Nikolaus von Kues (1401 - 1464)
Nikolaus von Cusa, Nicolaus Cusanus, auch kurz Cusaner genannt, hieß ursprünglich Nikolaus Chryffrz oder Krebs.

Deutscher spätmittelalterlicher Philosoph und Theologe, nahm als Sekretär und Kanzler der Trierer Erzbischöfe am Basler Konzil teil, verhandelte dort mit den Hussiten über den Laienkelch und schrieb als erste große Reformschrift für Kaiser und Reich »De concordantia catholica« (1433). Seit 1448 Kardinal, erhielt er 1450 das Bistum Brixen und kämpfte hier gegen Herzog Sigismund von Tirol um die Freiheit des Hochstiftes. 1458 berief ihn Pius II. zum Generalvikar (Legatus Urbis) nach Rom. In Abwesenheit des Papstes sicherte er hier den Frieden und begann die Reform des römischen Klerus. Dem von ihm gestifteten St-Nikolaus-Hospital in Kues (Bernkastel-Kues) vermachte er seine bedeutende Bibliothek. — Grundlegend für das Denken des Cusaners ist die These, dass alle endlichen Gegensätze in Gott zusammenfallen (Coincidentia oppositorum) und dieser Zusammenfall nur im Unendlichen durch eine die Verstandesbegriffe übersteigende »belehrte Unwissenheit« (Docta ignorantis) erfahren werden könne. Aus der mathematischen Deutung der Coincidentia oppositorum als den Beziehungen zwischen den einbeschriebenen regelmäßigen Vielecken und dem Kreis erwuchsen seine Versuche zur Kreisquadratur. — Die Welt verstand er als die entfaltete Einheit Gottes (explicatio), Gott aber sei das unvergleichbare Eingefaltetsein (complicatio) und deshalb das allem anderen nichtentgegensetzbare »Nicht-Andere« (non aliud), das das Andersartige zusammenhält. Er gab viele thomistische Grundvorstellungen auf oder formulierte sie neu. Gott ist unendliche absolute Einheit, die keinen Gegensatz hat. Gott selbst ist sowohl das absolut Größte wie das absolut Kleinste. Er selbst ist nicht Zahl, aber das Prinzip der Zahl – die größenlose Einheit, die dem Geschaffenen in der Zahl Größe verleiht. Gott ist der einzige einfachste rationelle Grund (ratio) des ganzen Universums, und wie aus unendlich vielen Umkreisen (circulationes) die Kugel entsteht, so ist Gott als die größte Kugel das einfachste Maß aller kreisförmigen Bewegungen. Von Gott, der ein Geist ist, geht alle Bewegung aus. Diese Bewegung, diese Kraft (spiritus) kommt von dem heiligen Geiste (descendit a sp. s.), der durch die Bewegung selbst Alles bewegt. Gott ist reines Seinkönnen, in welchem er alles wirklich ist, was er sein kann. Als Prinzip des Seins ist Gott das Sein der Dinge. Gott ist die hervorbringende, gestaltende und zum Ziel führende Ursache von Allem, der in dem Einen Worte Alles noch so Verschiedene hervorbringt. Gott ist durch Alles in Allem, und Alles ist durch Alles in Gott. Trotz dieser und noch manch anderer pantheistisch anmutenden Äußerung unterschied er Gott als das Absolute vom Universum. Die Weltseele ist ein von Gott erschaffener Geist. Sie ist zwar eine Art universeller Form, die alle Formen in sich fasst; allein sie existiert in Wirklichkeit nur beschränkt und ist in jedem Dinge die konkrete Form des Dinges (forma contracta rei). Jesus ist die Vollendung von Allem (perfectionem omnium), der Gottmensch, das sichtbare Abbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne der ganzen Schöpfung. Das von dem Cusaner entworfenen Idealbild einer Weltreligion sieht vor, dass die Religionen im gemeinsamen Kern zusammenkommen.

Siehe auch Wikipedia , Heiligenlexikon und Kirchenlexikon
Inhaltsverzeichnis

De doct
a ignorantis
Das Größte ist Eines
Von der ewigen Zeugung
Übertragung der unendlichen Kugel auf die ... Existenz Gottes
Das Geheimnis der Trinität
Jegliches ist in Jeglichem
Über die Seele oder das belebende Prinzip des Universums
Gott ist die hervorbringende und gestaltende Ursache
Die bewegende Kraft

 
Gespräch über das Seinkönnen
Ewig und unsichtbar ist die Kraft, durch welche die Welt besteht
Dreieinigkeit, Mathematik, Seinkönnen und Wirklichsein
Die ewige Macht und unsichtbare Göttlichkeit des Schöpfers

>>>Christus

Das konkret Größte ist Jesus, der Gottmensch
Das Mysterium der Auferstehung
Christus ist der Richter der Lebendigen und der Toten


»De docta ignorantis«
Das Größte ist Eines
Ohne Zahl kann die Vielheit der Dinge nicht bestehen; denn ohne Zahl gibt es keine Unterscheidung, Ordnung, Proportion, Harmonie. Wäre die Zahl selbst unendlich, so wäre dasselbe der Fall. Denn dass die Zahl unendlich und dass sie gar nicht ist, kommt auf Eines hinaus. Man kommt daher bei der Zahl in aufsteigender Richtung auf kein absolut Größtes. Wäre bei der absteigenden Richtung dasselbe der Fall, so wäre wieder alle Ordnung, Proportion etc. unmöglich.

Man mu
ss daher in der Zahl auf ein Kleinstes kommen, das nicht kleiner sein kann, und dies ist die Einheit. Sie ist als das schlechthin Kleinste mit dem schlechthin Größten identisch; diese Einheit kann nicht selbst Zahl sein, wohl aber ist sie das Prinzip aller Zahl, weil das Kleinste, und das Ende aller Zahl, weil das Größte. Diese absolute Einheit, die keinen Gegensatz hat, ist das absolut Größte - Gott. Sie ist nicht der Vervielfältigung fähig, weil sie Alles ist, was sein kann. Sie kann daher selbst nie Zahl werden. Die Zahl hat uns also zu der Einsicht geführt, Gott sei die absolute Einheit, vermöge welcher er Alles wirklich ist, was sein kann. Wer daher sagte, es gebe mehrere Götter, der würde so viel sagen, als, es gebe keinen Gott und kein Universum... S.15-16 […]

Von der ewigen Zeugung
Zeigen wir nun ganz kurz, dass aus der Einheit die Gleichheit der Einheit erzeugt werde, und die Verbindung aus der Einheit und der Gleichheit der Einheit hervorgehe.

Die Einheit ist das Sein (unitas dicitur quasi onitas von on = ens, woher entitas). Gott ist das Sein der Dinge, denn er ist das Prinzip des Seins. Die Gleichheit der Einheit ist daher die Gleichheit des Seins, d.i. daß in einem Dinge nicht mehr und nicht weniger ist, nichts darüber, nichts unter seinem Sein. Ist in einem Wesen mehr, so ist es ein Monstrum, ist weniger, so findet keine Zeugung der Gleichheit aus der Einheit statt. Denn Zeugung (generatio) ist Wiederholung der Einheit oder Vermehrung derselben Natur, wie z.B. der Sohn. Diese Zeugung findet sich nur im Irdischen, aber die Zeugung der Einheit aus der Einheit ist Eine Wiederholung der Einheit (una unitatis repetitio) oder die Einheit einmal, wodurch die Einheit kein Anderes, wie bei zwei, drei etc. erzeugt, sondern nur die Gleichheit der Einheit, was nichts Anderes heißen will, als: die Einheit erzeugt die Einheit, und diese Zeugung ist ewig.
S.21 […]


