neigung, dasjenige
wohl unterschieden werden kann, was natürlich und aufrichtig von Herzen
geht und sich durchs Leben bewährt, von erkünstelten Gefühlen
und hochtrabenden Worten, von Übertreibung, Unnatur und Überspannung;
so muß auch in der höchsten Liebe, in der Liebe Gottes, wo der Ausdruck
schwülstig und unklar ist, wo die Milde und Ruhe fehlt, der Verdacht entstehen,
daß sich etwas Irriges und Falsches dem frommen Streben beigemischt hat,
eine Gefahr, welcher der Mensch auch in diesem Streben nie entgehen kann; dagegen
Einfalt und Wahrheit, die sich mit der Klarheit des Gedankens von selbst zusammenfindet,
immer das beste Kennzeichen des rechten Weges sind.
Wenn ich von einer falschen Liebe Gottes rede, so wird niemand daran
Anstoß nehmen wollen, indem ich zur Erklärung hinzusetze, daß
ich darunter eine solche vermeintliche Liebe Gottes verstehe, die entweder gar
nicht Liebe oder nicht auf Gott gerichtet ist; wenn nämlich ein unrichtiger
Begriff von Gott dabei zugrunde liegt — falls es erlaubt ist, den lebendigen
Gedanken des Unbegreiflichen in seiner Klarheit noch Begriff zu nennen —;
oder wenn dem im Ganzen richtigen Begriff wenigstens unrichtige Bestandteile
beigemischt sind. Diese, wenn der Ausdruck so genommen gestattet wird, falsche
Liebe Gottes ist die Quelle des verwerflichen Mystizismus, gegen den selbst
fromme Gemüter nicht immer ganz gesichert sind und der um so mehr wahrhaft
schädlich zu nennen ist, weil er sich eben in diese oft genug einzuschleichen
weiß.
Wir versuchen nun, die Liebe Gottes in dem Gange ihrer Entwicklung, von der
untersten Stufe an, näher zu bezeichnen. Wo bloß Furcht ist, da ist
noch keine Liebe; darüber sind alle einverstanden. Furcht empfinden
auch jene unglücklichen Schwarzen in den heißen Sandwüsten des
inneren Afrika vor den bösen Geistern, welche sie zu ihren Zaubergebräuchen
anrufen, die ihnen die Stelle der Religion vertreten; oder die wilden Amerikaner,
wenn sie ihren Götzen Menschen schlachten. Dieses ist eine Furcht vor selbst
erschaffenen Götzen und Gespenstern, oder vielmehr, wie es der Wahrheit
gemäßer ist, vor unsichtbaren, aber dämonischen Mächten
und bösen Geistern und nicht vor Gott, dem Allheiligen, der die Liebe ist.
Man könnte sagen, wenn zu der Furcht Bewunderung hinzukommt, so sei dann
die Furcht schon höherer Art und der Liebe näher. Dieses ist wahr,
und ein solches aus Furcht und Bewunderung gemischtes Naturgefühl liegt
jedem edleren und reineren Heidentume zugrunde, welches sich durch einzelne
bessere Züge wenigstens von jenem gräßlichen Götzendienste
unterscheidet. Indessen ist es doch immer nur die Natur, deren unbegreifliche
Herrlichkeit dieses erhabene Erstaunen erregt, während ihre Kraft dem Menschen
sich als genug als furchtbar bewährt. Solange aber nicht der Gedanke und
Glaube an den Geist hinzukommt, welcher der Herr und Schöpfer der Natur
ist, solange der lebendige Gott nicht auch als der Allheilige verehrt wird,
so ist hier noch gar kein Anfang zur Annäherung an Ihn. Die rechte Furcht
wäre also die Ehrfurcht vor dem Allheiligen zugleich mit der staunenden
Anbetung und Bewunderung des Allmächtigen, welcher selbst die Liebe und
die Quelle aller Liebe und alles Lebens ist. Wenngleich nun diese Furcht eigentlich
noch nicht Liebe ist, so enthält sie doch den Keim derselben, sie führt
zu ihr, ist empfänglich und macht empfänglich für sie. Und so
ist diese unterste Stufe gleichsam die Grenze, wo die Liebe ihren
Anfang nimmt, wenngleich die Furcht noch das Vorherrschende bleibt.
Dieses Gefühl der Ehrfurcht und Bewunderung Gottes nun, welches noch nicht
Liebe ist, aber das Herz dazu vorbereitet und den befruchtenden Boden bildet,
aus welchem der Keim der Liebe emporgeht, ist ein solches, welches den Menschen
mehrenteils ohne sein Zutun ergreift, von welchem er, sobald er den lebendigen
Gott erkannt hat, ergriffen und sogar ganz unwillkürlich hingerissen wird;
nicht aber ein solches, vermöge dessen auch er sich zu Gott hinneigt und
sich selber Ihm darbringt. Er kann mit seinem bewußten Streben nichts
hinzufügen, als daß er auch in Gedanken alles entfernt hält,
was der Ehrfurcht schadet oder sie verletzt. Anders aber ist es mit der zweiten
Stufe, der Annäherung zu Gott, welche man wohl am besten als die der dankbaren Liebe bezeichnen könnte; vermöge deren der Mensch Gott nicht bloß
als den Herrn und Schöpfer seiner selbst und des ganzen Weltalls verehrt,
sondern Ihn auch wegen der besonderen Wohltaten, die Er ihm erwiesen hat, wieder liebt. Die beste Gesinnung, welche aus dieser frommen Dankbarkeit gegen den
liebreichen Vater im Himmel und allwaltenden Lenker unseres Geschickes hervorgeht,
ist die einer kindlichen Ergebenheit und eines heldenmütigen Vertrauens
auf Gott in allen Kämpfen des inneren und äußeren Lebens. Ganz
frei von Eigennutz ist diese Liebe noch nicht, da es eben nur dankbare Gegenliebe
für die uns besonders erwiesenen Wohltaten ist. Die verschiedenen Stufen
der knechtischen und kindlichen Furcht, der unvollkommenen und vollkommenen
Liebe sind nicht bloß von dem heiligen Bernhardus, sondern von jeher von
allen erleuchteten Lehrern des Christentums sorgfältig unterschieden worden.
Es darf keine Stufe in dem Gange der Entwicklung zur Vollkommenheit übersprungen
werden, und es kann dies auch nie ungestraft geschehen. Daher mag es keineswegs
Tadel verdienen, wenn der kirchliche Unterricht und der fromme Eifer christlicher
Prediger, dem allgemeinen Bedürfnisse angemessen, gewöhnlich und vorzüglich
auf dieser Stufe der Liebe Gottes verweilt; denn nicht mit einem Male kann der
Mensch aus dem tief gewurzelten Mittelpunkte seines Eigennutzes und der angeerbten
Selbstsucht zu der Vollkommenheit einer ganz freien und reinen Liebe erhoben
werden. Auch Furcht ist dieser Liebe noch beigemischt, aber nicht die knechtische
vor der Strafe, sondern die kindliche vor der unendlichen Gerechtigkeit Gottes;
um so mehr, weil Gott, als unser besonderer Wohltäter, sei es nun dem auserwählten
Volke, welches Er auf wundervollen Wegen zu Sich leitet, oder auch dem einzelnen,
den Seine Gnade erleuchtet und beruft, eben dadurch noch besondere Verpflichtungen
auflegt, welche nicht schon aus dem allgemeinen Begriffe des lebendigen Gottes
als Herrn und Schöpfers aller Dinge fließen, sondern nebst den individuellen
Wohltaten auch ein ganz persönliches Verhältnis oder, wie es die Schrift
nennt, einen Bund zwischen Gott und dem Menschen begründen; Verpflichtungen,
durch deren gewissenhafte Erfüllung der Mensch erst die Wahrheit seiner
dankbaren Liebe nach seinen schwachen Kräften zu bewähren streben
muß.
Die dritte und höhere Stufe der Liebe aber ist nicht mehr bloß auf
Betrachtungen der Dankbarkeit gegründet, die mehr oder minder doch eine
eigennützige Beimischung mit sich führen. Sie will etwas Höheres,
diese Liebe; sie strebt nach völliger und immer höherer Vereinigung
mit Gott, obwohl es im irdischen Leben und dem Gefängnisse dieses irdischen
Leibes und der äußeren Weltgegenstände, von denen auch der noch
so sehr Abgeschiedene sich nie ganz lostrennen kann, immer nur ein Streben bleibt,
welches sein Ziel nie völlig erreichen kann. Bei einer unvollkommenen Erleuchtung
nimmt diese Liebe die Gestalt der Sehnsucht an, einer nie versiegenden und nie
befriedigten oder ersättigten, tiefen, inneren, unendlichen Sehnsucht.
Wo aber die Erleuchtung des Christentums hinzutritt, da nimmt sie eine noch
ganz andere, viel höhere Gestalt an als die jener Sehnsucht. Es ist auch
dieser Liebe noch eine Furcht beigemischt, aber freilich keine Furcht vor dem
Gesetze allein oder gar vor der Strafe; es ist ein ängstliches Zittern
und Zagen in ihr, aber keine andere Furcht als nur die, Gott zu beleidigen,
Ihm weh zu tun oder Ihn und Seine Liebe zu verlieren. Diese nach immer innigerer
Vereinigung ängstlich und sehnsüchtig ringende Liebe Gottes könnte
man wohl die inbrünstige nennen.
Und diese Liebe ist der Inhalt des Lebens aller kontemplativen Heiligen, und
was wahrhaft erleuchtete Mystiker geschrieben haben, enthält mehrenteils
nur die Gedanken und Ausdrücke für dieses innere Lehen und gibt uns
die beste Beschreibung davon. Was ist denn nun dieser schon so hohen Stufe der
göttlichen Liebe noch Irdisches, Unvollkommenes und Menschliches beigemischt?
