Ernest Renan (1823 – 1892)

  Französischer Religionswissenschaftler, Orientalist und Schriftsteller: Reisen, insbesondere in den Nahen Osten, führten zu seinem Hauptwerk »Das Leben Jesu«. In ihm versuchte er Gestalt und Weg Jesu aus den antiken Verhältnissen zu erklären. Er zeichnet Jesu – dem er höchste Bewunderung zollt - nicht als eine göttliche, sondern als eine ganz außergewöhnliche menschliche Gestalt, in der sich alles Gute und Erhabene der Menschheit vereint. (Jesus als religiös-anarchistischer Idealist).

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Jesu’s Gottesverständnis

Deismus und Pantheismus sind die beiden Pole der Theologie geworden. Die armseligen Erörterungen der Scholastik, die Trockenheit des Geistes eines Descartes, die tiefe Irreligiosität des achtzehnten Jahrhunderts haben, indem sie Gott verkleinerten und ihn durch die Ausschließung alles dessen, was er ist, beschränkten, im Schoße des modernen Rationalismus jedes befruchtende Gefühl der Gottheit erstickt. Wenn Gott tatsächlich ein bestimmtes, außer uns lebendes Wesen ist, so ist der, welcher mit Gott in besonderer Beziehung zu stehen glaubt, ein »Visionär«, und da die physikalischen und physiologischen Wissenschaften uns gezeigt haben, daß jede übernatürliche Vision eine Täuschung ist, so befindet sich der einigermaßen konsequente Deist in der Unmöglichkeit, die großen Glaubenssätze der Vergangenheit zu verstehen. Während andrerseits der Pantheist die göttliche Persönlichkeit vernichtet, ist er ebenfalls so weit wie möglich von dem lebendigen Gott der alten Religionen entfernt. Die Menschen, die Gott am höchsten begriffen haben, Cakya-Muni, Plato, der heilige Paulus, der heilige Franz von Assisi, der heilige Augustin bis auf wenige Stunden seines bewegten Lebens, waren sie Deisten oder Pantheisten? Eine solche Frage hat keinen Sinn. Die physischen und metaphysischen Beweise für das Dasein Gottes hätten sie gleichgültig gelassen. Sie fühlten das Göttliche in sich selbst. — In den ersten Rang dieser großen Familie der wahren Kinder Gottes muss man Jesus stellen. Jesus hat keine Visionen; Gott spricht nicht zu ihm wie zu jemand außer ihm; Gott ist in ihm; er fühlt sich mit Gott, und aus seinem Herzen schöpft er, was er von seinem Vater sagt. In fortdauernder Gemeinschaft lebt er im Schoße Gottes; er sieht ihn nicht, aber er hört ihn, ohne dass er wie Moses des Donners und des feurigen Busches, des offenbarenden Sturmes wie Hiob, des Orakels wie die alten griechischen Weisen, des vertrauten Dämon wie Sokrates, des Engels Gabriel wie Mahomet bedarf. Die Einbildungen und Gesichte einer heiligen Therese z. B. kommen dagegen nicht in Anschlag. Der Rausch eines sich für Gott ausgebenden Sufi ist auch etwas ganz Verschiedenes. Jesus spricht in keinem Augenblick den gotteslästerlichen Gedanken aus, dass er Gott sei. Er glaubt sich in unmittelbarer Beziehung zu ihm, er hält sich für den Sohn Gottes. Das höchste Bewusstsein von Gott, das je im Schoße der Menschheit gelebt hat, ist das von Jesus gewesen.