Übertragung der unendlichen Kugel auf die Alles wirkende Existenz Gottes
Nun noch einige Betrachtungen über die unendliche Kugel!
In der unendlichen Kugel sehen wir die drei größten Linien der Länge, Breite und Tiefe im Zentrum zusammenlaufen. Das Zentrum der größten Kugel ist aber gleich dem Durchmesser und der Peripherie; es ist folglich das Zentrum jenen drei Linien gleich, ja, das Zentrum ist sie alle: Länge, Breite und Tiefe. Im Größten sind daher alle Länge, Breite und Tiefe das Eine einfachste und unteilbare Größte selbst. Und wie das Zentrum aller Breite, Länge und Tiefe vorhergeht, das Ende und die Mitte von ihnen ist (denn in der unendlichen Kugel sind Zentrum, Dichtigkeit und Peripherie Ein und Dasselbe), wie die unendliche Kugel ganz in actu und auf die einfachste Weise ist, so ist auch das Größte ganz in Wirklichkeit (in actu) auf die einfachste Weise. Wie die Kugel die volle Wirksamkeit der Linie, des Dreiecks und des Kreises ist, so ist das Größte die Wirksamkeit von Allem (omnium actus). Jedes wirksame Sein hat also von ihm alle seine Wirksamkeit; jedes Sein existiert in Wirksamkeit insoweit, wie weit es in dem Unendlichen wirksam ist. Daher ist das Größte das bildende Prinzip von Allem (forma formarum), das Prinzip des Seins (forma essendi) oder das höchste wirksame Sein (maxima actualis entitas). Sehr scharfsinnig sagt daher Parmenides, Gott sei es, für den jegliches Sein all das Sein ist, das es ist (Deum esse, cui esse quodlibet, quod est, est esse omne id, quod est). Wie die Kugel die höchst mögliche Vollendung der Figuren ist, so ist das Größte die vollkommenste Vollendung von Allem, so daß alles Unvollkommene in ihm das Vollkommenste ist, wie die unendliche Linie Kugel und in ihr das Krumme gerade, das Zusammengesetzte einfach, das Verschiedene identisch, das Anderssein Einheit ist. Wie könnte dort eine Unvollkommenheit sein, wo die Unvollkommenheit die höchste Vollkommenheit, die Möglichkeit die unendliche Wirksamkeit ist etc.? Ist das Größte wie die größte Kugel, so ist es das einfachste, adäquateste Maß des ganzen Universums und aller Wesen im Universum, denn in ihm ist das Ganze nicht größer, als der Teil, wie die Kugel nicht größer ist, als die unendliche Linie. Gott ist daher der einzige einfachste rationelle Grund (ratio) des ganzen Universums, und wie aus unendlich vielen Umkreisen (circulationes) die Kugel entsteht, so ist Gott als die größte Kugel das einfachste Maß aller kreisförmigen Bewegungen; denn alle Belebung (vivificatio), Bewegung und Intelligenz ist aus ihm, in ihm und durch ihn, bei dem Eine Kreisbewegung der achten Sphäre nicht kleiner ist, als die der unendlichen, weil er das Ziel aller Bewegung ist, in dem alle Bewegung als in ihrem Ziele zur Ruhe kommt. Es ist nämlich Dasjenige die größte Ruhe, in dem alle Bewegung Ruhe ist. So ist denn die größte Ruhe das Maß aller Bewegung, wie das größte Gerade das Maß aller Umkreise, die größte Gegenwart oder die Ewigkeit das Maß aller Zeiten ist. Und weil Gott das Sein alles Seins ist und alle Bewegung sich auf das Sein bezieht, so ist er, das Ziel der Bewegung, auch die Ruhe der Bewegung, d.i. das Prinzip (forma) und die Wirksamkeit des Seins. Alles Seiende hat daher einen Zug zu ihm (ad ipsum tendunt). Weil es aber endlich ist und nicht auf gleiche Weise an ihm partizipieren kann, so partizipieren die einen Wesen an dem Ziele aller Dinge mittelst der andern, wie die Linie mittelst des Dreiecks und Kreises, das Dreieck mittelst des Kreises, der Kreis durch sich selbst zur Kugel wird
. S.55-57 […]

Das Geheimnis der Trinität
Denn da Gott als Einheit erzeugend und Vater, als Gleichheit der Einheit - gezeugt oder Sohn, als Verbindung beider - der heilige Geist ist, so ist klar, daß der Sohn Sohn heißt, weil er die Gleichheit der Einheit oder des Seins ist. Weil Gott von Ewigkeit die Dinge erschaffen konnte, wenn er sie auch nicht erschaffen hätte, so wird er in Rücksicht auf die Dinge Sohn genannt; denn deshalb ist er Sohn, weil er die Gleichheit des Seins ist, über oder unter welcher die Dinge nicht bestehen könnten, die Gott machen konnte, wenn er sie auch nicht gemacht haben würde. Könnte Gott sie nicht machen, so wäre er weder Gott Vater, noch Sohn, noch heiliger Geist, überhaupt nicht Gott. Betrachtest du die Sache tiefer, so heißt: »der Vater erzeugt den Sohn,« so viel als: er erschafft Alles durch das Wort (quod si subtilius consideras, patrem filium gignere, hoc fuit omnia in verbo creare). Deshalb nennt auch Augustin das Wort die Kunst und Idee im Verhältnis zu den Geschöpfen. Die Kreatur beginnt dadurch, daß Gott - Vater ist, ihr Sein; dadurch, daß er Sohn ist, erlangt sie ihre Vollendung (perficitur), dadurch, daß er heiliger Geist ist, ist sie mit der ganzen Weltordnung im Einklang. Dies sind die Spuren der Trinität in jeglichem Dinge. Dies ist der Sinn der Worte Augustins, wenn er die Stelle der Genesis: »Im Anfange erschuf Gott Himmel und Erde« also erklärt: Gott hat als Vater die Prinzipien der Dinge erschaffen. S.62f […]

Jegliches ist in Jeglichem

Wenn du das Bisherige wohl erwägst, so wirst du unschwer den Sinn jenes Satzes des Anaxagoras: »Jegliches ist in Jeglichem« erkennen, ja vielleicht noch tiefer erfassen, als Anaxagoras selbst. Denn da im ersten Buch gezeigt ist, Gott sei in dem Sinne in Allem, daß Alles in ihm ist, und da jetzt erwiesen ist, Gott sei mittelst des Universums in Allem, so folgt, daß Alles in Allem und Jegliches in Jeglichem ist. Das Universum geht nämlich als das Vollkommenste naturgemäß (ordine naturae) allen Dingen vorher, damit Jedes in Jedem sein kann. So ist das Universum in jedem Geschöpfe dieses Geschöpf, und Jegliches nimmt Alles in sich auf, so dass dieses in ihm konkret existiert. Da jedes Einzelne nicht in Wirklichkeit (actu) Alles sein kann, weil es beschränkt ist, so schränkt es Alles in sich ein, auf daß Alles dieses Einzelne sei (cum quodlibet non possit esse actu omnia, cum sit contractum, contrahit, omnia, ut sint ipsum). Ist folglich Alles in Allem, so scheint Alles dem Einzelnen vorherzugehen. Alles ist somit nicht die Vielheit, weil die Vielheit nicht dem Einzelnen vorhergeht. Alles ist daher ohne Vielheit Jeglichem naturgemäß vorhergegangen. In Jeglichem ist daher nicht die Vielheit in Wirklichkeit (actu), sondern Alles ist ohne Vielheit eben dieses Einzelne. Da nun das Universum konkret in den Dingen ist, so ist jedes wirklich (actu) existierende Wesen eine konkrete Darstellung des Universums (contrahit universa), so daß dieses in Wirklichkeit das ist, was jenes Wesen ist. Jedes wirklich Existierende ist aber in Gott, weil er die Wirklichkeit von Allem ist. Die Wirklichkeit (actu) ist Vollendung und Ziel der Möglichkeit. Da nun das Universum in jedem wirklich Existierenden konkret erscheint, so folgt, daß Gott, der im Universum ist, in Jeglichem sei und jedes wirklich Existierende unmittelbar in Gott wie das Universum. Jegliches ist in Jeglichem - heißt also so viel als: Gott ist durch Alles in Allem, und Alles ist durch Alles in Gott. Einem tieferen Nachdenken sind diese schwierigen Dinge ganz klar, sowohl: daß Gott ohne Verschiedenheit in Allem, weil Jegliches in Jeglichem, als auch, daß Alles in Gott ist, weil Alles in Allem ist. Ein Beispiel. Bekanntlich ist die unendliche Linie - Linie, Dreieck, Kreis und Kugel. Jede endliche Linie hat ihr Sein von der unendlichen, die alles das ist, was sie ist. In der endlichen Linie ist daher Alles, was sie ist, endliche Linie: Dreieck, Kreis, Kugel. Jede Figur in der endlichen Linie ist daher diese Linie; in ihr ist kein Dreieck, Kreis oder Kugel in Wirklichkeit (actu), weil aus mehrerem Wirklichen (ex pluribus actu) nicht Ein Wirkliches wird, da nicht jedes Ding auch actu in jedem ist, sondern das Dreieck in der Linie ist Linie, der Kreis in der Linie ist Linie etc. Alles am Stein ist Stein, an der Seele Seele, am Leben Leben, am Gesichte Gesicht, an der Einbildung Einbildung, am Verstande Verstand, an der Vernunft Vernunft, an Gott Gott. Und nun betrachte, wie das Universum in Vielheit ist und die Vielheit in Einheit. Erwäge noch reiflicher und du wirst einsehen, daß jegliches wirklich existierende Ding darin seine Ruhe findet, daß Alles in ihm es selbst ist, und es selbst in Gott - Gott. Wir bemerken eine wunderbare Einheit, eine staunenswerte Gleichheit und eine unbegreifliche Verbindung der Dinge, auf dass Alles in Allem sei. Die Verschiedenheit und Verbindung der Dinge entsteht auf folgende Weise: da jedes Ding nicht in Wirklichkeit (actu) Alles sein konnte, weil es sonst Gott wäre, und deshalb Alles in Jedem auf die Art ist, wie es nach Dem sein kann, was es ist, so konnte nicht jedes in Allem dem andern ähnlich sein. Deshalb schuf Gott Alles in verschiedenen Stufen, wie er denn auch jenes Sein, welches nicht zugleich unzerstörlich sein konnte, durch das zeitliche Nacheinander unzerstörlich machte, auf daß Alles das sei, was es ist, weil es nun einmal nicht anders und besser sein konnte. Es hat daher Alles in Jedem seinen Ruhepunkt, weil keine Stufe ohne die andere sein könnte, wie am Körper jedes Glied dem andern dient und alle Glieder in allen ihr Genüge finden. S. 96-98f […]

