Ernest Renan (1823 – 1892)
>>>Gott
Unter den Menschensöhnen
gibt es kein größeren als Jesus.
Kann man mit mehr Recht sagen, dass Jesus alles dem Judentum verdanke und
dass seine Größe nur die des jüdischen Volkes gewesen?
Niemand ist geneigter als ich, dieses einzige Volk, dessen eigentümliche
Gabe es gewesen zu sein scheint, in seinem Schoße die Extreme des Guten und Bösen zu tragen, hoch zu stellen. Ohne Zweifel geht Jesus aus dem Judentum hervor; aber er geht so daraus hervor wie Sokrates aus der Sophistenschule,
wie Luther aus dem Mittelalter, wie Lamennais aus dem Katholizismus, wie Rousseau aus dem 18. Jahrhundert. Man entstammt seinem Jahrhundert und seinem Stamme,
selbst wenn man sich gegen sie auflehnt. Weit entfernt,
Fortsetzer des Judentums zu sein, stellt Jesus vielmehr den Bruch mit dem jüdischen
Geist dar. Wenn man auch annimmt, dass sein eigener Gedanke in dieser
Beziehung etwas Zweideutiges bieten könnte, so entscheidet doch die allgemeine
Richtung des Christentums nach ihm. Der allgemeine Gang des Christentums war
der, sich immer weiter vom Judentum zu entfernen. Seine Vervollkommnung wird
auf Jesus zurückzuführen sein und gewiss nicht auf das Judentum.
Die große Originalität des Begründers bleibt also unversehrt;
sein Ruhm lässt keinen rechtmäßigen Teilhaber zu.
Allerdings trugen die Umstände viel zum Erfolg dieser wunderbaren
Revolution bei, aber die Umstände kommen nur dem Gerechten und Wahren
zur Hilfe. Jeder Zweig der Entwicklung der Menschheit hat seine begünstigte
Epoche, wo er durch eine Art von freiwilligem Instinkt und ohne Anstrengung
seine Vollkommenheit erreicht. Keiner Arbeit der Reflexion gelingt es nachher,
die Meisterwerke hervorzubringen, welche die Natur in solchen Augenblicken durch
begeisterte Genies schafft. Was die Blütezeit Griechenlands für die
Künste und profanen Wissenschaften war, das war die Zeit Jesu für
die Religion. Die jüdische Gesellschaft bot den merkwürdigsten geistigen
und sittlichen Zustand dar, den das Menschengeschlecht je durchlebt hat. Es
war in der Tat eine jener göttlichen Stunden, in
denen das Große aus dem geheimen Zusammenwirken tausend verborgener Kräfte
hervorbricht, in denen schöne Seelen von einem Strom von Bewunderung
und Sympathie getragen werden. Die Welt, von der engen Tyrannei der kleinen
städtischen Republiken befreit, genoß große Freiheit. Erst
weit später machte sich der römische Despotismus auf verderbliche
Weise fühlbar und blieb selbst dann in diesen entlegenen Provinzen weniger
drückend als im Mittelpunkt des Reiches. Unsere kleinen präventiven
Schikanen (weit tödlicher als der Tod für Sachen des Geistes) gab
es noch nicht. Jesus konnte drei Jahre hindurch ein Leben führen, welches
ihn in unserer Gesellschaft zwanzigmal vor das Polizeigericht gebracht hätte.
Selbst schon unsere Gesetze über unbefugte Ausübung der Heilkunst
hätten ausgereicht, um seine Laufbahn abzubrechen. Anderseits bekümmerte
sich auch die ungläubige Dynastie des Herodes wenig um religiöse Bewegungen;
unter den Asmonäern wäre Jesus wahrscheinlich bei seinen ersten Schritten
angehalten worden. Ein Neuerer setzte in einem solchen gesellschaftlichen Zustand
nur sein Leben aufs Spiel, und der Tod ist gut für die, welche für
die Zukunft arbeiten. Man stelle sich Jesus vor, gezwungen,
sechzig oder siebzig Jahre lang die Bürde seiner Göttlichkeit zu tragen,
seine göttliche Flamme verlierend, nach und nach sich unter dem Zwang einer
unerhörten Rolle abnutzend. Alles begünstigt die, welche ein Zeichen
tragen; sie schreiten hin Ruhme, unwiderstehlich und durch schicksalhafte Order
mitgerissen. Diese erhabene Persönlichkeit, die jeden Tag noch das Geschick
der Welt leitet, darf man göttlich nennen, nicht in dem Sinne, dass Jesus alles Göttliche allein in sich aufgenommen hätte oder adäquat
gewesen sei (um den scholastischen Ausdruck zu gebrauchen), sondern in jenem,
dass Jesus der Mensch war, welcher sein Geschlecht den größten
Schritt zum Göttlichen tun ließ. Die Menschheit im ganzen
bietet eine Vereinigung von niedriger egoistischen Wesen dar, die nur dadurch
höher stehen, als das Tier, dass ihr Egoismus überlegter ist.
Aber inmitten dieses gleichförmigen gemeinen Haufens erheben sich Säulen
gen Himmel und zeugen von einer edleren Bestimmung. Jesus ist die höchste
dieser Säulen, welche dem Menschen zeigen, von wo er kommt und wohin streben
soll. In ihm hat sich alles Gute und Erhabene unserer Natur verdichtet. Er war
nicht unfähig zu sündigen; er hat dieselben Leidenschaften besiegt,
die wir bekämpfen; kein Engel Gottes hat ihm Kraft gegeben, außer
seinem guten Gewissen; kein Satan hat ihn versucht, außer der, den jeder
im Herzen trägt. Ebenso, wie manche seiner großen Seiten uns durch
die Schuld seiner Schüler verlorengegangen sind, ist es wahrscheinlich,
dass viele seiner Fehler verheimlicht wurden. Aber nie hat jemand in seinem
Leben das Interesse Menschheit so sehr über die Kleinlichkeiten der Eigenliebe
überwiegen lassen. Ohne Rückhalt seiner Idee hingegeben, hat er ihr
alles solchem Grade untergeordnet, dass gegen das Ende seines Lebens das
Universum nicht mehr für ihn existierte. Durch diese Kraft des heroischen
Willens hat er den Himmel erstürmt. Es gibt keinen Menschen, Cakya-Muni vielleicht ausgenommen, der so weit die Familie, die Freuden dieser Welt, jede
zeitliche Sorge verachtet ha: Er lebte bloß seinem Vater und der göttlichen
Aufgabe, von deren Erfüllung er überzeugt war. Wir ewigen Kinder,
zur Ohnmacht verdammt, die wir arbeiten ohne zu ernten und nie die Früchte
sehen werden von dem, was wir gesäet, beugen wir uns vor solchen Halbgöttern.
Sie verstanden, was wir nicht können: zu schaffen, zu bejahen, zu handeln.
Wird die große Ursprünglichkeit wieder erstehen oder wird die Welt
sich begnügen, fernerhin die Bahnen zu verfolgen, welche durch die kühnen
Schöpfer der alten Zeiten eröffnet wurden? Wir wissen es nicht. Aber
welche unerwarteten Erscheinungen die Zukunft auch bringen mag, Jesus wird nicht übertroffen werden. Sein Gottesdienst wird sich unaufhörlich
verjüngen: seine Legende wird Tränen ohne Ende hervorrufen, seine
Leiden werden die besten Herzen rühren; alle Jahrhunderte werden verkünden,
dass unter den Menschensöhnen kein größerer denn Jesus geboren ist.
Aus: Ernest Renan, Das Leben Jesu, S.215-218
Vom Verfasser autorisierte Übersetzung aus dem Französischen. Mit
einem Nachwort von Stefan Zweig
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch - detebe Klassiker 20419 –
im Diogenes Verlag, Zürich