— Die Unruhe ist es, die auch nie ganz schwinden kann, bis der
Kampf vollendet ist. Ich weiß daher den Übergang von dieser Stufe
zu der höchsten Stufe der seligen Liebe nicht besser zu bezeichnen als
mit den Worten eines sinnvollen christlichen Dichters, der, was selbst von jeder
wahrhaften und eben darum bleibenden, durch die Zeit nur stets sich reiner läuternden
menschlichen Liebe gilt, ausdrücklich auch auf die göttliche Liebe
anwendet:
»Die Liebe, wenn sie neu, braust
wie ein junger Wein;
Je mehr sie alt und klar, je stiller wird sie sein.«
Der brausende Eifer, die innere Schärfe und Härte, welche
einer solchen neuen Gottesliebe noch beigemischt ist, zeigt sie eben als neu
und noch unreif. Die Klarheit und die Stille dagegen sind das Siegel der Vollendung
und das eigentliche Zeichen der annähernden Gegenwart Gottes, der auch
im Alten Bunde nicht so auf den Flügeln des Sturmwindes sich offenbarend
erschien, sondern viel wesentlicher und inniger in dem »stillen Säuseln« seinen Geliebten nahte.
Nebst der inneren und äußeren Milde ist besonders auch der vollkommene
Gleichmut ein Kennzeichen der vollendeten Liebe. So sagt derselbe fromme Dichter:
»Wenn du die Dinge nimmst ohn‘ allen Unterscheid,
So bleibst du still und gleich in Lieb‘ und auch in
Leid.«
Das ist jene innere Gleichheit, von welcher bei Tauler
und in anderen geistlichen Schriften jener älteren Zeit so vielfältig
die Rede ist. Freilich darf es mit diesem Gleichmute oder dieser inneren Gleichheit
nicht bloß negativ genommen werden, wie es auch gar nicht die Absicht
des erleuchteten Dichters ist, und wie wir gleich weiter sehen werden; denn
die vollendete Liebe ist eben die, welche in der Fülle Gottes und in aller
Herrlichkeit Seiner Offenbarungen selig ist. Wie sollte ich es wohl versuchen,
davon noch weiter zu reden und sie in Worten zu schildern, nach allem, was der heilige Bernhardus davon gesagt hat? Diesen Abschnitt muß man nur selbst
bei ihm nachlesen, da es nicht möglich ist, diese vierte und höchste
Stufe lichtvoller und klarer zu beschreiben, als er es getan hat. Man sieht
wohl, wie bekannt, ich möchte sagen, wie geläufig dieses Vorgefühl der Seligkeit ihm gewesen, obwohl der
ebenso weise als heilige Mann, den die bescheidene Mäßigung und Milde
nie verläßt, es ausdrücklich nur als ein solches, nur als ein
Vorgefühl des Himmels, wie es hier im irdischen Leben nur in einzelnen
Augenblicken stattfinden kann, anerkennt und gelten läßt.
»Selig
und heilig der, dem verliehen ward, dies hienieden, in diesem sterblichen Leben,
zuweilen oder wenn auch nur einmal, nur flüchtig, wenn auch kaum eine Minute
hindurch zu empfinden! Denn gleichsam in dir selbst zu zerrinnen, als ob du
nicht wärest, ganz leer von dir selbst, ganz in heiliges Gefühl aufgelöst
zu sein, das ward dem sterblichen Leben nicht verliehen, es ist der Zustand
der Seligen.« —
Es ist dieser Zustand überhaupt auch kein solcher, der errungen und erzwungen
werden kann; vielmehr ist jene Liebe und Seligkeit eine solche, die durchaus ohne alles Zutun des Menschen und rein gegeben wird,
daher auch diese Stufe zweifelsohne die höchste und letzte, jener Zustand mit keinem anderen vergleichbar ist, wo aller Gegensatz
und alle Trennung aufhört, und die Süßigkeit, die da empfunden
wird, eigentlich Gott selbst ist, wie es uns Angelus so schön sagt:
»Wer etwas in der Welt mag süß und lieblich nennen;
Der muß die Süßigkeit, die Gott ist, noch nicht kennen.«
Solange der Kampf des Lebens dauert, bleibt dieser Zustand, diese Süßigkeit
nur ein Vorgefühl. Erst nach dem vollendeten Kampfe blüht
sie ganz auf:
»Was ist der Sel‘gen Lohn? Was
wird nur nach dem Streit?
Es ist die Lilie der lautern Göttlichkeit.«
Der Unterschied der dritten und vierten Stufe aber, um ihn noch
von einer anderen Seite einleuchtend zu machen, ist eben derselbe, welcher so
oft und in so wesentlicher Bedeutung auch in Hinsicht auf die Kirche und ihren
Zustand gemacht wird; es ist mit einem Worte die Verschiedenheit und der verschiedene
Zustand der noch kämpfenden und der schon triumphierenden Liebe. Jeder
fromme Christ kann sich übrigens diesen Unterschied aus seiner eigenen
Erfahrung leicht völlig deutlich machen und im eigenen Herzen ganz nachempfinden.
Wenn wir in dem Sakramente der heiligen Beichte alles Unreine aus unserem Herzen
auszustoßen und auszulöschen aus allen Kräften mit der Hilfe
des Priesters streben und im liebevollen Schmerzgefühle der reinen Reue
sehnsuchtsvoll nach der Gnade und Reinigung innigst und von ganzer Seele verlangen,
so befinden wir uns in dem Zustand der kämpfenden, sehnsüchtig und
inbrünstig ringenden Liebe. Die heilige Kommunion selbst aber, zu welcher
wir uns durch jenen Liebeskampf vorbereitet haben, wenn sie so empfangen wird,
wie sie nach der gnadenvollen Absicht dieses Sakramentes allerdings empfangen
werden sollte und, wo die Gnade wirkt, empfangen werden kann und gewiß
auch von unzähligen frommen Christen oft wirklich empfangen wird, ist jederzeit
ein Vorgeschmack des Himmels, ein Vorgefühl der Seligkeit. Denn welche andere Nahrung werden wir dort noch genießen als ewiglich
nur diese? — Dieses nun ist offenbar ein Zustand der vierten Stufe, der
schon ans Ziel gelangten Liebe; welcher, obwohl freilich nur als ein einzelner
Zustand, keinem frommen und nachdenkenden Christen ganz fremd sein kann. Vorzüglich
bemerkenswert und lehrreich selbst für das Ganze ist auch, was der heilige Bernhardus von dem Zustande der Seligen gleich
nach dem Tode und von der erst mit der Auferstehung ganz vollendeten Seligkeit
und Verklärung nach seiner erleuchteten Weisheit sagt. Eine besondere Beherzigung
verdient nächstdem die lichtvolle Anwendung und Deutung der unserem Zeitalter
freilich sehr fremd gewordenen Salomonischen Gleichnisse und Sinnbilder. Eines derselben, was einem ungewohnten Ohre am meisten auffallend
und wohl gar anstößig sein möchte und gleichwohl sehr leicht
zu deuten, ist das Bild des Rausches in Beziehung auf den Zustand
der Seligen. Was ist hierunter nun anderes zu verstehen als das
völlige Aufgelöstsein und Verlorensein der Seele, ohne daß jedoch
das eigene Bewußtsein derselben völlig vernichtet wäre, in eine
fremde Gedankenwelt und selige Entzückung; hier also in die Fülle
der Herrlichkeit und Offenbarung Gottes? — Unbegreiflich nicht
nur, sondern ganz unangemessen und widersinnig bleibt jenes Bild, wenn man mit
der Liebe Gottes bloß den Gedanken und den Begriff einer starren und ewigen
Einheit Gottes als eines notwendigen Wesens verbindet. Wenn man aber mit der
Schrift das Wesen der Liebe sowie das Licht der lebendigen Erkenntnis in die
Fülle und Klarheit Gottes setzt, so ist alles gleich verständlich
und ganz angemessen. So sagt auch Angelus mit demselben
biblischen Bilde:
»Die Heil‘gen sind so viel von
Gottes Gottheit trunken,
So viel sie sind in Ihm verloren und versunken.«
Ganz besonders wird die Fülle Gottes in jener heiligen Sprache
salomonischer Sinnbilder auch von dem heiligen Bernhardus mit einem Strome verglichen. So
sagt auch Angelus:
»Gott ist ein starker Strom, der hinnimmt
Geist und Sinn;
Ach, daß ich noch nicht gar von Ihm verschwemmet bin.«
Von diesem völligen Zerflossensein nach dem oben erwähnten Bild der
Berauschung heißt es von dem ewigen Gastmale der himmlischen Freude in
einem anderen, fast noch kühneren Sprache des tiefsinnigen christlichen
Dichters:
»Gott schenkt den Seligen so überflüssig
ein,
Daß sie mehr in dem Trank, als der in ihnen, sein.«
Zum Beschlusse noch, in dem Sinne desselben heiligen Gleichnisses,
folgendes von der Vereinigung der Seele mit Gott, wenn sie in das Meer Seiner Herrlichkeit gelangt:
»Das Tröpflein wird das Meer,
wenn es ins Meer gekommen,
Die Seele Gott, wenn sie in Gott ist aufgenommen.«
Absichtlich ist hier aus allen salomonischen Gleichnissen und
Geheimnissen, von denen ausführlich zu reden hier nicht der Ort ist, da
man auch dem empfänglichsten Sinn nicht zuviel auf einmal zumuten soll,
nur das eine Bild von der Berauschung der Seligen, von dem Strome Gottes und
dem Meere Seiner Liebe herausgehoben; welches alles sich auf die so oft nicht
hinreichend erkannte, wundervolle Fülle der Herrlichkeit Gottes und Seiner
Offenbarungen bezieht. Denn das ist der wesentliche Hauptpunkt, auf welchen
alles ankommt; wo in einseitiger oder bloß negativer Ansicht nur die ewige
Einheit Gottes und stete Einerleiheit Seines Wesens in dumpfer Wiederholung
aufgefaßt wird, da ist eben die wahre Quelle und Wurzel alles falschen
und vielen tiefen Gemütern so höchst verderblichen Mystizismus. Wenn
dieser verneinende Begriff von der Gottheit mit der Strenge aufgefaßt
und durchgeführt wird, daß selbst alle Persönlichkeit Gottes
verschwindet, so ist die Ansicht eigentlich pantheistisch, wo denn jedermann
leicht den Irrtum erkennt, der mit dem Christentum durchaus unvereinbar ist.