Über die Seele oder das belebende Prinzip des Universums
Alle Philosophen stimmen darin überein, daß das Seinkönnen nur durch das wirkliche Sein zur Wirklichkeit gebracht werden kann, weil nichts sich selbst in Wirklichkeit setzen kann, weil es sonst die Ursache seiner selbst und somit da wäre, bevor es ist. Man sagte daher, was die Möglichkeit in Wirklichkeit setzt, handle nach Absicht (ex intentione), so daß die Möglichkeit aus vernünftiger Anordnung, nicht durch Zufall zur Wirklichkeit gelangt. Diese Wirkungsweise nannte man teils Geist (mentem), teils Vernunft (intelligentiam), teils Weltseele, teils Fatum der Substanz, teils, wie die Platoniker, das umschließende Band (necessitatem complexionis). Diese glaubten nämlich, die Möglichkeit werde mit Notwendigkeit durch sich selbst determiniert, so daß sie jetzt in Wirklichkeit ist, was sie vorher sein konnte. In jenem Geiste liegen nach den Platonikern die Formen der Dinge geistig ebenso, wie in der Materie der Möglichkeit nach. Das Alles umschließende Band, das in sich das Urbild der Formen hat, bewegt der natürlichen Ordnung gemäß den Himmel, so daß mittelst der Bewegung als des Werkzeugs die Möglichkeit zu einer dem geistigen Urbilde möglichst entsprechenden Wirklichkeit gelangt. Mittelst dieser Operation des Geistes werde durch die Bewegung die in die Materie gelangte Form sein, wenn auch nicht wahres, so doch der Wahrheit nahe kommendes Abbild der idealen Form des Geistes. Demnach sind nach den Platonikern in der Weltseele die Ideen (veras formas) der Dinge, zwar nicht der Zeit, wohl aber der Natur nach vorher, als sie in den Dingen sind. Die Peripatetiker geben dies nicht zu, indem sie behaupten, die Ideen (formas) hätten kein anderes Sein, außer in der Materie und durch Abstraktion, die den Dingen folgt, im Geiste. Die Platoniker nehmen eine Mehrheit solcher unter sich verschiedenen Ideen, die aus der Einen unendlichen Vernunft stammen, an, in welcher sie alle Eines seien. Doch ließen sie diese Ideen nicht aus der Einen Vernunft geschaffen werden, sondern so herabsteigen, daß sie in der Weltseele die Entfaltung des göttlichen Geistes erblickten, und was in Gott Eine Uridee ist, in der Weltseele mehrere und verschiedene Ideen sind. Sie fügten bei, Gott gehe naturgemäß dem umschließenden Bande der Notwendigkeit vorher, wie die Weltseele der Bewegung und diese der zeitlichen Entfaltung der Dinge. Diese zeitliche Entwicklung folgt dem Naturgesetze, das in der Weltseele liegt, und heißt substantielles Fatum, die zeitliche Entfaltung desselben ist das gewöhnlich sogenannte Fatum. So ist, was wir die geistige Welt nennen, die Art und Weise des Seins in der Weltseele. Das Sein in der Wirklichkeit, wo die Möglichkeit, durch die Wirklichkeit determiniert, die Entwicklung hervorbringt, ist die Sinnenwelt. Die Ideen, wie sie im materiellen Sein liegen, sind nach ihnen von denen, die in der Weltseele sind, nur in der Seinsweise verschieden; in dieser wahr und an sich, in der Materie dem Wahren sich nähernd (verisimiliter), nicht in ihrer Reinheit, sondern verdunkelt. Die Wahrheit der Ideen erweise nur die Vernunft (intellectum); Verstand, Einbildung und Sinne erfassen nur die Abbilder oder die Vermischung der Ideen mit der Möglichkeit, weshalb sie auch nicht die Wahrheit, sondern nur ein Meinen erzielen (non vere attingitur quidquam, sed opinative). Von der Weltseele geht nach den Platonikern alle Bewegung aus, denn sie ist im Ganzen und in jedem Teile der Welt, obwohl sie nicht dieselbe Tätigkeit in allen Teilen entfaltet, wie auch die Seele im Menschen in den Haaren und im Herzen nicht die gleiche Wirksamkeit zeigt, obgleich sie ganz im ganzen Menschen und in jedem Teile ist. In der Weltseele sind alle Seelen, in und außer den Körpern, enthalten, weil sie das ganze Universum durchdringt, nicht teilweise, da sie unteilbar und einfach ist. Sie ist ganz in der Erde, wo sie die Erde zusammenhält, ganz in Stein, wo sie das Feste der Teile bewirkt, ganz im Wasser, in den Bäumen etc. Sie ist die erste kreisförmige Entfaltung des göttlichen Geistes, der das Zentrum bildet, die natürliche Entfaltung der zeitlichen Ordnung der Dinge. Wegen der in ihr liegenden Unterscheidung und Ordnung nannten sie dieselbe auch die sich bewegende Zahl; sie bestehe, wie diese, aus Gleichem und Verschiedenem, und unterscheide sich auch nur durch die Zahl von der Seele des Menschen. Was die Seele für den Menschen, ist sie das Universum. Alle Seelen kommen von ihr und lösen sich schließlich, wenn nicht Mißverdienste ein Hindernis bilden, in sie wieder auf.

Viele Christen haben sich dieser Ansicht der Platoniker angeschlossen, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde: da das Wesen des Steines ein anderes, als das des Menschen ist, und in Gott keine Verschiedenheit und kein Anderssein stattfindet, so hielten sie es für eine logische Notwendigkeit, daß die verschiedenen Ideen, nach welchen die Dinge verschieden sind, nach Gott und vor den Dingen seien (denn das Rationelle einer Sache geht ihr vorher). Diese Sonderung fanden sie befriedigt in dem Begriffe des die Welt regierenden Geistes (intelligentia rectrice orbium). Diese unterschiedenen Ideen sind die unzerstörlichen Begriffe der Dinge in der Weltseele, ja, diese selbst faßten sie als den Gesamtbegriff aller Begriffe; alle Begriffe haben in ihr substantielles Sein, wiewohl das schwer zu verstehen sei. Sie führen selbst die Autorität der heiligen Schrift zur Begründung an. Wenn Gott sprach: es werde Licht! und es ward Licht, wie hätte er sagen können: Es werde Licht! wenn die Wahrheit (Idee) des Lichtes nicht naturgemäß vorher dagewesen wäre? Und nachdem zeitlich das Licht in Wirklichkeit ungesetzt war, warum wurde es gerade Licht und nicht anders genannt, wenn die Idee des Lichts nicht vorher da war? Vieles Ähnliche wird zur Beschäftigung angeführt.


Die Peripatetiker geben zwar zu, das Werk der Natur sei ein Werk der Intelligenz, leugnen jedoch das Dasein der Ideen. Wenn sie nicht unter der Intelligenz Gott verstehen, so sind sie sicher im Irrtume. Denn wenn kein Wissen der Dinge und der Intelligenz ist, wie kann sie denn, was doch Voraussetzung ist, die Dinge bewegen? Hat sie aber eine Kenntnis der zeitlich zu entwickelnden Dingen, was das Vernünftige in der Bewegung (ratio motus) ist, so kann diese von den Dingen, die ja zeitlich noch existieren, nicht abstrahiert sein. Gibt es also ein Wissen ohne Abstraktion, so ist es sicher dasjenige, von dem die Platoniker reden, das nicht den Dingen entnommen ist, sondern nach dem die Dinge gebildet sind (res secundum eam). Daher waren nach den Platonikern die Ideen der Dinge nicht etwas Gesondertes, verschieden von der Intelligenz selbst, sondern sie bildeten, obwohl unter sich geschieden, Eine einfache Intelligenz, die alles Vernünftige in sich begeistert. So ist zwar die Idee des Menschen nicht die des Seins, gleichwohl hat die Menschheit, von der der Mensch der konkrete Ausdruck ist, kein anderes Sein als in der Intelligenz, in ihr geistig, in der Wirklichkeit reell. Es gibt nicht eine andere (ideale) Menschheit des Plato und eine andere in der Realität, sondern dieselbe Menschheit Plato's ist in verschiedenen Seinsweisen, vorher in der Intelligenz, dann in der Wirklichkeit, was jedoch nicht als ein Vorher der Zeit zu denken ist, sondern so wie der rationelle Grund (ratio) einer Sache ihr naturgemäß vorhergeht. Sehr scharfsinnig und philosophisch sind hierin die Platoniker, und Aristoteles hat sie vielleicht nicht ganz philosophisch hierin getadelt, indem er mehr an der Schale der Worte hängen blieb, als in den Kern der Sache eindrang.

