Herbert Spencer (1820 – 1903)

  Englischer Philosoph und Soziologe, der schon vor Darwin einen philosophisch-erkenntnistheoretischen Evolutionismus vertrat, demzufolge allen Erscheinungen ein allgemeines Entwicklungsgesetz zugrunde liegt. In seinem »System der synthetischen Philosophie« versuchte er, das gesamte Wissen seiner Zeit zu vereinen und den Nachweis zu führen, dass die Menschheit im Verlaufe ihrer weiteren Entwicklung schließlich zu einem staatenlosen Leben komme. Die Entwicklung der soziologischen Theorie erhielt durch Spencers Beiträge entscheidende Impulse.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Die religiöse Seite der Wissenschaft
Endlich müssen wir behaupten – und wir zweifeln nicht, dass die Behauptung die größte Überraschung hervorrufen wird -, dass der Wert der Wissenschaft dem unserer gewöhnlichen Erziehung überlegen ist wegen der religiösen Bildung, die sie gewährt. Natürlich gebrauchen wir hier die Worte wissenschaftlich und religiös nicht in ihrer gewöhnlichen beschränkten, sondern in ihrer weitesten und höchsten Auffassung. Ohne Zweifel ist die Wissenschaft die Gegnerin der abergläubischen Vorstellungen, die unter dem Namen Religion mit unterlaufen, aber nicht der wahren Religion, welche diese abergläubischen Vorstellungen nur verbergen. Ohne Zweifel herrscht auch in vielem, was landläufig den Namen Wissenschaft trägt, ein durchdringender Geist von Irreligiosität; aber nicht in der echten Wissenschaft, die über die Oberfläche hinaus in die Tiefe gegangen ist.

»Echte Wissenschaft und echte Religion«, sagt Professor Huxley am Schlusse einer Reihe von Vorlesungen, »sind Zwillingsschwestern, und die Trennung der einen von der anderen führt sicher den Tod beider herbei. Die Wissenschaft gedeiht im selben Maße, als sie religiös ist, und die Religion gedeiht in dem genauen Verhältnis ihrer wissenschaftlichen Tiefe und der Festigkeit ihrer Grundlage. Die großen Taten der Philosophen sind weniger die Frucht ihres Intellekts gewesen als der Führung dieses Intellekts durch eine in solchem Maße religiöse Veranlagung ihres Gemüts. Die Wahrheit hat sich mehr ihrer Geduld, ihrer Liebe, ihrer Herzensreinheit und ihrer Selbstverleugnung als ihrem logischen Scharfsinn enthüllt.«

Während die Wissenschaft weit davon entfernt ist, irreligiös zu sein, wie viele denken, ist es vielmehr die Vernachlässigung der Wissenschaften, die Weigerung, die umgebende Schöpfung zu studieren, die irreligiös ist. Um ein bescheidenes Gleichnis zu brauchen: Man nehme an, daß ein Schriftsteller täglich mit Lobsprüchen begrüßt würde, die in überschwenglicher Sprache abgefaßt wären. Man denke sich, daß die Weisheit, Erhabenheit und Schönheit seiner Werke der beständige Gegenstand der Lobreden wären, die ihm gehalten werden. Man denke sich ferner, daß die, die unablässig diese Lobreden über seine Werke vom Stapel lassen, sich damit begnügten, ihr Äußeres anzusehen, und sie niemals geöffnet, geschweige denn versucht hätten, sie zu verstehen. Welchen Wert würden wir ihrem Lob beimessen? Was sollten wir von ihrer Aufrichtigkeit denken? Aber, indem wir kleine Dinge mit großen vergleichen, so ist das Verhalten der Menschheit im allgemeinen in bezug auf das Weltall und seine Ursache. Nein, es ist sogar schlimmer. Sie gehen nicht nur an den Dingen vorüber, die sie täglich als so wunderbar ausschreien, ohne sie zu studieren, sondern sie verdammen häufig auch die Menschen als tändelnd und spielerisch, die der Beobachtung der Natur Zeit widmen; sie verhöhnen tatsächlich diejenigen, die ein tätiges Interesse an diesen Wundern zeigen. Wir wiederholen also, daß nicht die Wissenschaft, sondern die Vernachlässigung der Wissenschaft irreligiös ist. Eifer für die Wissenschaft ist ein stiller Gottesdienst, eine stille Erkenntnis des Höchsten in den erforschten Gegenständen und durch die stille Folgerung ihrer Ursache. Es ist keine Ehrerbietung mit den Lippen, sondern mit Taten, keine nur in Worten ausgedrückte Verehrung, sondern eine Verehrung, die durch Opfer an Zeit, Geisteskraft und Arbeit bewiesen wird.

