Gottfried Keller (1819 – 1890)
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Schweizer
Dichter, den man als Humanist im Sinne Goethes bezeichnen kann, wobei er jedoch durchaus von Feuerbachs
Atheismus stark
beeinflusst war, den er – ebenso wie Hettner - während seines Studiums in Heidelberg
(1850 – 1855) persönlich kennen
gelernt hatte. In seinen Werken wusste Keller seine
Liebe zur sinnlich-irdischen Welt und Freude am Absonderlichen in unnachahmlicher
Weise mit überlegener Ironie und tiefgründigem Humor auszudrücken. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Die Welt verträgt keinen Gott
Bemerkungen zum »Zeitgeist« von Jeremias Gotthelf
Das Tanzlegendchen
Die
Welt verträgt keinen Gott
Brief an Wilhelm Baumgartner
vom 28. Januar 1849
Das Merkwürdigste, was mir hier passiert ist, besteht darin, daß
ich nun mit Feuerbach, den ich einfältiger
Lümmel in einer Rezension von Ruges Werken auch ein wenig angegriffen hatte, über welchen ich grober Weise vor nicht
langer Zeit auch mit Dir Händel anfing, daß ich mit diesem gleichen Feuerbach fast alle Abende zusammen bin, Bier trinke
und auf seine Worte lausche. Er ist von hiesigen Studenten und Demokraten angegangen
worden, diesen Winter hier zu lesen; er kam und hat etwa hundert eingeschriebene
Zuhörer. Obgleich er eigentlich nicht zum Dozenten geschaffen ist und einen
mühseligen schlechten Vortrag hat, so ist es doch höchst interessant,
diese gegenwärtig weitaus wichtigste historische Person in der Philosophie
selbst seine Religionsphilosophie vortragen zu
hören. Ich besuche auch ein anderes Kolleg über Spinoza
und sein Verhältnis zu unserer Zeit (zugleich
neuere Philosophiegeschichte) von Dr. Hettner,
welches sehr klar, eindringlich und gescheit gelesen wird und mich trefflich
vorbereitet hat zu Feuerbach selber. Wie es mir
bei letzterem gehen wird, wage ich noch nicht, bestimmt auszusprechen oder zu
vermuten. Nur so viel steht fest: ich werde tabula rasa
machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit
allen meinen bisherigen religiösen Vorstellungen, bis ich auf dem
Feuerbachischen Niveau
bin. Die Welt ist eine Republik,
sagt er, und erträgt weder einen absoluten,
noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten).
Ich kann einstweilen diesem Aufruf nicht widerstehen.
Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident
oder erstem Konsul, welcher nicht viel Ansehen genoß, ich mußte
ihn absetzen. Allein ich kann nicht schwören, daß meine Welt
sich nicht wieder an einem schönen Morgen ein Reichsoberhaupt wähle.
Die Unsterblichkeit geht in den Kauf. So schön und empfindungsreich der Gedanke ist —
kehre die Hand auf die rechte Weise um, und das Gegenteil ist ebenso ergreifend
und tief. Wenigstens für mich waren es sehr feierliche
und nachdenkliche Stunden, als ich anfing, mich an den Gedanken des wahrhaften
Todes zu gewöhnen.
Ich kann Dich versichern, daß man sich zusammennimmt und nicht eben ein
schlechterer Mensch wird.
Dies alles, lieber Baumgartner, hat sich in der
Wirklichkeit nicht so leicht gemacht, als es hier aussieht. Ich ließ mir
Schritt für Schritt das Terrain abgewinnen. Ich übte im Anfange sogar
eine Kritik aus über Feuerbachs Vorlesungen.
