Hugues-Félicité-Robert Lamennais, bis 1834 La Mennais (1782 – 1854)
Französischer theologischer,
philosophischer und politischer Schriftsteller,
der glanzvoll die kirchliche Offenbarung gegen den Indifferentismus und
die kirchliche Freiheit gegen das herrschende Staatskirchentum verteidigte. |
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Religiöse
Beredsamkeit
Die religiöse Beredsamkeit war im Altertum mit der Poesie verschmolzen.
Die bei den Religionsgebräuchen gesungenen Hymnen, einige Gedichte, die
von Hesiod z. B. und den Gnomikern, dies waren die Mittel, wodurch die sittlichen
Vorschriften und die theologischen Glaubenslehren von Jahrhundert zu Jahrhundert
überliefert wurden. Später dogmatisierten die Philosophen entweder
mündlich in ihren Schulen oder schriftlich in Büchern, die nur den
wissenschaftlich gebildeten Klassen zugänglich waren. Das war auch alles.
Die Priester waren keine Prediger. Mag auch im Heiligtum der Eleusis von Samothrazien
der Oberpriester den Eingeweihten manche geheimnisvollen Lehren mitgeteilt haben,
so war doch streng verboten, diese der Menge der Nichteingeweihten zu offenbaren.
Dem Volke war kein Unterricht beschieden; das Priestertum war stumm.
Religiöse Beredsamkeit gab es folglich keine vor dem Christentum. Sie ward
geboren an den Ufern des Sees von Genezareth und auf den Bergen Judäas,
mit Christi Predigten. Dieses mächtige Predigen, das die Welt erneuern
sollte, wurde von den Jüngern Jesu fortgesetzt und griff im ganzen römischen
Reich, ja sogar bis in der Barbaren Lande um sich, und zwar mit solcher Schnelligkeit,
daß der Apostel Paulus, der selbst darüber erstaunt war, sagte: Currit
verbum. Von dieser Zeit an hat der Unterricht in der Glaubens- und Pflichtenlehre
nicht aufgehört; mit dem Kultus innig verbunden, bildete er gleich anfangs
eine der erhabensten Funktionen des Priesters; und diesem mündlichen Unterricht
muß man vorzugsweise die geistige und sittliche Entwicklung und die weiter
vorgerückte Zivilisation der christlichen Völker zuschreiben.
Die Denkmäler der christlichen Beredsamkeit, von den Aposteln an bis auf
unsere Zeit, bieten allerdings zahlreiche Unähnlichkeiten dar und weisen
in ihrem künstlerischen Wert außerordentliche Unterschiede auf. Dessenungeachtet
haben sie aber alle ein gemeinsames Kennzeichen, das um so bemerkenswerter ist,
als es mit dem, was die Welt bis dahin gekannt hatte, einen ungeheuren Kontrast
bildet: wir meinen nämlich den Vorzug des Geistes vor dem Fleische, der
die Typen für Bildhauerei und Malerei im Mittelalter lieferte; die Verschmähung
der irdischen und so vergänglichen Dinge und das heiße Sehnen nach
den ewigen Gütern; hauptsächlich aber jene hehre, unermeßliche
Liebe Gottes und der Menschen, die man christliche Liebe genannt, woraus allmählich
eine Gesellschaft hervorging, die auf ein neues Recht gegründet war, auf
das heilige Prinzip der menschlichen Gleichheit und Bruderliebe. Seit achtzehn
Jahrhunderten wiederholen unzählige Stimmen dasselbe Wort, und dieses Wort
ist eine tugendhaft beharrliche Protestation gegen den Mißbrauch der Gewalt,
gegen die Roheit der selbstsüchtigen Macht, ein feierliches Parteiergreifen
im Namen des himmlischen Vaters zugunsten des Schwächeren, des Armen, der
Unterdrückten, der Enterbten in der großen menschlichen Familie.
Dies war gewiß eine reiche Quelle erhabener Inspirationen, die der Beredsamkeit
der Alten durchaus fremd waren. Nichts ist zu vergleichen mit der kräftigen
Sprache der Kirchenväter und der Kühnheit ihres Gedankens, wenn sie
die Großen und Reichen erinnern an die vergessene Pflicht, wenn sie von
der christlichen Kanzel herab der Ungerechtigkeit, der selbstsüchtigen
Härte und der unerschütterlichen Gleichgültigkeit den verdienten
Fluch hinschleudern und die Strafe verkünden, die der höchste Richter
dagegen ausgesprochen. Bald aber vermengen sich mit ihren prophetischen Drohungen,
mit ihrem frommen Schmerze sanftere Gefühle. Sie trösten die Leidenden,
richten die Demütigen und Verlassenen auf und zeigen ihnen jenseits dieses
so bald dahingeschwundenen Lebens die Vergeltung für ihre vorübergehenden
Trübsale, den gewissen Lohn für ihr stilles Dulden, für ihren
Sieg über die Versuchungen, für ihren treuen Gehorsam gegenüber
dem Gesetz der Pflicht, das alle Menschen gleicherweise bindet. Daher eine Art
von Pathos voller Wärme und lebhafter Rührungen, das aber nimmermehr
die heftigen und bösen Leidenschaften anregt, die in der Seele niedrigeren
Falten schlummern. Von der göttlichen Liebe stammend, hat es auch deren
Reinheit und dringt, wie das Öl in die Falten eines Kleides, auf geheimen
Wegen in des Herzens innerste Tiefen, kraft jener durchgreifenden Sanftmut,
die man Salbung genannt und die das christliche Wort von jedem anderen Wort
unterscheidet.
Allein das Christentum hat auch seine strengen und fürchterlichen Dogmen,
die anfängliche Entartung des Menschen, sein absolutes Unvermögen
zum Guten, die Prädestination zu endloser Pein oder ewiger Glorie. Da wo
diese schreckenerregenden Doktrinen in ihrer ganzen Strenge überwogen haben,
erstickten sie Liebe, Willenskraft und Tätigkeit, denn was konnte der Mensch
tun und wollen, da er unter der Last eines unwiderruflichen Schicksalsspruches
erlag? Das Leben, die Bewegung war fort und als Folge auch die Beredsamkeit.
Aus diesem Grund war auch der Protestantismus so arm an ausgezeichneten Rednern.
Sein wohlbedachtes, kaltes, trockenes Wort verrät nur dann ein wenig Lebendigkeit,
wenn es vom Haß und Ingrimm gestachelt wird. Aller Salbung entbehrend,
wird es, sobald es diese sucht, zu jenem pietistischen Gewäsch, jenem scheinheiligen
Kauderwelsch, dem alle Natürlichkeit, aller Wert, alles Salz abgeht und
das auf das Herz denselben Eindruck macht wie ein falscher Ton auf das Ohr.
Einer der Hauptcharaktere des Christentums ist seine unablässige Tendenz
nach der sittlichen Vervollkommnung, und es gibt nichts Tieferes als die Art,
wie es zur Erreichung dieses Zweckes verfährt. Vor allen Dingen bis zur
Quelle der Handlungen vordringend, verlangt es, daß der Mensch sorgfältig
auf die geheimen Antriebe achte, welche diese Handlungen hervorrufen, daß
er von Anbeginn, und ehe sie eine Wirkung hervorgebracht, diejenigen davon unterdrücke,
denen er eine schlechte Richtung zuerkennt, und daß er aus dieser inneren
Besserung, die stets notwendig und nimmer vollendet ist, seine erste Sorge mache.
Dies ist der Hauptzweck des Klosterlebens. In der Einsamkeit seiner Zelle, wo
kein anderer Gedanke ihn abwegig macht von dem Gedanken an das höchste
Wesen, zu dem alle seine Wünsche aufsteigen, beschaut der Mönch den
Allmächtigen in seiner unaussprechlichen Reinheit und Schönheit und
arbeitet, während er sich mit diesem göttlichen Muster vergleicht,
ohne Unterlaß daran, in seinem Innern alles zu vertilgen, was ihn von
Gott zu trennen vermag.
Aus: Französische Geisteswelt (S.137-140)
Herausgegeben von Joachim Schondorff mit einem Geleitwort von Hermann Noack
Verlag Werner Dausien