Auch ist nicht nur in dieser Hinsicht echte Wissenschaft wahrhaft religiös. Sie ist auch insofern religiös, als sie eine tiefe Achtung und einen festen Glauben gegenüber den Gesetzmäßigkeiten des Geschehens auslöst, die alle Dinge enthüllen. Durch reiche Erfahrungen erwirbt der Mann der Wissenschaft ein überzeugtes Vertrauen auf die unveränderlichen Beziehungen der Erscheinungen untereinander, auf den unwandelbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung, auf die Unvermeidlichkeit von guten oder bösen Resultaten. Statt der Belohnungen und Strafen des traditionellen Glaubens, die die Leute zu erlangen oder trotz ihres Gehorsams zu vermeiden hoffen, findet er, daß die Belohnungen und Strafen in dem festgesetzten Wesen der Dinge liegen, und daß die bösen Folgen des Ungehorsams unvermeidlich sind. Er sieht, daß die Gesetze, denen wir uns unterwerfen müssen, sowohl unerbittlich als wohltätig sind. Er sieht, daß in Übereinstimmung mit ihnen der Lauf der Dinge immer einer größeren Vollkommenheit und einem höheren Glück zustrebt. Daher wird er dazu geführt, sich beständig auf sie zu berufen, und wird unwillig, wenn sie mißachtet werden. Und indem er für die ewigen Prinzipien der Dinge und für die Notwendigkeit, ihnen zu gehorchen, einsteht, zeigt er sich in dieser Hinsicht als wahrhaft religiös.

Und schließlich besteht eine weitere religiöse Seite der Wissenschaft darin, daß sie allein uns wahre Vorstellungen von uns und unseren Beziehungen zu den Geheimnissen des Daseins geben kann. Indem sie uns alles zeigt, was wir wissen können, zeigt sie uns zugleich die Grenzen, über die hinaus wir nichts wissen können. Nicht durch eine dogmatische Behauptung lehrt sie die Unmöglichkeit, die letzte Ursache der Dinge zu erfassen, sondern sie führt uns zu der klaren Erkenntnis dieser Unmöglichkeit, indem sie uns in jeder Richtung an Grenzen stoßen läßt, die wir nicht überschreiten können. In einer Weise, wie nichts anderes es kann, vergegenwärtigt sie uns, wie klein die menschliche Intelligenz ist gegenüber dem, was die menschliche Intelligenz übersteigt. Während seine Haltung gegenüber den Traditionen und Autoritäten der Menschen stolz sein kann, vor dem undurchdringlichen Schleier, der das Absolute verbirgt, ist seine Haltung bescheiden, - ein echter Stolz und eine echte Bescheidenheit. Nur der aufrichtige Mann der Wissenschaft (und unter dieser Bezeichnung verstehen wir nicht den bloßen Berechner von Entfernungen, oder den Analytiker von Verbindungen oder das Lexikon von Artnamen; sondern den, der mit Hilfe niederer Wahrheiten höhere und vielleicht die höchste sucht), nur der wahrhafte Mann der Wissenschaft, sage ich, kann in Wahrheit wissen, wie unendlich jenseits nicht nur des menschlichen Wissens, sondern der menschlichen Auffassung die universale Macht liegt, von der die Natur, das Leben und das Denken Offenbarungen sind.

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 9, Herbert Spencer, Die Erziehung, intellektuell, moralisch und physisch
Übersetzt und eingeleitet von Heinrich Schmidt=Jena (S.45-47)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart