Ernest Renan (1823 – 1892)
Französischer Religionswissenschaftler, Orientalist und Schriftsteller: Reisen, insbesondere in den Nahen Osten, führten zu seinem Hauptwerk »Das Leben Jesu«. In ihm versuchte er Gestalt und Weg Jesu aus
den antiken Verhältnissen zu erklären. Er zeichnet Jesu –
dem er höchste Bewunderung zollt - nicht als eine göttliche, sondern
als eine ganz außergewöhnliche menschliche Gestalt, in der sich
alles Gute und Erhabene der Menschheit vereint. (Jesus als religiös-anarchistischer
Idealist). Siehe auch Wikipedia, Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg |
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Jesu’s
Gottesverständnis
Deismus und Pantheismus sind die beiden Pole der Theologie geworden. Die armseligen
Erörterungen der Scholastik, die Trockenheit des Geistes eines Descartes,
die tiefe Irreligiosität des achtzehnten Jahrhunderts haben, indem sie
Gott verkleinerten und ihn durch die Ausschließung alles dessen, was er
ist, beschränkten, im Schoße des modernen Rationalismus jedes befruchtende
Gefühl der Gottheit erstickt. Wenn Gott tatsächlich ein bestimmtes,
außer uns lebendes Wesen ist, so ist der, welcher mit Gott in besonderer
Beziehung zu stehen glaubt, ein »Visionär«, und da die physikalischen
und physiologischen Wissenschaften uns gezeigt haben, daß jede übernatürliche
Vision eine Täuschung ist, so befindet sich der einigermaßen konsequente
Deist in der Unmöglichkeit, die großen Glaubenssätze der Vergangenheit
zu verstehen. Während andrerseits der Pantheist die göttliche Persönlichkeit
vernichtet, ist er ebenfalls so weit wie möglich von dem lebendigen Gott
der alten Religionen entfernt. Die Menschen, die Gott am höchsten begriffen
haben, Cakya-Muni, Plato, der heilige Paulus, der heilige Franz von Assisi,
der heilige Augustin bis auf wenige Stunden seines bewegten Lebens, waren sie
Deisten oder Pantheisten? Eine solche Frage hat keinen Sinn. Die physischen
und metaphysischen Beweise für das Dasein Gottes hätten sie gleichgültig
gelassen. Sie fühlten das Göttliche in sich
selbst. — In den ersten Rang dieser großen Familie der wahren Kinder
Gottes muss man Jesus stellen. Jesus hat keine Visionen; Gott spricht nicht
zu ihm wie zu jemand außer ihm; Gott ist in ihm; er fühlt sich mit
Gott, und aus seinem Herzen schöpft er, was er von seinem Vater sagt. In
fortdauernder Gemeinschaft lebt er im Schoße Gottes; er sieht ihn nicht,
aber er hört ihn, ohne dass er wie Moses des Donners und des feurigen
Busches, des offenbarenden Sturmes wie Hiob, des Orakels wie die alten griechischen
Weisen, des vertrauten Dämon wie Sokrates, des Engels Gabriel wie Mahomet bedarf. Die Einbildungen und Gesichte einer heiligen Therese z. B. kommen
dagegen nicht in Anschlag. Der Rausch eines sich für Gott ausgebenden Sufi ist auch etwas ganz Verschiedenes. Jesus spricht in keinem Augenblick den gotteslästerlichen
Gedanken aus, dass er Gott sei. Er glaubt sich in unmittelbarer Beziehung
zu ihm, er hält sich für den Sohn Gottes. Das höchste Bewusstsein von Gott, das je im Schoße der Menschheit gelebt hat, ist das von Jesus gewesen.