Allein, es gibt feinere Schattierungen jener Denkweise, welche allerdings im
Grunde aus derselben Quelle herstammen, weil sie aber gar nicht immer notwendigerweise
einen Irrtum in der positiven Glaubenslehre nach sich ziehen, oft genug auch
bei denen, welche sonst katholisch denken und lehren, sich einschleichen, wo
ihnen Raum gegeben wird; obwohl in einem höheren Sinne unstreitig alles
ein Irrtum genannt werden muß, wodurch die lebendige Erkenntnis Gottes
und Seiner Offenbarung, wenn auch nicht direkt und wesentlich verletzt, doch
aber so bedeutend und folgenreich beschränkt, vermindert und verdunkelt
wird. Es sind diese negativen Ansichten und feineren, obwohl nicht eigentlich
dogmatischen Irrtümer dieselben, welche die höhere Theologie als die
rationalistischen bezeichnet, weil die Vernunft eben nur einen bloß verneinenden
Begriff oder vielmehr Nichtbegriff von Gott aus sich zu erzielen vermag, und
welche jene daher mit so großem Rechte unermüdlich zu bekämpfen
bemüht ist, da sie besonders auch in unserem Zeitalter sogenannter Aufklärung
so weit verbreitet sind. Das eigentliche Kennzeichen des falschen und verneinenden
Mystizismus besteht in einer Abtötung, welche nicht auf Reinigung und Wiedergeburt,
nicht auf Verwandlung und Verklärung, sondern auf Vertilgung und Vernichtung
dessen ausgeht, was zwar nicht göttlich ist, aber doch göttlich zu
werden bestimmt ist; von welcher falschen Ertötung und vernichtenden Buße
man wohl mit Recht mit Angelus sagen könnte:
»Der Tod, aus welchem nicht ein
neues Leben blühet,
Der ist‘s, den meine Seel‘ ans allen Toden fliehet.«
Ausgerottet und vernichtet muß freilich alles werden, was
uns von Gott entfernt und der Verwandlung oder Reinigung unfähig ist; nur
darf an die Stelle des Vernichteten nicht wieder eine bloße Verneinung
treten. Eine bloß verneinende Liebe Gottes aber, die eigentlich keine
Liebe ist, hat keine innere Kraft und bringt keine lebendige Frucht; so wie
auch der bloß verneinende Vernunftbegriff von der Gottheit ohne Leben ist und keine Gewalt
hat über den Geist, noch die Seele zu erfüllen vermag. Das ist nun,
wie anfangs gesagt wurde, die falsche Liebe Gottes, welche entweder nicht Liebe
ist; oder wenn, wie hier der Fall eintritt, ein obschon nicht geradezu irriger,
doch wesentlich mangelhafter und unvollkommener Begriff von der Gottheit jenem
Streben zugrunde liegt.
Die beste Stärkung gegen die moderne Denkweise eines rationalistischen
Lehrbegriffs oder der falschen und bloß vernichtenden Mystik, die sich
nur aus einer verkehrten Vernunftphilosophie in das Christentum hinüberschleichen
will, finden wir bei jenen großen Geistern und erleuchteten Männern
der Vorzeit wie dem heiligen Bernhardus, der nicht bloß einen mathematischen
Begriff von der Einheit und ewigen Einerleiheit Gottes im Kopfe hatte, sondern
in der ganzen Fülle Gottes lebte und liebevoll wandelte
und selig in dieselbe versenkt war. Auch die Erklärung des heiligen Bernhardus von der vierten Stufe, obwohl sie gleichsam
nur zur Überschrift alles dessen dient, was er von der höchsten Liebe
nachgehends in seiner Erleuchtung ausführlich redet und mitteilt, stimmt
wohlverstanden ganz damit überein. »Glücklich derjenige«,
sagt er, »der da würdig ward, bis zum vierten Grade sich zu erheben,
in welchem der Mensch sich selbst nur ob Gott den Herrn liebt.« —.
Dieses ist nach dem ganzen Zusammenhange seiner Lehre nicht so zu verstehen,
als ob wir auf dem Standpunkte und in dem Gebiete der natürlichen Selbstliebe
durch innere Anstrengung und streng fortgesetzte Verfolgung und Zerstörung
aller, auch der geringsten selbstsüchtigen Regungen und Beimischungen jemals
dahin gelangen könnten, uns den Gedanken Gottes als das einzige Motiv und
den wahren, inneren Beweggrund für jede einzelne äußere Handlung
bis in die innersten Fugen der Seele einzugraben; welches auf diesem Gebiete
ein vergebliches, inneres Abmühen und am Ende nur eine leere Einbildung
sein würde in allen Verhältnissen, wo wir unser Selbst wirklich als
ein getrenntes, einzelnes Selbst empfinden und, wenn nicht alle Anwendbarkeit
und selbst die rechte Besonnenheit im äußeren Leben aufgehoben werden
soll, auch empfinden müssen. Jene höchste Liebe ist ohnehin, wie schon
oben erinnert ward, nicht eine Eigenschaft, welche sich durch den Willen erringen
oder der Seele ankünsteln oder abquälen läßt, sondern eine
Gnade, die uns von selbst kommt und ohne alles Zutun denen gegeben wird, welche
Gott eines solchen Vorgefühls der Seligkeit würdigt. Man kann aber
mit Recht sagen, daß der Mensch in diesem Zustande sich selbst nur Gottes
wegen liebt, weil der Mensch in diesem Zustande sich selbst gar nicht mehr als
getrennt und abgesondert von Gott betrachtet und empfindet, sondern als schon
ganz in Ihn aufgenommen, verklärt und völlig eins mit Ihm, so wie
es in der Seligkeit, von welcher jener Zustand nach dem heiligen Bernhardus
nur ein Vorgefühl ist, ganz und durchaus, in Wahrheit und ewiglich sein
wird. Es versteht sich übrigens, daß der Mensch auf jener vierten
Stufe nicht bloß sich selbst, sondern auch alles andere, was er ebenso
liebt und lieben soll wie sich selbst, also vorzüglich den Nächsten
und die ihm zunächst verbundenen Menschen und Menschenseelen, auf die gleiche
Weise liebt und lieben soll, nämlich bloß um Gottes willen, das heißt
gereinigt von allem irdischen Beisatz, und so, wie sie sein werden, wenn sie
ebenfalls zu Gott aufgenommen und verklärt oder selig sind. Gott wird hier
gar nicht mehr einzeln und getrennt gedacht und empfunden, sondern inmitten
der vollen Seligkeit aller Verklärten, die mit Ihm eins geworden sind.
Es darf daher jene schöne Definition, wenn ihr Sinn nicht ganz entstellt
werden soll, keineswegs bloß auf das Selbst beschränkt werden. Wenn
die ängstliche Besorgnis um das eigene Heil und die eigene Seligkeit noch
sehr ausschließend auf das Selbst gerichtet ist, so ist dies immer noch
eine feinere Gattung der Selbstsucht und steht eine solche egoistische Frömmigkeit,
wie man sie wohl oft genug Gelegenheit hat zu beobachten und die unverhohlenen
Äußerungen derselben zu bemerken, noch auf einer sehr niederen Stufe
der Liebe; oder im besten Falle ist es wenigstens eine Beschränkung, welche
aus dem falschen und bloß verneinenden Mystizismus herrührt, den
wir ja nicht der wahren Liebe Gottes verwechseln
dürfen.
Das kurze Resultat nun der vorangehenden darüber gemachten Bemerkungen
ist folgendes: die Vernunft kennt und hat und gibt nur einen verneinenden Begriff
oder vielmehr Nichtbegriff von Gott, wo denn auch die damit verknüpfte
Liebe nur verneinender Art bleibt; und dieses ist eben der falsche Mystizismus.
Die Liebe allein hingegen führt zu einer positiven oder, um es nicht in
abstrakter sondern in lebendiger Sprache zu sagen, zu einer lebendigen Erkenntnis
Gottes und der Fülle des Lebens und der Liebe in Ihm und findet ihre Seligkeit
in der Erkenntnis und dem Gefühl oder Vorgefühl dieser göttlichen
Fülle.