Obgleich ich den Scharfsinn seiner Gedanken zugab, führte ich doch stets
eine Parallelreihe eigener Gedanken mit, ich glaubte
im Anfange nur kleine Stifte und Federn anders drucken zu können, um seine
ganze Maschine für mich selber zu gebrauchen. Das hörte aber mit der
fünften oder sechsten Stunde allmählig auf und endlich fing ich an,
selbst für ihn zu arbeiten. Einwürfe, die ich hegte, wurden richtig
von ihm selbst aufs Tapet gebracht und oft auf eine Weise beseitigt, wie ich
es vorausahnend schon selbst halb und halb getan hatte. Ich
habe aber auch noch keinen Menschen gesehen, der so frei von allem Schulstaub,
von allem Schriftdünkel wäre, wie dieser Feuerbach.
Er hat nichts als die Natur und wieder die Natur,
er ergreift sie mit allen seinen Fibern in ihrer ganzen Tiefe und läßt
sich weder von Gott noch
Teufel aus ihr herausreißen.
Für mich ist die Hauptfrage die: Wird die Welt, wird
das Leben prosaischer und gemeiner nach Feuerbach? Bis jetzt muß ich des bestimmtesten antworten: Nein!
im Gegenteil, es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher.
— Das weitere muß ich der Zukunft überlassen, denn ich
werde nie ein Fanatiker sein, und die geheimnisvolle schöne Welt zu allem
Möglichen fähig halten, wenn es mir irgend plausibel wird. S.140f.
Aus: Gottfried Kellers Werke, Band 7, Briefe Tagebücher Aufsätze,
Atlantis Verlag Zürich/Berlin
Bemerkungen
zum »Zeitgeist« von Jeremias Gotthelf
… Am wunderlichsten nimmt sich in Jeremias
Gotthelf‘s Buche die geschlechtliche Ausschweifung aus, welche
er dem Zeitgeist vindiziert. Er will damit offenbar auf die ländlichen
Ehefrauen wirken, indem er die politischen Geschäftsgänge ihrer Männer
stark verdächtigt. Überhaupt streichelt er den Weibern in einem wahren
Hebammenstil den Bart: «Sie kam in die beschwerlichen
weiblichen Zustände, welche körperlich und gemütlich oft große
Beschwerden bringen und in welchen oft das arme Weib es besser hat, als das
reiche. Das alles mißstimmte Gritli und die Mißstimmungen überwand
es nicht» O du feiner Gotthelfli!
Wie wahr! Wie muß das den reichen stolzen Bauernfrauen munden, welche
ein Bettelweib um seine leichte Niederkunft beneiden! Mißstimmungen! Hoffen
wir indessen, daß die ehrenwerten Berner Frauen männlicher und gesünder
gesinnt sind und einen solchen Stimmungsjargon nicht annehmen und solchen den
Blaustrümpfen deutscher Salons überlassen. Auch in anderer Weise verfällt
Jeremias Gotthelf in‘s Unmännliche, indem er immer wieder
mit breiter Geschwätzigkeit die Interessen von Küche und Speisekammer
behandelt und seine genaue Kenntnis der Milchtöpfe, der Hühner- und
Schweineställe auskramt. Auch hierdurch glaubt er die Gunst der Hausfrauen
zu gewinnen und durch die Küchenweisheit die politischen und religiösen
Grundsätze einzuschmuggeln. Es ist aber nicht zu begreifen, wie ein so
tiefer Kenner des Volkslebens in letzter Linie das Volk mißkennt und nicht
weiß, daß dieses das allzu Nahe und Gewöhnliche kindisch findet,
wenn es ihm gedruckt in einem Buche entgegentritt. Das kommt alles von dem unwahren
Standpunkte, von welchem Jeremias Gotthelf ausgeht;
der krasse Materialismus, mit welchem seine Religiosität
verquickt ist, läßt ihn zu solchen falschen Mitteln greifen.
Er sagt in der Vorrede, daß er ein geborener, nicht ein gemachter Republikaner
sei, daß aber sein Verlangen auf einen christlichen
Staat und daher all sein Schreiben und Wirken auf dieses Ziel gerichtet sei.
