Wilhelm Jerusalem (1854 – 1923)
Österreichisch-jüdischer
Philosoph, der in Böhmen geboren wurde und eine streng religiöse
Erziehung erhielt. Durch einen frommen und gelehrten Rabbiner lernte er das alte Testament und den Talmud in der hebräischen Ursprache gründlich
kennen. 1872 – 1876 studierte Jerusalem in Prag klassische Philosophie. Darauf folgte eine mehr als dreißigjährige Lehrtätigkeit an Gymnasien in Prag, Nikolsburg (Mähren) und Wien. 1920 erhielt er eine außerordentliche
Professor für Philosophie und Pädagogik an der Wiener Universität. Für Jerusalem kann es für die Wissenschaft kein erstrebenswerteres Ziel geben, als durch ihre Forschungsarbeit das
Zusammenleben der Menschheit immer glücklicher und inhaltsreicher zu
machen. Das geistige und seelische Geschehen versucht er vom Standpunkt eines kritischen Realismus aus der philosophischen und biologischen Betrachtung der sozialen und sittlichen Entwicklung des Menschen zu verstehen, der sich
durch seinen - aus dem Selbsterhaltungstrieb entsprungenen - Wissenstrieb vom sozial gebundenen Herdentier zur selbständigen und eigenkräftigen
Persönlichkeit hinaufentwickelt. Geistig steht Jerusalem dem Pragmatismus nahe. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Soziologische Ethik, Metaphysik, Gottesbegriff
Soziologische
Ethik
Aus der individualistischen Entwicklungstendenz ist aber auch die Idee der ganzen
Menschheit als einer großen Einheit hervorgegangen. Indem sich nun die
Staaten und Völker selbst zu Persönlichkeiten höherer Ordnung
entwickelt haben, beginnen sie in der Zeit des Weltverkehrs einzusehen, daß
auch ein einzelner Staat und ein einzelnes Volk nur in steter Gemeinschaft mit
anderen Staaten sich erhalten und gedeihen kann. So drängt sich der
Gedanke einer Organisation aller Staaten und Völker immer gebieterischer
auf und verlangt nach Verwirklichung. Je näher wir diesem Ziele
kommen, desto deutlicher wendet sich das Ende zum Anfang zurück. Aus der
dumpfen Gebundenheit im Ursprung gelangt die Menschheit durch Erstarkung und
Befreiung des Einzelmenschen wieder zurück zur freiwilligen, zur bewußten
und selbstgewollten Bindung an die große Gemeinschaft, in der auch dem
Individuum die denkbar größten Entfaltungsmöglichkeiten geboten
sind.
Die soziologische Ethik lehrt uns, daß auch die Entwicklung des sittlichen
Bewußtseins diesen Kreislauf durchzumachen bestimmt ist. Die sozialen
Imperative werden erst dadurch zu sittlichen Pflichten, daß das erstarkte
Individuum sie in sein Bewußtsein aufnimmt und ihre Verbindlichkeit innerlich
anerkennt. Die Pflichten bleiben aber vorerst noch Staatsgebote, deren Erfüllung
auch erzwungen werden kann. Dadurch aber, daß aus der individualistischen
Entwicklungstendenz die Idee der ganzen Menschheit und der Gedanke der allgemeinen
Menschlichkeit hervorgeht, entsteht allmählich das Gefühl und das
Bewußtsein der Menschenwürde. Die Ethik wird autonom und Kant
konnte den Versuch wagen, sie aus der Eigengesetzlichkeit des Wollens zu begründen.
Die Soziologie lehrt uns aber, daß die Forderungen der Menschenwürde
nichts anderes sind als Menschheitsgebote, die von der großen Gemeinschaft
im Namen der Humanität an jeden Einzelnen gerichtet werden. Wenn nun auch
die Staaten und Völker in sich das Bewußtsein der Staatenwürde
und der Völkerwürde zu voller Klarheit und zur wirksamen Kraft entwickeln
und sich selbst zu Trägern der sittlichen Forderungen machen, dann müssen
die bisher so häufigen und so blutigen Konflikte zwischen Staatsgeboten
und Menschheitsgeboten endlich aufhören und auch hier wendet sich das Ende
zum Anfang zurück. Aus der Gemeinschaft des primitiven
Stammes ist das sittliche Bewusstsein in der Form von sozialen Imperativen hervorgegangen
und hat sich zur freiwilligen Bindung an die große Gemeinschaft entfaltet,
in der jeder Einzelne seine sittliche Bestimmung erst vollkommen zu erfassen
und zu erfüllen vermag.
Mit religiösen Vorstellungen waren die sozialen Imperative von Anfang an
verknüpft und schließlich müssen wir die großen Menschheitsgebote
wieder als den Ausfluß des göttlichen Willens ansehen, der in jedem
Menschen wirksam zu werden vermag, denn »Er hat
Dir gesagt, o Mensch, was gut ist«.
Diese Koinzidenz von Ursprung und Ziel, von Anfang und
Ende, die sich noch auf manchen Einzelgebieten nachweisen läßt, wird
nur verständlich, wenn man das kosmische Geschehen als eine einheitlich
gerichtete Reihe von Wechselwirkungen zwischen Geist und Materie, zwischen Seele
und Welt, zwischen Individuum und Gesellschaft zu erfassen sich entschlossen
hat. Ihr letzter Grund liegt im Transzendenten und hier fällt die
Philosophie mit geläuterter Religion in Eins zusammen. Es zeigt sich aber
auch eine tiefliegende Verwandtschaft der philosophischen Arbeit mit dem künstlerischen
Schaffen. Beide müssen die Fähigkeit besitzen, im Individuellen das
Typisch-Lebendige, im Chaos den darin angelegten Kosmos nicht nur zu sehen,
sondern auch zur Einheit und zur Ganzheit zusammenzuschauen und auszugestalten.
Ich glaube übrigens, daß sich auch noch andere Zusammenhänge
zwischen Philosophie und Kunst aufzeigen lassen, will aber hier darauf nicht
weiter eingehen.
So haben sich denn meine Arbeiten auf den Einzelgebieten zu einem zentralen
Gedanken zusammengeschlossen, dessen Wahrheit sich nur durch seine Fruchtbarkeit
bewähren kann. Der kritische Realismus, zu dem ich mich bekenne, ist für
mich die Grundlage geworden zu einem sozialen, ethischen, ästhetischen,
metaphysischen und religiösen Idealismus, der den Blick aufs Ganze gerichtet
hält und die Wege zur Höherentwicklung der Menschheit zu zeigen und
zu bahnen bemüht ist. An eine zeitlose, unveränderliche Struktur des
Menschengeistes, deren Architektonik durch apriorisch gerichtete Spekulationen
bloßgelegt werden könnte, vermag ich nicht zu glauben. Ich
finde vielmehr, daß durch das menschliche Zusammenleben Erkenntnis und
Wissenschaft, Sittlichkeit und Recht, Schönheit und Kunst, Philosophie
und Religion geschaffen und immer reicher ausgestaltet worden sind. Deshalb
sehe ich auch in dem einheitlichen Gedanken, zu dem sich meine bisherigen Untersuchungen
zusammengeschlossen haben, in der Koinzidenz von Anfang und Ende nicht ein System,
sondern weit mehr eine Arbeitshypothese, die zu zahlreichen neuen Untersuchungen
anregt. Darum sage ich mit Xenophanes:
Nicht a priori wollte Gott der Menschheit alles künden,
Sie lernen mit der Zeit durch Forschung
Besseres finden.
Metaphysik.