Wenn wir nun diesen ganzen Kreislauf und Gang der Entwicklung in seinen verschiedenen
Stufen der ehrfurchtsvoll bewundernden, der dankbar verpflichteten, der inbrünstig
ringenden und im Vorgefühl seligen Liebe Gottes übersehen und mit
dem Verlauf der Geschichte des inneren Menschen vergleichen, je nachdem Gott
die Seinigen in den verschiedenen Zeitaltern der Welt verschieden geführt
und sich ihnen immer vollständiger offenbaret hat; so zeigt sich auch hier
im großen die Wiederholung desselben Stufenganges. Im ersten Weltalter
ward Gott vorzüglich in der Offenbarung der Natur erkannt und verehrt und
anbetend bewundert; die Natur, welche der Mensch damals noch im näheren
Mitgefühl und lebendigen Zusammenhange klarer und geistiger durchschaute,
als er es späterhin vermochte. Bei den Heiligen der Urwelt also, im Stamme
des Seth, von jener Zeit an, da Enos zuerst den wundervollen Namen angerufen,
»vor dem sich alle Knie beugen, die im Himmel und auf der Erde und unter
der Erde sind«; durch die von Gott ausgehende wie auch zu Gott wieder
zurückkehrende Weisheit des Henoch, die wunderbare Führung und Errettung
des Noah, als zweiten Stifters des Menschengeschlechts. durch die dem Sem und
seinem Stamm erteilten Gnaden hindurch bis auf den Melchisedek, welcher nicht
bloß zum Diener und Priester, sondern auch zum Vorbilde des Allerhöchsten
auserwählt worden, war demnach jene erste Stufe der Liebe und Offenbarung
Gottes in der Natur und die daraus hervorgehende Furcht und Ehrfurcht Gottes
die vorherrschende, obwohl durch die gleich von Anfang gegebene Verheißung
in dieser ersten Stufe auch alle übrigen und höheren Stufen der Liebe
und immer vollständigeren Offenbarung Gottes wie im Keime mit beschlossen
lagen. Wie denn überhaupt diese Stufen der göttlichen Liebe und Offenbarung,
wo alles ineinandergreift und innig verbunden und eins ist, nicht als eine mechanisch
rohe Absonderung oder wie eine ganz gemein natürliche Aufeinanderfolge
gedacht werden müssen. Als nun im zweiten Weltalter das Volk des Abraham berufen und auserwählt und ihm ein geschriebenes Gesetz von Gott gegeben
ward, so entstand aus diesem Verhältnisse, aus der besonderen, dem Volke
Israel vor allen anderen Völkern erwiesenen Wohltat und dem durch das Gesetz
mit ihm als dem Volke der Verheißung, von Gott geschlossenen Bunde, auch
ein festes Band eigentümlicher und besonderer Dankverpflichtung gegen den
Herrn, der ihnen so Großes hatte widerfahren lassen. Es ist daher auch
die zweite Stufe der dankbaren Liebe und die daraus hervorgehenden Gesinnungen
einer kindlichen Ergebenheit und eines heldenmütigen Vertrauens auf Gott,
welche wir durch alle Zeiten, von Abraham und Moses bis auf die Makkabäer herab, ja bis auf diejenigen, welche der Heiland zu Seinen Schülern und
Werkzeugen berief, bei den Juden vorzüglich herrschend finden und wovon
uns die heilige Geschichte des Alten Bundes die herzerhebendsten Beispiele und
Vorbilder aufstellt. Doch gilt dies vorzüglich nur von den Anführern
des Volkes, den Lehrern und Propheten in Israel. Das Volk selbst wurde größtenteils
noch auf der unteren und niederen Stufe der Furcht vor der Gerechtigkeit und
dem Zorn Gottes, in strengem Gehorsam gegen das Gesetz und den Buchstaben des
Gesetzes gehalten und erzogen. Einzelne Seher und Propheten des Alten Bundes
aber, in die Zukunft eingreifend, wandeln schon ganz im Lichte der höheren
christlichen Offenbarung und Liebe. Wie das Herz des Christen im Kampf des inneren
und äußeren Lebens inbrünstig nach Liebe ringt und aus jeder
Bedrängnis zu Gott emporschreit, das können Menschenzungen, auch die
der Heiligen, nicht so beschreiben, wie es uns die Schrift selbst in den heiligen
Gesängen des Alten Bundes darstellt. Darum sind auch die Psalmen, dieses
erste christliche Andachts- und Gesangbuch, für alle Zeiten eine nie versiegende
Quelle des Trostes für jedes bedrängte Herz, welches stark genug ist,
um diesen Trost zu bedürfen und zu ertragen. Wie die salomonischen Gleichnisse
und Bilder sich alle auf die mit Gott in Liebe vereinigte Seele oder auf die
vierte Stufe der Liebe beziehen, ist schon erinnert, und ist auch von den ältesten
Zeiten in der Kirche immer so verstanden worden, wie es wirklich gemeint und
zu verstehen ist; worüber selbst dem bloßen Philologen jeder Zweifel
verschwinden muß, sobald er nur alles Salomonische im Zusammenhange betrachtet
und in diesem Zusammenhang des Ganzen erklären will.
Die Religion des Gesetzes war nur die Einleitung und Vorbereitung zur Religion
der Liebe; und als die schon der Urwelt gegebene Verheißung durch den
Tod des Sohnes erfüllt war, da entstand ein viel innigeres, alle Tiefen
des Lebens und des Todes durchdringendes Liebesverhältnis und Band zwischen
Gott und dem Menschen. Auf der ersten, unteren Stufe der Furcht verhält
sich der Mensch mehrenteils noch ganz passiv. Auf der zweiten Stufe neigt er
sich wohl Gott entgegen in dankbarer Ehrfurcht und Gegenliebe; aber es ist mehr
nur ein einzelnes Gefühl, mit welchem er zu Gott hinstrebt, eine herrschende
Gesinnung, mit welcher er an Gott festhält. Aber erst auf der dritten Stufe
strebt er mit allen Kräften seines ganzen Wesens nach diesem einen Ziele,
sich Gott immer inniger zu nähern und mehr und mehr mit Ihm zu vereinigen.
Erst da liebt er Gott »von ganzem Herzen und von ganzer Seele und von
ganzem Gemüte«. Die inbrünstige Sehnsucht nach völliger
Vereinigung mit ihm durchdringt und beseelt ihn von der innersten Tiefe seiner
geheimsten Herzensregungen bis zur lichtesten Höhe seines Geistes und füllt
ihn ganz aus in der beschränkten Breite seiner äußeren Wirkungen,
wie in der ungemessenen Weite seiner Gedanken. Er widmet sich ganz Gott, und
die immer höher ringende Entwicklung des inneren Lebens wird das Ziel eines
ganz geistig gewordenen Daseins, und eben darum kann auch diese Stufe noch in
einem besonderen Sinne und vorzugsweise die eigentliche Stufe der Liebe genannt
werden, wie sie auch erst durch die Religion der Liebe hervorgerufen ward. Allerdings
kann es vorzüglich nur dem geistlichen Stande möglich und angemessen
sein, die innere Entwicklung des geistigen Lebens und mit der Erkenntnis und
Erleuchtung zugleich immer höher ringenden und steigenden Liebe Gottes
zum Hauptgeschäft des gesamten Lebensberufes zu machen. Die häuslichen
Sorgen, bürgerlichen Pflichten und weltlichen Geschäfte des tätigen
Lebens unter dem Getümmel und der Zerstreuung so mannigfacher äußerer
Gegenstände gestatten es nicht in dem gleichen Grade, sich der Entwicklung
des inneren Lebens ganz widmen und hingeben zu können. Es bleibt dies vorzüglich
dem geistlichen Stande vorbehalten oder denen, die zu einer ähnlichen Wirksamkeit
berufen sind; die eigentlichen Laien dagegen werden auch im Christentum mehrenteils
noch auf der zweiten Stufe der Annäherung zu Gott und durch die Gesinnungen
dieser Stufe — dankbare Gegenliebe, kindliche Ergebenheit und heldenmütiges
Vertrauen auf Ihn — danach streben, durch alle Kämpfe der weltlichen
Verwirrung hindurch, ihrem irdischen Leben und Wirken einen sicheren Boden und
ein festes Ziel in aufrichtiger Frömmigkeit zu erhalten. Die höchste
Stufe der seligen Liebe bleibt überall nur eine seltene Ausnahme.
Auf diesem Punkte stehen wir nun gegenwärtig in dem Zeitalter des so vielfach
gehemmten und bedrückten Christentums und bei der unglücklichen Zerreißung
und öffentlichen oder noch viel gefährlicheren geheimen Absonderung
so vieler Christen von dem Bande der Einheit. Was
wird noch kommen? Und was würde wohl geschehen, wenn dieses
Band der Einheit wieder alle umschlänge, wenn das Christentum nicht mehr
so vielfältig gehemmt, unterdrückt und mißhandelt, sondern frei
hervortretend und siegreich im inneren wie im äußeren Christenleben
waltete, nicht zwar so, daß alle Menschen vollkommen und keine Sünde
mehr wäre, was hier auf Erden nie sein wird; aber doch so, daß das
Bessere im allgemeinen siegte und vorherrschend und das einzige wirklich und
wahrhaft Gute, das innere Leben nämlich oder die Liebe Gottes, nicht mehr
bloß eine seltene Ausnahme wäre? — Die Schrift gibt uns die
Verheißung einer solchen höheren Vollendung zu jener Zeit, von der
es so oft heißt, »wo Ein Hirt und Eine Herde sein wird« —
und zwar noch hier auf Erden, wie aus so manchen für den Eintritt jener
Zeit ausdrücklich hinzugefügten Kennzeichen, zum Beispiel dem der
allgemeinen Bekehrung der Israeliten unzweifelhaft klar ist. — Wie sollen
und können wir uns nun aber jene glücklichere Zukunft und höhere
Stufe der Vollkommenheit — bloß mit Rücksicht auf den uns hier
zunächst vorliegenden Gegenstand — etwa denken, wenn es anders erlaubt
ist, mehr als eine Andeutung darüber zu wagen? In dem gegenwärtigen
Stande des Christentums befinden sich die Geistlichen, welche ihrem Beruf entsprechen,
mehrenteils auf der dritten Stufe der Vollkommenheit oder der Liebe; die Weltlichen
aber auf der zweiten. Dies kann uns als Anleitung zu einigen Vermutungen über
diesen Gegenstand dienen. Vielleicht, wenn einmal auch die äußeren
Weltverhältnisse nicht mehr so verworren und trübe wären, sondern
mehr und mehr christlich geordnet und auf ewigen Grundlagen befestigt; so würde
auch das praktische Leben viel leichter sein und nicht mehr den Sinn und die
Zeit derer, die sich ihm widmen müssen, so ganz hinnehmen, daß ihnen
mehrenteils im Drange und Getümmel weltlicher Geschäfte und Verwicklungen
nur wenige flüchtige Augenblicke für die Ewigkeit übrigbleiben.
Wenn zugleich aber auch alle Mittel der geistigen Erkenntnis viel allgemeiner
verbreitet, viel leichter, klarer, faßlicher und einfacher geworden wären,
so würde der Fall viel häufiger eintreten, daß auch die Weltlichen
sich die Religion und innere Vollkommenheit, wo nicht zum einzigen Hauptgeschäft,
doch zu der ersten und wesentlichsten Angelegenheit ihres Lebens machten und
mithin auf eine höhere Stufe träten, als jetzt gewöhnlich ist.