So ist denn die Religionsgefahr der eigentliche
Inhalt seines Buchs, vorzüglich wie sie durch die Berufung des Tübinger
Professors Zeller über den Kanton Bern gekommen
und durch die freisinnige Einrichtung und Leitung des Lehrerseminars befördert
worden ist. Zunächst versteht er unter dem christlichen Staate die alte
Republik Bern, welche aus alten christlichen Bauerndynastien besteht, die so
lange auf ihren fetten Höfen sitzen dürfen, als sie Christum
bekennen. Tun sie dies nicht mehr, so kommen sie um Haus und Hof. Es
steht indessen im Evangelium kein Wort davon, daß der rechte Christ ein
reicher Berner Bauer sein müsse. Nebenbei haben diese Bauern noch die schöne
Prärogative, einem Armen um Gotteswillen ein Stück Brot zu geben,
« denn », klagt einer, welcher darüber weint, daß er
nun seine Religion «abgeben müsse»: «am
meisten könnten mich die Armen dauern, die um Gotteswillen bitten und denen
man um Gotteswillen gibt und hilft, denen bliebe nichts anderes übrig als
Hungers zu sterben oder Gewalt zu brauchen!»
Wir trauen Bitzius gern zu, daß er einem
Armen, auch wenn er als ein blinder Heide geboren wäre, doch von Herzen
ein Stücklein Brotes gäbe und denselben nicht unbedingt verhungern
ließe, auch wenn er nicht um Gotteswillen bäte; daß er aber
mit obiger Bauernlogik zu Felde zieht, gibt einen glänzenden Beweis seiner
demagogischen Fähigkeiten. Einen
atheistischen, von der Zeller‘schen Aufklärung
angefressenen Kerl läßt er sagen: «Gott
ist ein Kalb!» Es hat allerdings schon Jahrhunderte vor uns eine
Art konfusen Volksatheismus gegeben, welchem einzelne
wüste Subjekte verfielen, die von der allgemeinen Idee Gottes nicht loskommen
konnten und daher Blasphemien gegen sie ausstießen, weil sie ihnen in
ihrem Treiben unbequem war. Solche Erscheinungen haben mit der Geschichte der
Religion und Philosophie nichts zu tun und sind eben krankhafte Auswüchse,
die jederzeit vorkommen. Das Volk hingegen, dieselben im Gedächtnis, stellt
sich dann die freie Denkart, welche vom Zeitgeist herrührt, gern unter
jener Form vor, wozu das unsinnige und boshafte Wort «Gottesleugner»,
das es im Munde der Pfaffen hört, das seinige beiträgt. Lügen
heißt gegen seine Überzeugung von der Wahrheit einer Sache aussagen,
Gottleugnen also, Gott innerlich voraussetzen und äußerlich leugnen:
daher der widerliche Klang des schlau erfundenen Worts. Wenn nun aber
Gotthelf die Sache zusammenfaßt in der holdblühenden Blasphemie:
«Gott ist ein Kalb!», dieselbe für
eine Folge der Aufklärung ausgibt, so mag dies in harten Berner Schädeln
von Wirkung sein, seiner christlichen Phantasie gereicht es aber zu geringer
Ehre.
Wenn man das Buch zuschlägt, so hat man den Eindruck, als sähe man
einen Kapuziner, nach gehaltener Predigt den Schweiß abwischend, sich
hinter die kühle Flasche setzen mit den Worten: «Denen
habe ich es wieder einmal gesagt! Eine Wurst her, Frau Wirtin!»
[...]
