William James (1842 - 1910)

  Amerikanischer Philosoph und Psychologe, der von 1876 bis 1907 Professor an der Harvard-Universität (Cambridge, Mass.) war. James gründete das erste psychologische Universitätsinstitut in den USA und entwarf eine funktionalistische, empirisch-experimentelle Psychologie. Er war Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus und Verfechter eines antimaterialistischen »radikalen« Empirismus und Pluralismus und vertrat eine damit eng verbundene Lehre vom Werte und Zwecke setzenden freien Willen. Seine Religionsphilosophie beinhaltet einen personalistischen Panpsychismus (Allbeseelungslehre).

Siehe auch Wikipedia


Wilhelm Jerusalem (1854 – 1923), der das James’sche Hauptwerk »Der Pragmatismus« ins Deutsche übersetzt hat sagt u. a. in seinem Vorwort zu James und seinem Pragmatismus: »William James ist zwar nicht der Schöpfer des Pragmatismus, wohl aber einer der ersten und bedeutendesten Verfechter des Pragmatismus. ... Der Pragmatismus ist kein System, sondern eine Methode. Die strenge und konsequente Handhabung dieser Methode bringt es aber mit sich, dass man dabei doch zu positiver Stellungnahme in wichtigen Fragen gelangt. Diese Stellungnahme dürfte nun bei vielen angesehenen Vertretern der Philosophie in Deutschland auf starken Widerspruch stoßen. Der Pragmatismus ist nämlich ein abgesagter Feind jedes A priori und ein entschiedener Gegner der »reinen Logik«, mag diese nun nach transzendentaler oder nach scholastischer Methode betrieben werden. Die neue »Gegenstandstheorie«, die es sich zum Ruhme anrechnet, eine »daseins-freie« Wissenschaft zu sein, muss vom Standpunkte des Pragmatismus eben deshalb als etwas vollkommen Überflüssiges bezeichnet werden. Die Neu-Kantianer, die Neu-Hegelianer und die Neu-Scholastiker Deutschlands, die alle, wie es scheint, immer mehr an Ansehen gewinnen, werden also den Pragmatismus zweifellos entschieden ablehnen. Man muss sich darauf gefasst machen, dass von dieser Seite die neue Richtung als seicht, als oberflächlich, als ganz unphilosophisch bezeichnet wird, wie dies bereits von den extremen Rationalisten Englands geschehen ist.«
Abus: William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden S.III/IV
Üersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Oehler, Felix Meiner Verlag Hamburg, Philosophische Bibliothek Band 297


Inhaltsverzeichnis
Pragmatismus
Die Zartfühligen und die Grobkörnigen
Die Menschen benötigen eine Philosophie, in der sich Wissenschaft mit Religion vereinbaren lässt
Der Gottesbegriff
Materialismus und/oder Theismus
Pragmatismus und Religion


Die Zartfühligen und die Grobkörnigen
Aus der ersten Vorlesung: Das gegenwärtige Dilemma in der Philosophie
Historisch finden wir die Ausdrücke Intellektualismus und Sensualismus synonym mit Rationalismus bzw. Empirismus. In der Wirklichkeit verbindet sich mit dem Intellektualismus meist eine idealistische und optimistische Tendenz. Dagegen sind die Empiristen nicht selten Materialisten und ihr Optimismus ist entschieden ein bedingter und vorsichtiger. Der Rationalismus ist immer monistisch. Er geht vom Ganzen und vom Allgemeinen aus und legt viel Wert auf die Einheit der Dinge. Der Empirismus hingegen geht von den Teilen aus, macht aus dem Ganzen eine Vielheit und ist deshalb nicht abgeneigt, sich pluralistisch zu nennen. Der Rationalismus betrachtet sich in der Regel als religiöser im Vergleich zum Empirismus. Doch ist über diesen Anspruch so viel zu sagen, daß ich ihn jetzt eben nur erwähne. Es ist ein berechtigter Anspruch, wenn der einzelne Rationalist zugleich das ist, was man einen Gefühlsmenschen nennt, und wenn der einzelne Empirist sich etwas darauf zugute tut, hartköpfig zu sein. In diesem Falle wird der Rationalist zugleich Anhänger des freien Willens sein, während der Empirist ein Fatalist sein wird. Der Rationalist wird endlich in seinen Äußerungen einen dogmatischen Ton anschlagen, während der Empirist mehr skeptisch und zu Diskussionen geneigt sein dürfte.

Ich will diese Charakterzüge in zwei Kolumnen zusammenschreiben. Sie werden, hoffe ich, die zwei geistigen Typen, die ich meine, praktisch leicht auseinander halten, wenn ich die beiden Kolumnen mit den Überschriften ,,Zartfühlend“ und ,,Grobkörnig“ versehe
.

Zartfühlend (tender-minded):
Rationalist (Prinzipienmensch)
Intellektualist
Idealist

Optimist
Religiös
Anhänger der Willensfreiheit
Monist
Dogmatiker

  Grobkörnig (tough-minded)
Empirist (Tatsachenmensch)
Sensualist
Materialist
Pessimist
Irreligiös
Fatalist
Pluralist
Skeptiker

Lassen Sie, bitte, für einen Augenblick die Frage ruhen, ob jede der beiden kontrastierenden Mischungen, die ich aufgeschrieben habe, innerlich fest zusammenhängt oder nicht. Für unsern unmittelbaren Zweck genügt es, daß es zartfühlende und daß es grobkörnige Menschen, mit den charakteristischen Merkmalen, die ich ihnen gegeben habe, zweifellos gibt. Jeder von Ihnen kennt wahrscheinlich einige scharf umrissene Charaktere von jedem der beiden Typen und Sie wissen, wie die Exemplare des einen Typus von denen des anderen denken. Sie haben eine geringe Meinung voneinander. Ihr Widerstreit hat, wenn die Temperamente der einzelnen Persönlichkeiten starke waren, zu allen Zeiten einen Teil der philosophischen Atmosphäre des Zeitalters gebildet und dies ist auch heute der Fall. Die Grobkörnigen betrachten die Zartfühlenden als sentimentale Weichlinge. Die Zarten finden die Grobkörnigen ungebildet, gefühllos und brutal.
Jeder Typus hält den andern für minderwertig. Aber in dem einen Falle ist die Verachtung mit Heiterkeit verbunden, in dem andern schleicht sich ein wenig Furcht mit ein.

Nun sind wenige von uns ganz zartfühlend oder ganz grobkörnig in ihrem Philosophieren. Die meisten haben ein Verlangen nach den guten Sachen auf beiden Seiten. Tatsachen sind gut — gebt uns Massen von Tatsachen. Prinzipien sind gut — gebt uns recht viel Prinzipien. Die Welt ist unzweifelhaft eine Einheit, wenn ihr sie in einer bestimmten Weise betrachtet, aber ebenso unzweifelhaft ist sie eine Vielheit, wenn ihr einen andern Standpunkt wählt Sie ist sowohl Einheit als Vielheit — bekennen wir uns also zu einer Art von pluralistischem Monismus. Alles ist natürlich mit Notwendigkeit bestimmt, und doch ist natürlich unser Wille frei. Eine Art von Willensfreiheits-Determinismus ist offenbar die wahre Philosophie. Das Schlechte in den Teilen der Welt ist nicht wegzuleugnen, aber das Ganze kann doch nicht schlecht sein, so läßt sich vielleicht der praktische Pessimismus mit mehr philosophischem Optimismus kombinieren. Und so fort. Der gewöhnliche philosophische Laie ist niemals radikal, preßt sein System nicht, sondern lebt bald in dem einen ihm zusagenden Abteil desselben, bald in dem andern, wie es die wechselnden Stimmungen mit sich bringen.

Aber einige von uns sind mehr als Laien in der Philosophie. Wir verdienen den Namen von Liebhabern und sind beunruhigt durch zu viel Inkonsequenz und Unbestimmtheit in unsern Überzeugungen. Wir haben kein ruhiges Denk-Gewissen, so lange wir unvereinbare Sätze aus entgegengesetzten Lagern festhalten.

Die Menschen benötigen eine Philosophie, in der sich Tatsachen und Wissenschaft mit Religion vereinbaren lassen.
Aus der ersten Vorlesung: Das gegenwärtige Dilemma in der Philosophie
Und nun komme ich zu der ersten wichtigen Bemerkung, die ich zu machen habe. Niemals hat es so viele Menschen von entschieden empirischer Geistesrichtung gegeben als heutzutage. Unsere Kinder werden fast schon als Wissenschaftler geboren. Aber unsere Achtung vor Tatsachen hat in uns keineswegs alle Religiosität vernichtet. Ja diese Achtung ist selbst beinahe religiös. Unser wissenschaftliches Temperament ist voll Andacht. Denken Sie sich jetzt einen Menschen von diesem Typus, einen jener philosophischen Dilettanten, die keine Lust haben, nach der Art eines gewöhnlichen Laien ein Misch-Masch-System zu kombinieren.

Was für eine Situation findet nun ein solcher Mann vor in unserem gesegneten Jahre des Herrn, das wir jetzt schreiben (1906). Er verlangt Tatsachen, er verlangt Wissenschaft, er verlangt aber auch nach einer Religion. Da er nur Dilettant und nicht selbständiger Originaldenker in der Philosophie ist, so sieht er sich bei den Fachmännern auf diesem Gebiete nach Führung um. Viele von Ihnen, ja vielleicht die Mehrzahl sind solche philosophische Dilettanten.

Was für eine Art von Philosophie bietet man Ihnen nun, um Ihre Bedürfnisse zu befriedigen? Sie finden eine empirische Philosophie, die nicht religiös ist, und eine religiöse Philosophie, die für Ihre Bedürfnisse nicht empirisch genug ist. Wenn Sie auf das Lager hinblicken, wo man die Tatsachen am meisten berücksichtigt, so finden Sie dort das ganze grobkörnige Programm auf der Tagesordnung und den Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion in voller Blüte. Entweder ist es der grobkörnige Haeckel mit seinem materialistischen Monismus, seinem Äther-Gott und seinem Spott über Ihren Gott, der ,,ein gasförmiges Wirbeltier“ genannt wird; oder es ist Spencer, der die Geschichte der Welt lediglich als Andersverteilung von Materie und Bewegung darstellt und dabei die Religion gleich am Eingang höflich hinauskomplimentiert. Sie mag zwar fortfahren zu existieren, aber sie darf ihr Antlitz niemals innerhalb des Tempels zeigen.

Seit hundertundfünfzig Jahren scheint der Fortschritt der Wissenschaft nichts anderes zu bedeuten als eine stete Vergrößerung der materiellen Welt und eine stete Verminderung der Bedeutung des Menschen. Das Resultat ist eine Zunahme der naturalistischen und der positivistischen Fühlweise. Der Mensch ist kein Gesetzgeber der Natur, er ist ein Konsument. Sie ist es, die fest dasteht, er hat sich anzupassen. Er hat nichts zu tun als die Wahrheit, so unmenschlich sie auch sein mag, festzustellen und sich ihr zu unterwerfen. Die romantische Spontaneität und der romantische Mut sind dahin, das Weltbild ist materialistisch und niederschlagend. Ideale erscheinen als bedeutungslose Nebenprodukte der Physiologie, das Höhere wird durch das Niedrigere erklärt und mit einem »nichts anderes als« abgetan — d. h. es soll nichts anderes sein als ein Ding weit niedrigerer Art. Kurz, Sie bekommen eine materialistische Welt, in der nur die Grobkörnigen sich heimisch fühlen.

Wenn Sie nun andererseits sich an das religiöse Lager um Trost wenden und von den zartfühlenden Philosophen Rat annehmen wollen, was finden Sie da?

Die religiöse Philosophie unseres Zeitalters zeigt, soweit das englisch-lesende Publikum in Betracht kommt, zwei Haupttypen. Der eine ist mehr radikal und aggressiv, der andere sieht aus, als liefere er ein langsames Rückzugsgefecht. Mit dem mehr radikalen Flügel der Religionsphilosophie meine ich den sogenannten transzendentalen Idealismus der Hegelianer Englands, die Philosophie von Männern wie Green, Caird, Bosanquet und Royce. Diese Philosophie hat die strebsameren unter unsern protestantischen Theologen stark beeinflußt. Sie ist pantheistisch und hat unzweifelhaft den traditionellen Theismus in der protestantischen Religion erheblich abgeschwächt.

Trotzdem erhält sich dieser Theismus; er ist der durch eine Reihe von Zugeständnissen hindurchgegangene Abkömmling des dogmatischen Theismus der Scholastiker, wie er in aller Strenge in den Seminarien der katholischen Kirche heute noch gelehrt wird. Man pflegte ihn lange Zeit bei uns die Philosophie der schottischen Schule zu nennen. Es ist das, was ich als die Philosophie bezeichnete, die so aussieht, als liefere sie ein Rückzugsgefecht. Zwischen den Übergriffen der Hegelianer und anderer »absoluten« Philosophen einerseits und denen der wissenschaftlichen Evolutionisten und Agnostiker andererseits müssen die Männer, die uns diese (vermittelnde) Art von Philosophie bieten, Männer wie James Martineau, Bowne, Ladd und andere sich recht in die Enge getrieben fühlen. Diese Philosophie mag so gesinnungstüchtig und so aufrichtig sein als Sie wollen, sie ist nicht radikal im Tone. Sie ist eklektisch, kennt Kompromisse, sucht einen modus vivendi um jeden Preis. Sie nimmt die Tatsachen des Darwinismus, die Tatsachen der Gehirnphysiologie an, aber sie vermag daraus keine Tatkraft, keine Begeisterung zu gewinnen. Ihr fehlt der sieghafte, der vorwärtsstürmende Ton und infolgedessen hat sie keine Autorität. Die Philosophie des Absoluten dagegen besitzt eine gewisse Autorität, weil ihr Ton viel radikaler ist.

Zwischen diesen zwei Systemen haben Sie zu wählen, wenn Sie sich der Schule der Zartfühlenden zuwenden. Wenn Sie nun wirklich die Tatsachenmenschen sind, für die ich Sie halte, so finden sie den Schlangenschweif des Rationalismus und Intellektualismus über allem ausgebreitet, was auf dieser Seite liegt. Sie retten sich zwar vor dem Materialismus, der Begleiterscheinung des herrschenden Empirismus, aber sie bezahlen diese Rettung damit, daß sie den Zusammenhang mit dem konkreten Leben verlieren. Die Philosophen des Absoluten halten sich auf einem so hohen Niveau der Abstraktion, daß sie nicht einmal versuchen, herabzusteigen. Der absolute Geist, den sie uns bieten, der Geist, der die Welt schafft, indem er sie denkt, könnte — wenigstens kann niemand das Gegenteil beweisen — ebensogut irgend eine andere von den Millionen von Welten geschaffen haben, wie diese unsere. Sie können aus seinem Begriff keine einzige individuelle Tatsache ableiten. Er ist mit jedem Zustande der Dinge hier unten vereinbar. Und der theistische Gott ist ein ebenso unfruchtbares Prinzip. Um auch nur die geringste Andeutung über sein wirkliches Wesen zu erlangen, müssen Sie sich an die Welt halten, die er geschaffen hat. Er ist die Art von Gott, die ein für allemal diese Art von Welt geschaffen hat. Der Gott der theistischen Schriftsteller wohnt in ebenso abstrakten Höhen wie das Absolute. Dabei hat aber die absolute Philosophie doch noch etwas Schwung und Kraft in sich, während der gewöhnliche Theismus etwas saftlos ist, aber beide sind in gleicher Weise weltfremd und leer. Was Sie brauchen, ist eine Philosophie, die nicht nur Ihre Fähigkeiten zu verstandesmäßiger Abstraktion in Bewegung setzen, sondern auch einen positiven Zugang herstellen soll zu der wirklichen Welt menschlicher Lebendigkeiten.

Sie wollen ein System, das zwei Dinge in sich vereinigen soll: Wissenschaftliche Gerechtigkeit den Tatsachen gegenüber und Bereitwilligkeit ihnen Rechnung zu tragen, kurz den Geist der Anpassung. Zugleich aber auch das alte Vertrauen auf menschliche Werte und die daraus sich ergebende Spontaneität, mag sie nun dem religiösen oder dem romantischen Typus angehören. So liegt denn folgendes Dilemma vor Ihnen: Sie finden den Empirismus verbunden mit Entwertung des Menschen und mit Leugnung der Religion. Oder Sie finden eine rationalistische Philosophie, die sich zwar religiös nennen darf, die sich aber fern hält von jedem Kontakt mit wirklichen Tatsachen, mit unsern Freuden und Schmerzen. S.6ff.
Aus: William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden
Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Oehler
Felix Meiner Verlag Hamburg, Philosophische Bibliothek Band 297

Der Gottesbegriff
Aus der zweiten Vorlesung: Was will der Pragmatismus
Der Theismus der alten Zeit mit seinem Gott als einem erhabenen Monarchen, der aus einer Menge unverständlicher und unnatürlicher Attribute zusammengesetzt war, dieser Theismus war gewiß schlimm genug. Aber solange er sich mit voller Kraft an den Zweckgedanken hielt, solange blieb er doch in Fühlung mit der konkreten Wirklichkeit. Seitdem aber der Darwinismus den Zweckgedanken aus den Geistern der Naturforscher herausgetrieben hat, seitdem hat der Theismus diesen Halt verloren. Der Gottesbegriff, der sich, wenn überhaupt einer, der zeitgemäßen Phantasie empfiehlt, ist der einer immanenten, pantheistischen Gottheit, die mehr in den Dingen wirkt als über den Dingen. Wer eine philosophische Religion will, wendet sich in der Regel mit mehr Hoffnung dem idealistischen Pantheismus als dem ältern dualistischen Theismus zu, obwohl auch der letztere noch immer geschickte Verfechter hat.

Aber für Tatsachenfreunde oder empirisch gestimmte Geister ist, wie ich in der ersten Vorlesung sagte, der Pantheismus, den man ihnen bietet, schwer zu assimilieren. Er ist mit dem Stempel des Absoluten versehen, verachtet den Staub und nährt sich von der reinen Logik. Er kennt keine wie immer geartete Verbindung mit konkreten Dingen. Der Pantheismus stellt den absoluten Geist, den er für Gott setzt, als die rationale Voraussetzung aller einzelnen Tatsachen hin und steht dem, was die einzelnen Tatsachen in der Welt wirklich sind, mit souveräner Gleichgültigkeit gegenüber. Mögen sie sein, was sie wollen, das Absolute ist ihr Erzeuger. Gleich dem kranken Löwen in Aesops Fabel führen alle Fußspuren in seine Höhle, aber nulla vestigia retrorsum (keine Spur führt heraus). Sie können mit der Hilfe des Absoluten nicht in die Welt der Einzeltatsachen herabsteigen, Sie können aus Ihrem Begriffe von seinem Wesen keine für Ihr Leben wichtigen Folgerungen im einzelnen ableiten. Dieser Gott gibt Ihnen zwar die beruhigende Versicherung, daß für Ihn und Seine ewigen Gedanken alles im Reinen ist, aber dabei überläßt Er es Ihnen, im konkreten Einzelfall Ihr irdisches Heil selbst zu suchen durch Ihre eigenen zeitgemäßen Maßnahmen.

Fern sei es von mir, die Großartigkeit dieses Begriffes zu leugnen oder in Abrede zu stellen, daß ein solcher Begriff fähig ist, hochachtbaren Geistern religiösen Trost zu vermitteln. Aber vom menschlichen Standpunkte aus muß man zugeben, daß er mit dem Fehler der Weltfremdheit und des allzu Abstrakten behaftet ist. Dieser Begriff ist so durchaus ein Erzeugnis dessen, was ich das rationalistische Temperament zu nennen wagte. Er verachtet die Bedürfnisse des Empirismus. Er setzt einen fleischlosen Grundriß an die Stelle des Reichtums der wirklichen Welt. Er ist fein, er ist vornehm im schlechten Sinne, in dem Sinne, in dem ,,vornehm“ soviel heißt als ungeeignet für niedrige Dienste. In dieser Welt voll Schweiß und Schmutz sollte das Beiwort ,,vornehm“ für eine Weltanschauung ein Präjudiz gegen ihre Wahrheit und eine philosophische Minderwertigkeit bedeuten. Der Fürst der Hölle mag ein Gentleman sein, wie man uns erzählt, aber der Gott des Himmels und der Erde kann, was immer er auch sein mag, sicher kein Gentleman sein. Wir bedürfen seiner knechtischen Dienste im Staube unser menschlichen Plackerei weit mehr als seiner Erhabenheit im siebenten Himmel. S.44ff.
Aus: William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden
Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Oehler
Felix Meiner Verlag Hamburg, Philosophische Bibliothek Band 297

Materialismus und/oder Theismus
Aus der dritten Vorlesung: Einige metaphysische Probleme in pragmatischer Beleuchtung
Zunächst will ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine interessante Tatsache hinlenken. Soweit die Vergangenheit der Welt in Betracht kommt, macht es nicht ein Jota Unterschied, ob wir sie als Werk der Materie betrachten, oder ob wir glauben, daß ein göttlicher Geist ihr Urheber war.

Stellen Sie sich vor, der gesamte Inhalt der Welt sei ein für allemal gegeben. Stellen Sie sich vor, die Welt sei in diesem Augenblicke zu Ende und habe keine Zukunft, und nun lassen Sie einen Theisten und einen Materialisten ihre rivalisierenden Erklärungen auf ihre Geschichte anwenden.

Der Theist zeigt, wie ein Gott sie geschaffen hat, und der Materialist zeigt, — wir wollen annehmen, mit gleichem Erfolg — wie die Welt das Ergebnis blinder physikalischer Kräfte ist. Dann soll der Pragmatist aufgefordert werden, zwischen den beiden Theorien zu wählen. Wie kann er seine Prüfungsmethode anwenden, wenn die Welt schon zu Ende ist? Begriffe sind für ihn dazu da, um mit ihrer Hilfe an die Erfahrung heranzutreten, sie sind dazu da, damit wir nach praktischen Unterschieden suchen. Aber nach unserer Voraussetzung soll es ja keine Erfahrung und keine praktischen Unterschiede mehr geben. Beide Theorien haben bereits gezeigt, was aus ihnen folgt, und sind auf Grund der Voraussetzung, die wir machen, identisch. Der Pragmatist müßte folgerecht sagen, daß die beiden Theorien trotz ihrer so verschieden klingenden Namen genau dasselbe bedeuten und daß ihr Streit ein bloßer Wortstreit ist. (Ich setze natürlich voraus, daß beide Theorien in der Erklärung dessen, was ist, gleich erfolgreich waren.)

Erwägen Sie, bitte, die Sache einmal und sagen Sie ganz aufrichtig, was für einen Wert ein Gott hätte, wenn er da wäre, jetzt wo sein Werk vollendet und seine Welt abgelaufen ist. Er wäre genau soviel wert als die Welt wert ist. Seine schöpferische Kraft konnte diese Summe von Ergebnissen mit all ihren Vorzügen und Mängeln erreichen, konnte aber keinen Schritt weiter gehen. Da es nun keine Zukunft geben soll, da der ganze Wert und die ganze Bedeutung der Welt in den Gefühlen, die den vergangenen Weltlauf und sein eben sich vollziehendes Ende begleiteten, vollständig aufgegangen und verwirklicht wäre, da dieser Wert und diese Bedeutung durch die Aufgabe, etwas Kommendes vorzubereiten, keinerlei Erweiterung erfahren können, so müssen wir Gott mit dem Maßstabe der vollendeten Welt messen. Er ist das Wesen, das ein für allemal dieses leisten konnte; und für soviel sind wir ihm dankbar, aber für nicht mehr. Wenn nun auf Grund der entgegengesetzten Hypothese die Teile der Materie, indem sie ihren Gesetzen folgten, diese Welt schaffen und ebensoviel leisten konnten, sollten wir ihnen nicht ebenso dankbar sein? Was würden wir verlieren, wenn wir Gott als Hypothese fallen ließen und die Materie allein verantwortlich machten? Wo wäre das Tote und das Derbe der Materie zu finden? Und wie könnte, wenn die Erfahrung einmal abgeschlossen ist, das Vorhandensein Gottes irgend etwas lebendiger und reicher erscheinen lassen?

Offen gestanden, es ist unmöglich, auf diese Frage zu antworten. Die Welt der wirklichen Erfahrung ist der Voraussetzung nach auf Grund beider Hypothesen dieselbe, ,,dieselbe für unser Lob, für unsern Tadel“, wie Browning sagt. Die Welt steht unwiderruflich da, ein Geschenk, das nicht zurückgenommen werden kann. Nennen wir die Ursache der Welt Materie, so nehmen wir ihr damit keinen einzigen ihrer Bestandteile, und wir vermehren ihren Reichtum nicht, wenn wir ihre Ursache Gott nennen. Es ist der Gott oder es sind die Atome von eben dieser und keiner andern Welt. Der Gott hat, wenn er da ist, ebenso viel geleistet, wie die Atome leisten können, und hat ebenso viel Dank verdient, wie die Atome und nicht mehr. Wenn seine Gegenwart dem Schauspiel keine andere Wendung oder keinen andern Ausgang geben kann, so kann sie auch dessen Erhabenheit nicht vermehren. Ebensowenig kann das Schauspiel an Erhabenheit verlieren, wenn Gott nicht da ist und wenn die Atome allein auf der Bühne agieren.

Wenn also für die Zukunft keine bestimmte Erfahrung oder Handlungsweise aus unsern Hypothesen abgeleitet werden kann, ·so wird der Streit zwischen Materialismus und Theismus ganz müßig und bedeutungslos. Materie und Gott bedeuten in diesem Falle genau dasselbe, nämlich nicht mehr und nicht weniger als diejenige Macht, welche diese jetzt vollendete Welt schaffen konnte, und der weise Mann ist derjenige, der in einem solchen Falle so überflüssigen Erörterungen den Rücken kehrt. Demgemäß wollen die meisten Menschen instinktiv — die Positivisten und Naturforscher mit vollem Bewußtsein — von philosophischen Streitigkeiten nichts wissen, aus denen sich keine Konsequenzen für die Zukunft zu ergeben scheinen. Der Vorwurf, daß die Philosophie nur eine inhaltlose Wortwissenschaft sei, ist einer, den wir nur zu oft hören. Wenn der Pragmatismus recht hat, so ist es ein durchaus gesunder Vorwurf, wenn sich nicht zeigen läßt, daß die im Streite befindlichen Theorien irgend welche, wenn auch nur minimale und fernliegende praktische Konsequenzen haben. Der gemeine Mann und der Naturforscher sagen, sie könnte keine solchen Konsequenzen entdecken, und wenn der Metaphysiker auch keine finden kann, so sind die andern gegen ihn entschieden im Recht. Seine Wissenschaft ist dann nichts als eine wichtigtuende Spielerei und die Systemisierung von Lehrstühlen für solche Individuen wäre eine Albernheit.

Jeder metaphysische Streit muß demnach irgend eine, wenn auch nur wahrscheinliche und fernliegende, aber doch vorhandene praktische Konsequenz in sich enthalten. Um das zu begreifen, wollen wir zu unserer Frage zurückkehren. Versetzen Sie sich jetzt in die Welt, in der wir leben, in die Welt, die eine Zukunft hat, die, während wir sprechen, noch nicht vollendet ist. In dieser noch nicht zu Ende gegangenen Welt bekommt die Alternative ,,Materialismus oder Theismus“ eine eminent praktische Bedeutung. Es ist wohl der Mühe wert, wenn wir einige Minuten von unserer Stunde darauf verwenden, um dies einzusehen.

Welcher Unterschied ergibt sich für unsern Lebensplan, je nachdem wir annehmen, daß die Tatsachen der Erfahrung zwecklose Gruppierungen blinder Atome sind, die sich nach ewigen Gesetzen bewegen, oder glauben, daß diese Tatsachen auf die Vorsehung Gottes zurückzuführen sind. Soweit die Vergangenheit in Betracht kommt, ist kein Unterschied. Diese Tatsachen sind da, sind eingesackt und geborgen; das Gute, das sie enthalten, ist errungen, mögen nun die Atome oder mag Gott ihre Ursache sein. Deshalb versuchen viele Materialisten der Gegenwart, die die Zukunft und die praktische Seite der Frage ganz verkennen, das Odium, das sich an das Wort Materialismus knüpft, und das Wort selbst zu eliminieren. Sie weisen darauf hin, daß die Materie, wenn sie all diese Errungenschaften hervorbringen konnte, funktionell betrachtet, ein ebenso göttliches Wesen ist wie Gott, daß sie tatsächlich mit Gott in eins verschmilzt, daß sie das ist, was wir unter Gott verstehen. Lassen wir also, so lautet ihr Vorschlag, diese beiden Ausdrücke mit ihrem veralteten Gegensatz. Gebrauchen wir ein Wort, das einerseits keinen theologischen Beigeschmack hat, andererseits aber auch nicht den Gedanken an Grobschlächtigkeit, Plumpheit und Niedrigkeit nahe legt. Anstatt die Worte Gott oder Materie zu brauchen, wollen wir lieber von dem ersten Geheimnis, von der unerkennbaren Energie, von der einen und einzigen Urkraft sprechen. Das ist der Weg, auf den Spencer uns führt, und wenn die Philosophie nur rückblickend wäre, so würde er sich damit als vortrefflicher Pragmatist dokumentieren.

Die Philosophie ist aber nicht nur rückblickend, sie schaut auch vorwärts. Nachdem sie herausgefunden hat, was die Welt war, was sie geleistet und was sie uns gegeben hat, stellt sie die weitere Frage: Was verheißt die Welt? Gebt uns eine Materie, die Erfolg verheißt, eine Materie, die durch ihre Gesetze gezwungen ist, die Welt der Vollendung immer näher zu bringen, und jeder vernünftige Mensch wird diese Materie göttlich verehren, so wie Spencer seine ,,unerkennbare Macht“ verehrt. Diese Kraft hat nicht nur bisher für Rechtschaffenheit gewirkt, sondern wird auch weiter für Rechtschaffenheit wirken, und das ist alles, was wir brauchen. Wenn die Materie praktisch alles leistet, was ein Gott leistet, dann ist sie mit Gott gleichwertig, ihre Funktion ist die Funktion eines Gottes. In einer solchen Welt wäre Gott überflüssig und niemand könnte darin einen Gott vermissen. ,,Kosmisches Gefühl“ wäre dann der richtige Name für Religion.

Ist aber, so frage ich, die Materie, die Trägerin von Spencers Prozeß der Weltentwicklung, wirklich ein solches Prinzip, das ohne Ende der Vollkommenheit zustrebt? Das ist sie nicht; denn das künftige Ende jedes kosmisch entwickelten Dinges oder Systems von Dingen ist, so prophezeit die Naturwissenschaft, tragischer Tod. Und Spencer, der nur die ästhetische und nicht die praktische Seite der Kontroverse berücksichtigt, hat nichts dazu beigetragen, uns von dieser traurigen Gewißheit zu befreien. Wenden wir nun unser Prinzip der praktischen Ergebnisse an und wir werden sehen, wie die Frage ,,Materialismus oder Theismus“ sofort lebendige Bedeutung gewinnt.

Theismus und Materialismus machen zwar retrospektiv genommen keinen Unterschied, weisen aber, wenn man vorwärts schaut, auf ganz verschiedene Ausblicke der Erfahrung hin. Denn die Gesetze der Andersverteilung von Materie um Bewegung, denen wir alle guten Stunden, die unsere Organisation uns gegönnt hat, und alle Ideale, die unser Geist bildet, zu danken haben, diese Gesetze müssen gemäß den Gesetzen der mechanischen Entwicklung mit Naturnotwendigkeit das, was sie geschaffen haben, wieder zerstören und alles, was sie entwickeln ließen, wieder vernichten. Sie kennen alle das Bild des Weltenendes, das die evolutionistische Naturwissenschaft vorhersieht. Ich kann es nicht besser schildern als mit den Worten Balfours ,,Die Energien unseres Planetensystems werden vergehen, die Herrlichkeit der Sonne wird verdunkelt werden und die Erde, ohne Gezeiten und ohne Bewegung, wird das Geschlecht, das einen Augenblick lang ihre Einsamkeit gestört hat, nicht mehr tragen können. Der Mensch wird in die Grube fahren und alle seine Gedanken werden vergehn. Das unruhvolle Bewußtsein, das für eine kurze Zeit das zufriedene Schweigen des Universums gebrochen hat, wird zur Ruhe kommen. Die Materie wird sich selbst nicht mehr kennen. ,,Unvergängliche Denkmäler“ und ,,unsterbliche Taten“, ja selbst der Tod und die Liebe, die stärker ist als der Tod, werden sein, als wären sie nie gewesen. Und all das, was der Mensch durch seine Arbeit, sein Genie, seine Andacht und sein Leiden in unzähligen Altern hervorzubringen sich abmühte, all das wird nicht imstande sein, das, was dann sein wird, besser oder schlechter zu machen.“

Ja, in dem gewaltigen Wettersturm der Welt mag sich wohl manch köstliches Gestade zeigen, manch zauberischer Wolkenberg mag vorüberziehen und lang verweilen, ehe er zerfließt — wie ja zu unserer Freude auch jetzt die Welt mit uns verweilt. Daß aber dann, wenn diese Erzeugnisse des Augenblicks vergangen sind, nichts, gar nichts davon zurückbleibt, nichts, woran diese besonderen Eigenschaften, nichts woran all das Köstliche haften könnte, das diese Erzeugnisse vielleicht in sich trugen, das ist das, was uns quält. Tot und verschwunden ist all das Hervorgebrachte, gänzlich verschwunden aus der Sphäre, aus dem Gebiete des Seienden. Ohne Nachklang, ohne Erinnerung, ohne die Möglichkeit, auf das, was nachher kommt, einzuwirken, daß es dieselben Ideale pflege. Dieser endgültige Schiffbruch, dieser tragische Untergang gehört zum Wesen des naturwissenschaftlichen Materialismus, wie man ihn jetzt auffaßt. In dem einzigen Entwicklungskreis, den wir klar übersehen können, sind es die niedrigeren und nicht die höheren Kräfte, die ewig bleiben und endgültig überleben. Spencer glaubt dies ebenso wie jeder andere, aber er hat keinen Grund, mit uns zu streiten, denn wir machen ja keine albernen ästhetischen Einwände gegen die ,,Grobschlächtigkeit“ der Prinzipien seiner Philosophie, gegen ,,Materie und Bewegung“. Das, was uns verstimmt, ist vielmehr die Trostlosigkeit seiner letzten praktischen Ergebnisse.

Der wahre Einwand gegen den Materialismus ist nicht ein positiver, sondern ein negativer. Es wäre lächerlich, sich heute über die Grobschlächtigkeit des Materialismus zu beklagen. Wir beklagen uns vielmehr über das, was er nicht bietet. Und das ist die Gewähr der Dauer für unsere idealen Interessen und die Erfüllung unserer letzten Hoffnungen.

Der Gottesbegriff nun kann sich zwar an Wahrheit mit den mathematischen Begriffen, wie sie der mechanistischen Philosophie geläufig sind, nicht messen, allein er hat vor ihnen den praktischen Vorzug voraus, daß er eine ideale Weltordnung gewährleistet, die dauernd erhalten bleiben soll. Eine Welt, in der ein Gott das letzte Wort zu sprechen hat, kann wohl auch verbrennen oder erfrieren, aber wir denken dann, daß Er auf die alten Ideale achtet und sie gewiß an irgend einem anderen Orte zu Ehren bringen wird. Wo Er ist, da ist die Tragödie nur vorübergehend und nie vollständig, da sind Schiffbruch und Vernichtung nicht die unbedingt letzten Dinge. Das Bedürfnis nach einer ewigen sittlichen Weltordnung ist eines unserer tiefsten Herzensbedürfnisse. Dichter wie Dante und Wordsworth, die in dem festen Glauben an eine solche Weltordnung leben, verdanken dieser Tatsache die Spannkraft und das Trostbringende in ihren Versen. Die wahre Bedeutung von Materialismus und Spiritualismus liegt also nicht in haarspalterischen Abstraktionen über das innere Wesen der Materie oder über die metaphysischen Attribute Gottes. Sie liegt vielmehr in dem beiderseits so ganz verschiedenen Appell an unser Gefühl und an unsere Handlungsweise, in der verschiedenen Gestaltung unserer Hoffnungen und Erwartungen und in all den fein verästelten Folgeerscheinungen, die diese Unterschiede mit sich bringen. Der Materialismus leugnet einfach, daß die sittliche, Weltordnung ewig ist, und schneidet unsere Hoffnungen ab, der Spiritualismus bejaht die ewige sittliche Weltordnung und gibt unseren Hoffnungen freien Spielraum. Für jeden, der ein Herz hat zu fühlen, liegt hier ein echtes Problem vor, und so lange die Menschen Menschen sind, wird es Stoff geben zu ernster philosophischer Auseinandersetzung.

Aber vielleicht vereinigen sich trotzdem einige von Ihnen zur Verteidigung der Verächter der Philosophie. Man kann zugeben, daß der Materialismus und der Spiritualismus über die Zukunft der Welt verschiedene Aussagen machen, dabei aber doch über diesen Unterschied die Achsel zucken, da er sich auf etwas so weit Entferntes beziehe und für einen praktisch gesunden Geist ganz bedeutungslos sei. Das Wesen des gesunden Verstandes, so kann man behaupten, besteht darin, sich nähere Ziele zu setzen und sich um solche Chimären, wie das letzte Ende der Welt, nicht zu kümmern. Darauf kann ich nur antworten, daß, wer so spricht, der menschlichen Natur unrecht tut. Religiöse Melancholie ist nicht damit abgetan, daß man das Wort ,,Ungesund“ hinausschmettert. Die absoluten, die letzten, die übergreifenden Dinge sind das, worum sich der wahre Philosoph kümmert; alle höher veranlagten Geister nehmen diese Dinge ernst und der Geist mit den nächsten Zielen ist eben der Geist des oberflächlichen, des seichten Menschen.

Die letzten Tatsachen, um die es sich bei diesem Streit handelt, werden freilich heute noch unklar genug vorgestellt. Allein der Glaube an geistige Wesen in all seinen Formen hat es immer mit einer Welt der Verheißung zu tun, während die Sonne des Materialismus in einem Meer der Enttäuschung untergeht. Erinnern Sie sich, was ich vom Absoluten sagte: Es gewährleistet moralische Ferien. Dies tut auch jede religiöse Anschauung. Sie regt uns nicht bloß an in den Momenten unserer Kraft, sondern läßt auch unsere frohmütigen, sorglosen, vertrauensseligen Augenblicke gelten und rechtfertigt sie. Der Hintergrund dieser Rechtfertigung bleibt dabei allerdings recht verschwommen. Die deutlichen Züge der erlösenden Zukunft, die unser Glaube an Gott uns in sichere Aussicht stellt, werden mit den unbegrenzten Methoden der Wissenschaften herausgearbeitet werden müssen; wir können Gott nur erforschen, indem wir seine Schöpfung erforschen.

Aber genießen können wir unsern Gott, wenn wir einen haben, auch ehe diese Forscherarbeit getan ist. Ich selbst glaube, daß der Beweis für Gott ursprünglich inneren persönlichen Erfahrungen zu suchen ist. Wenn diese uns einmal unsern Gott gegeben haben, dann bedeutet sein Name zum mindesten die Wohltat moralischer Ferien. Sie erinnern sich, was ich gestern über die Art sagte, wie Wahrheiten aneinander geraten, wie sie versuchen, einander ,,unterzukriegen“. Die Wahrheit ,,Gott“ muß mit allen unseren Wahrheiten den Kampf aufnehmen. Gott muß sich an den andern Wahrheiten und diese müssen sich an Gott erproben. Unsere endgültige Meinung über Gott kann erst festgestellt werden, wenn die Wahrheiten alle miteinander festgelegt sind. Wir wollen hoffen, daß sich ein modus vivendi herstellen läßt.

Lassen Sie mich zu einem verwandten Problem übergehen, zu der Frage nach dem Zweck in der Natur. Seit undenklichen Zeiten hat man daran festgehalten, daß die Existenz Gottes durch gewisse Tatsachen in der Natur bewiesen sei. Viele Tatsachen erscheinen so, als wären sie ausdrücklich für einander abgezweckt. Der Schnabel, die Zunge, die Füße, der Schweif des Spechtes sind wunderbar angepaßt für das Leben in einer Welt von Bäumen, in deren Rinde Raupen versteckt sind, von denen er sich nährt. Die Teile unseres Auges sind den Gesetzen des Lichtes vollkommen angepaßt, das seine Strahlen zu einem deutlichen Bilde auf unserer Netzhaut konzentriert. Solche gegenseitige Anpassung von Dingen verschiedenen Ursprungs ließ, so war man überzeugt, auf Abzweckung schließen. Und der Abzwecker wurde immer als eine menschenfreundliche Gottheit betrachtet.

Der erste Schritt in diesem Beweisverfahren war der, darzutun, daß die Abzweckung tatsächlich vorhanden war. Man forschte in der Natur nach Ergebnissen, die durch die gegenseitige Anpassung verschiedener Dinge erreicht wurden. Unsere Augen z. B. haben ihren Ursprung in der Dunkelheit des Mutterleibes und das Licht hat seinen Ursprung in der Sonne. Und doch, wie wunderbar sind beide einander angepaßt. Sie sind offenbar für einander geschaffen. Der Akt des Sehens ist der beabsichtigte Zweck, Licht und Auge die verschiedenen Mittel, die ausgedacht sind, um diesen Zweck zu verwirklichen.

Wenn man bedenkt, daß bei unseren Vorfahren in der Schätzung der Beweiskraft dieses Arguments volle Übereinstimmung herrschte, so berührt es eigentümlich, wenn wir sehen, wie es seit dem Triumph der Darwinschen Theorie alle Geltung verloren hat. Darwin hat unserem Geiste die Macht des Zufalls erschlossen, der ,,Anpassungen“ hervorbringt, wenn diese nur Zeit haben, sich zu summieren. Er wies auf die ungeheure Verschwendung der Natur hin, die Ergebnisse hervorbringt, die, weil sie nicht angepaßt sind, vernichtet werden. Er betonte auch die große Zahl der Anpassungen, die, wenn sie beabsichtigt wären, eher auf einen bösen als auf einen guten Planmacher schließen lassen würden. Hier kommt es ganz auf den Standpunkt an. Die Raupe unter der Baumrinde würde aus der vollendeten Anpassung der Organe des Spechtes, die ihn so geschickt macht, sie hervorzuziehen, zweifellos auf einen teuflischen Planmacher schließen.

Die Theologen haben heute ihre Denkweise so umgeformt, daß sie die Tatsachen Darwins einbeziehen, dieselben aber doch so deuten, daß sich ein göttlicher Plan darin offenbart. Man pflegte die Frage zuzuspitzen: Zweck oder Mechanismus, das eine oder das andere. Es war so, als ob jemand sagte: ,,Meine Schuhe sind zweifellos in der Absicht gemacht worden, daß sie für meine Füße passen, also können sie nicht durch Maschinen hervorgebracht sein.“ Wir wissen, daß sie beides sind; sie sind durch mechanische Vorrichtungen erzeugt, die selbst in der Absicht erfunden wurden, passende Schuhe für die Füße zu produzieren. Die Theologen brauchen nur in ähnlicher Weise die Pläne Gottes zu erweitern. Das Ziel einer Partei im Fußballspiel ist nicht bloß, den Ball in ein bestimmtes Tor (goal) hineinzutreiben (wer das so wäre, könnten sie ja in einer dunkeln Nacht aufstehe und ihn hineinlegen), sondern ihn hinzutreiben mittels eine festgelegten Mechanismus von Bedingungen, ich meine die Spielregeln und die Gegenpartei. Ebenso, könnten wir sagen ist das Ziel Gottes nicht nur, die Menschen zu schaffen um zu erlösen, sondern er will, daß dies durch die Tätigkeit des ungeheuren Mechanismus der Natur sich von selbst vollziehe. Ohne die staunenswerten Gesetze und Gegenwirkungen der Natur wäre die Schöpfung und Vollendung des Menschen ein viel zu einfaches Vollbringen, als daß Gott es geplant haben könnte.

So läßt sich die Form des Zweckargumentes aufrecht erhalten, indem man den oberflächlich anthropomorphischen Inhalt desselben aufgibt. Der Urheber ist nicht mehr der alte Mann, dem der frühere Gott ähnlich sah. Seine Zwecke sind jetzt so ins Riesenhafte geweitet, daß sie für uns Menschen unfaßbar sind. Ihr Inhalt überwältigt uns derart, daß im Vergleich dazu das bloße Konstatieren eines Urhebers nur von geringer Bedeutung sein kann. Wir können nur schwer die Eigenart eines Weltgeistes erfassen, dessen Zwecke durch die seltsame Mischung von Gütern und Übeln, wie wir sie in der wirklichen Welt finden, vollständig offenbar werden sollen, oder richtiger gesagt, es ist gar keine Möglichkeit vorhanden, diesen Weltgeist zu erfassen. Das bloße Wort ,,Zweck“ hat keine Bedeutung und erklärt nichts. Es ist das inhaltsleerste aller Prinzipien. Die alte Frage, ob es einen Zweck gibt, ist müßig. Die wirkliche Frage lautet: Was ist die Welt? mag sie nun einen Urheber haben oder nicht. Diese Frage kann aber nur durch die Erforschung der Natur im einzelnen beantwortet werden.

Bedenken Sie, daß, was auch immer die Natur hervorgebracht haben oder hervorbringen mag, die Mittel immer die entsprechenden, immer für diese Hervorbringung angepaßt gewesen sein müssen. Der Schluß von der Anpassung auf den Zweck würde sich immer anwenden lassen, wie immer das Hervorgebrachte geartet ist. Der Ausbruch des Mont-Pélée z. B., der unlängst stattfand, brauchte die ganze vorhergehende Geschichte, um eben diese Kombination von ein-gestürzten Häusern, menschlichen und tierischen Leichen, versunkenen Schiffen, vulkanischer Asche usw. in dieser schauervollen Vereinigung hervorzubringen. Frankreich mußte ein Staat sein und Martinique kolonisieren. Unser Land mußte da sein und unsere Schiffe hin senden. Wenn Gott dieses Ergebnis beabsichtigte, dann ist die Art und Weise, wie die Jahrhunderte ihren Einfluß in dieser Richtung betätigt haben, ein Beweis besonders hoher Intelligenz. Und dasselbe gilt von jedem Zustande der Dinge, den wir in Natur und Geschichte tatsächlich verwirklicht finden. Denn die Teilvorgänge müssen immer ein bestimmtes Resultat ergeben, mag dieses nun chaotisch oder harmonisch sein. Wenn wir auf das hinblicken, was wirklich eingetreten ist, so muß es scheinen, als wären die Bedingungen vortrefflich ausgedacht, um dieses Ergebnis sicher zu stellen. Wir können es also in bezug auf jede vorstellbare Welt, deren Beschaffenheit vorstellbar ist, als möglich hinstellen, daß der ganze kosmische Mechanismus zu dem Zwecke ausgedacht ist, um eben diese Welt hervorzubringen.

Pragmatisch betrachtet ist also das abstrakte Wort ,,Zweck“ eine leere Schablone. Es enthält keine Konsequenzen, es leistet keine Arbeit. Was für ein Zweck? und was für ein Abzwecker? sind hier die einzigen ernst zu nehmenden Fragen, und das Studium der Tatsachen ist die einzige Art, um auch nur annähernd richtige Antworten zu bekommen. Lassen wir aber diese langsam sich einstellenden Antworten aus den Tatsachen einstweilen auf sich beruhen, so können wir, wenn wir an einem planvollen Urheber festhalten und überzeugt sind, daß es ein göttlicher ist, dennoch durch den Begriff eine pragmatische Förderung gewinnen. Es ist tatsächlich dieselbe, die, wie wir gesehen haben, die Begriffe Gott, Geist, das Absolute uns bieten. Der Begriff ,,Zweck“ ist zwar als bloß rationalistisches Prinzip, das über oder hinter den Dingen ruht, auf daß wir bewundernd zu ihm aufblicken, ganz wertlos; wenn aber unser Glaube den Zweck zu einem Gott verdichtet, so wird dieser Begriff ein Wort der Verheißung. Kehren wir damit zur Erfahrung zurück, so können wir vertrauensvoller in die Zukunft blicken. Wenn eine sehende und nicht eine blinde Kraft den Lauf der Welt bestimmt, so können wir vernünftigerweise einen besseren Endausgang erwarten. Dieses verschwommene Vertrauen auf die Zukunft ist die einzige pragmatische Bedeutung, die sich in den Begriffen. Zweck und Abzwecker erkennen läßt. Wenn aber das Vertrauen zur Welt etwas Rechtes und nicht etwas Unrechtes, wenn es etwas Gutes und nicht etwas Schlechtes ist, so ist diese Bedeutung von hoher Wichtigkeit. Dieses Maß von Wahrheit werden also diese beiden Begriffe möglicherweise in sich enthalten. S.59ff.
Aus: William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden
Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Oehler
Felix Meiner Verlag Hamburg, Philosophische Bibliothek Band 297


Pragmatismus und Religion
Achte Vorlesung
Am Ende meiner letzten Vorlesung erinnerte ich Sie an die erste, in der ich das Grobkörnige dem Zartfühlenden entgegengestellt und den Pragmatismus als Vermittler empfahlen hatte. Die Grobkörnigen verwerfen mit Entschiedenheit die Hypothese der Zartfühlenden, wonach es eine ewige vollendete Welt neben unserer endlichen Erfahrungswelt geben soll.

Nach pragmatischen Grundsätzen können wir keine Hypothese verwerfen, wenn sich aus ihr Konsequenzen ergeben, die für das Leben nützlich sind. Allgemeine Begriffe können, insoferne man von ihnen Akt nehmen muß, für den Pragmatisten ebenso wirklich sein, wie Sinnesempfindungen. Sie haben allerdings keine Bedeutung und keine Realität, wenn sie keinen Nutzen bringen. Wenn sie aber irgend einen Nutzen bringen, so haben sie ebenso viel Bedeutung als sie Nutzen bringen. Die Bedeutung, die ihnen zukommt, wird wahr sein, wenn ihr Nutzen mit andern Nützlichkeiten des Lebens gut zusammenpaßt.

Nun ist aber der Nutzen des Absoluten durch den ganzen Verlauf der Religionsgeschichte des Menschen erwiesen. Hier unten regen sich ewige Arme (V. B. Mos. 33, 27). Erinnern Sie sich, welchen Gebrauch Vivekananda vom Atman machte. Es war allerdings kein wissenschaftlicher Gebrauch, denn wir können nichts Bestimmtes daraus ableiten. Aber es wirkte auf das Gefühl und den Geist zugleich.

Es ist immer gut, die Dinge an der Hand von Beispielen zu erörtern. Erlauben Sie also, daß ich Ihnen aus dem ,,An Dich“ betitelten Gedichte Walt Whitmans einige Verse vorlese. Unter dem ,,Du“ ist natürlich der Leser oder Hörer des Gedichtes gemeint, wer immer er oder sie auch sein mag:

Wer immer Du bist, ich lege meine Hand auf Dich, Du sollst mein Lied sein.
Mit meinen Lippen flüstere ich Dir‘s dicht in Dein Ohr.
Viele Männlein und Weiblein habe ich geliebt, aber ich liebe niemand mehr als Dich.
Ach ich war säumig und stumm.
Schon längst hätte ich meinen Weg zu Dir finden sollen.
Ich hätte nichts sprechen sollen als nur von Dir; ich hätte nicht singen sollen als nur von Dir.
Ich will nun alles lassen und dichten das Lied von Dir.
Niemand hat Dich verstanden, aber ich verstehe Dich.
Niemand war gerecht gegen Dich, Du warst gegen Dich selbst nicht gerecht.
jeder findet Dich unvollkommen, aber ich finde keine Unvollkommenheit in Dir.
Herrlichkeit und Größe könnte ich singen von Dir.
Du wußest nicht, was Du bist — Du hast Dein ganzes Leben lang in Dir selbst geschlummert.
Was Du getan, das widerhallt bereits in Spöttereien.
Aber die Spöttereien, das bist nicht Du.
Unter ihnen und in ihnen, da sehe ich Dich verborgen.
Ich folge Dir, wohin Dir niemand folgte.
Dein Schweigen und die Nacht, was Deinem Mund entfährt, woran die Sitte Dich gewöhnt, dies alles mag den andern Dich, mag Dich Dir selbst verbergen, nicht birgt es Dich vor mir.
Das glatte Antlitz, das unstäte Auge, Sie täuschen andere, doch nicht mich.
Vorlautes Wesen, entstellte Haltung, Rausch, Gier, vorzeitiger Tod, auf all‘ das acht‘ ich nicht.
Was an Talent je Mann und Weib besaß, das alles steckt in Dir,
Und keine Tugend, keine Schönheit gibts bei Mann und Weib, die Du nicht auch besitzest.
Was andere leisten und ertragen, das kannst auch Du,
Und Freuden, die auf andere warten, sie harren Dein in gleicher Zahl.
Wer Du auch bist, um jeden Preis verlange Du, was Dein.
Der Osten und der Westen, sie sind klein, vergleicht man sie mit Dir.
Die weiten Wiesen, die unbegrenzten Ströme — Du bist so weit, bist unbegrenzt wie sie.
Du bist er oder sie, bist Herr, bist Herrin über sie.
In Deinem eigenen Recht bist Herrin Du und Herr über die Natur, die Elemente, über Schmerz, Leidenschaft, Vernichtung.
Die Fesseln fallen ab — du fühlst ein sicheres Selbstgenügen.
Alt oder jung, Mann oder Weib, roh, niedrig, verworfen von den anderen, Dein Wesen offenbart sich doch.
Nichts ist gespart, die Mittel sind gefunden, daß durch Geburt und Leben, Tod und Qual und Leiden,
Durch Zorn, durch Ehrgeiz, Unwissenheit und Langeweile, durch alles das hindurch das, was du bist, den Weg sich bahne.


Gewiß ein schönes und rührendes Gedicht, aber es gibt zwei verschiedene Arten, wie man es auffassen kann, und beide haben ihren Wert.
Die eine Auflassung ist die monistische, die auf mystischem Weltgefühl ruht. Die Herrlichkeit und Größe, sie ist Dein, selbst mitten in Deinen Entstehungen. Was immer Dir widerfährt, was Du auch scheinen magst, in Deinem Innern bist Du sicher. Auf Dein, wahres Wesen kannst Du immer zurückblicken, auf ihm magst Du sicher ruhn. Das ist der berühmte Weg des Quietismus, des Indifferentismus. Seine Feinde nennen ihn geistiges Opium. Aber der Pragmatismus muß diese Auffassung respektieren, denn sie ist durch die Geschichte reichlich begründet.

Aber der Pragmatismus sieht auch eine andere Auffassung, die auch respektiert werden muß; er kennt auch eine pluralistische Bedeutung dieses Gedichtes. Das ,,Du“, das in dem Gedichte so verherrlicht wird, das ,,Du“, dem das Lied gilt, damit können auch die in unserem Innern vorhandenen bessern Möglichkeiten gemeint sein, oder auch die erlösenden Wirkungen, die selbst unsere Verfehlungen auf uns selbst oder auf andere ausüben können. Es kann damit unsere rückhaltlose Anerkennung gemeint sein für die Leistungen anderer, die wir bewundern und lieben, so daß wir unser armseliges Leben gerne hinnehmen, weil es Genosse und Zeuge dieser Herrlichkeit ist. Wir können ein so gewaltiges Weltganze wenigstens würdigen, wir können sein Publikum bilden und ihm Beifall klatschen. Vergessen wir also alles niedrige in uns, denken wir nur an das Hohe, und indem wir uns mit diesem Hohen eins fühlen, wird das, was wir aus uns machen, was wir im tiefsten Innern sind, mitten durch Zorn und Leiden, durch Unwissenheit und Langeweile seinen Weg sich bahnen.

Beide Auffassungen des Gedichtes ermutigen uns, daß wir uns selbst treu bleiben. Beide Auffassungen befriedigen; beide heiligen das menschliche Leben. Beide malen das Bild des ,,Du“ auf goldenem Untergrund. Allein in der ersten Auffassung ist dieser Untergrund das statische Eine, während nach der andern Möglichkeiten in der Mehrzahl, echte Möglichkeiten den Untergrund bilden, der damit zugleich den ruhelosen Charakter dieser Auffassung bekommt.

Beide Arten, das Gedicht zu lesen, haben etwas Erhabenes; aber die pluralistische Auffassung stimmt offenbar am besten zu dem pragmatistischen Temperament, denn sie regt in unserem Geiste eine ungleich größere Anzahl zukünftiger Erfahrungen an und löst bestimmte Tätigkeiten in uns aus. Mag nun diese zweite Auffassung im Vergleich zu der ersten prosaisch und erdgeboren erscheinen, man kann ihr doch nicht Grobkörnigkeit im brutalen Sinne des Wortes vorwerfen. Trotzdem würden wir wahrscheinlich mißverstanden werden, wenn wir als Pragmatisten diese zweite Auffassung der ersten mit Entschiedenheit entgegenstellen wollten. Man würde uns den Vorwurf machen, daß wir erhabenere Auffassungen leugnen und daß wir die Grobkörnigkeit im schlimmsten Sinne des Wortes begünstigen.

Sie erinnern sich an den Brief eines der Zuhörer, aus dem ich bei unsrem letzten Zusammensein einige Stellen vorgelesen habe. Erlauben Sie, daß ich jetzt eine weitere Stelle daraus vorlese. Es zeigt sich darin in bezug auf das Unterscheiden der vorliegenden Alternativen eine Unklarheit, die, wie ich glaube, sehr weit verbreitet ist.
,,Ich glaube,“ so schreibt mein befreundeter Korrespondent, ,,an den Pluralismus, ich glaube, daß wir bei unserem Forschen nach Wahrheit in einem unendlich großen Meere von einem schwimmenden Eisklumpen auf den andern springen, und daß wir durch jede unserer Handlungen neue Wahrheiten möglich und alte unmöglich machen, Ich glaube, daß jeder Mensch dazu verpflichtet ist, die Welt besser zu machen und daß, wenn er dies nicht tut, die Sache so weit ungetan bleibt.“

,,Trotzdem aber bin ich gleichzeitig bereit, es zu ertragen, daß meine Kinder unheilbar krank und leidend sind (was nicht der Fall ist), und daß ich selbst dumm sei, aber doch soviel Hirn besitze, um meine Dummheit einzusehen, aber nur unter einer Bedingung. Ich muß mir vorstellen können, daß durch eine von der Phantasie und Vernunft vollzogene Konstruktion einer rationalisierten Einheit aller Dinge meine Handlungen, meine Gedanken und meine Leiden durch alle übrigen Phänomene der Welt eine Ergänzung erfahren, und daß sie, so ergänzt, ein Schema bilden, das ich billigen und mir zu eigen machen kann. Ich aber will es mir für meinen Teil nicht ausreden lassen, daß wir imstande sind, hinter dem auf der Hand liegenden Pluralismus der Naturforscher und Pragmatisten eine logische Einheit zu erblicken, die für diese Denker kein Interesse und keinen Halt besitzt.“

Ein so schön ausgedrücktes persönliches Glaubensbekenntnis erwärmt gewiß das Herz des Hörers. Aber trägt es auch dazu bei, seinen Kopf philosophisch zu klären? Tritt der Schreiber des Briefes in konsequenter Weise für die monistische oder für die pluralistische Interpretation des Weltgedichtes ein? Er ist mit seinen Leiden versöhnt, wenn diese ,,ergänzt“ sind, d. h. ergänzt durch alle die Mittel, welche die übrigen Phänomene darbieten. Offenbar blickt mein Korrespondent hier vorwärts auf die Einzelheiten der Erfahrung, die er in pluralistisch-melioristischer Weise deutet.

Er selbst glaubt aber, daß er nicht vorwärts, sondern daß er zurückschaut. Er spricht von der rationalen Einheit der Dinge und meint dabei tatsächlich ihre mögliche empirische Vereinheitlichung. Dabei setzt er zugleich voraus, daß der Pragmatist, weil er die vom Rationalismus behauptete abstrakte Einheit bekämpft, sich selbst des tröstlichen Glaubens an die in der konkreten Vielheit vorhandenen erlösenden Möglichkeiten beraubt. Kurz, er vermag nicht zu unterscheiden zwischen der Auflassung, wonach die Vollkommenheit ein notwendiges Prinzip ist, und der Ansicht, daß diese Vollkommenheit nur ein mögliches Endziel ist.

Ich glaube, der Schreiber des Briefes ist ein echter Pragmatist, aber ein Pragmatist ohne sein eigenes Wissen. Er erscheint mir wie einer der zahlreichen philosophischen Dilettanten, von denen ich in meiner ersten Vorlesung sprach, die alle guten Dinge haben wollen, ohne dabei allzu ängstlich zu fragen, inwiefern dieselben miteinander übereinstimmen oder nicht übereinstimmen. ,,Rationale Einheit aller Dinge“ ist eine so eindrucksvolle Formel, daß er sie ohne weiteres auf seine Fahne schreibt und dem Pluralismus vorwirft, er stehe damit in Widerspruch, weil eben die Ausdrücke im Widerspruch stehen. Tatsächlich meint er aber mit dieser Formel nichts anderes als die pragmatisch vereinheitlichte und immer besser gewordene Welt. Viele von uns bleiben in dieser Unklarheit stecken, und es ist in gewissem Sinne gut so. Allein im Interesse der Verstandesklarheit ist es doch wieder gut, daß einige von uns weiter zu kommen suchen, und so will ich versuchen, gerade diese religiöse Frage mit etwas schärferer Unterscheidung ins Auge zu fassen.

Ist nun, so sage ich, diese absolut wirkliche Welt, diese Einheit, die mit moralischer Begeisterung erfüllt und so hohen religiösen Wert hat, ist sie monistisch oder pluralistisch zu nehmen? Ist sie ante rem oder in rebus? Ist sie ein Prinzip oder ein Ziel, ein Absolutes oder ein Endzweck (ultimate), ein Erstes oder ein Letztes? Heißt sie uns vorwärts blicken oder soll sie einen Rückhalt geben? Es ist gewiß der Mühe wert, diese beiden Auffassungen nicht zusammenzuwerfen, denn wenn man sie unterscheidet, so ergeben sich daraus wesentlich verschiedene Folgen für das Leben.

Beachten Sie, bitte, daß sich dieses ganze Dilemma, vom pragmatischen Gesichtspunkt betrachtet, eigentlich ganz um den Begriff der M ö g l i c h k e i t dreht. Für den Verstand beruft sich der Rationalismus auf sein absolutes Einheitsprinzip, weil darin der Grund liegen soll für die Möglichkeit der vielen Tatsachen. Für das Gefühl soll diese Einheit, die die Möglichkeiten in sich enthält und zugleich begrenzt, eine Gewähr dafür bieten, daß der Ausgang ein guter sein wird. In diesem Sinne genommen macht das Absolute alle guten Dinge gewiß, alle schlimmen Dinge unmöglich (in der Ewigkeit), und man kann sagen, daß durch das Absolute die ganze Kategorie der Möglichkeit in eine andere Kategorie verwandelt wird, die mehr Sicherheit gewährt. Man sieht hier, daß der große religiöse Unterschied darin liegt, daß manche darauf bestehen, daß die Welt erlöst werden m u ß und erlöst werden w i r d, während andere sich mit dem Glauben begnügen, daß sie erlöst werden k a n n. Der ganze Gegensatz zwischen der rationalistischen und der empiristischen Religion dreht sich also um die Gültigkeit des Begriffes der Möglichkeit. Wir müssen deshalb damit beginnen, dies Wort scharf ins Auge zu fassen. Was mag das Wort ,,Möglichkeit“ genau genommen, bedeuten? Für Leute, die nicht viel überlegen, bedeutet es gewissermaßen einen dritten Zustand des Seins, weniger wirklich als das Sein, wirklicher als das Nichtsein, ein Reich der Dämmerung, eine Art Fegefeuer, durch welches die Wirklichkeiten nach‘ der einen oder andern Richtung hindurchgehen müssen.

Eine solche Auffassung ist natürlich zu verschwommen und zu unbestimmt, um uns zu genügen. Hier wie sonst ist die pragmatische Methode das einzige Mittel, um die wahre Bedeutung eines Begriffes heraus zu bekommen. Welchen Unterschied macht es, wenn wir sagen, ein Ding sei möglich? Es macht zunächst den Unterschied, daß, wenn irgend einer dasselbe Ding als unmöglich bezeichnet, wir ihm widersprechen können, wenn einer es aktuell nennt, daß wir ihm widersprechen können, und wenn einer es als notwendig bezeichnet, daß wir ihm auch widersprechen können.

Aber dieses Recht auf Widerspruch bedeutet nicht viel. Kann es nicht noch einen weitern, in Tatsachen auszudrückenden Unterschied ausmachen, wenn wir sagen, ein Ding sei möglich?

Es macht zum mindesten den negativen Unterschied, daß, wenn die Behauptung wahr ist, daraus folgt, daß nichts vorhanden ist, was das ins Leben-Treten des möglichen Dinges hindern könnte. Das Nichtvorhandensein störender Gründe macht also, daß die Dinge n i c h t u n m ö g l i c h sind, d. h. möglich im leeren und abstrakten Sinne des Wortes.

Aber die meisten Möglichkeiten sind nicht leer, sie sind konkret fundierte oder, wie wir sagen, gut fundierte Möglichkeiten. Was bedeutet das in pragmatischem Sinne? Das bedeutet, daß nicht nur keine störenden Bedingungen da sind, sondern daß einige von den Bedingungen der Hervorbringung des möglichen Dinges tatsächlich gegeben sind. Ein in concreto mögliches Huhn bedeutet: 1. daß der Begriff des Huhnes keinen innern Widerspruch enthält; 2. daß keine Gassenjungen, kein Hühnermarder oder sonstige Feinde da sind; 3. daß mindestens ein wirkliches Ei existiert. Ein mögliches Huhn bedeutet ein wirkliches Ei, dazu etwa noch eine brütende Henne; oder eine Brutmaschine und dergl. So wie sich nun die aktuellen Bedingungen der Vollständigkeit nähern, wird das Huhn eine immer besser fundierte Möglichkeit. Sind die Bedingungen ganz vollständig, dann hört es auf, eine Möglichkeit zu sein und wird zu einer aktuellen Tatsache.

Wenden wir diese Auffassung auf die Erlösung der Welt an. Was bedeutet es pragmatisch, wenn wir sagen, diese Erlösung sei möglich? Es bedeutet nichts anderes, als daß einige Bedingungen der Weltbefreiung tatsächlich gegeben sind. Je mehr von diesen Bedingungen da ist, je weniger hindernde Umstände wir finden können, desto besser begründet ist die Möglichkeit der Erlösung, desto wahrscheinlicher wird die Tatsache der Befreiung.
Soweit unsere vorläufige Erörterung des Möglichkeitsbegriffes.

Nun würde es dem Geist des Lebens direkt widersprechen, wenn man sagen wollte, unser Geist müsse in einer Frage, wie es die der Welterlösung ist, gleichgültig oder neutral bleiben. Wer hier neutral zu sein behauptet, charakterisiert sich damit selbst als Narr und als Lügner. Wir alle wünschen, die Unsicherheit der Welt auf ein Minimum zu reduzieren; wir sind unglücklich und sollen unglücklich sein, wenn wir sehen, wie die Welt jedem Feinde ausgesetzt und jeder lebenszerstörenden Tendenz preisgegeben ist. Dessen ungeachtet gibt es unglückliche Menschen, die die Erlösung der Welt für unmöglich halten. Ihre Lehre ist unter dem Namen Pessimismus bekannt. Dagegen ist der Optimismus die Lehre, nach der die Erlösung der Welt mit Notwendigkeit eintreten muß.

Mitten zwischen diesen beiden Anschauungen steht das, was man die Lehre des Meliorismus nennen könnte. Dies war bis jetzt allerdings weniger eine Theorie als vielmehr eine Stellungnahme in menschlichen Angelegenheiten. Der Optimismus war immer die herrschende Lehre in der europäischen Philosophie. Der Pessimismus ist erst in neuerer Zeit von Schopenhauer eingeführt worden und zählt bis jetzt nur wenig systematische Verteidiger. Der Meliorismus betrachtet die Erlösung weder als notwendig, noch als unmöglich. Er betrachtet dieselbe vielmehr als eine Möglichkeit, die mehr und mehr zu einer Wahrscheinlichkeit wird, je zahlreicher die tatsächlichen vorhandenen Bedingungen der Erlösung werden.

Es ist klar, daß der Pragmatismus zum Meliorismus hinneigen muß. Einige Bedingungen der Welterlösung sind tatsächlich vorhanden, und der Pragmatismus kann vor dieser Tatsache die Augen nicht verschließen. Sollten die noch übrigen Bedingungen erfüllt werden, dann wird die Erlösung zu einer vollendeten Tatsache. Die Ausdrücke, die ich hier gebrauche, sind natürlich im weitesten Sinne zu nehmen. Sie können die Erlösung der Welt auffassen, in welcher Weise Sie wollen. Denken Sie sich dieselbe verbreitet und verteilt, oder fassen Sie sie auf als einen Höhepunkt der Entwicklung und als eine konzentrierte Erscheinung, ganz wie es Ihnen beliebt.

Nehmen wir z. B. irgend einen von uns in diesem Saale mit den Idealen, die er im Herzen trägt und für die er bereit ist zu leben und zu arbeiten. Jedes solche Ideal wird, wenn es verwirklicht ist, ein Beitrag sein zur Erlösung der Welt. Aber diese einzelnen Ideale sind nicht leere, abstrakte Möglichkeiten. Sie sind fundierte, sind lebendige Möglichkeiten, denn wir sind ihre Verfechter, ihr Unterpfand, und wenn die ergänzenden Bedingungen sich erfüllen und dazutreten, dann werden unsere Ideale zu wirklichen Dingen. Was sind nun diese ergänzenden Möglichkeiten? Sie sind zunächst eine solche Mischung von Dingen, die uns in der Fülle der Zeit eine Hoffnung gibt, dann eine Bresche, in die wir hineinspringen können, und schließlich unser eigenes Tun.

Ist es nun dann unsere Tat, die die Erlösung der Welt hervorbringt, insofern sie Raum für sich schafft und in die Bresche springt? Bringt unsere Tat die Erlösung — nicht der ganzen Welt — aber doch desjenigen Teils hervor, auf den sich ihr Wirken erstreckt?

Hier fasse ich nun den Stier bei den Hörnern, und der ganzen Schar von Rationalisten und Monisten zum Trotz frage ich: Warum nicht? Unsere Taten, unsere Tummelplätze, wo wir uns selbst zu schaffen, wo wir zu wachsen glauben, sie sind diejenigen Teile der Welt, denen wir am nächsten stehen, die Teile, von denen wir die intimste und vollständigste Kenntnis haben. Warum sollten wir ihren Wert nicht so nehmen, wie er uns erscheint? Warum sollten diese Teile nicht die wirklichen Tummelplätze und Entwicklungsstätten der Welt sein, die sie zu sein scheinen, warum nicht die Werkstätte des Seins, wo wir die Tatsache in ihrem Werden erfassen? Vielleicht entwickelt sich die Welt nirgends in anderer Art als in dieser.

Unvernunft! ruft man uns zu. Wie kann neues Sein in einzelnen Flecken und Lappen zum Vorschein kommen, die sich unabhängig von der übrigen Welt aneinander fügen oder getrennt bleiben? Es muß doch ein Grund da sein für unsere Handlungen, und wo kann man den letzten Grund dafür anders suchen, als in dem materiellen Druck oder in dem logischen Zwang, der vom Ganzen der Welt ausgeht. Es kann nur einen wirklichen Urheber des Wachstums, des scheinbaren Wachstums geben, und dieser Urheber ist die integrierte Welt selbst. Sie kann als Ganzes wachsen, wenn es da überhaupt ein Wachsen gibt. Allein daß einzelne Teile für sich wachsen sollen, das ist Unvernunft.

Aber wenn man von Vernünftigkeit und von Gründen spricht und dabei darauf besteht, daß die Dinge nicht an einzelnen Stellen ins Dasein treten können, dann frage ich, welche Art von Gründen in letzter Linie dafür vorhanden ist, daß überhaupt etwas ins Dasein trete. Man mag von Logik, von Notwendigkeit, von Kategorien, vom Absoluten, vom ganzen Inhalt des philosophischen Warenlagers sprechen, so viel man will, so kann ich mir doch dafür, daß etwas ins Dasein tritt, keinen andern realen Grund denken als den, daß irgend jemand dieses ins Daseintreten wünscht. Es wird verlangt, verlangt vielleicht nur zu dem Zwecke, um einem kleinen Bruchteil der Weltmasse Erlösung zu bringen. Das ist ein l e b e n d i g e r Grund, und im Vergleich dazu sind materielle Ursachen und logische Notwendigkeiten nur schemenhafte Gebilde.

Die einzige vollständig rationalisierte Welt wäre eine Welt mit Wunschkappen, eine Welt der Telepathie, wo jedes Verlangen augenblicklich erfüllt wird, ohne daß umgebende oder dazwischentretende Mächte berücksichtigt oder versöhnt werden müßten. Das ist die eigentliche Welt des Absoluten. Es ruft die Welt der Erscheinungen ins Dasein, und sie ist da, genau so, wie es das Absolute will, ohne daß es noch weitere Bedingungen braucht. In unserer Welt hingegen sind die Wünsche der einzelnen Personen nur eine der Bedingungen. Andere Personen sind da mit andern Wünschen, und die müssen erst gewonnen werden.

In der Welt der Vielheit wächst das Sein unter Widerständen aller Art und erhält unter fortwährenden Kompromissen nur ganz allmählich jene organisierte Gestalt, die man annähernd rational nennen kann. Wir nähern uns diesem Wunschkappen-Typus bis jetzt nur in einigen wenigen Lebensgebieten. Wir brauchen Wasser und drehen den Hahn der Leitung auf. Wir wollen eine Momentphotographie und drücken auf einen Knopf. Wir brauchen eine Information, und wir telephonieren. Wir wünschen zu reisen und kaufen ein Billet. In diesen und ähnlichen Fällen brauchen wir kaum mehr zu tun als zu wünschen; die Welt ist rationell organisiert und tut alles übrige von selbst.

Aber dieses ganze Gerede von Rationalität ist ja nur eine Abschweifung. Was wir erörterten, das war das Bild einer Welt, die nicht als Ganzes, sondern stückweise wächst, und zwar durch die Mitwirkung ihrer einzelnen Teile.

Betrachten Sie diese Hypothese in allem Ernst als eine lebendige Hypothese. Nehmen Sie an, der Urheber der Welt lege Ihnen vor der Erschaffung der Welt die Sache vor und spräche zu Ihnen. ,,Ich bin im Begriffe, eine Welt zu machen, deren Erlösung keine Gewißheit ist, eine Welt, deren Vollkommenheit nur eine bedingte sein wird, wobei die Bedingung die ist, daß jeder, der mittut, sein Bestes tut. Ich biete euch die Gelegenheit, an einer solchen Welt teil zu nehmen. Ihre Sicherheit ist, wie ihr sehet, nicht gewährleistet. Es ist ein wirkliches Abenteuer mit wirklicher Gefahr, aber der Sieg ist möglich. Die Welt ist eine Stätte für gemeinsame soziale Arbeit, die ehrlich getan werden muß. Wollt ihr euch der Prozession anschließen? Habt ihr zu euch selbst und zu den andern Mitarbeitern so viel Vertrauen, um die Gefahr auf euch zu nehmen ?“

Würden Sie nun in allem Ernste, wenn Ihnen die Teilnahme an einer solchen Welt angeboten würde, sich verpflichtet fühlen, dieses Anerbieten zurückzuweisen, weil es zu wenig Sicherheit bietet? Würden Sie wirklich sagen, Sie wollten lieber in den Schlummer des Nichtseins zurückfallen, aus dem des Versuchers Stimme Sie für einen Augenblick aufgerüttelt hat, ehe Sie sich dazu entschlössen, ein Teil und ein Stück einer Welt zu werden, die so durchaus pluralistisch und so ganz und gar nicht rationalisiert sei?

Wenn Sie normal konstituiert sind, so würden Sie natürlich nichts dergleichen tun. In den meisten von uns ist soviel gesunde Schwungkraft da, für die eine so geschaffene Welt gerade die richtige wäre. Wir würden also das Angebot annehmen. ,,Topp und Schlag auf Schlag.“ Es wäre ja eine Welt ganz ähnlich der, in welcher wir wirklich leben, und die treue Anhänglichkeit an unsere alte Amme Natur würde es uns verbieten, ,,nein“ zu sagen. Die vorgeschlagene Welt würde uns in sehr lebendiger Weise ,,rational“ erscheinen.
Die meisten von uns, sage ich, würden den Vorschlag willkommen heißen, und wir würden dem ,,Werde“ des Schöpfers unser eigenes ,,Werde“ hinzufügen. Vielleicht würden aber manche doch nicht wollen. Es gibt in jeder Gesellschaft verbitterte Gemüter, und für diese hätte eine Welt, in der man sich die Möglichkeit der Sicherheit erst erkämpfen muß, keinen Reiz. Wir alle erleben Augenblicke der Entmutigung, wo wir krank an uns selbst und des vergeblichen Kämpfens müde sind. Unser eigenes Leben bricht zusammen, und wir kommen in die Lage des verlorenen Sohnes. Wir vertrauen nicht mehr auf eine glückliche Wendung der Dinge. Wir brauchen dann eine Welt, wo wir uns preisgeben, wo wir unserem Vater um den Hals fallen können, um aufzugehen im Absoluten, so wie ein Wassertropfen im Strome oder im Meere zerfließt.

Der Friede und die Ruhe, die Sicherheit, die wir in solchen Augenblicken ersehnen, ist die Sicherheit vor den auf uns einstürmenden Zufällen der endlichen Erfahrung. Nirwana bedeutet Ruhe vor dem nie endenden Kreisen der Ereignisse, worin die Welt der Sinne besteht. Die Inder und die Buddhisten, deren charakteristische Stimmung so beschaffen ist, sind einfach in Furcht, in Furcht vor weiterer Erfahrung, in Furcht vor dem Leben.

Zu Menschen in solcher Stimmung kommt nun der religiöse Monismus mit seinen tröstenden Worten. ,,Alles ist notwendig und wesentlich, auch du mit deinem kranken Herzen und deiner kranken Seele. Alle sind eins mit Gott, und mit Gott ist alles gut. Hier unten regen sich ewige Arme, mag es dir in der Welt des Scheins gelingen oder mißlingen.“ Wenn die Menschen sich bis zum Äußersten krank und müde fühlen, dann ist ohne Zweifel der Glaube an das Absolute die einzige rettende Aussicht. Der pluralistische Moralismus macht nur Zähneklappern, er läßt das Herz in ihrer Brust erfrieren.

Wir sehen somit zwei religiöse Anschauungen in scharfem Gegensatz. Nach unserer früheren Ausdrucksweise können wir sagen, daß die absolutistische Anschauung sich an die Zartfühlenden, die pluralistische sich an die Grobkörnigen wendet. Viele werden die pluralistische Anschauung überhaupt nicht als Religion gelten lassen. Sie werden diese Auffassung moralistisch nennen und das Wort Religion nur auf die monistische Denkweise anwenden. Religion als Selbsthingabe und Moralismus als Selbstgenügen sind in der Geschichte des menschlichen Denkens oft genug als unvereinbare Gegensätze gegeneinander ausgespielt worden.

Wir stehen hier vor der letzten und höchsten Frage der Philosophie. In meiner vierten Vorlesung habe ich gesagt, daß die Alternative zwischen Monismus und Pluralismus die höchste und die folgenreichste Frage ist, die unser Geist aufwerfen kann. Kann es sein, daß die Alternative eine endgültige ist? daß nur eines von beiden wahr sein kann? Sind Pluralismus und Monismus ihrem Wesen nach unvereinbar? Wenn die Welt wirklich pluralistisch konstituiert wäre, wenn sie wirklich nur in Teilen existierte und aus einer Menge von Einzeldingen bestände und somit nur stückweise erlöst werden könnte, wobei die Erlösung von dem Verhalten der einzelnen Teile abhinge, könnte dann ihre epische Geschichte nicht doch durch eine Art von Wesenseinheit zusammengefaßt werden, in der die Vielheit von vornherein aufgehoben und für die Ewigkeit überwunden wäre? Wenn dies nicht möglich ist, dann werden wir zwischen der einen und der andern Philosophie zu wählen haben. Wir können nicht zu beiden Alternativen ,,ja“ sagen. Es muß in unsern Beziehungen zur Möglichkeit ein ,,nein“ geben. Unsere Seele könnte nicht in einem einzigen unteilbaren Bewusstseinsakt zugleich gesund und krank sein.

Als menschliche Wesen können wir natürlich an dem einen Tage geistig gesund und an dem andern wieder seelen-krank sein, und als philosophische Dilettanten dürfen wir es uns vielleicht erlauben, uns monistische Pluralisten oder deterministische Anhänger des freien Willens zu nennen, oder uns irgend einen andern die Gegensätze vermittelnden Namen zu geben. Aber als Philosophen, die Klarheit und Konsequenz erstreben und die das pragmatische Bedürfnis haben, eine Wahrheit mit der andern in Einklang zu bringen, wird uns die Entscheidung aufgezwungen. Wir müssen Farbe bekennen und uns entweder die zartfühlende oder die grobkörnige Denkweise zu eigen machen. Im besonderen sind es folgende Fragen, die mich immer wieder beschäftigen: Gehen die Ansprüche der Zartfühlenden nicht zu weit? Ist die Idee einer Welt, die als Ganzes bereits erlöst ist, nicht zu schwächlich, als daß sie aufrecht erhalten werden könnte? Ist der religiöse Optimismus nicht zu idyllisch? Müssen alle erlöst werden? Ist für das Werk der Erlösung gar kein Preis zu bezahlen? Ist das letzte Wort eitel Süßigkeit? Sagt in der Welt alles nur ,,ja, ja“? Liegt nicht die Tatsache des ,,Nein“ im innersten Kern des Lebens? Bringt es nicht schon der Ernst des Lebens, von dem wir soviel sprechen, mit sich, daß unvermeidliches Nein-Sagen, unvermeidliche Verluste einen Teil des Lebens bilden, daß wirkliche Opfer gebracht werden müssen, daß auf dem Grunde der Schale immer etwas Bitteres zurückbleibt?

Ich kann nicht offiziell im Namen aller Pragmatisten sprechen, aber ich kann sagen, daß mein eigener Pragmatismus keinen Einwand dagegen erhebt, daß ich für die moralistische Anschauung Partei ergreife und den Anspruch auf vollständige Erlösung aufgebe. Die Möglichkeit einer solchen Stellungnahme liegt in der Bereitwilligkeit der Pragmatisten, den Pluralismus als ernst zu nehmende Hypothese zu betrachten. Letzten Endes ist es doch nicht unsere Logik, sondern unser Glaube, der solche Fragen entscheidet, und ich bestreite das Recht jeder Logik, gegen meinen Glauben ein Veto einzulegen. Ich bin dazu entschlossen, die Welt zu nehmen wie sie ist, voll wirklicher Gefahren und Abenteuer, ohne deswegen auszuspringen und zu sagen: ,,Da tu ich nicht mit.“ Ich bin entschlossen zu glauben, daß die Stellung des verlorenen Sohnes uns zwar in manchen Wechselfällen offen steht, daß sie aber nicht die richtige und endgültige Stellung ist, die man dem Ganzen des Lebens gegenüber einzunehmen hat. Ich bin entschlossen, es hinzunehmen, daß es wirkliche Verluste und wirkliche Verlustträger gebe, und daß nicht alles, was ist, erhalten bleibe. Ich kann an das Ideal glauben, aber als ein Letztes nicht als den Ursprung, als eine Quintessenz, aber nicht als das Ganze. Wenn die Schale geleert ist, bleibt der Bodensatz für immer stehen, aber der Trank, der aus der Schale fließt, kann so süß sein, daß man damit zufrieden sein kann.

Zahllose Menschen leben mit der Vorstellung einer moralistischen und episch verlaufenden Welt und finden in den vereinzelten und bedingten Erfolgen, die eine solche Welt bietet, eine ausreichende Befriedigung ihrer rationalen Bedürfnisse. In der griechischen Anthologie findet sich ein Epigramm, worin dieser Gemütszustand wundervoll ausgedrückt ist, ein Gemütszustand, der einen ersatzlosen Verlust auch dann ruhig hinnimmt, wenn das, was verloren wurde, das eigene Leben war.

A u f d e m G r a b e e i n e s S c h i f f b r ü c h i g e n:
Mein Schiff zerbrach, und ich bin hier begraben,
Nur weiter segle Du!
Die Schiffe auch, die scheitern mich gesehen haben,
Sie fuhren ruhig zu.
(Anthol. Palatina VII, 282)

Die Puritaner, die auf die Frage, ob sie bereit seien, für den Ruhm Gottes die ewige Verdammnis auf sich zu nehmen, mit ,,ja“ antworten, die befanden sich in diesem objektiven und großherzigen Gemütszustande. Auf Grund dieser Weltanschauung kann man dem Übel nicht dadurch entgehen, daß man annimmt, es sei als ein wesentliches Element im Ganzen der Welt ,,aufgehoben“ oder aufbewahrt aber ,,überwunden“. Man muß das Übel vielmehr ganz über Bord werfen, man muß darüber hinauskommen und eine Welt zustande bringen, die seinen Ort und seinen Namen ganz vergessen wird.

Es ist also durchaus möglich, eine Welt hinzunehmen, aus der der Ernst des Lebens nicht zu verbannen ist. Wer dies tut, ist ein echter Pragmatist. Er ist entschlossen, auf Grund ungesicherter Möglichkeiten zu leben, zu denen er Vertrauen hat. Er ist bereit für die Verwirklichung der Ideale, die er sich bildet, wenn es not tut, mit seinem eigenen Leben zu zahlen.

Was sind nun die andern Kräfte, auf deren Mitwirkung er in einer solchen Welt vertraut? Auf der Entwicklungsstufe, die unsere heutige Welt erreicht hat, sind es zunächst seine Mitmenschen. Gibt es aber nicht auch übermenschliche Kräfte, an die religiöse Menschen vom pluralistischen Typus immer geglaubt haben? Ihre Worte mögen zwar monistisch geklungen haben, wenn sie sagten: ,,Es ist kein Gott außer Gott“, aber der ursprüngliche Polytheismus des Menschengeschlechtes hat sich nur unvollkommen und unklar zum Monotheismus erhoben. Und der Monotheismus selbst, soweit er wirklich Religion und nicht etwa das Thema metaphysischer Universitätsvorlesungen ist, hat immer in Gott nur einen der Helfer gesehen, nur den primus inter pares inmitten all der andern Mächte, die das große Geschick der Welt gestalten.

Ich fürchte, meine frühern Vorlesungen, die sich auf die menschliche Seite der Dinge beschränkten, haben bei vielen von Ihnen den Eindruck hinterlassen, daß es in der Methode des Pragmatismus liegt, das Übermenschliche aus dem Spiele zu lassen. Ich habe freilich vor dem Absoluten keine große Achtung an den Tag gelegt und habe bis jetzt von keiner andern über das Menschliche hinausgehenden Annahme gesprochen. Allein ich bin überzeugt, Sie sehen es alle ein, daß das Absolute mit dem theistischen Gott nur die Übermenschlichkeit und sonst nichts gemein hat. Nach pragmatischen Grundsätzen ist die Hypothese von Gott wahr, wenn sie im weitesten Sinne des Wortes befriedigend wirkt. Was nun immer die noch restlichen Schwierigkeiten dieser Hypothese sein mögen, die Erfahrung zeigt, daß sie wirkt, und das Problem besteht darin, die Hypothese so auszubauen, daß sie sich mit den andern wirkenden Wahrheiten in Einklang bringen läßt. Ich kann mich am Ende meiner letzten Vorlesung nicht in eine ganze Theologie einlassen, allein wenn ich Ihnen sage, daß ich über die religiösen Erfahrungen der Menschen ein Buch geschrieben habe, das man im ganzen als Parteinahme für die Existenz Gottes angesehen hat, so werden sie vielleicht meinem Pragmatismus nicht den Vorwurf machen, er sei ein atheistisches System. Ich glaube durchaus nicht, daß unsere menschliche Erfahrung die höchste Form der Erfahrung ist, die es in der Welt gibt. Ich glaube vielmehr, daß wir zu dem Ganzen der Welt etwa in derselben Beziehung stehen wie unsere Schoßhunde und unsere Zimmerkatzen zu dem Ganzen des menschlichen Lebens. Diese unsere Lieblinge bewohnen unsere Salons und unsere Bibliothekszimmer. Sie nehmen an Szenen teil, von deren Bedeutung sie keine Ahnung haben. Sie sind nur Tangenten zu den Kurven des Lebens, deren Anfang und Ende, deren Form ganz außerhalb ihres Bereiches liegt. Ebenso sind wir selbst Tangenten zu den Kurven des höheren Lebens. Aber so wie viele von den Idealen unserer Hunde und Katzen mit unseren Idealen zusammenfallen, wovon die Hunde und Katzen täglich den Beweis erleben, so dürfen wohl auch wir auf Grund der von der religiösen Erfahrung gelieferten Beweise glauben, daß es höhere Mächte gibt und daß sie am Werke sind, die Welt in derjenigen idealen Richtung zu erlösen, die unsern Idealen entspricht.

Sie sehen also, daß der Pragmatismus religiös genannt werden kann, wenn Sie zugeben, daß die Religion pluralistisch und melioristisch sein darf. Ob Sie sich nun endgültig mit dieser Form von Religion abfinden, das ist eine Frage, die nur Sie selbst entscheiden können.

Der Pragmatismus muß die dogmatische Antwort darauf noch zurückstellen, denn wir wissen noch nicht, welche Form der Religion im Laufe der Zeit am besten wirken wird. Die verschiedenen Überzeugungen der Menschen, ihre Glaubens-Wagnisse sind es, die uns hier zur Klarheit bringen müssen.

Sie werden gewiß alle Ihre eigenen Wagnisse unternehmen. Wenn Sie grobkörnig in radikalem Sinne sind, dann wird der Wirrwarr der Sinnesempfindungen Ihnen genügen, und Sie werden gar keine Religion brauchen. Sind Sie hingegen ganz zartfühlend, dann werden Sie sich an die monistische Form der Religion halten. Die pluralistische Religion, die sich auf Möglichkeiten verläßt, die nicht Notwendigkeiten sind, wird Ihnen dann nicht genug Sicherheit bieten.

Wenn Sie aber weder zartfühlend noch grobkörnig in radikalem Sinne sind, sondern wie die meisten von uns eine Mischung beider Temperamente darstellen, dann leuchtet es Ihnen vielleicht ein, daß der Typus der pluralistischen und moralistischen Religion, den ich vorgeschlagen habe, eine religiöse Synthese darstellt, die so gut ist wie irgend eine andere. In der Mitte zwischen den beiden Extremen des rohen Naturalismus auf der einen und des transzendentalen Absolutismus auf der andern Seite liegt das, was ich so frei bin, den pragmatistischen oder melioristischen Typus des Theismus zu nennen. Vielleicht ist dieser vermittelnde Typus gerade das, was Sie brauchen. S.174ff.
Aus: William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden . Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Oehler
Felix Meiner Verlag Hamburg, Philosophische Bibliothek Band 297