Gewiß aber ist es, daß alle Verheißung, welche hier auf Erden
für die Kirche Gottes in Erfüllung gehen kann, dann erfüllt sein
würde, wenn die Priester und Geistlichen, durchaus ihrem Berufe entsprechend,
der ihnen allerdings die höchste Stufe der Vollkommenheit und Liebe zum
Ziel setzt, ganz von Gott beseelt und von der höchsten seligen Liebe durchdrungen
im Lichte dieser Vollkommenheit wandelten und lebten, lehrten und wirkten. Nicht
etwa alle, sondern nur so, daß das Bessere im Ganzen obsiegte; und warum
sollte es denn nicht möglich sein, daß, so wie jetzt die Guten, alsdann
die Schlechten die Ausnahme bildeten?
— So viel ist wenigstens gewiß, daß wir uns noch auf einer
niederen Stufe und in einem sehr gebrechlichen Zustande hinsichtlich des Christentums
befinden, während wir mehrenteils in der Mitte stehen zwischen schönredenden
Sadduzäern, die in ihrer oberflächlichen und vermeintlichen Aufklärung
statt der geheimnisvollen Kraft des alten Glaubens uns eine seichte und ungenügende
Vernunftmoral geben und uns dies noch als einen angeblichen großen Fortschritt
anpreisen; oder christlichen Pharisäern auf der anderen Seite, welche nur
für den Buchstaben des Gesetzes mit Härte eifern, die Liebe aber nicht
kennen, noch in ihr wandeln, obwohl sie die Religion der Liebe zu lehren und
heilig zu bewahren und zu überliefern berufen sind; neben welchen beiden
dann die wahrhaft vortrefflichen und diesem Beruf ganz entsprechenden Geistlichen,
welche das innere Leben und den Geist Christi haben und nach Seinem Vorbilde
in der Liebe wirken, mehrenteils nur das »kleine Häuflein« und die Ausnahme bilden.
Eine höhere Vollkommenheit der Weltlichen also, vorzüglich aber auch
der Geistlichen und Priester ist unstreitig das eigentliche Kennzeichen der
verheißenen Zeit, »da Ein Hirt sein wird und
Eine Herde«. Dies dürfen wir wohl mit Zuversicht als gewiß
annehmen; damit wollen wir uns aber auch begnügen und jede weitere sehnsuchtsvolle
Frage nach der Zukunft nur mit der Gewißheit der Hoffnung, zugleich aber
auch mit der Notwendigkeit demutsvoller Geduld erwidern. Möchtest du, sehnsuchtsvoll
hoffende Seele, wissen, wie es zu jener Zeit sein wird, so läßt sich
darauf am angemessensten nur mit einem Gleichnisse antworten. Wie wenn das Licht
der Morgensonne am Himmel aufgeht und wenn dann zugleich auch der volle Frühling
in allen Tälern und auf allen Höhen der Erde in seiner ganzen Fülle
und blumenreichen Herrlichkeit hervorbrechen wollte, so wird es alsdann sein,
wo auch die »seufzende Kreatur« aus ihren ängstlichen Banden
erlöst, wieder reine Luft atmen und sich zum Himmel aufrichten darf. Wenn
man nun erwägt, wie Gott auf die Erde herabgekommen und Mensch geworden
ist, und wie es gleichwohl noch rund um uns her aussieht und auf dieser Erde
beschaffen ist, die ein Schauplatz der Erlösung zu sein gewürdigt
ward, daneben aber doch die in der Schrift gegebene Gewißheit und Hoffnung
des Besseren festhält, so möchte man wohl mit dem schon oft angeführten
fromm begeisterten Dichter nach jener ernsten Betrachtung sehnsuchtsvoll ausrufen:
»Der Himmel senket sich, er kommt
und wird zur Erden;
Wann steigt die Erd‘ empor und wird zum Himmel werden?«
Eines aber ist notwendig, hier noch hinzuzufügen, welches
vor allem wesentlich ist. Wie auch die Zeiten in ihrem Stufengange sich nach
dem Ratschluß Gottes weiter entwickeln mögen, wie nützlich und
heilsam es auch sein mag, sich diesem Stufengang der Vollkommenheit im ganzen
deutlich zu machen, für den Einzelnen, sobald er nur recht will, sind alle
Zeiten gleich abgelaufen und ist die ewige Liebe immer und in jedem Augenblick,
wo er sich ihr hingibt, auch ganz da. Zu unserer Zeit gilt es ebenso wie zu
jeder anderen und bleibt in alle Ewigkeit wahr — hier und dort —,
was Angelus sagt:
»Aus Liebe geh‘n und steh‘n,
Lieb‘ atmen, reden, singen;
Heißt seine Lebenszeit wie Seraphim verbringen.«
Und hiermit schließen wir für diesmal. Mögen diese
Gedanken bei anderen Nachdenkenden ebenfalls heilsame Betrachtungen über
Gott und die göttliche Liebe veranlassen, vorzüglich aber sie zu der
reichen Quelle des heiligen Bernhardus hinführen.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 246, Friedrich Schlegel, Schriften und Fragmente. Ein Gesamtbild seines
Geistes
Aus den Werken und dem handschriftlichen Nachlaß zusammengestellt und
eingeleitet von Ernst Behler (256-276)
©1956 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgar
tONTOLOGIA SPIRITUALIS
(1827)
Die Einheit von Glaube und
Wissen
Nur in dem gemeinsamen Gegenstande kann die Einheit des Wissens mit dem Glauben
gesucht oder gefunden und erkannt werden; in der Wahrheit
also, d.h. in Gott, welcher der Inbegriff aller Wahrheit ist. —
Bloße Negationen, wie der Gedanke des Unendlichen,
der Begriff des Unermeßlichen, welche beide
auch auf eine bloße Natur anwendbar wären, oder des Unbedingten,
von welchem letzteren leicht auch manche sehr irrige Anwendung gemacht werden
kann, dergleichen Negationen also oder auch eine bloße Aufzählung
einzelner Prädikate und Eigenschaften ohne inneren Zusammenhang können
uns keinen irgend genügenden Begriff von Gott geben. Wenn aber eine Erkenntnis,
ein Verständnis des Lebens überhaupt erreichbar ist, welches anzunehmen
und danach im Leben selbst zu verfahren sich der gesunde Menschensinn noch niemals
von der skeptischen Zweifelsucht hat abhalten oder darin irre machen lassen,
dann ist auch der Begriff des höchsten Lebens an
sich nicht für unmöglich oder völlig unerreichbar zu halten.
Diesen Weg nun hat die tiefere Wissenschaft und Philosophie immer eingeschlagen
in dieser Beziehung; und in den drei verschiedenen Gewalten,
die dennoch wieder nur eine sind, in der dreifachen Kraft
und Beschaffenheit der einen Grundursache
aller Dinge hat sie diesen höchsten Begriff gefunden. In ganz verschiedenen
Zeitaltern und unter sehr entfernten Nationen hat sie denselben Begriff des
höchsten Wissens auf ganz ähnliche Weise, obwohl in den Nebenbestimmungen
nicht immer frei von irriger Beimischung, aufgestellt; und hat es wohl erkannt,
wie in dem höchsten Leben, welches Sein Leben in Sich Selbst hat und den
Urquell alles anderen Lebens in sich enthält,
zugleich ein erschaffender Verstand und Gedanke mit beschlossen liegt, welcher
von Anfang als das ewige Wort gebietend und selbständig
aus demselben hervortrat; und wie das Licht, welches von diesem ausging,
selbst wiederum das erste Leben war. So wie aber jenes ursprüngliche Leben
von Anfang nicht bloß ein unendliches ist, wie das der Natur, sondern
selbst der Quell alles anderen unendlichen und endlichen Lebens, wie dieses
Leben ein leuchtendes ist, welches sich selbst und alle anderen Dinge erleuchtet,
so ist auch dieses Licht ein lebendiges und nicht etwa bloß ein geistig
immaterielles, denn das könnte allenfalls auch noch ein natürliches
sein, sondern ein durchaus übernatürliches und heiliges, ja wenn man
will, furchtbares Licht, welches alle Finsternis
von sich ausstößt und auf ewig verwerfend vernichtet. Dieses
Leben nun und dieses Wort und dieses Licht, diese drei verschiedenen Gewalten
in der Einen Kraft und in dem Einen Wesen, welches eben darum das Höchste
genannt wird, das ist zugleich das Höchste alles Wissens und der Mittelpunkt
und Grundquell alles Glaubens. Und dieses Wissen
von dem Höchsten, auch nur bloß von dieser einen Seite des
Wissens angesehen, stellt sich nicht dar als ein von dem Glauben ganz abgesondertes
Wissen, sondern steht selbst schon in Berührung mit dem Glauben und enthält
auch bloß als Wissen genommen schon eine Zustimmung und Mitwirkung von
Glauben in sich. Es läßt sich nämlich wohl auf sehr viele und
verschiedene, ja fast auf unendlich mannigfache Art nachweisen, darauf hinzeigen
und bestätigen, daß ohne diesen vollen und rechten Begriff von dem
höchsten Wesen auch alles andere Dasein und alles andere Wissen ohne Zusammenhang
und eigentliche Bedeutung, ja ohne rechten Sinn sein würde; allein eine
strenge Notwendigkeit, wie schon oft erinnert worden, ein logischer Zwang zur
Anerkennung für den, welcher es einmal innerlich anders will und in seinem
Sinne anders beschlossen hat, liegt nicht darin. Und so mußte es auch
sein; der letzte Schluß der Überzeugung bleibt immer der freien Anerkennung
überlassen, jener schon früher erwähnten stillen innerlichen
Einwilligung, welche den Menschen überhaupt mit Gott in wirkliche Verbindung
bringt und ihm den Sinn für das Göttliche immer mehr öffnet,
da sie selbst schon dieser Sinn oder der Anfang desselben ist. Und diese zu
dem höchsten Wissen hinzugefügte Ergänzung aus freier innerer
Zustimmung ist eben schon ein Glauben; und dieser volle
und rechte Begriff des höchsten Wesens ist der geheimnisvolle Ring,
in welchem das Wissen und Glauben im ersten Anfange unauflöslich
verbunden sind; nur die Verkehrtheit und Kurzsichtigkeit der Menschen
auf beiden Seiten, auf der des Wissens und des Glaubens, reißt beide wieder
auseinander, scheidend, was in Gott eins ist und was Gott verbunden hat, bringt
beide, das Wissen und den Glauben, in einen feindlichen Gegensatz, das eine
durch das andere hemmend und zerstörend. Übrigens aber ist dieser
höchste Begriff und Inbegriff alles höchsten Wissens doch nur sozusagen
der wissenschaftliche Gipfel oder wissenschaftlich gesteigerte Ausdruck des
allgemeinen Menschenglaubens an den Einen lebendigen Gott.