Gott ist die hervorbringende und gestaltende Ursache
Wo die Wahrheit liege, wollen wir nun durch die Wissenschaft des Nichtwissens ermitteln.

Es ist bewiesen, daß man auf kein einfach Größtes kommt, daß es daher keine absolute Möglichkeit und keine absolute Idee (formam) oder Wirklichkeit (actum) gebe, die nicht Gott ist, daß jedes Ding beschränkt ist und es nur Eine Idee aller Ideen (forma formarum) und Ein Urbild (veritas veritatum) gebe, und die absolute Idee des Kreises und Vierecks die gleiche ist. Die Ideen der Dinge sind daher nicht unterschieden, außer sofern sie konkret (contractae) erschienen; in ihrer Absolutheit sind sie Eine ununterschiedene Idee - das Wort Gottes. Die Weltseele hat daher kein anderes Sein, als ein mögliches, durch welches sie beschränkt wird, und der Geist ist nicht getrennt, nicht trennbar von den Dingen (mens non est separata a rebus aut separabilis). Denn betrachten wir den Geist in seiner gänzlichen Getrenntheit von der Möglichkeit, so ist dies der göttliche Geist, der allein ganz und gar Wirklichkeit ist. Es kann somit nicht mehrere gesonderte Ideen geben, denn jede wäre in Bezug auf ihre Abbilder das Größte und Wahrste. Nun kann es aber nicht mehrere Größte geben. Ein unendliches Urbild ist notwendig und hinreichend, indem Alles geordnet enthalten ist, das allen rationellen Grund auch für die verschiedensten Dinge auf das Adäquateste in sich begeistert. Wenn wir die große Verschiedenheit betrachten, so staunen wir darüber, wie Eine einfachste Idee von allen auch der Grund der Differenz der Einzeldinge sein soll. Nach den Prinzipien unseres Systems muß dies so sein, weil sie alle Verschiedenheit als Identität in Gott nachweisen. Da wir erkennen, daß in Gott die Verschiedenheit der rationellen Gründe aller Dinge auf das Wahrste existiert, so erkennen wir eben darin, daß dies das Wahrste ist, den Einen wahren rationellen Grund aller Dinge, und dies ist die höchste Wahrheit selbst. Sagt man, Gott habe nach einer andern Idee (alia ratione) den Menschen, nach einer andern den Stein erschaffen, so ist dies wahr in Hinsicht auf die Geschöpfe, nicht auf den Schöpfer, wie wir an den Zahlen sehen. Der Ternar ist ein Einfachstes (ratio simplicissima), das weder ein Mehr noch ein weniger zuläßt, in sich einig; ganz anders aber wird er in Bezug auf die Dinge. Anders ist der Ternar der Dreiecke, anders der von Materie, Form und Zusammensetzung in der Substanz, anders der von Vater, Mutter, Sohn, anders der von drei Menschen und drei Eseln. Da Alles mit Notwendigkeit umschließende Band ist daher nicht, wie die Platoniker wollten, ein Geist, geringer als der ihn zeugende, sondern der dem Vater in der Gottheit gleiche Sohn; er heißt logos oder Vernunft (ratio), weil er die Vernunft (der rationelle Grund) von Allem ist. Es heißt daher auch nichts, was die Platoniker von den Bildern der Formen (Ideen - de imaginationibus formarum) gesagt haben; sondern es gibt nur Eine unendliche Idee (forma formarum), von der alle Ideen Abbilder sind, wie wir oben gezeigt haben. Man muß dies genau in Auge fassen. Die Weltseele ist zwar als eine Art universeller Form, die alle Formen in sich fasst, zu betrachten; allein sie existiert in Wirklichkeit nur beschränkt und ist in jedem Dinge die konkrete Form des Dinges (forma contracta rei), wie in der Lehre vom Universum gezeigt wurde. Gott ist also die hervorbringende, gestaltende und zum Ziel führende Ursache von Allem, der in dem Einen Worte Alles noch so Verschiedene hervorbringt, und es gibt kein Geschöpf, das nicht durch Verendlichung weniger wäre (quae non sit ex contractione diminuta), in unendlichen Abfall von jenem göttlichen Wirken; denn nur Gott ist absolut, alles Andere ist beschränkt (solus Deus absolutus, omnia alia contracta). Es gibt auch kein Mittelding zwischen dem Absoluten und Beschränkten, wie sich Die einbildeten, die die Weltseele sich als einen Geist dachten, dernach Gott und vor der Verendlichung der Welt wäre. Nur Gott ist die Seele und der Geist der Welt, sofern man die Seele als etwas Absolutes denkt, in dem alle Formen der Dinge in Wirklichkeit sind.

Die Philosophen waren über das Wort Gottes und das absolut Größte nicht vollständig unterrichtet, daher faßten sie Geist, Seele und Notwendigkeit in einer gewissen Entwicklung dieser Notwendigkeit absolut, nicht beschränkt auf. Die Ideen im Worte sind in Wirklichkeit das Wort selbst, in allen Dingen sind sie beschränkt. Die Ideen, die in der erschaffenen Natur liegen, sind zwar gemäß der geistigen Natur gewissermaßen mehr absolut, jedoch nicht ohne Beschränkung, weil die einem Geiste angehören, dessen Tätigkeit, wie Aristoteles sagt, ein Erkennen durch abstrahierte Ähnlichkeit ist (per similitudinem abstractivam).
S.118-126f […]

Die bewegende Kraft
Diese bewegende Kraft geht durch das ganze Universum und alle seine Teile und heißt Natur. Die Natur ist demnach der Inbegriff (complicatio) von Allem, was durch Bewegung entsteht. Wie nun diese Bewegung aus dem Allgemeinen herab sich spezialisiere (quomodo ab universali contrahitur usque in particulare), mit Beibehaltung der stufenmäßigen Ordnung, mag aus folgendem Beispiele erhellen. Wenn ich sage: Gott ist, so gehen diese Worte aus einer gewissen Bewegung hervor, in einer bestimmten Ordnung, so daß ich zuerst die Buchstaben, dann die Silben, dann die Worte, zuletzt den ganzen Satz ausspreche, obwohl das Gehör diese Ordnung nicht unterscheidet. So steigt die Bewegung aus dem Allgemeinen in das Partikulare herab, und erlangt hier zeitlich oder natürlich eine konkrete Gestalt. Diese Bewegung, diese Kraft (spiritus) kommt von dem heiligen Geiste (descendit a sp. s.), der durch die Bewegung selbst Alles bewegt. Wie in dem Redenden ein gewisser Geist ist, der beim Reden von ihm ausgeht und in der oben angegebenen Weise sich konkret ausgestaltet, so geht von Gott, der ein Geist ist, alle Bewegung aus. Denn also spricht die Wahrheit: »Nicht ihr seid es, die da reden, sondern der Geist eures Vaters redet in euch.« Dies gilt auch von allen andern Bewegungen und Tätigkeiten. Dieser Geist nun (die Bewegung im Universum) ist ein erschaffener Geist, ohne den nichts eine Einheit ist und bestehen kann; die ganze Welt und Alles in ihr ist durch diesen Geist, der den Erdkreis erfüllt, in der naturgemäßen Verbindung; die Möglichkeit ist durch seine Vermittlung Wirklichkeit und die Wirklichkeit ebendadurch in der Möglichkeit. Es ist dies die Bewegung, die Alles zur liebenden Vereinigung und Einheit führt, so daß Alles Ein Universum bildet. Während Jedes seine besondere Bewegung hat, um auf die beste Weise das zu sein, was es ist, und Keines sich ganz gleich wie das Andere bewegt, so nimmt doch Jedes an der Bewegung eines Jeden in seiner Weise, mittelbar oder unmittelbar Anteil (wie die Elemente an der Bewegung des Himmels und alle Glieder an der Bewegung des Herzens), auf daß es Ein Universum sei. Durch diese Bewegung existieren alle Dinge auf die bestmögliche Weise, sie erhalten sich in sich und in ihrer Art durch die natürliche Verbindung der verschiedenen Geschlechter, die durch natürliche Bewegung geeint, wenn auch individuell gesondert sind. Keine Bewegung kann aber die absolut größte sein, weil diese mit der Ruhe koinzidiert. Keine Bewegung ist daher absolut, denn die absolute Bewegung ist Ruhe, ist Gott, der alle Bewegung in sich begreift. Wie demnach alle Möglichkeit in der absoluten ruht, welche der ewige Gott ist, jede Form und Wirklichkeit in der absoluten Form, die das Wort, der Sohn des Vaters ist, so ruht alle verbindende Bewegung, alle einigende Proportion und Harmonie in der absoluten Verbindung aus dem heiligen Geiste, auf daß Ein Prinzip von Allem ist - Gott, in dem und durch den Alles ist, in einer gewissen dreifaltigen Einheit, die ihren abbildlichen konkreten Ausdruck innerhalb dem schlechthin Größten und Kleinsten findet, in verschiedenen Stufen, so daß eine Stufe der Bewegung nach Möglichkeit, Wirklichkeit und Verbindung in den geistigen Naturen ist, wo Bewegen Denken ist, eine andere Stufe in dem körperlichen Sein nach Materie, Form und Verbindung, wo das Bewegen Sein ist. 129-131f […]
Aus: Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens, S. 15-16, 21, 55-57, 62f , 96-98f, 125f, 129-131f
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages der Directmedia Publishing GmbH, Berlin

Gespräch über das Seinkönnen
Ewig und unsichtbar ist die Kraft, durch welche die Welt besteht
Was ich mit den Augen wahrnehme, ist bekanntlich nicht aus sich selbst. Wie der Gesichtssinn aus eigener Kraft nichts unterscheidet, sondern das Unterscheidungsvermögen von einer übergeordneten Macht erhalten hat, so ist auch das sinnlich Wahrnehmbare nicht von sich aus, sondern ebenfalls vermöge einer höheren Macht. Deswegen sagte der Apostel [Paulus], daß die Schöpfung der sichtbaren Welt uns gleichsam als Geschöpfe zum Schöpfer erhebe. Die Sinnenwelt wird durch den Gesichtssinn wahrnehmbar; daraus erkenne ich, daß sie von einer höheren Macht herstammt. Die Sinnenwelt ist begrenzt, was sie von sich aus nicht sein kann; denn wie hätte ein Begrenztes sich selbst die Grenze gesetzt? Die Macht, von der sie herstammt, kann ich somit nur als etwas Unsichtbares und Ewiges betrachten. Diese schöpferische Kraft ist nur als ewig zu denken. Denn wie gäbe es ein Sein von einer anderen Macht, außer sie wäre geschaffen? Ewig ist die Kraft, durch welche die Schöpfung der Welt besteht, und unsichtbar. Was wir sehen, ist ja Zeitliches, diese Kraft aber ist die schöpferische, unsichtbare Göttlichkeit des Alls. [...] Ich will nun die Ewigkeit, die uns auf diese Weise sichtbar wird, den glorreichen Gott nennen und sage: jetzt steht für uns fest, daß Gott vor der Wirklichkeit, die von der Möglichkeit, und vor der Möglichkeit, die von der Wirklichkeit unterschieden ist, der einfache Urgrund der Welt ist. Alles, was nach ihm kommt, vereint Möglichkeit und Wirklichkeit nicht in sich. Demnach ist Gott allein das, was er sein kann; keineswegs aber ist es das Geschöpf, da Möglichkeit und Wirklichkeit nirgends das gleiche sind, außer im Ursprung. [...] Ich will jetzt in unbeschränkten und ganz allgemeinen Ausdrücken sprechen: da Möglichkeit und Wirklichkeit in Gott gleich sind, so ist Gott all das wirklich, an dem das Seinkönnen verwirklicht werden kann. Nichts kann sein, was Gott nicht ist. Das versteht man ohne weiteres, wenn man bedenkt, daß die unbeschränkte Möglichkeit zusammenfällt mit der Wirklichkeit. [...] Da also Gott die Möglichkeit und Wirklichkeit schlechthin ist, die Verbindung beider und daher in Wirklichkeit alles Mögliche des Seins, so ist klar, daß er zusammengefaßt alles ist. Alles, was irgendwie ist oder sein kann, ist in ihm als dem Urgrund selbst enthalten, alles Erschaffene oder noch zu Erschaffende wird aus ihm entfaltet, in dem es zusammengefaßt ist. [...] Es ist durchaus nicht falsch zu sagen, Gott sei nach beiden Seiten die Größe schlechthin, das heißt mit andern Worten die unbegrenzte und unteilbare Größe, die Wahrheit und das Maß aller endlichen Größe. Wie könnte sie um irgend etwas größer sein, da sie die größte ist und zugleich die kleinste? Oder um etwas kleiner, da sie die kleinste und zugleich die größte ist? Sie kommt daher aller Größe des Seins gleich. Da sie wirklich alles ist, was sie sein kann, kann sie auch allem Sein an sich gleichkommen. S.4-9 [...]

Dreieinigkeit, Mathematik, Seinkönnen und Wirklichsein
B e r n h a r d. Es sind meiner Meinung nach sehr große Wahrheiten, die du eben so kurz wie klar dargelegt hast. Nun aber, Vater, möchte ich von dir auch etwas über die heiligste Dreieinigkeit hören, damit ich so über alle wichtigsten Fragen von dir etwas vernommen habe und dann selbst in wahrer Gottergebenheit Trost finde.

K a r d i n a l. Man kann immer vieles auf verschiedene Art sagen, und doch bleibt es letzten Endes ganz unzureichend. Das beweisen diese Ausführungen und meine Schriften. Nach vielem und gründlichem Nachdenken und eifrigem Studium der Literatur der Alten fand ich, daß die letzte und höchste Betrachtung über Gott unbegrenzt ist, ohne Ende und jeden Begriff übersteigt. Jedes andere Ding, dessen Begriff wirklich Begriff genannt werden kann, wird durch diesen Begriff ganz erfaßt, Gott aber übersteigt dies alles. Denn der Begriff von Gott ist der Begriff oder das „Wort“ schlechthin, das alles Begriffliche in sich schließt, und dieser Begriff ist nicht in einem anderen begreifbar. Alles ist im andern anders, nichts wird durch die Vernunft wirklich begriffen, wie es begriffen werden könnte; denn durch eine höhere Einsicht könnte es besser begriffen werden. Allein der Begriff an sich oder der unbeschränkte Begriff ist in Wirklichkeit ein allumfassender Begriff. Unser Begriff dagegen ist weder durch sich noch unbedingt, sondern der Begriff irgendeines Gegenstandes und kann daher durch sich den Begriff ,,Gott“ nicht erfassen. Da er unbeschränkt ist, gehört er ja dem einen nicht eher an als dem andern. Wir nennen diesen unbegrenzbaren und unbestimmbaren und unfaßbaren Begriff Gottes wegen seiner Unendlichkeit notgedrungen auch den unaussprechlichen. Denn der Logos kann von uns durch keinen Namen und keine Bezeichnung begrenzt oder umschrieben werden, weil er nicht begriffen werden kann. So nennen wir ihn auch nicht das Eine oder das Dreifache oder mit einem anderen Namen, weil das Ganze den Begriff des Einen, des Dreifachen und alles übrigen Benennbaren übersteigt. Wir hüten uns, irgendeinen Namen für etwas Begriffliches auf ihn anzuwenden, weil er alle Namen überragt.

J o h a n n e s. Mir scheint, je klarer die Vernunft erkennt, daß der Begriff Gottes nicht recht bildbar ist, um so größer ist sie.

K a r d i n a l. Richtig, Abt. Jeder, der sich einbildet, ihn erfaßt zu haben, sollte wissen, daß dies von der Schwäche und Unzulänglichkeit seiner Vernunft herrührt.

B e r n h a r d. Gescheiter ist also, wer weiß, daß er es nicht wissen kann.

K a r d i n a l. Das werden notgedrungen auch die erleuchtetsten Geister sagen.

B e r n h a r d. Während ich überlege, daß wir nichts so begreifen, wie es wirklich erfaßt werden könnte, steht hiermit deutlich fest, daß Gott nicht begriffen werden kann. Er könnte nur begriffen werden, wenn die ganze Begreifbarkeit sich wirklich erfassen ließe.

K a r d i n a l. Wir wissen, daß jedes zahlenmäßige Verhältnis von Durchmesser und Kreisbogen unerreichbar ist, weil niemand zwei Zahlen nennen kann, die sich genau so zueinander verhalten. Welche Zahlen auch immer angegeben werden, ihr Verhältnis ist entweder größer oder kleiner als das des Durchmessers zum Bogen. Da für dieses Verhältnis immer noch genauere Zahlen genannt werden können, so sollte es schließlich doch möglich sein, die entsprechenden Zahlen zu finden. In Wirklichkeit aber kann sich jene Möglichkeit niemals ergeben. Ihre Wirklichkeit wäre der Abbruch der Annäherung, so zwar, daß die Zahlen sich genau zueinander verhalten würden. Die Verwirklichung ist Idee, weil es nur Zahlen gibt, die entweder gerade oder ungerade sind, aber keine die gesuchte Zahl ist. Jede Zahl, die wir erfassen, ist entweder gerade oder ungerade, aber nicht beides zugleich; daher versagen wir. Wir sehen jedoch, daß bei jenem Begriff, der das uns Unmögliche erfaßt, Deutlichkeit herrscht. Und so müssen wir sagen, daß unser Begriff das Verhältnis von Können und Wirklichsein nicht erreicht, da wir keinen gemeinsamen Mittler besitzen, durch den wir an das Verhältnis herankommen konnten. Denn das Können ist unbegrenzt und unbestimmt, die Wirklichkeit aber begrenzt und bestimmt. Zwischen den beiden gibt es keinen Mittler, wir sehen bloß, daß sie in Gott nicht unterschieden sind und daher über unserem Begriffsvermögen liegen.