Man begreift andrerseits, dass Jesus bei einem solchen Gemütszustand nie ein spekulativer Philosoph wie Cakya-Muni sein wird. Nichts ist der scholastischen Theologie ferner als das Evangelium. Die Spekulationen der Kirchenväter über das Wesen Gottes fließen aus einem ganz anderen Geiste. Gott unmittelbar als Vater aufgefasst, das ist die ganze Theologie Jesu. Und das war bei ihm kein theoretischer Grundsatz, keine mehr oder minder bewiesene Lehre, welche er anderen einzupflanzen suchte. Er trug seinen Jüngern keine Beweisgründe vor; er forderte von ihnen keine anstrengende Aufmerksamkeit. Er predigte nicht seine Meinungen, er predigte sich selbst. Oft zeigen sehr große und uneigennützige Seelen jenen Charakter unablässiger Aufmerksamkeit auf sich selbst und äußerster persönlicher Empfänglichkeit, wie er eigentlich den Frauen eigentümlich ist, mit großer Erhabenheit gepaart. Die Überzeugung, daß Gott in ihnen ist und sich ununterbrochen mit ihnen beschäftigt, ist so stark, dass sie nie fürchten, sich andern aufzudrängen; unsere Zurückhaltung, unsere Achtung vor der Meinung anderer, welche ein Teil unserer Schwäche ist, würde nicht ihre Sache sein. Diese überspannte Persönlichkeit ist keine Selbstsucht; denn solche von ihrer Idee eingenommene Menschen geben mit ganzem Herzen ihr Leben hin, um ihr Werk zu besiegeln; es ist nur die Identifizierung des Ichs mit dem Gegenstande, den es umfaßt hat, bis zur äußersten Grenze getrieben. Für die, welche in der neuen Erscheinung nur die persönliche Laune des Gründers erblicken, ist es Ehrgeiz; es ist der Finger Gottes für jene, welche den Erfolg sehen. Hier grenzt der Narr an den erleuchteten Mann; nur fehlt dem Narren immer das Gelingen. Es war bis jetzt der Geistesverirrung nicht gegeben, auf den Gang der Menschheit in ernsthafter Weise einzuwirken.

Ohne Zweifel gelangte Jesus nicht auf einmal zu dieser hohen Meinung von sich selbst. Aber es ist wahrscheinlich, dass er seit seinen ersten Schritten sich Gott gegenüber in der Verbindung eines Sohnes zum Vater erblickte. Das ist die große Tat seiner Eigentümlichkeit; darin weicht er vollkommen von seinem Stamme ab. Weder der Jude noch der Muselman haben diese köstliche Theologie der Liebe verstanden. Der Gott Jesu ist nicht jener willkürliche Herr, der uns tötet wenn es ihm gefällt, der uns verdammt wenn es ihm gefällt, und rettet wenn es ihm gefällt. Der Gott Jesu ist unser Vater. Man hört ihn, wenn man dem leisen Hauche lauscht, der in uns »Vater« ruft. Der Gott Jesu ist nicht der parteiische Despot, der Israel zu seinem Volke erwählt hat und es gegen alle beschützt. Er ist der Gott der Menschheit. Jesus wird kein Patriot sein wie die Makkabäer, kein Theokrat wie Judas der Gauloniter. Indem er sich kühn über die Vorurteile seiner Nation erhebt, wird er die allgemeine Vaterschaft Gottes gründen. Der Gauloniter beharrte dabei, dass man eher sterben müsse, als einem andern denn Gott den Namen des »Herrn« geben; Jesus überlässt diesen Namen jedem, der ihn beansprucht, und bewahrt Gott einen lieblicheren Titel. Indem er den Mächtigen der Erde, welche ihm die Vertreter der Gewalt sind, eine ironische Ehrerbietung gewährt, gründ
et er den höchsten Trost, die Zuflucht zu dem Vater, den jeder im Himmel besitzt, das wahre Reich Gottes, das jeder in seinem Herzen trägt.
Aus: Ernest Renan, Das Leben Jesu, S.44-46
Vom Verfasser autorisierte Übersetzung aus dem Französischen. Mit einem Nachwort von Stefan Zweig
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch - detebe Klassiker 20419 – im Diogenes Verlag, Zürich