Denn wenn dieser Eine Gott ein lebendiger sein soll, so will ich nur daran erinnern,
daß selbst die Naturkunde nicht und überhaupt niemand in keiner Sphäre
des Daseins ein Leben fassen, verstehen und sich denken kann, ohne eine Mehrheit
oder wenigstens zwei zusammenwirkende Kräfte; soll es aber ein in sich
vollendetes Leben sein, so muß ein drittes lebendig Wirksames oder Wirkendes
hinzukommen. Also auch von dieser Seite ist der höchste Begriff des an
sein Ziel und den Gipfel alles Daseins und aller Erkenntnis gelangten Wissens
mit dem allgemeinen Wahrheitsgefühle und dem natürlichen einfachen
Glauben ganz in Übereinstimmung. Wenn nun aber das höchste Wissen
und der göttliche Glaube innerlich und wesentlich eigentlich eins sind
und in ihrem ewigen Anfang unzertrennlich zusammenhängen, so wird es nur
auf das rechte Verhältnis und eine richtige Proportion zwischen beiden
Kräften und Elementen des menschlichen Daseins ankommen und davon abhängen,
daß sie auch in der weiteren Anwendung und im wirklichen Leben eins bleiben
und nicht in feindlichen Gegensatz und Zwiespalt geraten. Die glaubende
Seele soll als die Frau vom Hause dort die erste Stelle behalten und
behaupten; der wissende oder nach dem Wissen strebende Geist mag als der Mann
in der inneren Familie auch außer dem Hause diesem oder jenem Geschäft
nachgehen; nur aber soll er immer wieder an den heimatlichen Herd zurückkehren
und sich dort an der rein emporsteigenden Flamme der Andacht und der frommen
Betrachtung oft von neuem erwärmen. Und wenn er etwa in seinen Wanderungen
vorzüglich in dem reichgeschmückten Garten der Natur sich ergangen
hat, so mag er von den mitgebrachten seltnen Samenkörnern oder edlen Holzarten
auch eines oder das andere in die Flamme werfen, um zu dem leuchtenden und erwärmenden
Glanze derselben noch einen ätherischen Wohlgeruch hinzuzufügen. Oder
um es statt der Bilder in bestimmteren Begriffen auszudrücken: der glaubende
Teil soll nach jener richtigen Proportion des Ganzen nicht die wahre und göttliche
Wissenschaft zugleich mit der falschen, gottlosen und zerstörenden wegwerfen
und ausscheiden; der wissende Teil soll sich aller feindlichen Eingriffe gegen
das andere Gebiet und gegen den positiven Glauben enthalten, den er vielleicht
noch gar nicht einmal hinreichend kennt, viel weniger denn ganz verstanden hat;
und wenn eben dieser wissende Teil, und so sollte es bei dem rechten Wissen
sein und darin besteht eben dasselbe, schon über sich selbst sorgsam wacht
und alle willkürlichen, anmeßenden, selbstsüchtigen Meinungen
und Ideen, Regungen oder Gedankenanfänge, als worin eben schon der erste
Ansatz zu jedem falschen Wissen und allem Irrtum enthalten liegt, selber streng
zurüchhält, so darf er nicht erst von der anderen Seite her in Schranken
gehalten und gehemmt werden. Immer aber sollte man voraussetzen, daß der
Fehler in den Menschen liegt, niemals aber annehmen, daß der Zwiespalt
in der Sache selbst gegründet sei; denn die Sache ist ja eben die Wahrheit
selbst, die nicht zwiefach, sondern nur eine ist und sein kann, da Gott selbst
diese Wahrheit und der volle Inbegriff derselben ist. Immer sollte man daher
von der einen Seite den Glauben durch den alten Geist neu erwecken und neu beleben,
indem man ihn auf seine eignen ewigen Grundlagen zurückführt, um die
beständig drohende Gefahr der inneren Erstorbenheit und der Herrschaft
des toten Buchstabens abzuwenden; und niemals sollte man aufhören und nicht
müde werden, das höhere philosophische Wissen immer mehr von allen
egoistischen Schlacken willkürlicher Meinung und apodiktisch eingebildeter
Entscheidung zu reinigen, es immer mehr zu vollenden suchen nach der dreifachen
Dimension, wenn man so sagen darf, jenes so ganz unermeßlichen Wesens
der ewigen Wahrheit, welches eben der Gegenstand und das Ziel des höheren
Wissens ist: indem man immerwährend sich vor die Augen stelle, diese unergründliche
Tiefe, jene unerreichbare Höhe und dann die unversiegbare selige Mitte
jenes Einen, mit keinem Maßstabe jemals auszumessenden Wesens. Denn immer
liegt der Fehler und der Grund des Zwiespalts in dem toten, nicht hinreichend
verstandenen oder erleuchteten Glauben auf der einen oder in dem willkürlich
anmaßenden, einseitig entscheidenden und eben darum wenigstens schon zum
Teil irrenden und falschen Wissen, niemals in der Sache selbst. Weil aber jene
Fehler und Ursachen des Zwiespalts zum Teil in der menschlichen Beschränktheit
und Unvollkommenheit selbst ihren Grund haben, so muß man sich begnügen,
wenn man auch nicht mit einem Male alles schlichten kann, wenn man nur im steten
Kampfe gegen diese Erbfehler des angeborenen Irrtums langsam, aber sicher fortschreitet
und sich in solcher sicher fortschreitenden Progression dem Ziele der Wahrheit
und der vollkommen erkannten Einheit des höchsten Wissens und des göttlichen
Glaubens mit jedem Schritte mehr nähert. Darin wird oft sehr gefehlt, besonders
von einzelnen, die oft mit dem redlichsten Willen und Wahrheit liebenden Gemüte
über irgendeinen einzelnen Streitpunkt zwischen dem Glauben und dem Wissen
nicht mit sich eins werden und ganz ins klare kommen können und sich nun,
weil sich dieses innere Gedankenproblem für ihr Gefühl nicht sogleich
lösen will, um nur schnell damit fertig zu werden, in eine übereilte
Entscheidung von der einen oder der anderen Seite hineinstürzen.
Langsam aber, sehr langsam ist der Stufengang der Erleuchtung für den Menschengeist
in dem Reiche der Wahrheit; und wenn selbst der Gang der Vorsehung nach dem
allmählichen Stufengange der göttlichen Ordnung in diesem Gebiete
nach Jahrhunderten und Jahrtausenden zählt, so müssen auch im Leben
der einzelnen Menschen hier wohl die Jahre, ja selbst die Jahrzehnte nur für
,Tage und Stunden gerechnet werden. Wenn ein schwerer, kaum in bestimmte Worte
zu fassender, ganz innerlicher Glaubenszweifel, ein drückendes Problem
der eigentümlichen Denkart und Ansicht sich nicht in drei Stunden oder
drei Tagen ausgleichen und lösen läßt, so wird es vielleicht
in drei Jahren geschehen; sind drei Jahre zu wenig, so wird sich vielleicht
in dreißig Jahren, während wir im äußeren Leben auf dem
Wege unseres Berufs indessen ununterbrochen fortgingen, manches in uns ganz
anders gestaltet haben, und werden wir nun bei veränderter Ansicht und
weiter erworbenen Einsichten völlig beruhigt und klar über dasjenige
sein, was uns früherhin ganz dunkel erschien, uns unentschieden hinhielt
und verworren bedrückte. Diesen und keinen anderen Weg müssen diejenigen
gehen, welche vor allen Dingen an dem göttlichen Glauben festhalten wollen,
dabei aber auch das höhere Wissen nicht aufgeben möchten. Und ist
nicht eigentlich jeder Gutgesinnte in diesem Falle, der zu unserer Zeit mit
der Wissenschaft irgend in Berührung steht oder dieselbe zu dem Zwecke
seines Lebens bedarf? Auf diesem Wege des langsamen Fortschreitens, den wir
ja z. B. auch in der Naturwissenschaft beobachten, da ganz natürlich finden
und für den einzig rechten halten, gewinnt man dafür aber auch in
diesem innerlichen Forschen der Philosophie den festen Boden und bleibenden
Standpunkt der ewigen Wahrheit; statt der sonst so schnell wie die Mode wechselnden
Systeme oder wie die tauben Blüten in jedem Frühjahre fruchtlos gleich
wieder niederfallenden Hypothesen dieser oder jener Schule und Sekte. In Hinsicht
auf diese der wahren Philosophie gewiß durchaus angemessene Langsamkeit
im Fortschreiten kann ich mich auf mein eigenes Beispiel berufen, und in dieser
Hinsicht mag dies vielleicht gestattet sein. Es sind jetzt eben neununddreißig
Jahre, seit ich die sämtlichen Schriften des Plato in griechischer Sprache
zum ersten Male mit unbeschreiblicher Wißbegierde durchlas; und seitdem
ist neben mancherlei anderen wissenschaftlichen Studien diese philosophische
Nachforschung für mich selbst eigentlich immer die Hauptbeschäftigung
geblieben. Viele Systeme des Wissens, des Zwiespalts und des Irrtums, der Zeit
und der Vorzeit habe ich auf diesem Wege zu durchwandern gehabt: weil ich aber
weder bei andern, noch in mir selbst volle Befriedigung fand, so fühlte
ich mich eben dadurch zurückgehalten, öffentlich damit hervorzutreten,
und nur sehr unvollständig, ganz zufällig und fragmentarisch ist in
verschiedenen Epochen mir eins und das andere von dieser meiner inmer noch im
Werden begriffenen und nicht vollendeten Philosophie in meinen übrigen
und früheren literarischen Arbeiten und Werken zum Vorschein gekommen oder
herausgefahren; eine Erklärung, die ich für diejenigen, welche dieselben
kennen, hier nicht überflüssig finde. Je mehr ich aber diese beiden
Endpunkte des göttlichen Glaubens und des höchsten und insofern auch
göttlichen Wissens festhielt, je mehr gewann ich auch festen Boden auf
jenem Standpunkte und in jener Mitte des ewigen Anfangs, in welchem beide eins
sind und nicht mehr streiten, sondern innig zusammenhängen und sich gegenseitig
nur immer mehr erhöhen, beleben und verstärken. Ich glaube jetzt,
an denjenigen Punkt gelangt zu sein, wo ich diese in Gott gegründete Einheit
des Wissens und des Glaubens, nachdem ich sie für mich gewonnen habe, nun
auch andern mitzuteilen und öffentlich für die Welt hinzustellen und
zu entwickeln wünsche; und ich kann mich nur darüber freuen, daß
ich damit eben jetzt und gerade hier und auf solche Weise den Anfang habe machen
können.
Die
Einheit von Wissen und Leben
Aus diesem Standpunkte aber betrachtet scheint es, daß die Nicht-Einwirkung
der Wissenschaft auf das Leben oder die Entfremdung und Entfernung des einen
von der anderen allemal nur aus zufälligen Ursachen und bloßen Lokalhindernissen
zu erklären und herzuleiten sei; wie sie in einzelnen Welt-Epochen sich
wohl begründet finden, oder auch aus gewissen Unvollkommenheiten von der
einen oder von der anderen Seite herrühren können. Denn an und für
sich genommen ist das Wissen überhaupt gar nichts anderes als eben diese
Einheit des Denkens und des Lebens; und liegt also die lebendige Einwirkung
und Wirksamkeit schon mit in dem Begriffe des höheren Wissens, wenn dieses
anders ein wahres und richtig geordnetes ist. Entweder also ist das Wissen ein
zum Gedanken gesteigertes und eben dadurch zum Denken umgewandeltes Leben; oder
aber ein wirklich ausgeführter, ins Leben eingetretener und übertragener
und eben dadurch und durch das Leben selbst bewährter und nun vollkommen
gewiß gewordener Gedanke: also ein zum Leben gewordenes Denken. Drei Stufen
gibt es in dem Wissen nach diesem Gesichtspunkte, daß dasselbe bestehe
in der gegenseitigen Annäherung und der endlich erreichten und vollendeten
Einheit zwischen dem Leben und dem Denken; nach dem überall im Bewußtsein
stattfindenden dreifachen Stufengange und dreifachen Einteilungsprinzip
desselben. Die erste Stufe ist die der Reflexion, und diese ist, in einem
tieferen Sinne genommen, nichts anderes als das innere Fühlen, Hören
und Sehen des eigenen Denkens; mithin ein dem sinnlichen ähnliches Wahrnehmen
desselben, wodurch dieses innere Denken doch schon etwas mehr in die äußere
Wirklichkeit hervorgehoben und herausgestellt wird. Dieser Zustand der Reflexion
ist aber mehr nur ein passiver Seelenzustand der inneren, eigenen Beobachtung;
und in dieser engen Sphäre eingeschlossen bleibend, dreht er sich ewig
in dem gleichen Kreise herum, ohne eigentliche weitere Folgen eines auch für
das äußere und wirkliche Leben anwendbaren und fruchtbaren Wissens.
Die zweite Stufe oder der zweite Moment des Wissens ist die Abstraktion, vermöge
deren aus der ganzen Fülle der Merkmale und Kennzeichen eines Gegenstandes
oder vielmehr eines Gedankens eines als das wesentliche herausgehoben und für
die Mitteilung bezeichnet wird; denn alle Mitteilung und Sprache beruht auf
dem Vermögen der Abstraktion und ist dieselbe ein willkürlicher Akt
des freien Geistes. Obwohl aber durch diese Bezeichnung, Verallgemeinerung und
Mitteilung der innere Gedanke noch um einen Schritt weiter in die äußere
Welt und Wirklichkeit des Lebens auch unter den anderen und mit den anderen
hinausgeführt wird, so ist dadurch allein doch die Wirklichkeit des Gedankens
noch keineswegs hinreichend gesichert, indem gerade diese Freiheit in der Wahl
der Bezeichnung, der Verknüpfung und des allgemeinen Zusammenfassens, der
Willkür einen grenzenlosen Spielraum eröffnet; wie man dieses schon
an der zahllosen Menge unnütz ersonnener und wieder in Vergessenheit geratener
Terminologien sieht, als die ebenso vielen einander fremden und sich gegenseitig
nicht verstehenden philosophischen Dialekte in dem ewig wiederholten methodischen
Turmbau der wissenschaftlichen Systeme bilden; nachdem auch diese abstrakte
Gedankenmitteilung selbst da, wo sie vollkommen gelingt, noch keine Einstimmung
zur Folge hat, sondern nur das Tor und die Bahn eröffnet zu einem endlosen
dialektischen Streite. Also weder die im engen Kreise des eigenen Inneren sich
ewig herumbewegende Reflexion, noch auch die willkürlich in allen weiten
Räumen des Möglichen herumirrende leere Abstraktion können zu
dem Ziele der vollkommenen Gewißheit und des eigentlichen Wissens führen.
Die praktische Ausführung im wirklichen Leben allein ist es, welche einen
spekulativen Gedanken zum Schluß und zur Vollendung der Gewißheit
bringt und zum vollkommenen wahren Wissen erhebt. Ich würde diese höchste
Stufe desselben am liebsten mit dem Begriff und Namen der Konsequenz bezeichnen,
worunter alsdann aber nicht bloß eine logisch richtige Gedankenverkettung,
sondern vorzüglich auch eine treu durchgeführte Konsequenz der Gesinnung
und des Lebens — als die Beharrlichkeit im Guten — verstanden, zugleich
aber erinnert werden muß, daß das böse Prinzip, obgleich solches
oft von ihm gerühmt wird, doch immer nur scheinbar und nicht in diesem
Sinne konsequent, sondern immer leidenschaftlich in seinem Innersten zerrissen,
eigentlich vielmehr höchst inkonsequent ist als seinem eigenen ersten Anfange
und Ursprunge, den es wie alle erschaffenen Wesen aus Gott genommen und empfangen
hat, im höchsten Grade widerstreitend. Wahrhaft konsequent kann man gar
nicht sein als in der Wahrheit, d. h. in Dem, aus Dem alle Wahrheit und von
Dem alles Dasein abgeleitet und hergekommen ist, oder in Gott. Das Wissen ist
also überhaupt ein angewandtes, d. h. ein zum Leben und eben dadurch wirklich
und gewiß gewordenes Denken; und nur auf dem praktischen Wege, durch die
wirkliche Ausführung oder reelle Darstellung läßt sich die höchste
Stufe dessselben erreichen und die Wahrheit einer Idee oder spekulativen Ansicht
vollkommen bewähren. Die Ideen, nach dem ursprünglichen Sinne dieses
Wortes, sind eben die selbst lebendigen Gedanken des höheren Lebens, zum
Unterschiede von den bloßen Tatsachen des subjektiven Bewußtseins
im Gebiete der Reflexion und von allen bloß willkürlichen Denkformeln
der leeren Abstraktion.
Da aber selbst hier ein falsches oder krankes und nichtiges Scheinleben dem
wahren untergeschoben sein könnte, so betrifft dies zunächst nur die
Form der lebendigen Gedanken im Gegensatze gegen den sinnlichen Schein oder
den toten Begriff. Denn daß die göttliche Idee wahrhaft eine solche
sei, muß erst durch jene Konsequenz bewährt und bewiesen werden,
nämlich durch die göttliche Wirksamkeit und Wirkung im Leben. Nicht
ganz richtig wird dagegen von vielen philosophischen Denkern die innere Gewißheit
des spekulativen Denkens mit dem Namen und unter der Form der intellektuellen
Anschauung bezeichnet und wird dadurch zu vielfachem Mißverstande Anlaß
gegeben. Wenn wir aber auch nach jenem früher gegebenen vollen Begriffe
der ewigen Wahrheit und Dessen, welcher die Quelle und der Inbegriff derselben
ist, jenes göttliche Leben wahrhaft in uns empfinden und fühlen könnten,
jenes ewige Wort hören und hörbar vernehmen, jenes heilige Licht wirklich
sehen, so würde eine solche geistige Anschauung von der Herrlichkeit Gottes
wohl mehr für jenes Leben geeignet sein als für dieses und würde
sich auch, wenngleich dieselbe, als von oben gegeben, in solcher Weise als denkbar
angenommen wird und werden kann, doch nicht weiter mitteilen oder zu dem gemeinen
Gebrauche der philosophischen Begründung eines menschlichen Systems verwenden
lassen. Unter dieser Form einer seinsollenden intellektuellen Anschauung, wenn
es wirklich eine solche und nicht unter dem angenommenen anderen Namen wieder
bloß eine Formel des abstrakten Denkens ist, würde also das spekulative
Wissen mehr nur den Charakter einer zweifelhaften Vision und möglichen
geistigen Täuschung annehmen. Denn zu der vollen inneren Befriedigung und
Gewißheit, soweit dieselbe für Menschen erreichbar ist, führt
selbst in diesem Falle als Kennzeichen und Beweis, daß diese Anschauung
oder Wahrnehmung des göttlichen Lichtes eine wahrhafte gewesen, allein
jene oben bezeichnete Konsequenz eines in Gott begründeten Denkens und
Wissens, wozu auch die Übereinstimmung mit jeder anderen schon als wahr
erkannten göttlichen Idee und Offenbarung als unverbrüchliche Regel
der Beurteilung und des Lebens wie natürlich mit gehört.
Die
Wiederherstellung des Bewußtseins
Wie das menschliche Bewußtsein, so wie es jetzt ist, unvollendet sei oder
auch nicht mehr unverdorben, zerrüttet und in sich gestört im Vergleiche
mit dem, wie es im Anfange unmittelbar von seinem Schöpfer aus war in der
ersten frischen Lebenskraft und in der ganzen vollen Wirksamkeit derselben,
das war der Anfang aller meiner Bemerkungen in der ganzen Reihenfolge dieser
Vorträge. Der natürliche Schluß derselben liegt also in dem
Begriffe von der göttlichen Wiederherstellung und göttlichen Vollendung
des menschlichen Bewußtseins. — In dem kalten, abstrakten und toten
Verstande, in dem leidenschaftlich blinden und absoluten Willen, in einer dialektisch
streitenden oder dynamisch spielenden und auf diesem Wege nie ihr Ziel erreichenden
Vernunft, in einer nach Bildern sehnsüchtig jagenden, in Bildern träumend
lebenden und ganz darin versunkenen und berauschten Phantasie, in diesen fehlerhaften
Formen des durch die Sünde und den Abfall von Gott zerrütteten Bewußtseins,
mögen die Gegenstände jenes fehlerhaften Denkens und Wollens auch
an sich noch so schuldlos, gleichgültig oder selbst uneigennützig
und nichtsinnlich erscheinen, liegt die erste Quelle des mannigfachen Irrtums,
Unglaubens und aller zerstörenden und verderblichen Gedanken. Die Seele
ist in der Mitte dieser vierfachen Quelle des falschen Denkens und Wollens vielfach
geteilt und zerrissen, gebunden und wie gelähmt und erstorben; aber doch
bleibt sie die ewig unsterbliche, und von hieraus muß auch die neue Lebenserweckung
beginnen und die Wiederherstellung geschehen. Eine göttliche aber ist die
Wiederherstellung und Vollendung des menschlichen Bewußtseins darum zu
nennen, weil sie nur auf diesem Wege erreicht werden kann; nämlich nur
durch die volle Anschließung der ganzen Seele an jenen schon früher
erwähnten zweiten neuen und göttlichen Anfangspunkt des menschlichen
Daseins. Je mehr aber die zur Unsterblichkeit erschaffene und das Unsterbliche
an sich liebende und hebend umfassende Seele jenes neue große Menschenwort,
jenen zweiten Gottes-Anfang in sieh aufnimmt und wieder von ihm befruchtet wird,
je mehr hören auch Vernunft und Phantasie auf, miteinander im Gegensatze,
überhaupt auch streitende, getrennte und vereinzelte Vermögen zu sein
und verschmelzen endlich ganz in die Eine denkende und liebende Seele. Dann
hört auch der Verstand auf, ein toter, kalter und abstrakter zu sein; er
wird ein lebendig erwachter, d. h. eben ein Geist, ein in diesem neuen Leben
freier und wirkender Geist. Auch der Wille ist dann nicht mehr so blind und
kann nicht mehr leidenschaftlich absolut sein; der sehende Wille aber ist eins
mit dem Sinne, als dem dritten Gliede des Bewußtseins und ganz bewaffnet
und armiert mit diesem. Denn der äußere, sonst bloß passive
Sinn, wird nun in diesem sehend gewordenen Willen auch aktiv und ein lebendig
wirkender; der innere moralische, früher bloß subjektive Sinn aber
wird nun auch ein äußerlich durchblickender. — Dieses ist das
Ziel der Vollendung, und nur auf dem Wege dieser göttlichen Wiederherstellung
des Bewußtseins in ihrem geordneten Stufengange kann auch die göttliche
Richtung der Wissenschaft ihr Ziel und ihre Vollendung erreichen. Mit diesem
Ziele und der Erreichung desselben würde eine wahrhaft neue Zeit beginnen;
das verwickelte Problem unserer Zeit aber liegt eben darin, daß in ihr
eine wahrhaft neue Zeit und eine falsche neue Zeit miteinander ringen und im
Kampfe liegen und sich gegenseitig zu vernichten streben. Die wahre neue Zeit
kann erst dann sich erheben und emporblühen, wenn die falsche neue Zeit
abgemäht und auf die Seite geschafft ist. Dazu muß der jetzige falsche
Zeitgeist, der nur ein verkehrter Weltgeist ist, des Todes sterben; nur durch
das Schwert des Wortes oder der ewigen Wahrheit kann dies geschehen, welches
Schwert das Innerste bis auf Mark und Bein durchdringt und Geist und Seele scheidet;
denn eben die ewige, von Gott erschaffene und ihm eigen erworbene Seele der
Menschheit soll von dem falschen, aus so mancherlei trüben, falschen, halben
und bösen Geistern vermschten Zeitgeiste geschieden und losgerissen werden.
Dieser selbst soll ganz umgewendet, zur Erkenntnis seines Irrtums und zum offenen
Bekenntnis desselben gebracht werden, und wenn die ganz erstorbenen Stellen
desselben erst zum ewigen Tode bezeichnet sind, dann in den Feuer-Fluten der
wahren neuen Zeit auch wieder hergestellt und gereinigt werden. — Bei
dieser göttlichen Wiederherstellung und Theokratie des Bewußtseins
aber kann sich der Mensch fast nur ganz leidend verhalten, und ist es genug,
wenn er nur nichts hindert und verdirbt; da er in der Theokratie der Wissenschaft
noch allenfalls in einem gewissen Grade wenigstens mitwirkend sein kann. Auch
jenes Ziel, auf welches die wahrhaft neue Zeit, die von der falschen noch ganz
verdeckt und wie verschüttet ist, hingeht, jener Gottesfriede, von welchem
selbst der höhere und beste Religionsfriede nur ein vorbedeutendes Symbol
und die erste schwache Stufe dazu ist, kann nicht durch menschliche Kunst und
Kraft herbeigeführt werden. Nicht durch eine gegenseitige diplomatische
Nachgiebigkeit, die hier strafbar wäre, nicht durch ein in dieser Sphäre
widersinniges Amalgamieren kann dieser Friede zustande gebracht werden, in welchem
nach der doch gewiß nicht leeren Verheißung Ein
Hirt und Eine Herde sein soll, sondern allein durch Den, welcher von
Ewigkeit der Hirt aller erschaffenen Wesen immer gewesen ist und noch ist.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 246, Friedrich Schlegel, Schriften und Fragmente. Ein Gesamtbild seines
Geistes
Aus den Werken und dem handschriftlichen Nachlaß zusammengestellt und
eingeleitet von Ernst Behler (276-289)
©1956 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart
Aus
den »Athenäums«-Fragmenten
Da alle Sachen die recht Eins sind, zugleich Drei zu sein pflegen, so läßt
sich nicht absehen warum es mit Gott grade anders sein sollte. Gott ist aber
nicht bloß ein Gedanke, sondern zugleich auch eine Sache, wie alle Gedanken,
die nicht bloße Einbildungen sind. S.104
Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich
bilden, sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten. S.110
Virtuosen in verwandten Gattungen verstehn sich oft am wenigsten, und auch die
geistige Nachbarschaft pflegt Feindseligkeiten zu veranlassen. So findet man
nicht selten, daß edle und gebildete Menschen, die alle göttlich
dichten, denken oder leben, deren jeder aber sich der Gottheit auf einem andern
Wege nähert, einander die Religion absprechen, gar nicht um der Partei
oder des Systems willen, sondern aus Mangel an Sinn für religiöse
Individualität. Die Religion ist schlechthin groß wie die Natur,
der vortrefflichste Priester hat doch nur ein klein Stück davon. Es gibt
unendlich viel Arten derselben, die sich jedoch von selbst unter einige Hauptrubriken
zu ordnen scheinen. Einige haben am meisten Talent für die Anbetung des
Mittlers, für Wunder und Gesichte. Das sind die, welche der gemeine Mann,
wie es kommt, Schwärmer oder Poeten nennt. Ein andrer weiß vielleicht
mehr von Gott dem Vater, und versteht sich auf Geheimnisse und Weissagungen.
Dieser ist ein Philosoph, und wird wie der Gesunde von der Gesundheit, nicht
viel von der Religion reden, am wenigsten von seiner eignen. Andre glauben an
den heiligen Geist, und was dem anhängt, Offenbarungen, Eingebungen usw.;
an sonst aber niemand. Das sind künstlerische Naturen. Es ist ein sehr
natürlicher ja fast unvermeidlicher Wunsch, alle Gattungen der Religion
in sich vereinigen zu wollen. In der Ausführung ist’s damit aber
ungefähr, wie mit der Vermischung der Dichtarten. Wer aus wahrem Instinkt
zugleich an den Mittler und an den heiligen Geist glaubt, pflegt schon die Religion
als isolierte Kunst zu treiben; welches eine der mißlichsten Professionen
ist, die ein ehrlicher Mann treiben kann. Wie müßte es erst einem
ergehn, der an alle drei glaubt. S.118
Gott ist nach Leibniz wirklich, weil nichts seine Möglichkeit verhindert.
In dieser Rücksicht ist Leibnizens Philosophie recht gottähnlich.
S.119
Leibniz sieht die Existenz an wie eine Hofcharge, die man zu Lehn haben muß.
Sein Gott ist nicht nur Lehnsherr der Existenz, sondern er besitzt auch als
Regale allein Freiheit, Harmonie, synthetisches Vermögen. Ein fruchtbarer
Beischlaf ist die Expedition eines Adelsdiploms für eine schlummernde Monade
aus der göttlichen geheimen Kanzlei. S.121
Wenn jedes unendliche Individuum Gott ist, so gibts so viele Götter als
Ideale. Auch ist das Verhältnis des wahren Künstlers und des wahren
Menschen zu seinen Idealen durchaus Religion. Wem dieser innre Gottesdienst
Ziel und Geschäft des ganzen Lebens ist, der ist Priester, und so kann
und soll es jeder werden. S.131
Aus: Friedrich Schlegel, Kritische und theoretische
Schriften
Auswahl und Nachwort von Andreas Huyssen
Reclams Universalbibliothek Nr. 9880 (S.119, 121, 131 aus »Athenäums«-Fragmente)
© 1978 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages