Nikolaus von Kues (1401 - 1464)

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Inhaltsverzeichnis

Das konkret Größte ist Jesus, der Gottmensch
Das Mysterium der Auferstehung
Christus ist der Richter der Lebendigen und der Toten


Das konkret Größte ist Jesus, der Gottmensch
… die Fülle der Zeit ist vorüber und Jesus, der gepriesen sei in Ewigkeit, ist der Erstgeborne der ganzen Schöpfung. Teils aus dem, was er als Mensch in übermenschlicher, göttliche Weise vollbracht hat, teils aus seinen Aussagen von sich selbst, der in Allem wahrhaftig erfunden worden, teils aus den mit Hingabe des eigenen Lebens bekräftigten Zeugnissen seiner vertrauten Freunde behaupten wir mit unerschütterlicher, durch unzählige Beweise längst feststehender Gewißheit, Er sei der, den die ganze Schöpfung, als in der Zeit erscheinend von Anfang an erwartet, der sein Erscheinen in der Welt durch die Propheten vorhergesagt hat. Er kam, um Alles zu erfüllen. Allen gab er wieder gesundes Leben, alle verborgenen Tiefen und Geheimnisse der Weisheit schloß er auf, wie Einer, der Macht hat über Alles. Sünden vergab er wie Gott, er erweckte Tote, verwandelte die Natur, gebot den bösen Geistern, dem Meere und den Winden, schritt auf dem Wasser dahin und gab ein Gesetz, das die Ergänzung aller Gesetze zu ihrer Vollkommenheit bildet. Nach dem Zeugnisse jenes ganz ausgezeichneten Verkünders der Wahrheit, des heiligen Paulus, der in einer Entzückung die Erleuchtung von Oben erhielt, haben wir in Jesus die Vollendung von Allem (perfectionem omnium), die Erlösung und Vergebung der Sünden. Er ist das Abbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne der ganzen Schöpfung; denn in ihm ist Alles erschaffen, im Himmel und auf Erden, Sichtbares und Unsichtbares, Thronen, Herrschaften, Fürstentümer und Gewalten. Alles ist durch ihn und in ihm erschaffen, er ist vor Allem und Alles besteht in ihm. Er ist das Haupt des Körpers der Kirche; denn er ist der Anfang selbst, der Erstling aus den Toten, so daß er in Allem den Primat einnimmt; denn dem Vater gefiel es, daß in ihm die ganze Fülle wohne und Alles durch ihn mit dem Vater versöhnt werde. Diese und viele andern Zeugnisse der Heiligen beständigen es, daß er Gott und Mensch ist; die Menschheit ist in ihm durch das Wort mit der Gottheit geeint, so daß er nicht in sich, sondern in dem Worte sein Bestehen hat, dieweil die Menschheit auf ihrer höchsten Stufe und in ihrer ganzen Fülle nicht anders, als in der göttlichen Person des Sohnes bestehen konnte.

Und nun über unsern Verstand hinaus, gleichsam in gelehrtem Nichtwissen die Person zu verstehen, die den Menschen mit sich geeinigt hat, so wollen wir für unser Verständnis einen höhern Standpunkt einnehmen und auf den Satz zurückgehen, den wir früher besprochen haben, daß nämlich Gott durch Alles in Allem und Alles durch Alles in Gott ist. Da diese Sätze kopulativ zu verstehen sind und Gott insofern in Allem ist, als Alles in Gott, und da das göttliche Sein selbst die höchste Gleichheit und Einfachheit ist, so ist Gott, sofern er in Allem ist, nicht graduell in Allem, als ob er sich stufen- und teilweise mitteilte. Das All kann aber ohne graduelle Unterschiede nicht sein. Es ist daher mit gradueller Verschiedenheit in Gott. Da nun Gott insofern in Allem ist, als Alles in ihm, so erhellt, daß Gott ohne Veränderung seines Wesens in der Gleichheit des Seins Alles ist in der Einheit mit der größten Menschheit Jesu. Denn der größte Mensch kann in ihm nicht anders als in der größten Weise (maxime) sein. So sind denn in Jesus, der Gleichheit alles Seins, als in dem göttlichen Sohne, der die mittlere göttliche Person ist, der ewigeVater und der heilige Geist, und Alles ist in ihm als in dem Worte, jede Kreatur ist in der höchsten und vollkommensten Menschheit, welche universell Alles, was erschaffen werden kann, (omnia creabilia) in sich faßt, so daß Jesus die ganze Fülle ist, die in ihm wohnt. Wir können uns dies einigermaßen durch folgende Vergleichung veranschaulichen. Die Sinnenerkenntnis ist ein beschränktes (contracta) Erkennen, weil der Sinn nur Einzelnes erfaßt. Die Vernunfterkenntnis ist universell, weshalb sie im Vergleich zur Sinnenerkenntnis absolut ist und frei von der Beschränktheit auf das Einzelne. Die Sinnentätigkeit (sensatio) erscheint nur in verschiedenen Graden, wodurch, je nach den edleren und vollkommeneren Graden, verschiedene Arten von Tieren entstehen. Wiewohl nun die Sinnentätigkeit sich nach dem oben Gezeigten nicht auf den schlechthin höchsten Grad erhebt, so tritt sie doch in jener Art, welche in der Gattung der tierischen Wesen die wirklich höchste ist, also in der menschlichen, als ein lebendiges Wesen auf, das insofern lebendes Wesen ist, daß es zugleich Geist ist (denn der Mensch ist als Geist Selbstbewußtsein - homo enim suus est intellectus), so daß hier die konkrete Sinnlichkeit gewissermaßen in der geistigen Natur hypostatisch ruht (suppositatur), indem die geistige Natur ein gewisses göttliches, abgesondertes, abstraktes Sein ist, während die Sinnlichkeit ihrer Natur nach zeitlich und zerstörlich bleibt. Nach dieser obwohl entfernten Vergleichung müssen wir Jesus auffassen. Die Menschheit ruht in ihm hypostatisch in der Gottheit, weil sie anders nicht in ihrer ganzen Fülle die größte sein könnte. Da nämlich die Vernunft Jesu (intellectus Jesu) die vollkommenste und ganz und gar aktuell ist, so kann sie nur in der göttlichen Vernunft, die allein Alles in Wirklichkeit ist, persönlich ruhen (suppositari). Die Vernunft ist nämlich in allen Menschen der Möglichkeit nach Alles, sie geht stufenweise von der Möglichkeit in die Wirklichkeit über. Da nun die größte Vernunft der Höhepunkt (terminus) der Macht der ganzen vernünftigen Natur ist, in vollständiger Aktivität, so kann sie dies nur sein, wenn sie insofern Vernunft ist, als sie zugleich Gott ist, der Alles in Allem ist. Die menschliche Natur sei das in einem Kreis beschriebene Polygon, der Kreis die göttliche Natur. Soll nun das Polygon das größtmögliche sein, so dürfte es nicht in bestimmten Winkeln für sich bestehen, sondern in der Kreisform, so, daß es keine besondere Gestalt seines Bestehens hätte, die von der ewigen kreisförmigen Gestalt losgelöst werden könnten. Die höchste Vollendung der menschlichen Natur zeigt sich in ihrem Substantiellen und Wesentlichen, also in der Vernunft, der alles Körperliche dienen muß. Der vollkommenste Mensch braucht also nicht im Accidentiellen hervorzuragen, außer so weit sich dieses auf die Vernunft bezieht. Es ist nicht erforderlich, daß er ein Riese oder uralt oder von dieser oder jener Größe, Farbe, Gestalt etc. sei. Nur das wird erfordert, daß sein Körper die Extreme vermeide, um ein ganz taugliches Werkzeug der Vernunft zu sein, der er ohne Widersetzlichkeit oder Ermattung gehorchen und Folge leisten muß. Von unserm Jesus, in dem alle Schätze der Wissenschaft und Weisheit, auch so lange er als das Licht in der Finsternis auf dieser Welt wandelte, verborgen waren, nimmt man zufolge der Überlieferung der heiligen Zeugen seines Lebens an, er habe einen dem Zwecke der eminentesten Vernünftigkeit ganz entsprechenden, vollkommenen Körper gehabt. S.175-180 […]

Das Mysterium der Auferstehung
Der dem Leiden und Tode unterworfene Mensch Christus konnte auf keinem andern Wege in die Herrlichkeit des Vaters, der als das absolute Leben die Unsterblichkeit selbst ist, eingehen, als wenn das Sterbliche die Unsterblichkeit anzog. Dies war ohne den Tod nicht möglich; denn wie sollte das Sterbliche die Unsterblichkeit anziehen, außer wenn es der Sterblichkeit entkleidet wird? und wie sollte dies geschehen, außer wenn dem Tode der Tribut entrichtet wird? Daher sagt die Wahrheit selbst, diejenigen seien unverständig und von langsamer Einsicht, welche nicht einsehen, »daß Christus sterben und so in seine Herrlichkeit eingehen mußte.« Da wir nun vorhin gezeigt haben, Christus sei für uns des grausamsten Todes gestorben, so müssen wir folgerichtig sagen: weil die menschliche Natur nicht anders, als durch den Sieg über den Tod zum Tempel der Unsterblichkeit hinaufgeführt werden konnte, so starb Christus, damit die menschliche Natur mit ihm zum ewigen Leben auferstehe und der tierische sterbliche Körper ein geistiger und unzerstörlicher werde. Er konnte kein wahrer Mensch sein, wenn er nicht sterblich war, und er konnte die sterbliche Natur nicht zur Unsterblichkeit führen, wenn nicht die Sterblichkeit durch den Tod entwaffnet war. Höre, wie schön uns die Wahrheit selbst hierüber belehrt, wenn sie sagt: »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Frucht.« Wäre also Christus immer sterblich geblieben, wenn er auch nie gestorben wäre, wie hätte er, ein sterblicher Mensch, der menschlichen Natur die Unsterblichkeit gegeben? Wäre er nie gestorben, so wäre er eben allein, ohne zu sterben, sterblich geblieben. Er mußte also von der Möglichkeit des Sterbens durch den Tod befreit werden, wenn er viele Früchte bringen sollte, auf daß er so erhöhet Alles an sich ziehe, wenn seine Macht sich nicht bloß auf die Welt und vergängliche Erde, sondern auch auf den unvergänglichen Himmel erstreckte. Wir werden dies in unserer Unwissenheit einigermaßen erfassen, wenn wir das oft Gesagte uns vergegenwärtigen.

Wir haben gezeigt, Jesus, der größte Mensch, habe in sich, abgesondert von der Gottheit, kein Bestehen, weil er der größte ist. Deshalb wird der gegenseitige Austausch der göttlichen und menschlichen Prädikate (communicatio idiomatum) gestattet, so daß das Menschliche mit dem Göttlichen koinzidiert, weil jene Menschheit, unzertrennlich von der Gottheit, in Folgeder höchsten Einigung, gleichsam durch die Gottheit angezogen und angenommen (quasi per divinitatem induta et assumta) abgesondert kein persönliches Sein und Bestehen hat. Nun ist der Mensch aus Körper und Seele geeint; die Scheidung ist der Tod. Da nun der größte Mensch in der göttlichen Person hypostatisch ruht (suppositatur), so konnte auch nach der lokalen Scheidung unmöglich entweder die Seele oder der Leib im Moment des Todes von der göttlichen Person, ohne welche der größte Mensch nicht bestand, losgetrennt werden. Christus starb also nicht in der Weise, als hätte seine Person einen Mangel gehabt, sondern, abgesehen von der lokalen Scheidung, blieb er in Hinsicht auf das Zentrum, in welchem seine Menschheit ruhte, mit der Gottheit hypostatisch geeint. Nach der niedern Natur, welche ihrem Wesen nach eine Scheidung von Seele und Leib gestattet, ist diese Scheidung zeitlich und räumlich erfolgt, so daß in der Todesstunde Seele und Leib nicht mehr in derselben Zeit und in demselben Raume zugleich waren. In Körper und Seele war eine Zerstörlichkeit nicht möglich, da sie mit der Ewigkeit geeint waren, allein die zeitliche Geburt war dem Tode und der zeitlichen Scheidung unterworfen, so daß, nachdem der Kreislauf von der Zusammensetzung zur Auflösung vollendet und namentlich der Leid von aller zeitlichen Bewegung frei geworden war, das wahre Wesen der Menschheit (veritas humanitatis), das überzeitlich mit der Gottheit geeint unversehrt geblieben, wie es dieses wahre Wesen erforderte, den wahren Leib mit der wahren Seele vereinte (veritatem corporis veritati animae adunaret), so daß das Schattenbild der Wahrheit (Idee) des Menschen entlassen wurde (dimissa umbrosa imagine veritatis hominis) und der in der Zeit erschienene wahre Mensch frei von aller Einwirkung der Zeitlichkeit auferstand. Es ist also ein und derselbe Jesus, erhoben über alle zeitliche Bewegung, um nicht mehr zu sterben, in Wirklichkeit auferstanden, durch eine Wiedervereinigung der Seele und des Leibes. Ohne diese Wiedervereinigung wäre die unzerstörliche Wahrheit (Idee) der Menschheit nicht auf das Wahrste, ohne Vermischung der Naturen, mit der göttlichen Person hypostatisch vereinigt gewesen. Unterstütze die Schwäche und Unwissenheit des Geistes durch das Beispiel Christi vom Weizenkorn! Das Weizenkorn wird als ein Einzelnes zerstört, aber die spezifische Wesenheit desselben bleibt unversehrt, durch welche die Natur eine Menge von neuen Körnern auferweckt. Wäre nun das einzelne Weizenkorn das größte und vollkommenste seiner Art, und würde es in dem besten und fruchtbarsten Erdreiche ersterben, so könnte es nicht bloß hundert- und tausendfache Frucht bringen, sondern so viele, als im Bereiche der ganzen Möglichkeit seiner Art enthalten ist. Das ist der Sinn jenes Wortes der ewigen Wahrheit: »es bringt viele Frucht«; denn das Viele ist eine zahllose Endlichkeit. Verstehe es wohl! Die Menschheit Jesu muß, so gut sie als konkrete Erscheinung des Menschen Christus aufgefaßt wird, ebenso zugleich auch als vereint mit der Gottheit gedacht werden. In letzterer Hinsicht ist sie absolut (plurimum absoluta), sofern Christus als wahrer Mensch betrachtet wird, ist sie konkret, so daß er durch die Menschheit Mensch ist. So ist die Menschheit Jesu die Mitte zwischen dem rein Absoluten und rein Konkreten. Sie ist eben deshalb nur relativ zerstörlich, schlechthin aber unzerstörlich (non fuit corruptibilis, nisi secundum quid, et simpliciter incorruptibilis). Der Zeitlichkeit nach, auf die sie eingeschränkt war, war sie zerstörlich, als frei von der Zeit, über der Zeit, mit der Gottheit geeint, war sie unzerstörlich. Die Wahrheit in ihrer zeitlichen Erscheinung (veritas ut est temporaliter contracta) ist Symbol und Abbild der überzeitlichen Wahrheit. So ist auch die zeitliche Erscheinung des Körpers gleichsam Schattenbild des wahren überzeitlichen Körpers, und die konkrete Seele das Schattenbild der von der Zeitlichkeit befreiten Seele. So lange diese in der Zeit ist, wo sie ohne Bilder der Dinge (sine phantasmatibus) nichts auffaßt, erscheint sie mehr als Sein oder Verstand, denn als Vernunft; ist sie aber über die Zeitlichkeit erhaben, so ist die Vernunft (von diesen Bildern) frei und unabhängig. Da nun die Menschheit Jesu unauflöslich nach Oben in der göttlichen Unzerstörlichkeit wurzelte, so konnte, nachdem der vergängliche zeitliche Lebenslauf vollendet war, die Lösung nur nach der Wurzel der Unzerstörlichkeit hin erfolgen. Daher ist Jesus nach dem Ende des zeitlichen Lebenslaufes, welches der Tod war, nach Entfernung von Allem, was sich zeitlich der Wahrheit der menschlichen Natur beigesellte, auferstanden, nicht mit einem schweren, zerstörlichen, unvollkommenen (umbrosa), leidensfähigen und mit den andern, der zeitlichen Zusammensetzung anklebende Mängel behafteten Leibe, sondern in einem wahren, verherrlichten, leidensunfähigen, beweglichen und unsterblichen Leibe, wie es die Wahrheit, frei von zeitlichen Bedingungen, erforderte. Diese Wiedervereinigung (von Seele und Leib) war durch die Wahrheit der hypostatischen Einigung der göttlichen und menschlichen Natur geboten. Es mußte also Christus von den Toten auferstehen, wie er selbst sagte: »So mußte Christus leiden und am dritten Tage von den Toten auferstehen.«
S.192 –197 [...]

Christus ist der Richter der Lebendigen und der Toten
Welcher Richter ist gerechter, als der, welcher die Gerechtigkeit selbst ist? Christus, das Haupt und der Anfang jedes vernünftigen Geschöpfes, ist die größte Vernunft selbst, von der jede Vernunft stammt. Die Vernunft fällt das unterscheidende Urteil. Sonach ist der mit Recht der Richter der Lebendigen und der Toten, der mit allen vernünftigen Naturen die menschliche Natur angenommen hat und dabei Gott geblieben ist, der der Vergelter von Allem ist.
Christus richtet Alles überzeitlich, durch sich und in sich, weil er alle Geschöpfe als der größte Mensch, in dem Alles ist, in sich begreift. Gott als Gott ist das unendliche Licht, in dem keine Finsternis ist, das Alles erleuchtet, so daß in diesem Lichte dem Lichte selbst Alles ganz klar und offenbar ist. Dieses unendliche vernünftige Licht umfaßt überzeitlich so Gegenwart als Vergangenheit, Lebendes und Totes in sich, wie das physische Licht die Hyposthase aller Farben ist. Christus ist wie das reinste Feuer, das vom Lichte unzertrennlich ist, und nicht in sich, sondern im Lichte seinen Bestand hat. Er ist das Feuer des geistigen und vernünftigen Lebens, das, indem es Alles verzehrt und in sich aufnimmt, eben dadurch Alles prüft und beurteilt. Alle vernünftigen Geister werden in Christus so geprüft, wie das dem Feuer Übergebene (ignibile) im Feuer. Einiges wird, während es im Feuer aushält, doch ganz in die Ähnlichkeit mit dem Feuer umgewandelt. So wird das beste und vollkommenste Gold im Feuer so in Feuer verwandelt, daß man nicht Gold mehr als Feuer wahrnimmt. Anderes nimmt an der Intensität des Feuers nicht in diesem Grade Anteil, wie das geläuterte Silber, Erz und Eisen. Jedoch scheint Alles in Feuer verwandelt, obwohl Jegliches in einem besondern Grade. Dieses Gericht übt jedoch nur das Feuer aus, nicht die vom Feuer ergriffenen Gegenstände (ignitum), da jeder der letztern in jedem andern nur das heftige Feuer bemerkt, nicht aber die Gradunterschiede der vom Feuer ergriffenen Gegenstände, gleichwie auch wir, wenn wir geschmolzenes Gold, Silber und Kupfer in einem sehr großen Feuer sehen, die Unterschiede der Metalle, wenn sie in die Form des Feuers umgestaltet sind, nicht wahrnehmen. Hätte nun dieses Feuer Bewußtsein und Vernunft, so kennete es die Grade der Vollkommenheit eines Jeden, und die Fähigkeit für die Aufnahme eines intensiven Feuers würde in Jedem graduell verschieden erscheinen. Wie es daher einige dem Feuer unterworfene Stoffe gibt, die im Feuer unzerstörlich verharrend Licht und Wärme in sehr hohem Grade aufnehmen und vermöge ihres geläuterten Zustandes leicht zur Ähnlichkeit des Feuers sich umgestalten lassen, während andere Stoffe wegen ihrer unreinen Beschaffenheit zwar wärmefähig, aber nicht in Licht verwandelbar sind, so teilt auch Christus der Richter in Einem einfachsten und unterschiedlosen Ausspruche (judicium), in Einem Momente, an Alle auf die gerechteste Weise, ohne alle Mißgunst, nicht in zeitlicher, sondern natürlicher Ordnung, die Wärme der anerschaffenen Verständigkeit (calorem creatae rationis communicat) aus, und ist diese Wärme von Jedem aufgenommen, so gießt er das göttliche Licht der Vernunft von Oben ein, so daß Gott Alles in Allem ist und Alles durch ihn, den Mittler, in Gott und ihm (dem Mittler) gleich, so weit dies nach der Empfänglichkeit eines Jeden möglich ist. Daß aber einige Stoffe (quaedam), die mehr geeint und geläutert sind, nicht nur für Wärme, sondern auch für Licht empfänglich sind, andere kaum für Wärme, aber nicht für Licht, ist eine Folge der mangelhaften Disposition der Gegenstände. Da nun jenes unendliche Licht die Ewigkeit und Wahrheit selbst ist, so muß das verständige Geschöpf, das durch dasselbe erleuchtet werden will, sich über Welt und Zeit zu dem Wahren und Ewigen hinwenden. Denn Körperliches und Geistiges sind Gegensätze. Das bloße Vegetieren ist körperlicher Natur, es verwandelt die von Außen aufgenommene Nahrung in die Natur des Genährten, es verwandelt sich nicht das Tier in Brot, sondern umgekehrt. Der vernünftige Geist hingegen, dessen Tätigkeit überzeitlich, gleichsam am Horizont der Ewigkeit sich bewegt, kann das Ewige, weil es ewig ist, nicht in sich verwandeln; allein er kann auch sich, da er gleichfalls unzerstörlich ist, nicht so in das Ewige verwandeln, daß er aufhört, eine vernünftige Substanz zu sein. Er wird daher so in jenes verwandelt, daß er zur Ähnlichkeit mit dem Ewigen umgestaltet wird (absorbeatur), jedoch mit graduellem Unterschiede. Ist er stärker und inniger dem Ewigen zugewandt, so geht seineVollendung durch das Ewige auch tiefer (profundius ab aeternis perficiatur) und sein Sein verbirgt sich in dem ewigen Sein (et abscondatur ejus esse in ipso esse aeterno). Da Christus unsterblich ist und fortlebt, ja das Leben und die Wahrheit ist, so wendet sich, wer zu ihm sich wendet, zum Leben und zur Wahrheit hin; mit je regerem Eifer es geschieht, desto mehr erhebt er sich über das Zeitliche und Vergängliche zum Ewigen hin, so daß sein Leben verborgen ist in Christus. Die Tugenden sind die ewige Gerechtigkeit, die in alle Ewigkeit dauert, das Leben und die Wahrheit. Wer sich der Tugend zuwendet, wandelt auf den Wegen Christi, auf den Wegen der Reinheit und Unsterblichkeit. Die wahren Tugenden sind eine göttliche Erleuchtung (divinae illuminationes). Wer sich daher in diesem Leben durch Christus, der die Tugend ist, zur Tugend wendet, wird, wenn er von diesem zeitlichen Leben befreit ist, in der Reinheit des Geistes erfunden werden, und eingehen dürfen in die Freude, Gott ewig zu besitzen. Die Hinkehr (conversio) unseres Geistes erfolgt, wenn er sich mit allen seinen geistigen Kräften zur reinsten ewigen Wahrheit im Glauben, dem er Alles hintansetzt, hinwendet und diese Wahrheit als das allein Liebenswürdige liebt. Die Hinkehr zu Christus, der die Wahrheit ist, im felsenfesten Glauben ist Verachtung der Welt und siegreiches Bezähmen alles Weltlichen (est mundum istum deserere atque in victoria calcare). Christus auf das Herzlichste lieben, heißt in geistiger Bewegung zu ihm hinziehen, der nicht nur liebenswürdig, sondern die Liebe (caritas) selbst ist. Zieht der Geist in den Stufen der Liebe zur Liebe selbst hin, so vertieft er sich, erhoben über die Zeit und alle weltliche Bewegung, in der Liebe (in ipsam caritatem profundatur). Wie jeder Liebende in der Liebe, so leben Alle, welche die Tugend lieben, in Christus. Und wie jeder Liebende durch die Liebe liebt, so lieben alle Freunde der Wahrheit die Wahrheit durch Christus. Niemand kennt also die Wahrheit, es sei denn der Geist Christi in ihm. Wie es unmöglich ist, daß ein Liebender ohne Liebe sei, so ist es unmöglich, daß Jemand Gott besitze ohne den Geist Christi, in welchem Geist wir allein Gott anbeten können. Daher sind die Glaubenslosen, die sich nicht Christus zuwenden, als unempfänglich für das zur Glorie umgestaltende Licht schon verurteilt zur Finsternis und zum Schatten des Todes; denn sie sind weggewandt von dem Leben, das Christus ist, von dessen Fülle allein Alle in der Herrlichkeit durch die Vereinigung mit ihm gesättigt werden.
Aus: Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens, S. 175-180,192-197, 204-209
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche
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