B e r n h a r d. Wenn all unser Wissen nie unbeschränkt vollkommen werden kann (denn es kann immer noch vollkommener werden), so ist allein das Wissen Gottes, in dem jedes Können wirklich ist, vollkommen und genau.

J o h a n n e s. Ist es nicht eine Binsenwahrheit, Bernhard daß zweimal zwei vier ist und jedes Dreieck drei Winkel hat, die gleich sind zwei rechten?

B e r n h a r d. Gewiß.

J o h a n n e s. So ist auch die Behauptung nicht richtig, daß unser Wissen nicht die genaue Wahrheit erreichen könne.

K a r d i n a l. Man muß überlegen, was man spricht. In der Mathematik, die unserem Begriffsvermögen entspringt und die wir erfahren können im Sein als in seinem Ursprung, wissen wir alles genau, weil sie unser Geschöpf, d. h. das Geschöpf unserer Vernunft ist. Natürlich erkennen wir sie nur mit jener vernunftmäßigen Genauigkeit, von der sie geschaffen wurde. So werden auch die Wirklichkeiten erkannt, und zwar genau mit jener göttlichen Genauigkeit, von der aus sie ins Sein übergehen. Die Mathematik aber ist weder das Was noch das Wie, sondern besteht in Kenntnissen, die unsere Vernunft hervorgebracht hat, weil diese ohne sie nicht arbeiten könnte, ein Haus bauen, messen u. a. m. Dagegen bleiben uns die göttlichen Werke, die aus der göttlichen Einsicht hervorgehen, in ihrer Genauigkeit unbekannt, und was wir an ihnen erkennen, erschließen wir durch Angleichung der Darstellung an ihre Grundform. Daher gibt es von allen Werken Gottes keine genaue Kenntnis, außer bei ihm, der sie geschaffen hat. Was wir von ihnen wissen, entnehmen wir dem Sinnbild und Spiegel der uns bekannten Mathematik. Die Grundform, die das Sein gibt, entnehmen wir z. B. der Figur, welche in der Mathematik das Sein verleiht: wie die Figur des Dreiecks dem Dreieck sein Dasein verleiht, so gibt die Gestalt oder die menschliche Seinsart dem Menschen das Sein. Die Figur des Dreiecks erkennen wir, weil sie vorstellbar ist, das Wesen des Menschen nicht, weil es nicht vorstellbar ist. Wir wissen auch nicht, wie groß es ist und ob es sich seiner Größe nach teilen läßt oder nicht. Alles, was nicht unter die Vielheit oder Größe fällt, kann man weder erfassen noch sich vorstellen, noch vermag man, sich ein Bild davon zu machen: daher kann es auch nicht genau erkannt werden. Jeder Erkennende muß nach Bildern Ausschau halten und wird darum mehr von der Ursache der Existenz als vom Wesen einer Sache berührt.

B e r n h a r d. Wenn wir recht überlegen, so gibt es in unserem Wissen nichts Sicheres als unsere Mathematik, und diese ist ein Gleichnis, das helfen soll, zu den Werken Gottes zu gelangen. Daher haben große Männer ihre bedeutungsvollen Aussprüche in mathematischen Gleichnissen verankert, z. B. daß die Seinsarten sich verhalten wie die Zahlen, daß das Sinnliche im Begrifflichen enthalten ist, wie das Dreieck im Viereck, und ähnliches mehr.

K a r d i n a l. Gut gesagt. Ich hätte an dieser Stelle ebenso gesprochen, damit ihr wißt: wenn wir jene christliche Gotteslehre, Gott sei das Ein- und Dreifache, im Gleichnis sehen wollen, können wir uns zurückwenden zum unbedingt ein- und dreifachen Ursprung der Mathematik. Wir sehen die Größe, ohne die es keine Mathematik gibt, teils als ein Unterschiedenes, dessen Ursprung das Eine ist, teils als ein Stetiges, dessen Grundlage das Dreifache ist; es sind aber dennoch nicht zwei Prinzipien in der Mathematik, sondern nur das Ein- und Dreifache.

B e r n h a r d. Ich begreife wohl den einfachen Ursprung der unterschiedenen, nicht aber den dreifachen der stetigen Größe.

K a r d i n a l. Die erste Figur der stetigen Größe ist das Dreieck, in das andere Figuren aufgelöst werden. Daß es die erste Figur ist, läßt sich beweisen: denn das Viereck wird ins Dreieck aufgelöst, während man das Dreieck nicht in eine Figur mit zwei oder einem Winkel auflösen kann. Daher ist klar: der Urgrund der Mathematik ist das Einigdreifache.

B e r n h a r d. Wenn ich also den reinen Ursprung der Mathematik ohne Mehrheit sehen könnte, so würde ich das Einigdreifache selbst sehen. Denn der Ursprung ist vor der Andersheit und Mehrheit. Und er ist so, daß alles, was sich aus diesem Ursprung ergibt, nach der Auflösung ins Einfache an ihm bestimmt wird.

K a r d i n a l. Sehr gut. Aber nun gib acht! Damit der Ursprung sichtbar werde, muß man das Einfache, ohne das nichts aus dem Ursprünglichen hervorgegangen sein kann, davon abziehen. Wenn dann das Einfache, ohne das weder Zahl noch Figur bestehen können, ebensosehr das Einfache wie das Dreifache ist, das Ein- weil das Dreifache, und nicht numerisch das Dreifache, weil die Zahl erst nach dem Ursprünglichen ist, sondern Dreiheit als vollkommene Grundlage von allem, dann erscheint im Sinnbild Gott als ein-dreifach, so daß er der vollkommenste Urgrund aller Dinge ist.

J o h a n n e s. Du nennst ihn dreifach ohne Zahl. Sind nicht drei Personen wegen der Zahl ,,drei“ drei Personen?

K a r d i n a l. Keineswegs. Denn die Zahl, die du bei deinen Worten im Auge hast, ist eine mathematische Größe und aus unserem Verstand geholt, dessen Urgrund die Einheit ist. Aber die Dreieinigkeit in Gott stammt nicht von einem anderen Ursprung. Sie ist selbst Ursprung.

B e r n h a r d. Jedenfalls ist die Dreieinigkeit vom Ursprung an reiner Ursprung und nicht zahlenmäßig, weil die Zahl nicht vor dem Ursprung sein kann. Die Grundlage einer jeden Vielheit ist die Einheit. Wenn die Dreieinigkeit in göttlichen Dingen Zahl wäre, wäre sie daher schon eine Folge des Ursprungs und somit ihrer selbst.

K a r d i n a l. Du siehst demnach: der erste Urgrund ist ein-dreifach vor jeder Zahl Wenn du es aber nicht fassen kannst, daß er dies vor der Zahl ist, kommt das daher, weil deine Vernunft ohne Zahl nichts begreift. Sie vermag gewisse Tatsachen nicht zu begreifen, sieht aber ein, daß sie in ihrer Unfaßbarkeit nicht geleugnet werden können, und darum glaubt sie sie. So glaubt sie an die Größe Gottes ohne zusammenhängende Menge, so auch an das Dreifache, das ohne Summe oder Zahl unterschieden ist. Und wie sie die Größe Gottes glaubt, indem sie ihm Größe beilegt, so glaubt sie an das Dreifache, indem sie ihm die Zählung zuteilt.

J o h a n n e s. Ich sehe ein, daß wir nach Betrachtung der Geschöpfe den Schöpfer ein- dreifach bezeichnen, der, wie gesagt, in sich ruht und in jeder Art des Seins unaussprechlich bleibt.

K a r d i n a l. Richtig. Ohne Möglichkeit, Wirklichkeit und ihre gegenseitige Verbindung ist nichts und kann nichts bestehen. Keine von diesen drei Voraussetzungen darf fehlen. Wie wäre etwas, wenn es nicht sein könnte? Wie wäre es, wenn es nicht wirklich wäre, wo das Sein die Wirklichkeit ist? Wenn es sein könnte, aber nicht wäre, wie wäre es? Das Seinkönnen, das Wirklichsein und ihre Verbindung müssen miteinander verhaftet sein. Sie sind nicht verschiedenartig, sondern gehören derselben Seinsheit an, da sie nur ein und dasselbe bewirken. Die mögliche Rose und die wirkliche Rose, und die Rose sowohl in Möglichkeit wie in Wirklichkeit, ist dieselbe und keine andere und verschiedene. Das Können, die Wirklichkeit und die Verbindung werden nicht durch sich wechselweise bestätigt, wie man an der Rose sieht.

B e r n h a r d. Gut. Man kann nicht leugnen, daß ich mit dem Geiste die Rose ein-dreifach sehe; denn ich sehe sie im Können: wenn das Können an ihr geleugnet würde, könnte sie niemals existieren. Ich sehe sie wirklich sein: denn, wenn das Sein an ihr verneint würde, wie wäre sie da? Und ich sehe sie in der beiderseitigen Verbundenheit: denn bei Verneinung der Verbindung wäre sie nicht wirklich, weil nichts wirklich ist, was nicht sein kann und nicht existiert. Davon geht ja eben die wirkliche Existenz aus. So erkenne ich, daß die ein-dreifache Rose von einem ein-dreifachen Ursprung herrührt. Diesen Ursprung sehe ich aber in allem hervorleuchten, da es nichts aus dem Ursprung Abgeleitetes gibt, das nicht ein-dreifach wäre. Alles aber geht vom Urprinzip aus. Ich sehe aber auch, daß alles, was sich aus dem Ursprung ergibt, keineswegs mit dem Ursprung selbst identisch ist, wenn es auch in diesem Ursprung gleichsam wie in seiner Ursache und seinem Vernunftgrund enthalten ist. Gott ist daher nicht wie die ein-dreifache Rose. Denn nichts hat das ewige Urprinzip von dem, was aus ihm wurde, sondern es ist die Dreieinigkeit schlechthin, von der aus alles. Ein-Dreifache ist, was es ist.

J o h a n n e s. Ich bin ganz ähnlicher Ansicht wie du, Bernhard. Es ist kein anderer Gott, von dem die Rose in der Mög1ichkeit, kein anderer, von dem sie im Sein, und kein dritter, von dem sie in der gegenseitigen Verbindung ausgeht. Denn die Rose ist keine andere im Können und im Sein und in der Verbindung dieser beiden Begriffe. Sie ist vielmehr ihrem Wesen nach eine ein-dreifache. Da aber die Christen lernen, daß die Person des allmächtigen Vaters = des unbeschränkten Könnens, eine andere sei als die des Sohnes des Vaters = des unbedingten Seins, und wieder eine andere der heilige Geist = die natürliche Liebe und geistige Verbindung von Vater und Sohn, so verstehe ich nicht, wie ich diese Verschiedenheiten der Personen im Gleichnis sehen soll.

K a r d i n a l. Gut gesagt, Abt. Ein anderes ist im Göttlichen die Person des Vaters, ein anderes die des Sohnes, ein anderes die des heiligen Geistes, wegen der unendlichen Vollkommenheit der Dreieinigkeit. Nicht aber ist etwas anderes die Person des Vaters durch irgendeine Andersheit, weil die benedeite Dreieinigkeit über alle Andersheit erhaben ist. Sie ist nicht von einem andern, sondern durch sich, was sie ist. Daher ist der Vater vom Sohn wegen der Gleichheit ihres Wesens und ihrer Natur nicht verschieden. Aber er ist trotzdem nicht der Sohn — nicht durch das Nicht-sein, denn vor allem Nichtsein ist der dreieinige Gott —, sondern weil das Sein das Können voraussetzt. Es ist nichts, wenn es nicht vom Dinge herrühren kann, von dem es ist. Das Können allein setzt nichts voraus, weil es die Ewigkeit ist. Wenn ich daher Gott sehe, der keinen Ursprung seiner selbst voraussetzt, und Gott, der einen Ursprung seiner selbst voraussetzt, und Gott, der aus beiden hervorgeht, so sehe ich deswegen noch nicht drei Götter, sondern die Einheit der Gottheit in der Dreieinigkeit. Und ich zweifle nicht, daß das, was ich so voneinander unterschieden sehe, in der ungeteilten Gottheit wahr und vollkommener ist, als ich es sehen kann. Wie ich daher erkenne, daß das unbeschränkte Können in der Ewigkeit die Ewigkeit ist und das Sein des ewigen Könnens nur aus dem ewigen Können entspringt, so glaube ich, daß das ewige Können selbst eine ewige Persönlichkeit, Hypostase, habe und durch sich sei, ferner, daß von Gott dem Vater, der durch sich ist, Gott gezeugt werde, der alles, was er ist, durch die Allmacht des Vaters ist; als Sohn Allmacht ist er daher alles das, was der Vater kann, somit allmächtig aus dem unbeschränkten, d.h. allmächtigen Können; endlich, daß aus ihnen beiden die Verbindung der Allmacht mit dem Allmächtigen hervorgehe. Ich sehe demnach Gott ewiglich, und denselben Gott von Gott ewiglich, und denselben Gott aus beiden ewiglich hervorgehen. Aber weil die Heiligen dies genauer gesehen haben als wir, genüge es uns, daß wir zur Erkenntnis gelangt sind: wie die Vollkommenheit des Ursprungs dessen Einheit verlangt, so fordert sie wahrhaftig auch dessen Dreiheit. Die Einheit wäre nämlich nicht natürlich und schlechthin vollkommen, wenn sie nicht alles in sich faßte, was zum vollkommensten Ursprung notwendig ist, und dies wird durch die Dreieinigkeit ausgedrückt. Die Dreieinigkeit wieder könnte nicht vollkommen sein, wenn sie nicht die unbedingte Einheit wäre. Die Einheit, die wir Gott zusprechen, ist keine mathematische, sondern die wahre und lebendige Einheit, die alles umfaßt. Und auch die Dreieinigkeit ist keine mathematische, sondern eine lebensvolle, die sich wechselseitig erfordert und bedingt. Sie ist das dreieinige Leben, ohne das es keine ewige Freude und keine höchste Vollkommenheit gäbe. Darum gehört es zum Wesen des vollkommenen Lebens, daß es in der vollkommensten Weise ein Ein-dreifaches darstelle, damit das Lebenkönnen so allmächtig sei, daß es aus sich sein eigenes Leben erzeuge; aus beiden gehen der Geist der Liebe und die ewige Freude hervor.

J o h a n n e s. Bitte, hört mich an, damit ich weiß, ob ich von diesen hohen Dingen etwas erfaßt habe. Ich wende mich zurück zum Seinkönnen. Wenn alles Seiende nur ist, was sein kann, dann sehe ich im Seinkönnen die wahrhafteste und angemessenste Form alles Gestaltbaren. In jedem Ding sehe ich das Können sein und die Verbindung, ohne die das Sein unmöglich ist. Und das gilt für jedes beliebige Ding derart, daß es vollkommener sein könnte. Wo es derart Vollkommenes gibt, daß nichts vollkommener sein kann, wie das beim Seinkönnen der Fall ist, dort sehe ich den dreieinigen Ursprung alles Bestehenden. In der Vollkommenheit des ersten Urgrundes ist notwendig die Vollkommenheit alles dessen bereits begründet, was aus ihm geschaffen wurde. Denn könnte die Vollkommenheit größer gefaßt werden, wäre sie nicht die Vollkommenheit des Urgrundes, sondern der Schöpfung, die aus dem Urgrund hervorgeht.

K a r d i n a l. So ist es zwangsläufig, daß die menschliche Vernunft, die den verborgenen ersten Urgrund als solchen nicht zu fassen vermag, es, wie Paulus lehrt, aus der erkannten Schöpfung ersieht. Wenn das Können unbeschränkt vollkommen sein soll, muß darin das Sein und ihre beiderseitige Verbindung enthalten sein. Ebenso muß, wenn das Sein das vollkommenste sein soll, darin das Können und ihre beiderseitige Verbindung enthalten sein. Und wenn die Verbundenheit die vollkommenste sein soll, so muß sie das Können und die Wirklichkeit oder das Sein enthalten. Das sehen wir notwendigerweise im vollkommensten dreieinigen Urgrund, wenngleich die Art seines Wesens jedes menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt.