Auf diesem Gebiete, das ich noch immer für den zentralen Teil aller Philosophie
halte, habe ich zunächst den Materialismus bekämpft und die Selbständigkeit
des Geistigen verteidigt. In den letzten Jahren bot mir die Soziologie ein neues,
wie ich glaube, nicht unwirksames Argument. Die Erzeugnisse des menschlichen
Zusammenlebens, die Sprache, die Religion, das Recht, die Sitte u. a. m. sind
nur als Produkt seelischer Wechselwirkung zu begreifen. Nun kann an der Existenz
und an der Wirksamkeit dieser Gebilde wohl niemand zweifeln. Hier haben wir
nun geistige Vorgänge gegeben, die sich in der Sprache der Physiologie
nicht einmal beschreiben lassen. Von einem Gesamthirn zu sprechen, wird wohl
niemandem in den Sinn kommen. Dagegen tritt uns der Gesamtwille,
der Volksgeist, die Volksseele in lebendiger Wirklichkeit und Wirksamkeit
entgegen. Das ist für mich ein Moment, das mir die Beschäftigung mit
Soziologie immer wertvoller erscheinen läßt.
Aber auch bei den anderen Formen des ontologischen Monismus,
wie sie uns im Spiritualismus
Platons, Plotins und Hegels,
im Monismus der Substanz, der im Altertum von den Eleaten, in der Neuzeit von
Spinoza ausgebildet wurde, und schließlich in dem von
Heraklit geahnten, von Avenarius und
Mach mit strenger Konsequenz durchgeführten Monismus des Geschehens
entgegentreten, konnte ich mich nicht beruhigen. Jede einseitige Lösung
erscheint mir als eine Vergewaltigung eines Teiles der unzweifelhaftesten Erfahrung
und ich werde weder jemals begreifen, daß die Materie denken noch auch
daß der Geist ausgedehnt sein kann.
Deshalb bekenne ich mich zum Dualismus
von Geist und Materie,
Leib und Seele, Gott
und Welt. Die
Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Vorgängen
ist für mich eine Tatsache, die wir in jedem bewußten Willensakt,
der körperliche Bewegungen hervorruft, täglich unmittelbar erleben.
Dieses Erlebnis ist nach meiner Auffassung nicht nur die
Quelle der fundamentalen Apperzeption, sondern auch das Urbild aller Kausalität
oder, wie ich noch lieber sage, unser Organ für Ursachen. Ich kann
nun nicht glauben, daß dieses auf unserer zentralisierten psychophysischen
Organisation beruhende Urerlebnis durch den viel
später entstandenen methodisch zurecht gedachten naturwissenschaftlichen
Kausalbegriff zum Problem gemacht werden darf. Ich finde, daß dadurch
der Urquell, aus dem all unser Urteilen und Begreifen fließt, gewaltsam
in ein künstlich konstruiertes mechanisches Weltbild hineingezwängt
wird. Der Philosoph aber sucht, wie es schon die ersten ionischen Denker taten,
nicht nur das Prinzip, sondern zunächst den Anfang und zwar sucht er einen
solchen Anfang, der sich bis zum Ende als wirksam erweist.
Eine solche Urerfahrung ist, wenn man vom allgemein Menschlichen ausgeht, jeder
wirklich erlebte Willensakt und in diesem ist die
Wechselwirkung gegeben. Aus dieser Urerfahrung
läßt sich unser Weltbild ableiten. Ich werde deshalb niemals glauben,
daß der Dualismus rückständig, unwissenschaftlich oder gar,
wie manche behaupten, von theologischen Dogmen beeinflußt ist. Ich
kann die Welt und den Menschen immer nur durch fortgesetzte Synthesen zu begreifen
suchen, in denen die relative Selbständigkeit der darin zusammengefaßten
Elementarvorgänge rückhaltlos anerkannt wird.
Gottesbegriff
Zum Gottesbegriff finde ich einen eigenartigen Zugang durch meine Lehre von
der fundamentalen Apperzeption. Die darin vollzogene Gliederung jedes einzelnen
Vorganges in Kraftzentrum und Kraftäußerung
sowie die in diesem Prozeß enthaltene Objektivierung hat sich als fruchtbare
Methode alles Urteilens und Begreifens im Leben und in der Wissenschaft ganz
vortrefflich bewährt. Es liegt nun nahe, diese Urform
alles menschlichen Erkennens einmal auch auf das gesamte kosmische Geschehen
anzuwenden. Da erscheint uns dann das Universum; das ja
von der fortschreitenden Naturwissenschaft immer deutlicher als ein ununterbrochenes
gleichsam substratloses Geschehen und nicht als Substanz, nicht als ruhendes
Sein aufgefaßt wird, da erscheint uns dann das Weltgeschehen als eine
gewaltige Kraftäußerung, die gemäß der fundamentalen Apperzeption
ein Kraftzentrum voraussetzt, aus dem sie hervorgeht. Das kosmische Geschehen
erscheint uns — grammatisch ausgedrückt — als ein Verbum, als
ein Prädikat, zu dem wir das Subjekt suchen müssen. Gott
ist für mich das Subjekt zum großen Impersonale des Universums.
Wenn man die verschiedenen Argumentationen, mit denen die Theologen die reale
Existenz eines vollkommenen Wesens, einer ersten Ursache, eines Schöpfers
und Erhalters der Welt zu finden suchten, etwas kühn als Beweise bezeichnet
hat, so möchte ich meinen Versuch den »grammatischen
Gottesbeweis« nennen. Ich bin mir vollkommen klar darüber,
daß es kein Beweis ist, allein ich möchte nur verhüten, daß
man darin nicht etwa bloß eine philologische Spielerei erblicke.
Mein Gottesbegriff ist vielmehr das konsequente Ergebnis meiner Erkenntnistheorie.
Erst wenn wir das gesamte kosmische Geschehen auf
einen schöpferischen Willen zurückführen und, wie ich sage, zur
Welt als einem Prädikat die Gottheit als Subjekt hinzudenken, erst dann
bekommt unser Weltbild den so heiß ersehnten Abschluß und wird erst
dadurch zu einem einheitlichen, aber zugleich auch zu einem gegliederten und
in sich geschlossenen Gedanken. Wir können diesen schöpferischen
Willen niemals anders als anthropomorphisch
denken. Wir können uns ihn aber vorstellen als den Urheber
der Naturgesetze, die er ein für allemal gegeben hat und die er
nach dem tiefsinnigen Worte des Psalmisten (148, 6), wenn man es pietätvoll
nach dem überlieferten Wortlaut interpretiert, selbst nicht überschreitet.
Er hat aber auch, wie es beim Propheten Micha (6, 8) heißt, dem Menschen
gesagt, was gut ist, und darf in diesem Sinne als die Quelle
des Sittengesetzes, als die höchste Sanktion für die Forderungen
der Menschenpflicht und der Menschenwürde gelten. So bildet also der ethische
Monotheismus der altisraelitischen Propheten für mich die Grundlage für
eine Verstand und Gemüt in gleicher Weise befriedigende Weltanschauung,
die noch dazu mit keinem Ergebnis der Forschung jemals in Widerspruch geraten
kann. Wenn wir die Gesetze der Natur uns zu erkennen bemühn, wenn wir an
der Hand der Psychologie, der Geschichte, der Völkerkunde und der Gesellschaftslehre
darnach streben, unsere Bestimmung, unsere Aufgaben auf der Erde uns zu klarem
Bewußtsein zu bringen, so tun wir damit nichts anderes, als den Willen
Gottes erforschen. Wenn wir in ihm den Urheber
der Naturgesetze und des Sittengesetzes sehen, dann dürfen wir mit
innerer Beruhigung immer weiter
»schaffen am Webstuhl
der Zeit
Und wirken der Gottheit lebendiges Kleid«.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen.
Herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt.(S.53ff.) Verlag von Felix Meiner 1922