Es steht einstweilen nicht mehr in der Macht der
Kirche, ihre Gegner körperlich zu verbrennen; daß man hingegen mit
Vergnügen ein moralisches Scheiterhäufchen unter den Füßen
Andersdenkender anzündet, davon ist Jeremias
Gotthelf ein neues Beispiel, und dies moralische
Verbrennen ist kaum menschlicher. Doch soll einmal das Geschäft
betrieben werden, so wäre zu raten, vorher sich nach einem festem und gediegenern
Prinzip und einer eigenen konsequentem Moral umzusehen;
mit Possen und törichten Witzen ist nichts gemacht. Wenn solche
in dem wirklichen Kriege der Parteien manchmal Dienste leisten, da es allerlei
Sorten Leute gibt, denen man auf ihre Weise dienen muß, so ist es am Ende
nicht zu verübeln; und wenn Jeremias Gotthelf,
der Pfarrer und Bürger, in seinem Dorfe damit ausreicht, so fahre er tapfer
fort, es gibt was zu lachen nach der Wahl usw. Nur in einem Buche, welches er
ein paar hundert Meilen weit weg drucken läßt, und in welchem seine
Freunde Erholung und Freude zu finden hofften, sind sie nicht am Platze.
Es herrscht eine solche Unfruchtbarkeit und Öde auf dem Acker deutscher
Gestaltungskraft, daß man nur ungern eine so schöne ursprüngliche
Fähigkeit abscheiden sieht. S.270ff.
Aus: Gottfried Kellers Werke, Band 7, Briefe Tagebücher Aufsätze,
Atlantis Verlag Zürich/Berlin
Das
Tanzlegendchen
Du Jungfrau Israel, du sollst noch
fröhlich
pauken und herausgehen an den Tanz. —
Alsdann werden die Jungfrauen fröhlich
am Reigen sein, dazu die junge Mannschaft,
und die Alten miteinander.
Jeremia 31, 4; 13
Nach der Aufzeichnung des heiligen Gregorius war Musa die Tänzerin
unter den Heiligen. Guter Leute Kind, war sie ein anmutvolles Jungfräulein,
welches der Mutter Gottes fleißig diente, nur von einer Leidenschaft bewegt,
nämlich von einer unbezwinglichen Tanzlust, dermaßen daß, wenn
das Kind nicht betete, es unfehlbar tanzte. Und zwar auf jegliche Weise. Musa
tanzte mit ihren Gespielinnen, mit Kindern, mit den Jünglingen und auch
allein; sie tanzte in ihrem Kämmerchen, im Saale, in den Gärten und
auf den Wiesen, und selbst wenn sie zum Altare ging, so war es mehr ein liebliches
Tanzen, als ein Gehen, und auf den glatten Marmorplatten vor der Kirchentüre
versäumte sie nie, schnell ein Tänzchen zu probieren.
Ja, eines Tages, als sie sich allein in der Kirche befand, konnte sie sich nicht
enthalten, vor dem Altar einige Figuren auszuführen und gewissermaßen
der Jungfrau Maria ein niedliches Gebet vorzutanzen.
Sie vergaß sich dabei so sehr, daß sie bloß zu träumen
wähnte, als sie sah, wie ein ältlicher, aber schöner Herr ihr
entgegentanzte und ihre Figuren so gewandt ergänzte, daß beide zusammen
den kunstgerechtesten Tanz begingen. Der Herr trug ein purpurnes Königskleid,
eine goldene Krone auf dem Kopf und einen glänzend schwarzen gelockten
Bart, welcher vom Silberreif der Jahre wie von einem fernen Sternenschein überhaucht
war. Dazu ertönte eine Musik vom Chore her, weil ein halbes Dutzend Engel
auf der Brüstung desselben stand oder saß, die dicken runden Beinchen
darüber hinunterhängen ließ und die verschiedenen Instrumente
handhabte oder blies. Dabei waren die Knirpse ganz gemütlich und praktisch
und ließen sich die Notenhefte von ebensoviel steinernen Engelsbildern
halten, welche sich als Zierat auf dem Chorgeländer fanden; nur der Kleinste,
ein pausbäckiger Pfeifenbläser, machte eine Ausnahme, indem er die
Beine übereinanderschlug und das Notenblatt mit den rosigen Zehen zu halten
wußte. Auch war der am eifrigsten: die übrigen bammelten mit den
Füßen, dehnten, bald dieser, bald jener, knisternd die Schwungfedern
aus, daß die Farben derselben schimmerten wie Taubenhälse, und neckten
einander während des Spieles.
Über alles dies sich zu wundern, fand Musa nicht Zeit, bis der Tanz beendigt
war, der ziemlich lang dauerte, denn der lustige Herr schien sich dabei so wohl
zu gefallen, als die Jungfrau, welche im Himmel herumzuspringen meinte. Allein
als die Musik aufhörte und Musa hochaufatmend dastand, fing sie erst an,
sich ordentlich zu fürchten, und sah erstaunt auf den Alten, der weder
keuchte noch warm hatte und nun zu reden begann. Er gab sich als David, den
königlichen Ahnherrn der Jungfrau Maria, zu erkennen und als deren Abgesandten.
Und er fragte sie, ob sie wohl Lust hätte, die ewige Seligkeit in einem
unaufhörlichen Freudentanze zu verbringen, einem Tanze, gegen welchen der
soeben beendete ein trübseliges Schleichen zu nennen sei. Worauf sie sogleich
erwiderte, sie wüßte sich nichts Besseres zu wünschen! Worauf
der selige König David wiederum sagte: so
habe sie nichts anderes zu tun, als während ihrer irdischen Lebenstage
aller Lust und allem Tanze zu entsagen und sich lediglich der Buße und
den geistlichen Übungen zu weihen, und zwar ohne Wanken und ohne allen
Rückfall.
Diese Bedingung machte das Jungfräulein stutzig und sie sagte: also gänzlich
müßte sie auf das Tanzen verzichten? Und sie zweifelte, ob denn im
Himmel wirklich getanzt würde? Denn alles habe seine Zeit; dieser Erdboden
schiene ihr gut und zweckdienlich, um darauf zu tanzen, folglich würde
der Himmel wohl andere Eigenschaften haben, ansonst ja der Tod
ein überflüssiges Ding wäre.
Allein David setzte ihr auseinander, wie sehr sie
in dieser Beziehung im Irrtum sei, und bewies ihr durch viele Bibelstellen sowie
durch sein eigenes Beispiel, daß das Tanzen allerdings eine geheiligte
Beschäftigung für Selige sei. Jetzo aber erfordere es einen raschen
Entschluß, ja oder nein, ob sie durch zeitliche Entsagung zur
ewigen Freude eingehen wolle oder nicht; wolle sie nicht, so gehe er weiter,
denn man habe im Himmel noch einige Tänzerinnen vonnöten.
Musa stand noch immer zweifelhaft und unschlüssig und spielte ängstlich
mit den Fingerspitzen am Munde; es schien ihr zu hart, von Stund‘ an nicht
mehr zu tanzen um eines unbekannten Lohnes willen.
Da winkte David, und plötzlich spielte die Musik einige Takte einer so
unerhört glückseligen, überirdischen Tanzweise, daß dem
Mädchen die Seele im Leibe hüpfte und alle Glieder zuckten; aber sie
vermochte nicht eines zum Tanze zu regen, und sie merkte, daß ihr Leib
viel zu schwer und starr sei für diese Weise. Voll Sehnsucht schlug sie
ihre Hand in diejenige des Königs und gelobte das, was er begehrte.
Auf einmal war er nicht mehr zu sehen, und die musizierenden Engel rauschten,
flatterten und drängten sich durch ein offenes Kirchenfenster davon, nachdem
sie in mutwilliger Kmderweise ihre zusammengerollten Notenblätter den geduldigen
Steinengeln um die Backen geschlagen hatten, daß es klatschte.
Aber Musa ging andächtigen Schrittes nach Hause, jene himmlische Melodie
im Ohr tragend, und ließ sich ein grobes Gewand anfertigen, legte alle
Zierkleidung ab und zog jenes an. Zugleich baute sie sich im Hintergrunde des
Gartens ihrer Eltern, wo ein dichter Schatten von Bäumen lagerte, eine
Zelle, machte ein Bettchen von Moos darin und lebte dort von nun an abgeschieden
von ihren Hausgenossen als eine Büßerin und Heilige. Alle Zeit brachte
sie im Gebete zu und öfter schlug sie sich mit einer Geißel; aber
ihre härteste Bußübung bestand darin, die Glieder still und
steif zu halten; sobald nur ein Ton erklang, das Zwitschern eines Vogels oder
das Rauschen der Blätter in der Luft, so zuckten ihre Füße und
meinten, sie müßten tanzen.
Als dies unwillkürliche Zucken sich nicht verlieren wollte, welches sie
zuweilen, ehe sie sich dessen versah, zu einem kleinen Sprung verleitete, ließ
sie sich die feinen Füßchen mit einer leichten Kette zusammenschmieden.
Ihre Verwandten und Freunde wunderten sich über die Umwandlung Tag und
Nacht, freuten sich über den Besitz einer solchen Heiligen und hüteten
die Einsiedelei unter den Bäumen wie einen Augapfel. Viele kamen, Rat und
Fürbitte zu holen. Vorzüglich brachte man junge Mädchen zu ihr,
welche etwas unbeholfen auf den Füßen waren, da man bemerkt hatte,
daß alle, welche sie berührt, alsobald leichten und anmutvollen Ganges
wurden.
So brachte sie drei Jahre in ihrer Klause zu; aber gegen das Ende des dritten
Jahres war Musa fast so dünn und durchsichtig wie ein Sommerwölklein
geworden. Sie lag beständig auf ihrem Bettchen von Moos und schaute voll
Sehnsucht in den Himmel, und sie glaubte schon die goldenen Sohlen der Seligen
durch das Blau hindurch tanzen und schleifen zu sehen.
An einem rauhen Herbsttage endlich hieß es, die Heilige liege im Sterben.
Sie hatte sich das dunkle Bußkleid ausziehen und mit blendend weißen
Hochzeitsgewändern bekleiden lassen. So lag sie mit gefalteten Händen
und erwartete lächelnd die Todesstunde. Der ganze Garten war mit andächtigen
Menschen angefüllt, die Lüfte rauschten und die Blätter der Bäume
sanken von allen Seiten hernieder. Aber unversehens wandelte sich das Wehen
des Windes in Musik, in allen Baumkronen schien dieselbe zu spielen, und als
die Leute emporsahen, siehe, da waren alle Zweige mit jungem Grün bekleidet,
die Myrten und Granaten blühten und dufteten, der Boden bedeckte sich mit
Blumen, und ein rosenfarbiger Schein lagerte sich auf die weiße zarte
Gestalt der Sterbenden.
In diesem Augenblicke gab sie ihren Geist auf, die Kette an ihren Füßen
sprang mit einem hellen Klange entzwei, der Himmel tat sich auf weit in der
Runde, voll unendlichen Glanzes, und jedermann konnte hinein sehen. Da sah man
viel tausend schöne Jungfern und junge Herren im höchsten Schein,
tanzend im unabsehbaren Reigen. Ein herrlicher König fuhr auf einer Wolke,
auf deren Rand eine kleine Extramusik von sechs Engelchen stand, ein wenig gegen
die Erde und empfing die Gestalt der seligen Musa vor den Augen aller Anwesenden,
die den Garten füllten. Man sah noch, wie sie in den offenen Himmel sprang
und augenblicklich tanzend sich in den tönenden und leuchtenden Reihen
verlor.
Im Himmel war eben hoher Festtag; an Festtagen aber war es, was zwar vom heiligen
Gregor von Nyssa bestritten, von dem
jenigen von Nazianz aber aufrechtgehalten wird, Sitte, die neun Musen, die
sonst in der Hölle saßen, einzuladen und in den Himmel zu lassen,
daß sie da Aushilfe leisteten. Sie bekamen gute Zehrung, mußten
aber nach verrichteter Sache wieder an den andern Ort gehen.
Als nun die Tänze und Gesänge und alle Zeremonien zu Ende und die
himmlischen Heerscharen sich zu Tische setzten, da wurde Musa an den Tisch gebracht,
an welchem die neun Musen bedient wurden. Sie saßen fast verschüchtert
zusammengedrängt und blickten mit den feurigen schwarzen oder tiefblauen
Augen um sich. Die emsige
Martha aus dem Evangelium sorgte in eigener Person für sie,
hatte ihre schönste Küchenschürze umgebunden und einen zierlichen
kleinen Rußfleck an dem weißen Kinn und nötigte den Musen alles
Gute freundlich auf. Aber erst, als Musa und auch die heilige Cäcilia und
noch andere kunsterfahrene Frauen herbeikamen und die scheuen Pierinnen heiter
begrüßten und sich zu ihnen gesellten, da tauten sie auf, wurden
zutraulich und es entfaltete sich ein anmutig fröhliches Dasein in dem
Frauenkreise. Musa saß neben Terpsichore
und Cäcilia zwischen Polyhymnien und Euterpen,
und alle hielten sich bei den Händen. Nun kamen auch die kleinen Musikbübchen
und schmeichelten den schönen Frauen, um von den glänzenden Früchten
zu bekommen, die auf dem ambrosischen Tische strahlten.
König David selbst kam und brachte einen goldenen Becher, aus dem
alle tranken, daß holde Freude sie erwärmte; er ging wohlgefällig
um den Tisch herum, nicht ohne der lieblichen Erato einen Augenblick das Kinn
zu streicheln im Vorbeigehen. Als es dergestalt hoch herging an dem Musentisch,
erschien sogar Unsere Liebe Frau in all‘
ihrer Schönheit und Güte, setzte sich auf ein Stündchen zu den
Musen und küßte die hehre Urania unter
ihrem Sternenkranze zärtlich auf den Mund, als sie ihr beim Abschiede zuflüsterte,
sie werde nicht ruhen, bis die Musen für immer im Paradiese bleiben könnten.
Es ist freilich nicht so gekommen. Um sich für die erwiesene Güte
und Freundlichkeit dankbar zu erweisen und ihren guten Willen zu zeigen, ratschlagten
die Musen untereinander und übten in einem abgelegenen Winkel der Unterwelt
einen Lobgesang ein, dem sie die Form der im Himmel üblichen feierlichen
Choräle zu geben suchten. Sie teilten sich in zwei Hälften von je
vier Stimmen, über welche Urania eine Art
Oberstimme führte, und brachten so eine merkwürdige Vokalmusik zuwege.
Als nun der nächste Festtag im Himmel gefeiert wurde und die Musen wieder
ihren Dienst taten, nahmen sie einen für ihr Vorhaben günstig scheinenden
Augenblick wahr, stellten sich zusammen auf und begannen sänftlich ihren
Gesang, der bald gar mächtig anschwellte. Aber in diesen Räumen klang
er so düster, ja fast trotzig und rauh, und dabei so sehnsuchtsschwer und
klagend, daß erst eine erschrockene Stille waltete, dann aber alles
Volk von Erdenleid und Heimweh ergriffen wurde und in ein allgemeines Weinen
ausbrach.
Ein unendliches Seufzen rauschte durch die Himmel; bestürzt eilten alle
Ältesten und Propheten herbei, indessen die Musen in ihrer guten Meinung
immer lauter und melancholischer sangen und das ganze Paradies mit allen Erzvätern,
Ältesten und Propheten, alles, was je auf grüner Wiese gegangen oder
gelegen, außer Fassung geriet. Endlich aber kam die allerhöchste
Trinität
selber heran, um zum Rechten zu sehen und die eifrigen Musen mit einem lang
hinrollenden Donnerschlag zum Schweigen zu bringen.
Da kehrten Ruhe und Gleichmut in den Himmel zurück; aber die armen neun
Schwestern mußten ihn verlassen und durften ihn seither nicht wieder betreten.
Aus:Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Band 10.
Bern 1945, S.286ff.
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden.
Band 3: Auf dem Wege zur Klassik, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei
276 (S.259ff.)