Jeremias Gotthelf, eigentlich Albert Bitzius (1797 – 1857)
Schweizer
Dichter, der ursprünglich Pfarrer
war und in volkserzieherischer Absicht im Alter von 40 Jahren zu schreiben begann. Gotthelf war ein ursprüngliches
Erzähltalent und bedeutender Realist, der das Bauerntum hoch schätzte.
In seinen teilweise im Dialekt geschriebenen Romanen tendierte er eher zu
einer Schilderung einer Welt, die von Laster, Übeln und Bosheiten regiert
wird. Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg |
Inhaltsverzeichnis
Die Schlachtfelder
Zeitgeist
Volksaufklärung
Verhältnis Staat und Kirche
Leichenrede
Die
Schlachtfelder
Am Himmel war ein schöner Tag, viel Staub war auf Erden, Menschenmassen
wirbelten den Staub auf, störten seine Ruhe, er aber setzte sich in die
Augen, trübte den Himmel. Große Massen blieben auf großem Felde
stehn, und einige aus ihnen traten vor und taten lange Reden von denen, welche
auf diesem Felde moderten, und dann redeten sie noch länger von denen,
die auf diesem Felde standen, und manchmal wußte man nicht recht, wie
sie von denen einen auf die andern kamen, und was die einen getan, und was die
andern sollten. Die aber, welche nicht redeten, wurden ungeduldig und durstig,
ans Trinken und den Schatten unter den langen Zelten dachten sie mehr als an
die Helden da unten; die langen Reden hatten ihnen das Andenken an sie vertrieben.
Endlich lief die letzte Rede aus, die Menge aber dem Schatten und dem Essen
zu, wo schon viele Vorangegangene waren zu großem Ärger der Nachkommenden.
Als man saß, aß und trank, da kam nach und nach die Behaglichkeit,
und aus der Behaglichkeit wickelte sich allmählich die Begeisterung und schwoll
gewaltig an unter Essen und Trinken, machte die Rede wieder flüssig, und
Trinksprüche donnerten aus allen Ecken wie Kanonendonner in der Schlacht,
und hintendrein schollen die herzbrechenden Töne der Menge, so gleichsam
Generalsalven der Massen. Jetzt senkte sich eine erhabene Stimmung über
das Volk, jeder fühlte sich ein Held, und der Mut trat zu den Augen aus,
kuraschiert ins Feld hinaus, wo kein Feind war, wenn aber einer da gewesen wäre,
so hätte man erfahren, was aus Mut und Feind geworden wäre.
Aber, je herrlicher es ging, desto wehlicher ward mir ums Herz. Tränen
drangen mir herauf aus der Seele tiefunterstem Grunde, und die Toaste und das
Getöse schnitten mir schmerzlich durch die Nerven, und vor meinen Augen
flimmerten seltsame Gebilde. Es war mir, als stünden draußen vor
den Zelten die Helden, welche die Schlacht geschlagen, und schauten mit wunderlichen
Augen über die Enkel hin, die so mutig taten, so hoch sich vermaßen,
und aus den funkelnden Geisteraugen drangen unnennbare Schauer auf mich ein.
Sie jagten mich durch den Zauberkreis der Helden, den ich blindlings durchbrach,
der mit unaussprechlichem und doch leisem Geprassel sich mir öffnete, und
hinter mir drein prasselten neue Toaste und jagten meine wehmütige Seele
verfolgenden Schatten oder gespenstigen Jagdhunden gleich durch Busch und Feld,
durch Stadt und Straßen, bis ich ein einsam Plätzchen fand, wohin
kein streifend Pärchen mich verfolgte, keine Töne zu hören waren
als das Säuseln des Windes in des Kastanienbaumes schwerem Laube. Mauern
umfassten den stillen Ort, wo ich auf kleinem Hügel in kühlem
Schatten saß; es war auch ein Schlachtfeld, ein Schlachtfeld, das Tausende
von Kämpfern verschlungen hatte und noch Tausende verschlingen wird — es war ein Kirchhof.
Hier ruhen nicht bloß die Opfer einer blutigen Stunde, von menschlichen
Waffen durch ebenbürtigen Feind besiegt, hier ruhen reihenweise aufeinander
Geschlecht um Geschlecht seit Jahrhunderten, hier ruhen die Kämpfer mir
dem Leben, durch den Tod besiegt. Wie tapfer und wie feig einer gefochten, der
Tod streckte ihn nieder zur beliebigen Stunde. Es war heilige, geweihte Erde,
auf welcher ich saß. Zu manchem Gebilde muß die Erde dienen, muß
den Leib spenden dem scheußlichen Wurme und der lieblichen Blume, muß
die Materie geben zum hölzernen Klotze und zum Leibe des vernünftigen
Menschen, dem Ebenbilde Gottes. Die Erde aber, welche dem Menschen gedienet
zur sichtbaren Hülle, ist geheiliger, geweiht vor jeder andern Erde, soll
nicht mehr erniedrigt werden zu gemeinem Dienste, darf höchstens noch Blumen
kleiden als die sichtbaren Zeugen, daß verklärt der Erde entsteigen
werde, was dunkel und unscheinbar in sie versenket ward. Darum, wenn Gott den
Geist des Menschen wieder zu sich rufet, wird die Hülle aus Erde hieher
gebracht als wie in heiligen Raum und durch Mauren gesöndert vor der Erde,
die gemeinen Gebilden nur dienet. Es ist selten ein Mensch, den nicht ein eigenes
Gefühl anwandelt, wenn er in diese Mauren trittet, der nicht mit einer
Art heiliger Scheu seinen Fuß auf die Asche setzet, die einst im Gebilde
des Menschen so hoch gewürdigt worden, so herrlich sich dargestellet hatte.
Wie mancher Kämpfer hatte wohl seine sterbliche Hülle geben müssen,
damit der kleine Hügel sich bilde, auf dem tief sinnend ich saß?
Ach, es ist so wenig, was vom Sterblichen bleibt: eine Hand voll Asche, sagt
der Dichter. Und die Hand braucht nicht einmal groß zu sein, welche sie
fasset. Bleibt aber nichts als die Hand von Asche, hinterlassen Tausende der
Kämpfer nichts als einen kleinen Hügel, den mit zwei Schritten ein
Mensch übersteigt?
So sann ich, und vor mir türmte neben dem kleinen Hügel ein mächtiger
Berg sich auf, und schwindelnd saß ich oben auf dessen Spitze, und dieser
Berg war mein, war vielen andern noch, und ich hatte bis dahin von diesem Berge
nichts gewußt, und wie mir geht es tausend und abertausend gedankenlosen
Sterblichen. Ich sah, daß nicht nur jedes Geschlecht Großes hinterlassen,
sondern auch jeder Kämpfer, der feige wie der tapfere, etwas Gutes oder
etwas Böses, etwas Erkämpftes oder etwas Versäumtes, etwas Erfundenes
oder etwas Zerstörtes, Taten in der Welt, Eindrücke in den Seelen;
aus dieser Hinterlassenschaft wuchs der Berg empor. Und, je mehr ich diesen
Berg ins Auge faßte, desto ungeheurer ward er, sein Fuß deckte die
Erde, seine Spitze strebte zur Sonne, und jeder, der da lebte, hatte sein Teil
daran, es war das Erbgut des lebenden Geschlechtes, und jeder, der da gestorben
war, auch wenn sein Name mit ihm zu Grabe gesenket war, hatte zum Berge seinen
Teil beigefüget, so gewiß sein Leib zu Staube geworden, um ein Häufchen
Staub der Erde vermehret hatte.
Was wir haben in Haus und Herz, was wir sind vor Gott und Menschen, was wir
brauchen in Feld und Holz, in Küche und Keller, es ist das meiste und Beste
von frühern Geschlechtern her, es sind ihre Erfahrungen und ihre Erfindungen,
ihre Erwerbungen und ihre Entdeckungen, die uns zugut kommen, auf die wir abstellen,
um zu Höherem und Besserem zu gelangen. So hat jeder teil an der ungeheuren
Erbschaft, und wer nicht krank ist an tollem Übermut, danket denen da unten
für die Mühen, deren Früchte wir ernten in so reicher Fülle.
Wie ich dieses dankbar dachte in demütigem Gemüte, und wie wir nichts
wären ohne die, welche uns vorangegangen, gedachte ich derer, die zunächst
vor mir gewesen, und als ob diese alsobald aus den Gräbern erstünden,
war es mir.
Vor mein geistiges Auge trat mir die holdselige Mutter, die meine innere Welt
mir erbauet, ihr Sehnen und Ahnen, ihr Träumen und Trachten mir zum Erbe
gemacht hafte, aus deren freundlichen Blicken, welche sie versenket hatte in
mein Herz lebendigen Sonnenstrahlen gleich, die schönsten Freuden, die
reinsten Stunden mir entsprossen waren. Und neben sie trat der feste Vater,
der mir den Ernst vererbet, der mit dem Heiligen nicht spielt, keine leichte
Achsel hat für irgendeine Pflicht, die Demut, die nie scheinen will, was
man nicht ist, immer mehr tut, als einem zugetraut wird, die Treue, die nie
nach Dingen trachtet, welche über Vermögen sind, dem Übernommenen
aber obliegt mit der ganzen Innigkeit der Seele, mit der Kraft, welche nicht
im Lohn der Welt ihre Nahrung hat, sondern im Bewußtsein des Kindes Gottes,
der seine Liebe, sein Tun auch nicht misset nach der Menschen Dank und Lohn.
So hatten sie unschätzbare Schätze mir hinterlassen und dazu noch
manches, um deswillen die Menschen reich mich nannten. Ich war ein dank¬bares
Kind gewesen, die kleinste Schuld, welche sie hinterlassen, hatte ich getilget,
die geringste Verpflichtung gelöset, hatte ihnen bei vielen Armen ein dankbares
Andenken zu stiften versucht, mit schönen Tafeln ihre Gräber gezieret,
und sooft mein Mund Gelegenheit hatte, legte ich Zeugnis ab, daß ich den
Eltern alles zu verdanken hätte, denn, wenn ich selbst auch vieles errungen,
wer war es, der die Kraft dazu mir gepflegt, zu ihrer Ausübung mir den
Sinn gegeben?
Doch war es mir, als seien ihre Züge überschattet von einem düstern
Wölkchen, als läge eine Bitte in ihrem verklärten Auge. Ich mühte
mich um deren Verständnis, aber lange ging es mir nicht auf. Ich hatte
alles ausgerichtet, was sie mir an¬befohlen, alle Schulden getilget, welche
sie hinterlassen. Alle? Hatte ich nicht eine doppelte Erbschaft angetreten?
Schulden waren bei der einen, waren keine bei der andern? Hatte ich nicht eine
geistige Schuld ererbet, die zu tilgen war, hatten die Eltern nicht auch in
Schwachheit ausgesäet, was zu jäten war? So dachte ich, und auf der
Seligen Angesicht ging es wie eine Sonne auf, und eine Liebe strahlte zu mir
hin, wie ich sie nie empfunden. Da erkannte ich, daß ich ihre Bitte verstanden,
und Schwächen tauchten auf, die ich von Vater und Mutter ererbet, die ich
um ihretwillen fast lieb gehabt, die ich ihrer Sühnung opfern mußte.
Und wie ich einmal das Verständnis hatte, sah ich noch außer mir
des mehreren, welches sie hinterlassen, das zu tilgen, das zu söhnen war.
Genoß ich das Gute, so hatte ich zu tilgen ihre Schulden mit dem Gut,
das ich in Besitz genom¬men nicht leiblich bloß, geistig auch. Es
war mir, als weihe dieser Gedanke mich ein zum heiligen Priester, der zu opfern
hätte zur Sühnung der Toten, aber nicht totes Geld, nicht unschuldige
Tiere, sondern ein Streben in heißer Liebe, das Unkraut zu tilgen, was
im großen Weltenacker die Gestorbenen hinterlassen. Und ist dieser Glaube
etwa neu? Haben nicht unsere katholischen Brüder auch den Glauben, daß
die Überleben¬den sühnen müßten die Vorangegangenen,
und versuchen, mit Messen die schuldigen Seelen zu lösen aus ihrer Pein?
An die Kraft der Messen glauben wir nicht und mit Recht, mit Geld löset
man Seelen nicht, tilget geistige Schulden nicht, aber sollte ein Ausreißen
des Unkrautes, eine abgehauene Hand, die Ärgernis gab, ein Streben im Geiste
und in der Wahrheit, das Böse zum Guten zu wenden, keine Sühnung sein,
kein heilig, eigen¬tümlich Priestertum?
Wie sich dieses mir klar und heiß stellte vor das innere Auge, so drängten
um Vater und Mutter sich Tausende von Geistern, Scharen walleten daher wie aus
dem Boden herauf, das letzt vergangene Geschlecht voran, und in tiefem Hintergrunde
reihten sich frühere Geschlechter auf, und sie nickten alle mir freudig
zu, umflossen mich. Es deuteten mir die Nächsten auf die Sünden des
vergangenen Geschlechtes, auf Unkraut, welches mir zur Hand lag, auf Torheiten,
welche in meiner Seele waren, auf Richtungen, welche vom Übel waren. Und
Väter kamen und gaben mir Botschaften an ihre Söhne, und Mütter
kamen und sagten mir, wessen ihre Töchter gedenken sollten auf ihren Gräbern,
was sie zu tun hätten zur Sühnung ihrer Seelen. Und manches trugen
sie mir auf, an das ich nie gedacht, und manches, daß das Herz mir bebte
in der Brust. Und wenn sie mich gebeten hatten, so sagten sie: »Wenn ihr
Lebendigen uns sühnet, die Priester der Toten seid, dann vermögen
wir eurer in Liebe zu gedenken in des Vaters Reich.« Diese Worte waren
mir erst wie eine dunkle Kohle, aber vom Hauche des Geistes angewehet, erglimmten
sie, bis die Kohle zu einem strahlenden Sterne ward.
»Gedenke mein, wenn du in deines Vaters Reich kömmst!« hatte
der Schächer gebeten; »heute sollst du in meinem
Reich sein!« hatte der Herr ihm geantwortet. Gedenken wohl die,
welche im Herren sterben, wenn sie in des Vaters Reich kom¬men, derer, welche
hier im Leben mit ihnen gelitten und ge¬stritten und ihre Rechtfertigung
versuchen nach Vermögen?
Da war es, als ob dieser klar gewordene Gedanke neue Freude gösse über
die vergangenen Geschlechter, und von ihnen her erglänzte mir die Antwort:
»Gedenket unserer in eurem Schalten und Walten, euer Leben sei unsere
Sühnung, dann wollen wir eurer beim Vater gedenken mit Bitten und Flehn,
euer Lohn soll Gnade und Segen sein, unsere Seligkeit soll eure Heiligung sein!«
Und diese Antwort ward in meiner Hand zum Schlüssel, mit diesem Schlüssel
öffnete ich den Himmel, und ich sah, wie vom Throne des Unsichtbaren Gnaden
und Segen in vollen Strömen flossen auf die Bitten der Seligen über
die, welche in wahren Treuen den hinterlassenen Acker bauten.
Diesen Schlüssel wollte ich auch legen in andere Hände, damit sie
auch schauten in diese Herrlichkeit zur Zerknirschung, aus welcher die Bekehrung
wächst. Aber der klare Himmel ward ihnen zu trübem Nebel, der Schlüssel
ein zuckender Blitz im Sonnenlicht, ein zweischneidend Schwert, das durch die
Seele fährt. Das waren die, welche das ererbte Böse bauten, zerstörten
das ererbte Gut, welche das Erbteil täglich kleinerten, die Schuld mutwillig
mehrten, Unkraut pflegten und säeten mit frevler Hand, Hohn streuten dem
vergangenen Geschlechte, Gift mischten für das kommende, den Himmel verachteten,
die Erde verhunzten; das waren die Kinder, welche die Eltern verachteten, die
Söhne, welche sich vor Götzen wälzten, die Töchter, welche
sich selbst anbeteten. Diesen allen ward der Schlüssel in ihren Händen
zur Schlange, aus der Schlange aber wollten sie einen Grabstein machen und ihn
decken auf meine Träume, wollten die Schlange zur Geißel machen,
wollten mit ihr die treuen Söhne und Töchter jagen in ihre Gräber.
Aber sie vermochten es nicht. Das Bewußtsein, daß wir nichts wären
ohne die Gestorbenen, nichts als nackte Wilde in düstern Sümpfen und
Wildnissen, unsere Seele selbst Sumpf und Wildnis, wollte nicht erlöschen,
in unsern Seelen flammte die Treue immer höher auf, und in den Herzen brannte
die Liebe immer heller, und Treue und Liebe trachteten, zu tilgen unsere Verpflichtung
durch Sühnung der Gestorbenen. Sünde ward uns der tolle Übermut
des gegenwärtigen Geschlechtes, und von den Lebendigen schlang sich ein
Band durch den offenen Himmel um die Seligen, und das Grab war keine Kluft mehr,
der Tod war eine Türe, und, wie die Lebendigen für die Toten opferten
im Geiste und in der Wahrheit zur Sühnung des gepflanzten Bösen, des
versäumten Guten, so gedachten die Toten der Lebendigen beim Vater in wahren
Treuen, in geläuterter Liebe, baten um den Geist der Kraft für ihre
Kinder.
Wenn in enger Hütte ein armes Müetti im Sterben liegt und ein Kind
nach dem andern kömmt, es hat Bescheid erhalten, das gute Müetti wolle
fort und möchte noch Abschied nehmen für diese Welt, so bringt das
eine einen Lebkuchen mit, ein weißes Brötchen das andere, das dritte
einen Wecken, das vierte eine Halbe guten Wein. Vom besten hatte es gefordert
für eine Sterbende; daß der Wirt ihm dennoch halb Gurzeler hineingelassen,
weil er weder Lebenden noch Sterbenden ein gutes Tröpflein gönnte,
das wußte es nicht. So kommen sie alle mit etwas Gutem und weinen und
möchten dem Müetti noch ein Zeichen der Liebe tun, und jedes bittet: »Ach Müetti, nimm doch von Meinem, vom Brötchen, es ist so weiß,
vom Wecken, er ist so lind, vom Lebkuchen, er ist so mürbe, vom Wein, er
ist so gut!«; und das fünfte, bei welchem die Mutter wohnet,
stehet auch dabei mit trübem Trank in der Hand und will mit blechernem
Löffel die trocknen Lippen netzen.
Aber das Müetti will von allem nichts mehr, es schüttelt das matte
Haupt; schon ist ihm der Tod zum Herzen gestiegen, nur in den Augen ist noch
Leben, da leuchtet die Liebe gar innig noch und warm, und von einem zum andern
sehen die Augen, bis auch sie der Tod erreichet, mit seinem Dunkel sie überschattet,
mit seiner Hand sie bricht. Dann bricht bei den fünf armen Kindern der
innigste Jammer aus: eins lehnt oben ans Hauptkissen sich, das andere birgt
an der Fußeten sein weinend Auge. die andern lehnen sich an Tisch und
Schrank, die morschen Pfosten wanken. Laut ertönen die Klagen, sie hätten
jetzt kein Müetti mehr, hätten nichts ihm noch tun können, kein
Brösmeli hätte es genommen von ihren Liebesgaben, und ferner könnten
sie nichts mehr für ihns tun und tätens doch so gerne, das gmühe
sie so sehr. Kein Müetti hätten sie mehr, das an sie sinne, an sie
denke, das drücke das Herz ihnen ab. Aber habt ihr dann vergessen, ihr
lieben Kinder, daß die Mutter gegangen ist in des Vaters Reich, daß
die arme Mutter jetzt eine reiche Mutter geworden ist in des Vaters Herrlichkeit,
daß sie dort euerer Liebe gedenken wird, die ihr ihr in der letzten Stunde
erwiesen, beim Geber alles Guten, daß sie eure Heilige sein wird? Sie
hat auf Erden euch keinen irdischen Schatz hinterlassen. Aber rund sind die
Batzen, sie kommen und schwinden, man weiß nicht, wie; und, wo Gottes
Segen nicht ist, da klebet der Fluch daran und verdirbet Leib und Seele in der
Hölle. Sie aber hat ihr Leben an den Schatz im Himmel gesetzet, ist zur
Heiligen ihrer Kinder geworden, speiset und tränket ihre Seelen zum ewigen
Leben, zieht mit Macht und Kraft sie nach oben.
Lachet nicht, liebe Leute! Ehedem gaben große Städte großes
Geld für einen einzigen Heiligen, lebten glücklich im Glauben an seine
Macht und Kraft, seinen Schutz und seine Fürbitte. Den Glauben an solche
Heilige und ihre Macht haben wir von uns getan und mit Recht. Aber wer will
den Glauben uns wehren, daß fromme Eltern ihrer Kinder gedenken können
beim Vater, Schutzengel und Fürbitter ihnen sein können, sobald die
Kinder ihre Priester auf Erden werden und zu sühnen trachten die hinterlassene
Schuld. Darum, liebe arme Kinder, weinet wohl, aber tröstet euch! Wenn
eure Mutter schon nicht mehr gegessen hat von Wecken oder Brötchen, ihr
könnt ihr doch noch wohltun im Himmel, sie hat sicher etwas zur Sühnung
euch hinterlassen in euch oder außer euch. Denket nach, sühnet es,
dann freut sie sich und gedenket eurer beim Vater. Und wäre es nicht herrlich,
wenn auf diese Weise jede Hütte zum Heiligtum würde, in welchem geopfert
würde alles hinterlassene Böse zur Sühnung der Geister, jeder
Sterbende zum Heiligen, der der Seinen gedenket in des Vaters Reich?
Ein König liegt im Sterben in königlichem Palaste, seine Hand hält
das Zepter nicht mehr, entfallen ist seinem Haupte die Krone; zu den Füßen
seines Sohnes sind Zepter und Krone gerollt. »Der König ist tot!«
heult das Hofgesindel, und mit dem andern Atemzuge jauchzt das gleiche Gesindel:
»Es lebe der König!« und fällt vor dessen Füge. Vor
dem jungen Könige flammt die Herrlichkeit der Welt auf; sein ist das Reich.
Aber wer gedenket seiner in des Vaters Reich, und was hat jetzt die Seele des
alten Königs von der vergangenen Herrlichkeit, wenn diese nun zum Unkraute
wird, und das Unkraut schlingt sich wucherend um Sohn und Volk, und keine Hand
reißt es aus, kein treues Herz bringt Sühnopfer? Auch der junge König
wird sterben, seine Herrlichkeit verwelken, Zepter und Krone ihm entrollen,
was wartet dann sein, wenn das Gesindel wieder jauchzt: »Der König
ist tot!«, und hat niemand sein gedacht in des Vaters Reich, und niemand
wird an sein Sühnen denken auf Erden? Wäre es nicht seine größte
Herrlichkeit, wenn sein Vater oben, wo Könige nicht mehr als Bettler sind,
ihm eine Stätte bereitete, und wenn der Sohn auch dem Vater Sühnopfer
brächte in weisem, christlichen Sinne?
Wäre es nicht herrlich, wenn Paläste und Hütten heilige Stätten
würden und die aus ihnen scheidenden Könige und Bettler zu Heiligen
sich verklärten, die zurückbleibenden aber das heilige königliche
Priestertum verwalteten? Und ists nicht traurig, daß Könige und Bettler
gewöhnlich an solche Dinge am wenigsten denken, daß so oft der Hudel
und der Höchste schon auf Erden auf gleicher Stufe stehen, in gleichem
Kote sich wälzen, nur mit verschiedenem Anstande, daß beide ihr himmlisch
Erbrecht ans gleiche Linsengerichte tauschen, nur mit dem Unterschiede, daß
der eine es länger kocht und anders und mit andern Löffeln es isst
als der andere!
So stiegen Gedanken und Bilder vor meinem innern Auge auf und nieder, und ganz
hatte ich vergessen, dass ich an ein großes Fest gekommen, und ich
kam mir vor wie ein Priester, der alleine in geheimnisvoller Einsamkeit zu seinem
heiligen Werke sich rüstet, da rief mich plötzlich kühl und kalt
eine Stimme wach, eine Stimme aus der Wüste. Aber die Wüste lag nicht
außer mir, sie lag in mir, und die Stimme war mein Verstand, der meine
Seele wachrufen wollte aus diesen Träumen, mir sagen wollte, diese Träume
seien nichts anders als alter Aberglaube und führten nirgends anders hin
als in längst abgestreifte Irrtümer. Die Lebendigen sollten sorgen
für die Lebendigen, höchstens für die, welche nach ihnen ins
Leben kämen, die Toten sollten wir tot sein lassen, ein mehreres sei vom
Bösen.
Aber meine Seele ließ sich nicht erschrecken,
lehnte gegen den Verstand sich auf mit manch bedeutendem Grunde. Das eben sei
ein Unglück, sagte sie, daß der Verstand der Verständigen keinen
Unterschied zu machen wisse zwischen frommem Glauben und Aberglauben, zwischen
süßem Ahnen und steifen Lehrsätzen, zwischen heiligem Tun und
hohlen Zeremonien. Sie fragte, ob es für Kinder wohl etwas Innigeres geben
könne als der Glaube, daß sie den Eltern noch nach ihrem Tode vergelten,
Liebs und Guts ihnen erweisen könnten, als der Glaube, daß die Eltern
ihrer in Liebe gedächten an des Vaters Throne, wie der Herr des armen Schächers
gedachte, als er in sein Reich kam. Sie fragte, ob, so gefaßt, der Glaube,
daß die Lebendigen die Priester der Toten wären, die Toten aber die
Heiligen der Lebendigen, Eintrag täte dem wahren Christentume, ob er nicht
vielmehr eine Blume sei, entsprossen dem innersten Wesen des Christentums, umweht
mit seinem süßesten Dufte. So stritt meine Seele und behauptete noch,
es stünde um manchen Menschen besser, ja, es stünde ums ganze gegenwärtige
Geschlecht besser, wenn dasselbe der Toten mehr gedächte, seiner Schulden,
seiner Verpflichtungen gegen dieselbigen.
Und wenn wir ein Geschlecht erzögen, ein übermütiges, zerstörungssüchtiges,
aber ohne schaffende Kraft, ein hohles, aufgeblasenes, so geschehe es bloß
deswegen, weil es von uns gelernt die Vergangenheit verachten und ihre Schätze,
ihre Hinterlassenschaft genießen, als täte es einen Gottslohn, weil
wir ihm predigen mit Wort und Tat, die Vergangenheit sei ein Unglück, die
Gegenwart ein Elend, die Zukunft die goldene Zeit und es das auserwählte
Geschlecht im himmlischen Jerusalem.
Meine Seele behauptete, kein Reformierter sei weniger reformiert, wenn er eine
Sühnung der Toten versuche, ein frommes Gedenken glaube, unsere Kirche
wäre um nichts weniger reformiert, wenn sie der Kämpfer gedenken würde,
die auf den nimmersatten Schlachtfeldern ruhen, Geschlecht um Geschlecht vom
Tode besiegt, wenn sie die Kirchhöfe ehren würde, wo die durch den
Menschen geweihte Erde, abgesondert von der gemeinen Erde, dem gemeinen irdischen
Dienste entzogen sei, höchstens Blumen kleiden solle als Andenken der Heiligen
im Himmel, als Pfänder und Zeugnisse, dass sie unserer gedächten
droben in dem Maße, als wir sie sühnten hienieden.
Dagegen erhob sich gewaltig mein Verstand, aber Staubwolken wirbelten auf und
kamen ihm in den Hals, eine Janitscharenmusik donnerte ihn nieder, Massen stürmten
daher, Hüte flogen, Fahnen flatterten, Lieder knatterten, neugierige Augen
entdeckten mich, fuhren auf mich zu wie Hunde auf den Hasen, den sie lange gesucht
und endlich im Versatz gefunden. Ich mußte auf; Menschen, Staub und Töne
umwogten, umhüllten mich, wickelten mich ein, daß alles Denken unterging,
und in Töne, Staub und Menschen versank der Rest des Tages mir wie die
Vergangenheit dem gegenwärtigen Geschlechte — bewusstlos.
Aber bewusstlos schwand mir nicht, was ich auf den Gräbern geträumet,
und damit es auch andern ins Bewusstsein komme, habe ich, was ich geträumet,
in Worte gefasst.
Abdruck aus der wissenschaftlichen Ausgabe, Jeremias
Gotthelf, Sämtliche Werke in 24 Bänden und 20 Ergänzungsbänden,
hrsg. Im Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich 1929, Band 18 S.42ff.
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden.
Band 3: Auf dem Wege zur Klassik, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei
276 (S.348ff.)
Zeitgeist
Volksaufklärung
Will ich ein Pferd zum Fahren, dressiere ich es für das Fahren, will ich
es reiten, dressiere ich es zum Reiten, dann habe ich es, wie ich es haben will.
Ich kann nicht begreifen, wie unsere Regierungen so lange mit Blindheit geschlagen
sind, es war, als ob sie nicht wüßten, daß es aus Hühnereiern
nur Hühner und nicht Störche gibt und die Katze junge Katzen gebiert
und nicht Lämmer. Was ich da sagte, wollten die Regierungen schon lange,
sie wollten Staatsdiener und ließen die Jungen als Kirchendiener von Kirchendienern
dressieren, das heißt erziehen, und schlugen hintenher die Hände
über dem Kopf zusammen, daß sie aus alten Pfaffenhänden immer
wieder junge Pfaffen kriegten.
Das hat man in Deutschland schon lange viel besser begriffen und die Universitäten
darnach eingerichtet. Da wird nur von Wissenschaft gesprochen, die Wissenschaft
ist die oberste Richterin aller Dinge im Himmel und auf Erden, sie nimmt Gott
zweg so gut als den Menschen, und je wissenschaftlicher ein Professor ist, desto
schärfer geht er zweg mit Gott und nimmt ihn übers Knie wie der Schuhmacher
das Leder, aus welchem er Schuhe machen will; um so mehr sieht er Kirche und
Pfaffen über die Achsel an, und wenn er einen Kerl als recht dumm bezeichnen
will, so sagt er ihm, er sei gerade so dumm wie ein Pfarrer vom Lande, ein Dorfpfarrer;
das seien ihm nach den Heustüffeln die dümmsten Kreaturen auf Gottes
Erdboden. » Daneben sei es mit den meisten Professoren auch nicht alles;
er schämte sich, wenn er nicht ge¬scheiter wäre als alle Professoren
auf allen Universitäten Deutschlands.
Die Deutschen seien bekanntlich Zöpfe und würden es bleiben in Ewigkeit.
Dort sei keiner was, wenn er nicht einen Titel hätte, und ohne Titel habe
einer dort nichts zu fressen. Nun sei Professor ein angenehmer Titel, klinge
schön und gebe z‘fressen; Unzählige sprängen darnach wie
Fische nach Mücken. Aber für ihn zu kriegen, müsse einer was
Neues gefunden oder ersinnet haben, was Tüfelsüchtiges, das noch keinem
eingefallen sei, es sei gleichgültig, was, wenns nur etwas sei, mit dem
kein Teufel was machen könne. Je weniger man es begreife, desto schrecklicher
werde es ausposaunet und gerühmt, weil niemand den Namen haben wolle, er
habe es nicht begriffen, oder er habe an die neuste Neuigkeit nicht gleich geglaubt.
So einer werde dann Professor, kleide sich ganz und lebe gut. Komme man dann
nach zehn Jahren darüber, daß, was er erfunden, nur eine neue Dummheit
sei oder eine alte, aber neu angestrichen, so redeten die Ältern bloß
sachte davon, respektierten jedenfalls ihr historisches Recht; bloß Jüngere,
welche ebenfalls noch nach Mücken fahndeten, gerieten gierig darhinter
und stellten es in seiner Blöße dar, unterdessen aber lasse es sich
der Herr Professor wohl sein in seinen ganzen Kleidern, lebe gut, gehorche dem
König oder der Majorität und frage dem Rest den Teufel nach.
Auf diese Weise würden Leute erzogen, mit denen sich was machen ließe,
Leute, welche man ganz kleide, gut leben ließe, wenn sie nämlich
zu dem Dienst sich brauchen ließen, zu dem sie erzogen würden. Solche
Leute würden nicht mehr von Gott und Teufel, von Furcht und Glauben predigen,
sondern Mo¬ral, schöne Moral, was nützlich und was schädlich,
mit was man am weitesten komme in der Welt, was dem Menschen, einem ver¬nünftigen
Wesen, am wöhlsten anstelle, wodurch er sich über die andern erhebe
oder zu Ehren komme. Wenn einmal das gepredigt würde und so recht ausgelegt,
dann gehe er auch zur Kirche, dann seien die Pfarrer nützlich. Er garantiere,
auf diesem Wege wollte er eine ganze Gemeinde dahin bringen, daß kein
Verbrechen mehr begangen, keine Person straffällig würde, daß
man eine äußere Polizei ganz und gar entbehren könnte.
Aber von den Pädagogen verstehe eigentlich keiner soviel, als Kot Platz
habe im Auge einer Kleblaus. Das sei das dümmste Volk von der Welt; wenn
man das gescheiter machen könnte, als es jetzt sei, es wäre das Kommodste.
Dieses Volk sei von einer Materie, wie keine so sei auf der Welt, die förme
sich ganz nach den Fingern, in welchen sie sei, hart oder weich, spitz oder
stumpf, spröde oder dehnbar, vergeßlich und bsinnt, gstabelig und
beugsam, kriechend und fliegend, vierbeinig und bolzgradauf, kurz, das sei ein
Volk, welches er auch naß in seinen Fingern haben möchte; indessen
sei es doch ein Volk, mit dem sich was machen ließe, wenn es in die rechten
Hände käme. Die Pädagogen seien empfindlich gegen den Wind, verstünden
alsbald, wo Bartholome den Most hole, und ad usum
Delphini einzurichten, was ihnen zum Einrichten anbefohlen werde.
Freilich müsse man ihnen immer auf die Finger sehen; sich selbst überlassen,
täten sie eselmäßig und trieben das Krümmste von der Welt,
und wenn die drankämen, den Meister zu spielen, wäre der Teufel los.
Darum müsse man sich von ihnen mit ihren hochbeinigen Worten nie imponieren
lassen, nie Sand in die Augen streuen, das könnten sie wie die Juden beim
Handeln. Zwischen beiden finde er überhaupt keinen großen Unterschied,
beide verstünden es gleich gut, aus nichts viel zu machen und aus vielem
nichts, wenns nicht ihre Sache sei.
Der gute Regierer dachte, wenn er so recht im Reden und Trinken war, selten,
wen er um sich hatte; so geschah es ihm denn oft, daß er so recht vaterländisch
ins Guttuch fuhr. So war auch ein Rechtsagent anwesend, der früher Quasipädagog,
das heißt Schulmeister gewesen. Der hatte schon lange gemuckelt und ungern
geschluckt, was der Regierer über die Pädagogen der untern Stufen
sagte, den Professoren dagegen hatte er von Herzen gegönnt, was ihnen zu¬gemessen
worden war. Jetzt begann er aufzubegehren: es wolle immer alles über die
Lehrer aus, und doch, woher habe man das, wo man wisse? Einmal auf die Welt
gebracht habe man es nicht, auch nicht mit der Muttermilch eingesogen. Aber
Undank sei der Welt Lohn. Die Bettler machten es geradeso; den, welcher ihnen
am meisten gegeben, verlästerten sie bei dem Schnaps, welchen sie aus seinem
Gelde tränken, weitaus am ärgsten. Der Regierer brannte auf und behauptete,
wenn er nicht das Glück gehabt hätte, zu vergessen, was er in der
Schule gelernt, er wäre der dümmste Kerl geblieben auf Gottes Erde.
Nun ging es los. S.116-118
Aus: Jeremias Gotthelf, Zeitgeist und Berner
Geist, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich und Stuttgart
Verhältnis
Staat und Kirche
«Das will ich Euch schon sagen, Amtsrichter, Euch darf ich es, jedem sagte
ich es nicht, mag nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, Böses mit Bösem»,
erwiderte der Pfarrer. « Seht, Amtsrichter, dieser Zwiespalt ist eine
uralte Sache, und wenn man ihn von obenherein vornehm abtun will, so könnte
man sagen, er sei nichts als ein Stück des großen Kampfes des Zeitlichen
mit dem Ewigen, des Weltlichen mit dem Göttlichen. Aber mit solchen hochklingenden
Sätzen ist nichts gemacht; je vornehmer sie tönen, desto weniger ist
damit gesagt, man muß sie den Philosophen überlassen, die handeln
mit solchen Orakelsprüchen ungefähr wie die Juden mit alten Kleidern
und die Heimberger mit Kachelgeschirr. Unser Verhältnis zum Staat kommt
von der Reformation her.
Die katholische Kirche war eine weltliche Macht, hatte durch ihre Priester und
sonst allerlei ihre Hand in allen andern Staaten, daher die Fürsten nicht
übel unter dem Daumen. Stellte einer derselben sich ungebärdig, kriegte
er früher oder später die Rute vaterländisch. Schadete freilich
manchem nichts, hatte sie mehr als verdient, aber damit verrückte sie ihre
Stellung und pflanzte die Ansicht, als ob die Kirche andere als christliche
Zwecke, Sonderzwecke hätte, als ob sie eine unabhängige, den andern
Staaten feindselige Macht suche und ausüben wolle. Als in der Reformation
Staaten sich der katholischen Botmäßigkeit entzogen, boten die meisten
Mächtigen und Häupter ihre Hand dazu, sicherlich nicht aus rein christlichen
Trieben, sondern um frei zu werden von dieser Gewalt und frei nach Belieben
schalten zu können in ihrem Lande, ohne mitten drinnen eine andere mit
Rechten ausgestattete Macht zu haben. Als sie einmal entronnen waren, scheuten
sie sich vor dem alten Verhältnis wie gebrannte Kinder das Feuer.
Das Christliche wollten sie nicht ausrotten, sie wollten Christen bleiben, darum
mußten sie auch Kirchen und Pfarrer haben, um die Sakramente zu verwalten
und zu predigen, aber sie lebten in steter Angst, die alte Macht möchte
auch in die neue Kirche kommen, bewachten mißtrauisch alle Regungen der
neuen Kirche, wiesen barsch und streng alle Mahnungen, welche von ihr ausgingen,
von sich, ja, sie verfolgten feindselig das Christentum in der Kirche, wenn
es zu neuem, regem Leben erwachen wollte. Sie konnten nicht unterscheiden die
Macht, welche das Christentum über die Menschen haben soll und zwar über
Bettler und Fürsten, und die Macht, welche die Kirche gegenüber der
Staatsgewalt, über äußere Verhältnisse sich angeeignet
hatte. Sie schnitten, wo sie konnten und mochten, durch persönliches Einwirken
und allgemeine Verordnungen die Einwirkungen der Kirche auf das Leben der Menschen
ab, das Verhältnis des Staates zu der Kirche war das eines Siegers zu einem
Besiegten, dem zwar das Leben gelassen wird, aber erstlich abgenommen nicht
bloß alle Waffen, sondern alles, was er bei sich hat, und dazu noch auf
das schärfste überwacht wird, so zwar, daß allemal, wenn der
arme Gefangene einen längern Schritt tut oder einmal zwei rasch hintereinander,
er mit einer Kette belästigt und gebunden wird.
Je mehr der Staat die Macht der Kirche brach, desto mehr dehnte er die seine
aus, desto mehr erstreckte der Staat seine Gewalt über alle Korporationen
oder Gemeinden, alle Verhältnisse der Menschen zueinander, alle Vermögensverhältnisse
und alle persönlichen Verhältnisse, ja allgemach auch über das
Inwendige des Menschen, sein Wissen und sein Denken. Der Staat regulierte die
Wissenschaften und forderte Rechtgläubigkeit in Beziehung auf den Staat
und dessen Einrichtungen, das heißt, der Staatsbürger sollte das
ganze Eingericht des Staates schön finden und darin sich selig fühlen;
wer das nicht tat, ja vielleicht gar dagegen sprach, der war ein Ketzer, der
ward gerichtet. Damit machte der Staat sich zu Gott, wenn er auch noch den Titel
nicht annahm.
Nun wißt Ihr, mein lieber Amtsrichter, wohl, wie es geht in der ,Welt,
der Knecht treibt es immer weiter als der Herr, in allem Bösen heißt
das, er ist dessen Affe. Mit reichen und stolzen Herrschaften ist ein schwer
Leben und Auskommen, aber die Dienerschaft ist zehnmal unerträglicher.
Während man droben im Salon noch leidlich behandelt wird, tut unter der
Türe der Portier, daß es einen in allen zehn Fingern juckt, und der
Kammerdiener auf der Treppe, daß man ihm mit dem Fuße gehörigen
Orts nachhelfen möchte. Ist ein Reicher wüst gegen die Armen, sind
es Kinder und Knechte zumeist viel mehr, daß dieselben vor dem Hause ein
Kreuz machen und weit umgehn, um nicht vom Volk mißhandelt oder gar von
Hunden gefressen zu werden.
Ungefähr so machten es die Beamteten des Staates gegenüber der Kirche,
sie trieben Hohn und Spott mit ihr, und wo sie die¬selbe irgendwie kränken
konnten, sparten sie es nicht. Ja, es trieb es ein Hochgestellter einmal so
weit, daß er am Bettag, also an einem hohen Festtag, jagen ging mit einer
großen Meute und zwar in der Nähe seines Wohnsitzes. Es ward gejagt.
Der Hase versetzte sich auf dem Kirchhofe, während die Gemeinde in der
Kirche war. Die Hunde kamen heulend an, stöberten um die Kirche herum,
stachen endlich wieder auf, und neu gings los.
Man denke sich das Geheul der Hunde und die Erbauung in der Kirche. Weil gegen
solche Unbill und Verhöhnung alles christlichen Sinnes die Wächter
der Kirche absonderlich protestierten, weil sie so oft in Fall kamen, gegen
Mißbräuche bei frommen Stiftungen, gegen Spoliationen der Kirche
zu protestieren, so verhöhnte man sie, als bildeten sie sich ein, die Geistlichkeit
sei die Kirche. Dieser sei es nur um Geld und Gut, um ihre Einkünfte zu
tun. Machte aber einmal einer die Gemeinden auf die Übergriffe des Staates
aufmerksam so¬wohl im innern als äußern Leben und erhoben die
Gemeinden eben¬falls ihre Stimme, ward der Pfarrer von Beamteten denunziert
als Aufrührer, als böser Kopf, wurde womöglich gestraft oder
bis auf den Tod geplagt und gehetzt. Wenn ein Beamteter sich recht beliebt und
groß machen wollte, tat er es auf Kosten der Kirche oder des christlichen
Sinnes und meinte dabei, was für ein Held er sei.
Im Maße als der Staat seine Macht ausdehnte bis in die Gewissen hinein,
zog er auch die Kirchendiener in den Bereich seiner Geschäfte und bürdete
ihnen Dinge und Tabellen auf, daß es schauderhaft war, ja, suchte auf
jedem Wege dazu zu gelangen, daß sie sich eigentlich mehr als die Prediger
des Staates als die Prediger Gottes darstellten, mehr die im Staate herrschenden
Grundsätze, die Staatsreligion, predigten als die Lehre des Heils in Christo,
das wahre Evangelium.
Zu allem diesem kamen noch andere Ursachen, welche mächtig einwirkten.
Im vorigen Jahrhundert kam von Frankreich her die Aufklärerei und mit ihr
der Wahn, wer Anspruch auf Bildung mache, dürfe kein Christ mehr sein,
es wenigstens nicht zeigen, er müsse sich des Evangeliums als einer Torheit
den Griechen und ein Ärgernis den Juden schämen. Der größte
Teil der Staatsbeamteten gehörte dieser Klasse der Gebildeten an, verachtete
also mit dem Kirchlichen alles Christliche, und es bildete sich da eben die
Ansicht aus, alles dieses sei gut genug für das Volk, aber die Gebildeten
seien weit darüber hinaus, es sei ein Kappzaum für das Volk, dasselbe
im Staatsschritt zu erhalten, eine Abteilung der Polizei, so gleichsam die innere.
Und ich will es Euch nicht verhalten, Amtsrichter, daß viele Geistliche
zur Bestätigung dieser Ansicht beitrugen. Sie waren auch Kinder ihrer Zeit,
angesteckt vom damali¬gen Zeitgeiste, das heißt von dem Geist der
Welt, wie er damals gefärbt war und gestaltet. Sie äußerten
sich zweideutig über Amt und Stand, Glauben und Lehre, taten selbst, als
hielten sie sich für eine Art von vernünftigen Vorbildern in allerlei
nützlichen Dingen, Stallfütterung zum Beispiel und Hühnerzucht,
predigten eine flache Staatsmoral, gut genug für Bauren, an welcher der
Landvogt Freude hatte, welche indes jetzt manchem Neugnädigen noch viel
zu scharf und streng wäre, wenigstens für seine Person. Ferner gehörten
früher viele Beamtete den höheren Ständen an, waren reich und
vornehm oder wußten wenigstens zu tun, als wären sie es, trugen den
Hochmut vor sich her, betrachteten die untern Stände, die untern Beamteten
als eine Art niederer Dienerschaft und behandelten sie demgemäß.
Und viele Pfarrer ließen sich dies wiederum gefallen, waren arm und nicht
vornehm, liefen, in abgezerrten Röcklein herum, hatten die Sitten der feinen
Welt nicht, aber große Hochachtung davor, viel Demut dagegen und trugen
dafür auch viele Demütigungen davon, und wenn sie einmal was zu sagen,
gegen diese Beamtetenherrschaft eine Einsprache wagten, fuhren ihnen Donnerwetter
aufs Haupt, daß sie in Zukunft das Reden vergaßen.
Diese Beamteten in ihrer großen Mehrzahl kannten das Volksleben durchaus
nicht, ja die, welche aus dem Volke herausgewachsen waren, verleugneten es nicht
bloß alsbald, sondern waren auf das emsigste bemüht, dasselbe zu
zerstören. Die wenigsten hatten einen Begriff von der Bedeutsamkeit dieses
Lebens, was demselben förderlich war, was zerstörend auf dasselbe
einwirkte, man kümmerte sich überhaupt um die Familie, das Haus wenig
oder nichts, sondern bloß um den Staat; Häuser, Menschen hatten bloß
einen Wert in Beziehung auf den Staat. Schoß nun irgendeinem Beamteten
ein Staatsgedanke durch den Kopf, wie zum Beispiel Tabellen vollständiger
gemacht, Beamteten Mühe abgenommen, neue Stellen geschaffen, Gefälle,
Sporteln usw. erhöht oder geschaffen werden könnten, ward es flugs
ausgeführt und weiter nichts gefragt und nichts gehört. So entstund
das Verhältnis der Beamteten und der Geistlichen und bildete sich immer
weiter aus bis auf den heutigen Tag.»
«Aber wo soll das dann am Ende hinaus?» frug der Amtsrichter. «Der
Präsident meinte, man solle die Geistlichen ganz abschaffen, der Regierer
wollte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet haben, sondern die Geistlichen
so bilden lassen, daß sie gerade zu dem gut würden, wozu man sie
brauchen wolle, für Staatsmoral zu predigen und der Polizei zu helfen.»
«Ja», sagte der Pfarrer, «das weiß Gott, wo das hinaus
soll. Wenn der nicht wäre, man verlöre den Mut, aber der wird es schon
machen, der ist es, der in die Hölle führt und wieder heraus, der
aus dem Schlafe weckt, die einen mit freundlichem Windessäuseln, die andern
mit lieblichen Lichtstrahlen, die dritten mit Donnerwettern, die vierten mit
der scharfen Rute der Zucht. So geht es nicht lange mehr fort, lieber Amtsrichter.
Das Gefühl ihres Berufes als Diener Gottes, Verkündiger seines ewigen
Wortes und eines ewigen Lebens ist in zahllosen Dienern der Kirche erwacht,
und die staatlichen Mißhandlungen und Entwürdigungen fühlen
sie mit glühender Pein. Sie sehen sich auf Erden zwischen Türe und
Angel, zwischen der trotz aller Verhöhnungen und militärischen Austreibungen
der Jesuiten und Plünderungen der Klöster an innerer Macht immer wachsenden
katholischen Kirche und dem die eigene Kirche immer mehr zerholzenden, verhöhnenden
Staat, der wie ein dummer Junge sein eigen Geld verklopft, um andere zu gleicher
Torheit zu reizen. In diesen bubenhaften Reizungen wurden die nervösern
Weltschen überreizt, warfen den Bündel vor die Türe.
Auf der einen Seite wird die Frage der Trennung der Kirche vom Staate immer
lebhafter, auf der andern Seite die bubenhafte Hitze, alle Kirchen zu zerstören,
immer größer. Und die, bei welchen diese lümmelhafte Hitze am
größten ist, eifern am meisten gegen die Trennung, denn mit der Trennung
hört die Gewalt über die Kirche auf, sie ist nicht mehr eine Seite
der Polizei im Rechtsstaat, die Staatsmänner können sie nicht mehr
mit Füßen treten.
Während es so draußen redet, streitet, stürmt, wird es hohl,
öde, leer in den Tiefen, und gähnend tut sich ein Abgrund auf, der
alles zu verschlingen droht. Der Staat kann nicht Gott sein, gegen seine Ohnmacht
empören sich seine Kinder und Anbeter; Staatsglaube und Staatspädagogik
geben keine Befriedigung, nichts als ein na¬gend Ungenügen, eine bodenlose
Unzufriedenheit. Der Staat, der alles in allem sein wollte, will am Ende alles
und gibt nichts, bringt Hunger und stillt ihn nicht, erzeugt Bedürfnisse,
und sind sie erzeugt, spottet er ihrer, statt sie zu befriedigen, bildet die
Menschen, das heißt, er erzieht sie so, daß sie das Höchste
begehren lernen, während sie das tägliche Brot nicht erhalten können.
Der Staat stellt die Person gewordene, konzentrierte Selbstsucht dar, in allen
seinen Kindern erzeugt er diese Selbstsucht wieder, und diese selbstsüchtigen
Kinder werden sich bald genug erheben gegen diesen trostleeren Erzeuger und
sich untereinander fressen. Aber eben deswegen, weil der Unsegen dieser falschen
Staatswirtschaft immer mehr zutage trittet, den Menschen in diesem liebeleeren
Chaos immer unheimlicher wird, die Verwilderung der Massen trotz allem Geschrei
von Bildung immer augenscheinlicher zutage trittet, die Ohmacht des Staates,
das Heiligtum im Inwendigen des Menschen, in welchem seine höchsten Kräfte
liegen, das Gemüt freundlich auszubauen und den Menschen aus dem tierischen
Zustande zu einem höheren Wesen zu erwecken, immer klarer wird, immer handgreiflicher
sich herausstellt, werden sich die Bangen wieder unter das Panier der Kirche
flüchten, werden wiederum den Durst ihres Gemütes an dem Borne stillen,
der den Trank enthält, der den Durst für immer stillet, daß
es den Trinkenden nicht mehr dürstet in alle Ewigkeit, der ihm das Ungenügen
nimmt und das wahre Genügen gibt.
Die Not lehrt beten, Amtsrichter. So denke ich mir, werden die Völker,
wenn sie so recht in Wirrwarr, durch den Staat in Sümpfe gekommen, wo ihnen
der Tod droht, wiederum das Heil in Christo suchen, werden es erkennen, daß
er der einzige Name ist, in dem die Menschen können selig werden, daß
in ihm alleine die wahre Freiheit ist, die von innen heraus, aus dem Heiligtum
des Gemütes wachsen kann und äußerlich durch die Liebe gepflegt
und erhalten wird, die nicht gegeben werden kann, weder auf Löschpapier
noch auf Granit, auch nicht in Erz gegraben.
So denke ich, werde das wahrhaft Christliche auch wieder zur Geltung kommen,
und die Völker werden es erkennen, daß, was sie als das Köstlichste
in ihrem Haushalt haben, auch das Köstlichste im großen Haushalt,
im Staate sein müsse, wenn die rechte Gliederung vorhanden sein soll, bei
welcher allen Gliedern wohl ist. Und wie der Hausvater der rechte Wahrer und
Hüter dieses Heiligen im Hause ist, so muß auch der große Hausvater
oder Landesvater oder Regent, oder trage er Namen, welchen er wolle, der erste
Christ im Lande sein, voranleuchtend im Lichte, das da kam in die Finsternis,
und alle, welche er setzet nach ihm zu Obersten und Amtleuten, müssen das
christliche Siegel haben und leben und regieren als die, welche Gott Rechnung
abzulegen haben am Jüngsten Tage über jedes anvertraute Pfund.
Und wo das Volk sie wählet, seine Obersten, Amtleute und Regenten, da wählet
es gottesfürchtige Männer vor al¬lem, welche Christum liebhaben
und in einem ehrbaren Leben wandeln, geizhässig und tapfer sind und den
Nächsten lieben als sich selbst. Dann, denke ich, Amtsrichter, werde die
Feindschaft aufhören zwischen den Dienern des Staates und den Dienern der
Kirche, zwischen den weltlichen Beamteten und den Geistlichen, denn sie werden
einig in Christo sein und es erkennen, daß sich Christi schämen nicht
bloß eine Sünde sei, sondern eine große Torheit, und daß
der rechte christliche Sinn die höchste Bildung sei, welche ein Mensch
auf Erden erlangen könne. Dann werden sie Hand in Hand gehen; denn sie
wissen, sie schaffen beide das gleiche Werk, die Förderung des Reiches
Gottes auf Erden, nur jeder nach seiner Art und dem Maße des anvertrauten
Pfundes.»
«Was meint Ihr, Herr Pfarrer», antwortete der Amtsrichter, «wie
lange geht das noch, bis es so ist? Wäret Ihr heute bei uns gewesen, große
Hoffnung, es zu erleben, hättet Ihr nicht bekommen.»
«Da möchte ich sagen, Amtsrichter», antwortete der Pfarrer,
« vom Tag und der Stunde weiß niemand als der Vater, der im Himmel
ist. Mich dünkt, ich wittere Morgenluft, aber ich kann mich täuschen,
es kann noch zehnmal ärger kommen, und ich kann mich noch zehnmal täuschen,
und doch bleibt mein Glaube fest, daß es besser komme und zwar nicht im
Sinne der Radikalen, sondern in christlichem Sinne. Und wenn ich es nicht erleben,
wenn ich auf dem Totenbette liegen sollte und alles schwarz um mich von Not
und Unglauben, so bleibt mir doch der Glaube, daß er seine und meine Feinde
in Grund treten werde, es bleibt mir der Glaube an den Sieg, und wenn ich mit
Händen und Füßen gebunden wäre, es ist Gott, der alles
macht.»
«Von diesem Glauben haben sie heute auch gesprochen», antwortete
der Amtsrichter, « und nicht genug sagen können, wieviel Schaden
die Pfarrer anrichteten, weil sie diesen Glauben den Leuten predigten, die täten
dann nichts und meinten, der liebe Gott müsse ihnen alles machen; wer auf
ihn vertraue, dem gebe er die Sache im Schlafe.»
«Ach, wenn doch solche Staatsbuben oder Staatsjunker den Verstand brauchen
wollten, aber das können sie nicht, der Teufel hat ihnen den Verstand verdreht
und die Augen und die Ohren, darum sehen, hören und begreifen sie nichts.
Man sollte nicht, aber ich werde allemal zornig, wenn so ein geistiger Fötzel
oder Lump das Maul aufmacht und was von Religion spricht. Sie sind ärger
wie die Müsterler; wenn die einmal einen lästerlichen Witz aufgeschnappt,
geben sie ihn in jeder Postkutsche, jeder Table d‘hôte wieder. Aber
wie einmal ein Müller sagte, die ärgsten Diebe seien nicht Wirte,
nicht Müller, sondern, wenn man auf einen Müller einen Wirt pfropfe,
dann entstünden sie, so sind auch die die Ärgsten, die mit der Bildung
und den Angewöhnungen eines Müsterlers, sei er nun von welcher Sorte
er wolle, und habe er in Baumwolle, Käs oder Wein gemacht, zu Staatsjunkern
avancieren. Die produzieren ihre aufgeschnappten Lästerungen und Floskeln
nicht bloß in der Postkutsche, sondern wollen dieselben als Maxime und
Grundsatz gelten machen im Staate und bringen es bei jedem Anlasse vor als eine
unumstößliche, unwidersprochene Wahrheit und sind so gescheit, nicht
zu merken, wie sie sich vor allem Volk prostituieren und an Pranger stellen,
sie, die sogenannten Gebildeten, die nicht wissen, wie dumm ist, was sie sagen,
deren Bildung aus nichts besteht als aus einigen angepflasterten Floskeln und
Phrasen, welche aus dem Pflasterkübel des gröbsten Maurers zu kommen
scheinen.
Der Glaube, den ich habe, und von dem ich rede, ist nicht der Glaube jener Sekte,
die den Tisch deckte, sich darum setzte, betete in der Meinung, der liebe Gott
werde das Essen in schönen Schüsseln wohlgekocht vom Himmel auf den
Tisch fallen lassen; son¬dern mein Glaube ist der, daß Gott nichts
tut, wozu er mir die Kräfte gegeben hat, daß ich diese Kräfte
anzustrengen habe nach Vermögen und Gewissen, und zwar ohne Gewißheit
haben zu wollen, richte ich damit das Erstrebte aus oder nicht, sondern in aller
Demut Gott das Gedeihen überlassend. Der Mensch soll säen, aber in
Gottes Hand steht die Ernte, über das, was ich tue, bin ich verantwortlich,
was ich wirke, waltet Gott. Ich als Pfarrer, Amts¬richter, scheine gegenwärtig
einen trostlosen Beruf zu haben. Es ist fast, als ob ich Nebel müllern
wollte, um Mehl zu machen, oder mit Wolken oder Schnee fundamenten zu einem
Hausbau, und doch kann eine reiche Ernte kommen, wenn Gott es will, Ob sie aber
kommt oder nicht kommt, soll ich schaffen ohne Unterlaß, von Gott dann
in aller Demut und Geduld sein Gutfinden erwarten.
Seht, Amtsrichter, es heißt: <Meine Gedanken sind nicht euere Gedanken
und meine Wege nicht euere Wege>, und <Bei Gott sind alle Dinge möglich>.
Wie oft war es anhaltend Wetter, trocken oder naß, welches alle Früchte
gefährdete. Alle Wetteranzeigen hatten getäuscht; hundertmal erwartete
Änderung war ausgeblieben, alles schien verloren. Über Nacht kam,
als niemand daran dachte, ein Umschwung, alles kam ganz anders als der Mensch
es vorausgesagt, und was kein Mensch dem andern Menschen geglaubt hätte,
stellte Gott der ganzen Welt handgreiflich vor Augen. Wie es mit dem Wetter
geht, geht es oft in der Geschichte; wenn die ganze Welt so recht ihre Ohnmacht
fühlt und ins Unglück sich ergeben will, gibt Gott der Sache einen
Tätsch, und die Sache ist umkehrt. Denkt, Amtsrichter, an Napoleon, wer
schlug den, als alle Mächtigen zu seinen Füßen lagen? Nicht
der Alexander, nicht Blücher, nicht Wellington, sondern Gott, er blies
in die Wolken, und die große Armee war weg. Daraufhin, als Gott das Seine
getan, kriegten die Menschen und räumten auf mit dem Rest, hatten aber
noch Not genug damit. Geradeso unerwartet machte Gott es bereits mehrere Male
mit dem Christentum. Er kann in den Sinn der Völker blasen wie in die Wolken,
daß derselbe einst, umgekehrt, ändert über Nacht, und der Stein,
den die Bauleute verwarfen, kann ungsinnet wieder erwählet werden zum Eckstein,
und mir ists immer, ich wittere Morgenluft. Und wenn ich auch alle Tage riefe:
<Wächter, was sagst du von der Nacht? Wächter, was sagst du von
der Nacht?> und der Wächter antwortete mir alle Tage: <Es ist zwar
der Morgen kommen, aber es wird doch Nacht bleiben>, so würde ich doch
fest im Glauben bleiben, daß der Herr Meister bleibe, daß der Morgen
komme, wo alle seine Feinde zu seinen Füßen liegen.»
«Ja, Herr Pfarrer», sagte der Amtsrichter, « das wäre
wohl ein schöner Glaube, und daß der was schaden könnte, kann
ich nicht einsehen. Aber von einem solchen Glauben haben die drinnen keinen
Begriff. Sie hören etwas halb, verdrehen es dann noch halb, geben dann
dieses für die christliche Religion aus und peitschen es als solche aus.
Es erleidet mir manchmal übel, dabeizusein.»
«Aber widerredet ihnen dann niemand, und nimmt man es so an mir nichts,
dir nichts?» fragte der Pfarrer.
«He, das ist so», sagte der Amtsrichter. «So alles glaubt
man nicht immer, und zuweilen sage ich auch, wie ichs meine. Aber was will man
mit solchen Herren anfangen, die haben Mundstucker, daß sie einem zehnmal
übermaulen, man ihnen auf zehne kaum einmal Bescheid geben kann. Dann ist
das bei manchem, nicht bei allen, so: sie denken, solche Herren, so gelehrt
und in alle Spitzen gestochen, werden das besser wissen als so dumme Bauern,
welchen man die Wahrheit absichtlich vorenthalten; wenn solchen nicht zu glauben
sei, wem sollte man dann glauben? Denen einmal mehr als den Pfarreren —
verzeiht, Herr, meine Meinung ist es nicht — die predigten in ihren Sack.
Die einen seien so dumm freilich und glaubten noch, was sie predigten, die andern
aber, besonders die jüngern, wüßten wohl, daß nichts dran
sei, aber es sei ihnen halt wegem Brot. Die Advokaten machten es ja auch nicht
besser, die redeten, was Schöns sei, für den schlechtesten Handel,
ums Geld.»
«Aber das ist ja traurig, Amtsrichter, daß die Leute einen Glauben
haben, den man ihnen so mir nichts, dir nichts wegschwatzen kann, ungefähr
wie man Kreide abwischt an einer schwarzen Tafel. Es ist traurig, daß
Leute, von denen man ja augenscheinlich sieht, daß sie keine Religion
haben, eine solche Gewalt bekommen, daß sie die Leute beschwatzen können,
das Köstlichste was sie haben, wegzuwerfen, es ist noch ärger, als
das Erbrecht zu vertauschen an ein Linsengericht. »
»Es ist ein Unglück, Herr Pfarrer», sagte der Amtsrichter,
«aber es meinen die Leute eben, wer gebildet sei und ein Herr sein wolle,
der glaube nichts, Bildung und Glauben hätten nebeneinander nicht Platz.
Wer schuld an dieser Meinung ist, weiß ich nicht. Daneben haben viele
Menschen gar so einen kurzen Glauben, Ihr könnt es Euch nicht denken, Herr
Pfarrer, wie kurz, er mag das Leben gar nie erlängen. Sie handeln nicht
darnach, sie stärken ihn nicht, sie lesen höchstens Zeitungen, so
trocknet er ab wie eine Warze, die, kommt man dran, abfällt.»
«Da ist das große Elend», sagte der Pfarrer. «Ich weiß
es eigentlich wohl, und wenn man nur das ansieht, so möchte man fast verzweifeln,
daß es je besser werden könnte, man sollte eher denken, es werde
alle Tage schlechter. Aber eben, bei Gott sind alle Dinge möglich, Tauwetter
und Kälte, Sonnenschein und Regen, und alles wie er will, bald plötzlich,
bald so gleichsam schleichend nach und nach.
Zum Trost kann auch der Glaube und die Ergebung an Gott plötzlich kommen
wie am ersten Pfingsttage zu Jerusalem über tausend auf einmal, wie er
plötzlich kam über einen einzelnen, Paulus, über Tausende hie und da, bald so, bald anders. Nun, da muß dieser
Glaube vom Besitzer, wenn er nicht wie ein Blitz sein soll, der vorüberfährt,
gepflegt sein, behütet, genährt und gestärket auf jegliche Weise.
Aber der da Leben gibt in den Baum, der tot gestanden den Winter über,
daß er oft in wenig Tagen treibt, grünt und blüht, und der dann
für die Witterung sorget, daß zur Frucht die Blüte sich gestaltet,
dann weiter, daß über die Frucht die Reife kommt, der da den Glauben
geweckt hat, der kann auch die Stimmung kommen lassen über das Volk, wo
es einmütiger im Geiste wird, einträchtig einer des Bruders Glauben
stärkt und an des Bruders Glauben den seinen, wo der Glaube wächst
von Tag zu Tag, bis er in das Leben hineinlanget und das Leben regiert als wie
die Sonne die Tage der Menschen.
Das kann Gott tun, Amtsrichter. Aber wer dran schuld ist, daß so kurz
der Glaube geworden und abgetrocknet wie eine alte Warze, das ist leider Gott
ja der Staat, der Alleinherrscher sein wollte über die Leiber und über
die Seelen der Menschen, sie nur passend haben wollte für seine Staatszwecke,
daran sind alle seine Beamteten schuld, die den Unglauben an Gott zur Schau
trugen und Untertänigkeit gegen den Staat zur Religion machten; daran ist,
Gott sei es geklagt, das ganze Herrentum schuld, das den Glauben an die Bildung
tauschte und den Tausch hochmütig zur Schau trug wie ein torrecht Kind,
das eine gefärbte Glaskugel herumtrug, welche es gegen eine Perle eingetauscht,
und dieses Herrentum ging bis auf Kammerdiener und Kammerjung¬fer, bis zu
Schneider und Putzmacherin herunter und wurde ge¬nährt in den Familien,
in Stadt— und andern Schulen, welche mehr sein wollten als andere.»
«Wie zum Beispiel die Sekundarschulen», sagte der Amtsrichter.
«Allweg», antwortete der Pfarrer. «Aber nichtsdestoweniger
kann es anders kommen durch Gott. Käme es nicht anders, so glaubte ich
wirklich an die Nähe der letzten Dinge, an den Untergang. Denn wie ohne
Religion der einzelne untergeht, ohne Religion die Völker sich auflösen,
so müßte für eine Menschheit ohne Religion das Ende da sein.
Und wohlverstanden, unter Religion verstehe ich nicht das Gutdünken irgendeines
Staatsmanns oder Staatspädagogen, sondern jetzt das Christentum.»
«Ja, Herr Pfarrer», sagte der Amtsrichter, <>was Ihr vom Untergang
sagt, ist ganz richtig. Soweit ich die Sache kenne, sehe ich, daß gottloses
Wesen nicht Bestand gibt, und wo gottloses Wesen in eine Familie einreißt,
geht sie zugrunde.
Da kann mich nicht bald einer mehr dauren als Hunghans, mein Kolleg. Der war
sonst so ein rechter Mann und ließ sich andrehen von den Herren, sie sind
gsotten und braten beieinander, er fängt an zu hüdelen, redet manchmal
Sachen, welche einem Kachelfuhrmann oder Schxveinhändler übel anstehen
würden. Und glaubt mir oder glaubt es mir nicht, schon sieht man es seinem
Hofe an, es ist, wie wenn er das Hüdele seines Meisters nachmachen müsse,
es ist nicht mehr die alte Ordnung da. Und erst an den Kindern wird man es sehen,
an den Buben wird er was er¬leben, besonders an demjüngem, dem Leutenant,
das soll der Ungereimteste sein weit und breit und Geld verklopfen, daß
es einem übel gruset. Wenn es so fortgeht, nimmt das ein Ende mit Schrecken,
und so geht es noch vielen im ganzen Lande, wie ich merken mag.»
«Wollen das Beste auch für sie hoffen, lieber Amtsrichter. Muß da rechts, hoffe, bald Euch wiederzusehen.»
«Verzeiht, Herr Pfarrer, so schnell werdet Ihr diesmal meiner nicht los.
Es liegen mir noch zwei Fragen am Herzen, auf die ich Antwort möchte. Wenn
Ihr nichts dagegen habt, so begleite ich Euch noch bis zum Gummwäldli,
mache fast nichts um.» «Freut mich, Amtsrichter, je weiter je lieber.
Fragt nur; was ich weiß, sollt Ihr auch wissen.» «Kanns kurz
machen, Herr Pfarrer, es ist das: Heute und fast allemal, wenn wir zusammenkommen
nach dem Amtsgericht, geht es über die Religion los, daß es mir übel
erleidet, dabeizusein; das Christentum soll jetzt die Finsternis sein, welche
dein Lichte der Bildung und Aufklärung weichen müsse. Wie die Fische
nur im Wasser leben könnten, die begabtern Geschöpfe nur in der Luft,
so könnten nur dumme, ungebildete Menschen Christen sein; Aufgeklärte,
Gebildete könnten so wenig da mitmachen, als ein vernünftiger Mensch
im Wasser leben könne, hat einmal der Regierer gesagt.
Nun halten der Regierer und der Präsident alle Pfarrer, welche das Christentum
predigen, entweder für Dummköpfe oder für Heuchler und Lügner.
Darum will der Präsident sie ganz abschaffen und durch Schulmeister ersetzen.
Die seien die würdigen Diener der Zeit, weil sie dieselbe vollständig
begriffen, daher sie auch am geeignetsten seien, die Moral, welche im Geiste
der Zeit liege, den Menschen beizubringen. Der Regierer dagegen will die Pfarrer
im Dienste des Staates, so gleichsam als innerliche Polizeidiener beibehalten.
Er sagt, es seien noch gar viele dummen Leute, die vertrügen das Abschaffen
der Pfarrer nicht, aber wenn nach und nach durch die Pfarrer selbst die Lehre
geändert werde, so merkten sie es nicht und glaubten den Pfarrern die neue
Lehre so gut als die alte. Dafür sei daher zu sorgen, daß man aufgeklärte
Pfarrer kriege, die begriffen, was die Glocke geschla¬gen. Nun, mein lieber
Herr Pfarrer, bekümmert mich dies. Soll das der Ausgang aller Dinge sein,
ist das Vertrauen auf Gott und dessen Sieg über alle seine Feinde eine
torrechte Sache, so wie es kindische Torheit ist, wenn ein Kind ein Spielzeug
fallen läßt in den eilenden Bach und nun in der Hoffnung am Bache
sitzen bleibt, der Bach, der mit demselben davongeeilt, werde dasselbe auch
wiederbringen?»
«Ja, lieber Amtsrichter, das sind wichtige Punkte, um diesen Angel herum
dreht sich das ganze heutige Gerede. Was es bis zum Gummwäldli ergeben
mag, sollt Ihr wissen. Kommt Ihr aber ein¬mal zu mir, sollt Ihrs gründlicher
vernehmen. Allerdings, lieber Amtsrichter, haben Präsident und Regierer
vollkommen recht. Mit ihrer, überhaupt der heutigen sogenannten Bildung
und Aufklärung kann die christliche Religion nicht bestehen, und ganz füglich
kann man bei derselben die christlichen Prediger abschaffen und die Herren Schullehrer
an ihre Plätze setzen; je flacher, dest besser.
Nun wäre dies freilich zum Erschrecken, aber ehe wir es tun, wollen wir
zuerst untersuchen, was ihre sogenannte Aufklärung und Bildung ist, und
dann, ob sie die bleibende sei und bleiben müsse bis ans Ende der Welt.
Amtsrichter, Ihr wißt, daß der Mensch Leib und Seele hat, beide
haben Kräfte, in beiden liegen große Gebiete, nach beider Natur beziehen
sich die einen auf das Leibliche, die andern auf das Geistige, die einen auf
das in der Welt, die andern auf das über der Welt. Nun werden in dieser
heutigen Zeit und durch die heutige Schulmeisterei vorzugsweise, wo nicht in
einem christlichen Hause nachgeholfen wird, die Kräfte, welche sich auf
die Welt beziehen in der Seele, also die Verstandeskräfte angebaut.
Es ist wahr, das geschieht in bedeutendem Maße und ist kommod zur Erkenntnis
der Dinge dieser Welt und zur Benutzung der Dinge dieser Welt. Der Mensch meint,
dadurch zum Herrn und Meister der Welt geworden zu sein, das macht ihn stolz
und übermütig. Je einseitiger diese schulmeisterliche Verstandesbildung
verfolgt wird, desto mehr beschränkt sich des Menschen Umsicht, bis sie
zuletzt einschrumpft und nichts mehr zu erkennen vermag als die Welt, und was
in der Welt weltlich ist. Was er mit diesen ein¬seitig ausgebildeten Kräften
entweder nicht erkennt oder nicht beherrscht, das verleugnet oder verachtet
er hochmütig, ungefähr wie ein Blinder das Licht und ein Gehörloser
die Töne, deswegen sind sie denn doch da.
Es ist aber nichts, welches dem alten Menschen die starre, trockne, gefräßige
Selbstsucht so sehr nährt und ausbildet als diese einseitige Richtung auf
die Dinge dieser Welt, und aus dieser Selbstsucht entsteht der Streit; denn
wie sollte da Friede sein, wo jeder der erste sein, jeder alles haben will?
Da muß jeder wider alle sein, alle wider jeden, und je höher der
Mensch die Welt hält, desto kleiner wird er selbst.
Daher der große Streit unter den Menschen und der Mangel an großen
Menschen. Ist das eben nicht der Jammer dieser Zeit, daß es an wahren
Männern fehle, daß, je mehr Dampf sei, desto seltener die hochachtungswürdigen
Charakter würden. Ist das eben nicht der Jammer, daß trotz aller
Bildung die einzelnen Menschen immer rücksichtsloser gegen andere, daher
gröber, roher, ungenießbarer würden, jeder Ansprüche mache,
niemand ehre, wovon gerade die Jugend das merkwürdigste Exempel gebe?
Sonst sei die Jugend demütig gewesen und habe das Alter geehrt, jetzt stelle
der junge Fasel in seinem Dünkel sich voran und verachte das Alter. Die
verschiedenen Stände hätten einander ge¬ehrt und geliebt im Verhältnis
der gegenseitigen Dienstleistungen. Der Beschenkte habe zum Beispiel den Wohltäter
geliebt, der Arbeiter den, welcher ihm Arbeit gegeben, und jetzt sei alles umgekehrt,
und gerade dieses alles an der Trägerin der heutzutägigen Bildung,
an der Schulmeisterei, am allersichtbarsten und auffallendsten.
Eine Gesellschaft, aus lauter selbständigen, gstabeligen Ichs zusammengesetzt,
besteht nicht, das Ziel dieser Richtung ist die Barbarei des Tiertums. Aber
habt nicht Bange, Amtsrichter, das ist das Ende dieser Richtung, aber nicht
das Ende der Menschheit. Nein, gottlob, diese Richtung ist keine notwendige,
die ihren reißenden Lauf hat einer Lawine gleich bis ans Ende der Welt.
Nein, diese Richtung ist ein Wind, und der Wind dreht sich, dieser Richtung
Ende ist schön und für immer dargestellt im Turinbau zu Babel. Die
Menschen wollten in Himmel bauen, am Ende verstund keiner den andern mehr und
liefen sinnlos auseinander, und der Turm zu Babel ist bis auf den heutigen Tag
sprichwörtlich geblieben.
Wenn die Menschen so recht trostlos geworden und, wie es heißt, ihr Elend
recht erkennen, da werden sie wiederum gedenken an die höhern Kräfte
im Menschen, welche ihn, und nicht die niedern Verstandeskräfte, welche
sich auf die Welt und das Diesseits beschränken, von den Gras oder Fleisch
fressenden Kreaturen unterscheiden, und welche einzig die wahrhaft großen
Menschen machen.
Aus diesen Kräften geht eine ganz andere Anschauung der Welt und Wertung
der Dinge hervor, denn in diese Rechnung nimmt man Gott und Seele auf und rechnet
bis übers Grab hinaus. Das sind die Kräfte, welche im Gemüte
liegen, welche, wenn sie ins Leben hinaustreten, die Welt überwinden, die
man Liebe, Treue, Begeisterung, Glauben, Ahnen nennt, die nach oben trachten
und ringen nach der Gemeinschaft mit Gott. Das sind die hohen und heiligen Gebiete
im Menschen, in denen Christus der rechte Sämann ist, der Same das Wort
Gottes und die Frucht der neue Mensch, der nach Gott geschaffen ist in wahrer
Gerechtigkeit und Heiligkeit, der nach dem Frieden trachtet, des Herren Willen
tut und trägt und sich freudig selbsten opfert, wenn es der Herr gebietet,
denn er glaubt, daß selig die seien, die um des Herrn Willen sterben,
von nun an.
Das ist der Teil im Menschen, welcher dem Himmel angehört und den Weg dahin
hienieden suchen soll, der dem Geiste lebt, den die Welt nicht fasset, der nur
vom Geiste ge¬urteilt sein will. Der Anbau dieses Teiles im Menschen, das
Wecken dieser Kräfte schließt die Bildung des Verstandes und seiner
Kräfte keineswegs aus, aber sie bleiben dann durch die andern Kräfte
begrenzt in ihren Schranken und verirren sich nicht in Gebiete, wo ihnen nicht
gegeben ist, Steg und Weg zu finden. Darin gab Christus ein Beispiel; er war
gebildeter, um so zu reden, als die damaligen und die heutigen Sadduzäer,
und sagt er nicht: <Seid klug wie die Schlangen, ober ohne Falsch wie die
Tauben!>
Der Christ, der in sich die Welt überwunden, ist Herr der Welt und nicht
Sklave der Welt, er besitzt das rechte Gleichgewicht der Kräfte, er ge¬braucht
die Welt, aber sein Trachten geht nach dem Himmel, er allein faßt des
Menschen Stellung; sich selbst zu Gott zu machen, verabscheut er als Abgötterei,
aber ein Kind Gottes zu sein, ist seine Freude.
Faßt man so den ganzen Menschen ins Auge, mein lieber Amtsrichter, so
kann keine wahre Bildung und Aufklärung dem Chri¬stentum entwachsen;
sie ist ja eben eine Blume desselben, aber jeder Kraft weist sie ihre Stelle
an, hat Freude am Verstand, wenn er tiefer und tiefer die Natur ergründet,
heißt ihn aber schweigen, wenn der gleiche Verstand sich an Gott wagt
und ihn konstruieren will. Das Christentum allein bedingt den wahren Fortschritt,
denn es will ja die Vervollkommnung jedes einzelnen Menschen ohne Unterschied
und zwar auf einem Wege, der allen offen ist.
Das Christentum allein heiliget die Staatsformen und garantiert die ,Wahrheit,
es fordert Treue, ehrt jede Persönlichkeit, sichert alle Güter, verbindet
die Bürger durch Liebe zu Brüdern und hat den obersten Grundsatz:
«Was du willst, daß dir die andern tun, das tue du auch ihnen!»
Betrachtet dagegen die Freiheit und die Bildung des radikalen Heidentums! Seine
Freiheit ist Zuchtlosigkeit der Häupter, Despotie gegen alle anders Denkenden,
das Ziel seiner Bildung ist finstere, rohe Barbarei. Betrachtet die Träger
und Lehrer des Zeitgeistes und seiner Bildung, was sind das für Zeugen
der Gesittung und des Wissens? Seht Ihr nicht an den meisten ein ungeschlachtes
,Wesen, dessen sich der gemeinste Bauer schämen würde?
Darum, lieber Amtsrichter, habe ich nicht Angst. Wie vor die Sonne Wolken kommen,
aber auch wieder gehen müssen, so stehn jetzt vor unserer geistigen Sonne
auch Wolken, aber auch sie wer¬den gehen müssen. Solange aber das Christentum
bleibt, muß auch das Predigtamt erhalten werden, aber das rechte, eben
nicht das, welches alles andere predigt, nur nicht Christum. Sämänner
und Träger des Wortes müssen sein, und wie gebildet wahre Christen
auch sein mögen, nie werden sie die Predigt des Wortes missen wollen, dieweil
sie wohlleben an jedem Worte von Gott und göttlichen Dingen, und nie werden
sie die Sakramente missen wollen, diese Pfänder göttlicher Liebe und
Gnade, und diese können nicht genommen, sie müssen gegeben werden.» S.120-137
Aus: Jeremias Gotthelf, Zeitgeist und Berner Geist, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich
und Stuttgart
Leichenrede
Der Pfarrer begann mit den Worten: «Als nun Maria kam an den Ort, da Jesus
war, und sahe ihn. fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: <Herr,
wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben!> So
sprachen die Schwestern des Lazarus zu Jesus, als derselbe erst nach ihres Bruders
Tod aus der Wüste, wo er sich, um den Verfolgungen zu entgehen, aufgehalten
hatte, nach Bethanien kam.
Liebe Anwesende, fallen euch diese Worte nicht eigens auf, ists den meisten
nicht, sie wüßten bereits alles, was ich zu sagen gedenke? Wie vielen
kam es nicht bereits dazu, auszurufen: <Ach, Herr, wärest du bei uns
gewesen. unser Bruder lebte noch!> Und wer, wenn er unsere Zustände
und Verhältnisse überhaupt betrachtet, findet sich nicht gedrungen
zu der Wehklage: <Ach, Herr, wärest du bei uns gewesen, so wäre
ein ander Leben, so wäre nicht so viel Not, nicht so großes Elend
unter uns! >Ihr kennet ihn, unsern Heiland Jesus Christus, ihr wißt,
daß er kam, die Verlornen zu suchen und selig zu machen, zu heilen die
gebrochenen Herzen, den Armen das Evangelium zu predigen, zu verkünden
das angenehme Jahr des Herrn.
Ihr habt gehört, wie er den Seinigen den Frieden gibt, sie versöhnt
mit Gott, mit den Menschen und dem eigenen Herzen, das ewige Leben gibt allen,
die an ihn glauben, mitten unter uns sein will bis ans Ende der Welt und allenthalben
da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Drängt sich nicht
unwillkürlich jedem, der ihn kannte als den, als der er uns gegeben ist,
der Ausruf auf die Lippen: <O Herr, wärest du bei uns gewesen, so wäre
ein ander Leben und Wesen unter uns!> Wenn wir den großen Abfall betrachten
und dessen Folgen unter denen, die Brüder sein sollten, großen Streit
und Zwietracht, der Zerfall so vieler Verhältnisse, das Einbrechen des
Tiertums, der uralten Macht, die man auf ewig gebunden glaubte, müssen
wir nicht in der Angst des Herzens rufen: <Ach, Herr, wärest du bei
uns gewesen!>
Wieviel tausend Eheleuten wurden die Herzen getrennt, verbittert; aus der innern
Verbitterung erwuchs ein bitteres Leben, ein Weh ohne Boden, wie viele unter
ihnen seufzen nicht schwer und rufen: <Ach Herr, wärest du bei uns gewesen,
die alte Liebe lebte noch!> Die Selbstsucht hätte sie nicht verzehrt;
aus deinem Frieden, der da vergibt und nicht richtet, wäre uns ein freundlich
Leben erblüht, geziert mit guten Früchten. Oh, wie mancher Hausvater,
dessen Hauswesen zerfallen darniederliegt, der in tiefem Gram zwischen den Trümmern
desselben herumirrt, mit Jammer sein graues Haupt zur Grube trägt, seufzt
aus tiefer Brust: <O Herr, wärest du bei uns gewesen, so stünde
mein Haus auf sicherem Felsen, die Fluten der Welt hätten es nicht zertrümmert,
die Familie auseinander gerissen, die Glieder nicht vertragen hiehin, dorthin,
allenthalben, wo Elend ist!
>Ja, aufrichtig und mit tiefem Leid frage ich: Drängt nicht der Tod,
der uns hier zusammengerufen, unwillkürlich die Klage auf die Lippen: <Ach,
Herr, wärest du bei uns gewesen, unser Bruder lebte noch!> Und in wie
mancher Seele hier und in weiter Runde wird die Klage widerhallen: <Ach,
Herr, wärest du bei uns gewesen, unser Vater, unsere Mutter, unser Bruder,
unsere Schwester, unser Freund lebte noch, es wäre die Ursache ferne geblieben,
welche ihn dem Tod zum Raube gebracht!>
So seufzten die zwei Schwestern Maria und Martha vor dem Herren, und der Herr
hörte diese Seufzer und antwortete und sprach zu Martha: <Habe ich dir
nicht gesagt, so du glauben wirst, so werdest du die Herrlichkeit Gottes sehen.
> Wie des Herren Wort ein ewiges Wort ist und allen giltet, so ist diese
Antwort eine Antwort für alle, welche seufzen, wie die Schwestern seufzten.
Die Schwestern glaubten, daß er sei Christus, der Sohn Gottes, der in
die Welt kommen sollte; sie sandten zu dem in die Wüste Vertriebenen, bis
er kam, sie wußten, daß in ihm allein das Heil war, sie glaubten,
er sei die Auferstehung und das Leben, und wer an ihn glaube, werde leben, ob
er gleich stürbe, und weil sie glaubten, sahen sie die Herrlichkeit Gottes
und seine Macht über Leben und Tod, ihr Bruder Lazarus erhielt sein Leben
wieder.
Liebe Traurende! Wer wie die Schwestern glaubt, seufzt und bittet, erhält
die nämliche Verheißung, daß er die Herrlichkeit Gottes sehen
werde. Wir dürfen wohl sagen, der Herr weilte wohl hier und dort, wo einige
in seinem Namen versammelt waren, wohnte hie und da in Häusern, wo der
Glaube der Väter noch galt, wohnte in den Kirchen, wo lauter und einfältiglich
das Wort des Herrn verkündet wurde; aber er wohnte nicht da, wo man sich
nicht bloß sein und seiner Worte schämte, sondern auch des Wortes
<christlich> und <Christentum>, man nicht mehr sagen durfte, daß man Kinder christlich erziehen wolle, wo die blinde Menge aufgehetzt ward, Steine
zu ergreifen und ihn zu steinigen.
Da ward es eben trübe unter uns und finster, und das Unglück kam,
und das Elend und verzehrte so viele unter uns. Darum aber auch wird es vielen
so bange, und ihre Augen suchen wieder das Heil, das von oben kommt, sie rufen
nach ihm, sie suchen ihn, sie senden Boten aus, daß er wiederkomme. Wer
aufrichtig, mit rechter Heilsbegierde ihn suchet, wird ihn finden, und er wird
wiederkommen zu denen, die nach ihm verlangten, und wird sie schauen und schmecken
lassen die Herrlichkeit Gottes.
Die, die da leiblich gestorben sind, wird er nicht wieder zurückrufen ins
leibliche Leben, aber Leben wird er bringen denen, die da geistig tot waren,
und zwar das Leben, das schaut die Herrlichkeit Gottes, das Leben, welches sein
Leben ist, das Leben in Gott, das Leben der Kraft, die streitet gegen die innere
und äußere Sünde, und in welchem die Früchte des Geistes
lieblich duften: Liebe, Friede, Langmütigkeit, Freundlichkeit, Gütigkeit,
Glaube, Sanftmut, Keuschheit, der Friede Gottes, der über allen Verstand
gebt, in den Herzen wohnet und den Sinn des Friedens strömen läßt
über die Völker, das Paradies auf Erden wiederbringt, zu einer Familie
die Menschen macht und zu Kindern Gottes jedes Glied der Familie.
Das ist die Herrlichkeit Gottes, welche allen erscheinen soll, die seine Erschei¬nung
lieb haben, welche in den Herzen und Häusern wohnen soll, daß jeder
dem Herren lebt, dem Herren stirbt, keiner mehr von der Sünde ergriffen,
als ein Opfer der Sünde stirbt. Dieses Leben ist auch uns verheißen,
und unser Jammer soll verwandelt werden in Lobgesänge, wenn wir Christus
wieder aus der Wüste rufen, ihn bitten, daß er bei uns weile, um
ihn uns sammeln und bekennen vor aller Welt, daß in ihm das ewige Leben,
daß er der einige Name ist, in dem die Menschen können selig werden.
Flehen inbrünstig wollen wir auch, daß er auch das Leben derer werde,
daß auch sie die Herrlichkeit Gottes schauen möchten, welche starben,
weil der Herr nicht bei uns war, welche ein Opfer des Geistes wurden, der da
mächtig war, bei deren Tod wir so schmerzlich seufzen: <Ach, Herr, wärest
du bei uns gewesen, sie lebten noch!> Sie starben ja wohl auch, wie jener
Blinde blind geboren wurde, nicht um ihrer Sünden willen, sondern damit
die Herrlichkeit Gottes offenbar werde.
Sie sündigten ja nicht alleine; wie sie sündigten Tausende, und sie
leben noch. Der Herr wählte sie wohl aus zur gelegenen Zeit und aus Gnade
als Sühnopfer für die Tau¬sende, die noch leben, diese zum Glauben
zu erwecken, indem ihnen vor die Augen gestellt ward die Not und der Jammer,
die da einbrachen, wo Christus vertrieben, ferne in der Wüste weilen muß.
Sie starben ja auch um unserer Sünden willen. War ein solches Sterben nicht
manchem der Blitz, der den rasenden Saulus zum Paulus machte, sehen ließ das eine, das not tut, Christus, Christus, der zur Rechten Gottes sitzet?
Kehren wir zum Glauben zurück, kehrt Christus wieder bei uns ein und bleibet
bei uns, so hat ja der Herr sie gebraucht zu Rüstzeugen, zu wirken den
Glauben in uns. Diesen Glauben wird er ihnen auch zurechnen um seines Sohnes
willen. Festigen wir uns in diesem Glauben, beten wir recht inbrünstig
um diese Gnade! Denn das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es inbrünstig
ist, und bei Gott sind alle Dinge möglich. Wenn wieder Ein Gott, Ein Herr,
Ein Geist über unserm Leben walten, wenn die Schwarmgeister geflohen sind,
wenn wir wieder unseres Glaubens froh werden, so sei dieses ein Liebespfand
des Herren, daß er die, welche er als Sühnopfer au unserer Mitte
erwählt und zu Rüstzeugen unseres Glaubens gemacht, zu Gnaden angenommen,
daß wir mit ihnen einst Gott loben und preisen werden in alle Ewigkeit.
Amen!»
Die Wahrheit war so klar, die Beziehungen so mannigfaltig und tief, daß
diese Rede wie ein zweischneidig Schwert durch die Seelen fuhr. Viele gingen
an die Arbeit, die Götzen des Tages aus den Tempeln zu schaffen, die Gott
allein geweiht sein sollen, den Geist auszutreiben aus denselben, von dem sie
besessen waren, den Geist der Welt oder den Geist der Zeit, der wandelbar und
veränderlich ist wie die Welt; und wo dieser Zeitgeist ausgetrieben ist,
da zieht der Geist des Herren ein, es ordnen sich die Kräfte, ein neues
Leben entsteht, es wird Friede, die Liebe blüht, die Früchte werden
nicht ausbleiben. Der würdigen Väter Söhne sind wir wieder, und
den Segen der frommen Väter wird Gott strömen lassen in Fülle
über die würdigen Söhne und als seine lieben Kinder sie erfüllen
mit seinem ewigen Geiste. S.496-500
Aus: Jeremias Gotthelf, Zeitgeist und Berner Geist, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich
und Stuttgart