Man begreift andrerseits, dass Jesus bei einem solchen Gemütszustand
nie ein spekulativer Philosoph wie Cakya-Muni sein wird. Nichts ist der scholastischen
Theologie ferner als das Evangelium. Die Spekulationen der Kirchenväter über das Wesen Gottes fließen aus einem ganz anderen Geiste. Gott
unmittelbar als Vater aufgefasst, das ist die ganze Theologie Jesu. Und
das war bei ihm kein theoretischer Grundsatz, keine mehr oder minder bewiesene
Lehre, welche er anderen einzupflanzen suchte. Er trug seinen Jüngern keine
Beweisgründe vor; er forderte von ihnen keine anstrengende Aufmerksamkeit.
Er predigte nicht seine Meinungen, er predigte sich selbst. Oft zeigen
sehr große und uneigennützige Seelen jenen Charakter unablässiger
Aufmerksamkeit auf sich selbst und äußerster persönlicher Empfänglichkeit,
wie er eigentlich den Frauen eigentümlich ist, mit großer Erhabenheit
gepaart. Die Überzeugung, daß Gott in ihnen ist und sich ununterbrochen
mit ihnen beschäftigt, ist so stark, dass sie nie fürchten, sich
andern aufzudrängen; unsere Zurückhaltung, unsere Achtung vor der
Meinung anderer, welche ein Teil unserer Schwäche ist, würde nicht
ihre Sache sein. Diese überspannte Persönlichkeit ist keine Selbstsucht;
denn solche von ihrer Idee eingenommene Menschen geben mit ganzem Herzen ihr
Leben hin, um ihr Werk zu besiegeln; es ist nur die Identifizierung des Ichs
mit dem Gegenstande, den es umfaßt hat, bis zur äußersten Grenze
getrieben. Für die, welche in der neuen Erscheinung nur die persönliche
Laune des Gründers erblicken, ist es Ehrgeiz; es ist der Finger Gottes
für jene, welche den Erfolg sehen. Hier grenzt der Narr an den erleuchteten
Mann; nur fehlt dem Narren immer das Gelingen. Es war bis jetzt der Geistesverirrung
nicht gegeben, auf den Gang der Menschheit in ernsthafter Weise einzuwirken.
Ohne Zweifel gelangte Jesus nicht auf einmal zu dieser hohen Meinung von sich
selbst. Aber es ist wahrscheinlich, dass er seit seinen ersten Schritten
sich Gott gegenüber in der Verbindung eines Sohnes zum Vater erblickte.
Das ist die große Tat seiner Eigentümlichkeit; darin weicht er vollkommen
von seinem Stamme ab. Weder der Jude noch der Muselman haben diese köstliche
Theologie der Liebe verstanden. Der Gott Jesu ist nicht jener willkürliche
Herr, der uns tötet wenn es ihm gefällt, der uns verdammt wenn es
ihm gefällt, und rettet wenn es ihm gefällt. Der Gott Jesu ist unser Vater. Man hört ihn, wenn man dem leisen Hauche
lauscht, der in uns »Vater« ruft. Der Gott Jesu ist nicht der parteiische
Despot, der Israel zu seinem Volke erwählt hat und es gegen alle beschützt.
Er ist der Gott der Menschheit. Jesus wird kein Patriot sein wie die
Makkabäer, kein Theokrat wie Judas der Gauloniter. Indem er sich kühn
über die Vorurteile seiner Nation erhebt, wird er die allgemeine Vaterschaft
Gottes gründen. Der Gauloniter beharrte dabei, dass man eher sterben
müsse, als einem andern denn Gott den Namen des »Herrn« geben;
Jesus überlässt diesen Namen jedem, der ihn beansprucht, und
bewahrt Gott einen lieblicheren Titel. Indem er den Mächtigen der Erde,
welche ihm die Vertreter der Gewalt sind, eine ironische Ehrerbietung gewährt,
gründet er den höchsten Trost, die Zuflucht zu dem Vater, den jeder
im Himmel besitzt, das wahre Reich Gottes, das jeder in seinem Herzen trägt.
Aus: Ernest Renan, Das Leben Jesu, S.44-46
Vom Verfasser autorisierte Übersetzung aus dem Französischen. Mit
einem Nachwort von Stefan Zweig
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch - detebe Klassiker 20419 –
im Diogenes Verlag, Zürich