B e r n h a r d. Bitte, höre mich an und sag mir, ob ich deine Rede richtig verstanden habe: ich mache ihre Anwendung auf die Bewegung. In ihrem Wesen sehe ich zunächst das Können; von diesem wird die Wirklichkeit gezeugt, und aus beiden geht das Bewegen hervor, das die Verbindung von Können und Wirklichkeit darstellt. Jede vorstellbare Bewegung ist aber nicht, wie die Bewegung überhaupt sein kann, denn die Bewegung kann langsamer und rascher vor sich gehen. In ihrem Können ist also nicht die Wirklichkeit und die beiderseitige Verbindung, weil das Bewegliche nicht wirklich bewegt wird, wie es bewegt werden könnte. Wäre aber die Bewegung, was sie sein kann, dann wäre im Können die Wirklichkeit und gleicherweise die Verbindung. Dem Maß ihres Könnens würde ein gleiches an Wirklichkeit entsprechen und so die beiderseitige Verbindung. Dasselbe gilt vom Sein und von der Verbindung. Aber dieses Ausmaß würde nicht erfaßt werden. Denn, wenn das unbeschränkte Können erreicht ist, könnte die Bewegung weder größer noch kleiner sein, sie wäre zugleich Maximum und Minimum, die schnellste und langsamste oder die ruhigste. Und was wäre das für eine Bewegung, zu der die Ruhe keinen Gegensatz bildete? Bei aufgehobenem Gegensatze würde ihr der Name Bewegung nicht mehr entsprechen; sie wäre ebenso Bewegung wie Nicht-Bewegung, zugleich aber auch Vorbild, Form, Maß und Wahrheit einer jeden Bewegung. Die Bewegung aber, die wir begreifen können und der wir die Ruhe gegenüberstellen, vermögen wir eben erst dadurch zu erfassen, daß, wir sie von ihrem Gegensatz, der Ruhe, aus bestimmen und durch das endliche Auffassungsvermögen ergründen. Wenn ich recht verstehe, ist sicher, daß dieser Begriff der Bewegung nicht der Begriff der Bewegung ist, die ist, was sie sein kann; denn ihr Wesen kann nicht erkannt werden. Ist die erkennbare Bewegung weggefallen, dann sucht der Geist zu ergründen, welche Bewegung überhaupt nicht erkannt werden kann, und schaut weder Namen, Begriff noch Wissen dieser Bewegung, sondern die negative Form des Wissens von der Bewegung. Denn er weiß, daß er niemals jene Bewegung sieht, solange etwas von jenen Bestimmungen übrigbleibt; erst wenn er zum Nichtsein der Bewegung gelangt, nähert er sich dem Gesuchten. Was sich dann jenseits vom Sein und Nichtsein der Bewegung darbietet, darüber weiß er gar nichts, denn es liegt über allem Namen. Das Nichtwissen ist dort das vollkommenste Wissen, wo das Nichtsein die Notwendigkeit des Seins und der Name alles Benennbaren unausdrückbar ist. — In diesem Sinne habe ich deine Ausführungen, ich weiß nicht ob richtig, aufgefaßt.

K a r d i n a l. Du hast mich ganz richtig verstanden. S. 31-43 [...]


Die ewige Macht und unsichtbare Göttlichkeit des Schöpfers
B e r n h a r d. Ich habe hohe Dinge lichtvoll erklären gehört. Ich entnehme diesen Erörterungen, daß die Welt nach dem Nichtsein angefangen hat. Die Griechen nennen sie Kosmos, d. i. Ordnung, Schmuck, weil sie von der unaussprechlichen ewigen Schönheit stammt, die vor dem Nichtsein ist. Der Name besagt, daß sie nicht die unausdrückbare Schönheit selbst darstellt. Er bestätigt aber, daß sie das Abbild der unaussprechlichen Wahrheit ist. Was ist demnach die Welt anderes als die Erscheinung des unsichtbaren Gottes? Was ist Gott anderes als die Unsichtbarkeit des Sichtbaren, wie der Apostel an der Stelle sagt, von der unsere Unterredung ausging? Die Welt offenbart ihren Schöpfer, damit er erkannt werde. Der unerkennbare Gott zeigt sich der Welt in einem Spiegel und im dunkeln Wort erkennbar Wie der Apostel treffend sagte, ist Gott nicht Ja und Nein, sondern es ist Ja in ihm . Das Reich der Lebendigen ist in der Ewigkeit und vor dem Nichtsein. Aus dem Gesagten geht allmählich, wenigstens teilweise, hervor, wie es sich damit verhält und wie jene ,,große Kluft“ (chaos) beschaffen ist, von der Christus spricht und die in der Mitte liegt zwischen den Bewohnern der ewigen Unsterblichkeit und denen, die in der Hölle hausen (Luk. 16, 26). Und weil Christus, unser Lehrer, die Unwissenheit aufhob und uns den Weg zur ewigen Unsterblichkeit zeigte, hat er dadurch alles ergänzt, was uns zu jener ewigen Unsterblichkeit gefehlt hatte. — Nun genug der langen Rede. Fasse sie, wenn du einverstanden bist, mit einem Schlußwort zusammen.

K a r d i n a l. Die Zeit verlangt es wohl. Ihr seid von dem Gedanken des großen Gotteslehrers Paulus ausgegangen, daß das Unsichtbare an Gott aus der Erschaffung der Welt erkennbar und sichtbar wird. Wir haben gesagt:
Die ewige Macht und unsichtbare Göttlichkeit des Schöpfers werden durch den Geist geschaut, der die erschaffene Welt begreift. Es ist nämlich nur dann möglich, den Satz, daß das Geschöpf ein Ausfluß des Schöpfers ist, zu verstehen, wenn man zugleich sieht, wie es in seiner unsichtbaren Macht oder durch seine Schöpferkunst von Ewigkeit her gewesen ist. Alles Erschaffene muß in der Macht des Schöpfers wirklich sein, so daß er die vollkommenste Urgestalt aller Gestalten ist. Er muß alles sein, was sein kann, so daß er die formale oder urbildliche Ursache im wahrsten Sinne ist. Er muß den Begriff und Vernunftgrund aller denkbaren Formen in sich vereinen. Er muß über jedem Gegensatz stehen. In ihm kann es keine Andersheit geben, weil er vor dem Nichtsein ist. Wenn er nach dem Nichtsein wäre, wäre er nicht Schöpfer, sondern Geschöpf, aus dem Nichtsein hervorgebracht. Daher ist in ihm das Nichtsein alles was sein kann. Er erschafft nicht aus Fremdem, sondern aus sich, weil er alles ist, was sein kann. Und als wir uns bemühten, den Schöpfer zu sehen, wie er über Sein und Nichtsein erhaben ist, konnten wir nicht begreifen, auf welche Weise der sichtbar sein sollte, der über allem Einfachen und Zusammengesetzten ist, über allem Einzelnen und Mehrfachen, über aller Bestimmung und Unendlichkeit, gänzlich, überall und nirgends, allförmig und zugleich gestaltlos und völlig unausdrückbar, alles in allem, in keinem Ding nichts, alles und nichts in sich selbst, unversehrt, ungeteilt, auch im Kleinsten und zugleich in nichts von allem. Er zeigt sich in jedem Geschöpf als das dreieinige, wahrhafteste, angemessenste Urbild. Er zeigt, daß alle sinnliche Erkenntnis in der Einbildung besteht, geistigen Trugbildern nachhängt und sich ins Ziellose verliert. Durch sinnliche Erkenntnisse kann nichts Unkörperliches und Geistiges erreicht werden, sondern nur durch den höchsten und von allen menschlichen Trugbildern befreiten Geist, der sich über alles emporgeschwungen hat, in ein Gebiet, wo nichts von allem Seienden zu finden ist. Gott wird im Nichtwissen erkannt, d. h. im Unbegreiflichen, im Schatten, in der Finsternis und im Unbekannten. Man sieht ihn dort im Nebel — weiß nicht, welches Wesen, welches Ding und wie es geartet ist — als Etwas, in dem die Gegensätze zusammenfallen, die Bewegung und die Ruhe, so daß sie nicht getrennte Begriffe, sondern über aller Zweiheit und Andersheit sind. Diese Schau geschieht im Dunkel, wo Gott selbst sich verhüllt und verbirgt vor den Augen aller Weisen. Und wenn er nicht mit seinem Lichte die Finsternis zerstreut und sich offenbart, bleibt er allen, die ihn auf dem Wege des Verstandes und der Vernunft finden wollen, für immer unerkannt. Aber er läßt nicht im Stiche, die ihn mit starkem Glauben, mit innigstem Vertrauen und dem allerheißesten Verlangen suchen. Und dies ist der Zugang, den uns der alleinige Meister Christus gelehrt hat, der Sohn Gottes, der lebendige Weg, der einzige Offenbarer seines Vaters, unseres allmächtigen Schöpfers. — Unsere ganze Unterredung hatte also keinen anderen Zweck, als uns zu zeigen, daß Gott alle Vernunft übersteigt; der ungehinderte, allein beseligende Anblick Gottes aber wird uns Gläubigen durch die Wahrheit selbst, den Sohn Gottes, verheißen, wenn wir die Spur seines Weges, den er uns durch Wort und Tat vorgezeichnet hat, einhalten und ihm folgen. Das verleihe uns unser Herr Jesus Christus, der hochgelobt sei in Ewigkeit. Amen. Fortsetzung
Aus: Nikolaus von Cues: Gespräch über das Seinkönnen
Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Hans Rupprich
Reclams Universalbibliothek Nr. 8855 (S.4-9, 31-43, 58-60)
© 1963 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages