Karl Gustav Girgensohn (1875 – 1925)

Deutschsprachiger lutherischer Theologe, der auf der zu Estland gehörenden Insel Ösel (Karmel) geboren wurde und u. a. auch bei Reinhold Seeberg in Berlin (1900-01) studiert hat. Girgensohn hat nicht nur die Methoden der experimentellen Denkpsychologie in die Religionswissenschaft eingeführt, sondern auch der Religionspsychologie internationale Geltung verschafft.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Experimentelle Methoden in der Religionspsychologie
Notwendigkeit einer spezifisch christlichen Dogmatik

Über das Wesen der christlichen Ethik
Das Leben unter der Herrschaft der Sünde (§11)
Die umwandelnden Heilsfaktoren (§ 12)
Das Aufsteigen eines neuen Lebens (§13)
  Der Gott Jesu Christi
Das geheimnisvolle Wesen des Weltengrundes
Der Gott der Propheten
Der Höhepunkt der Offenbarung
Die Wesensdreieinigkeit Gottes

Experimentelle Methoden in der Religionspsychologie
Aus: Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens«. Eine religionspsychologische Untersuchung auf experimenteller Grundlage. Leipzig 1921.

Ein gedeihlicher Fortschritt der wissenschaftlichen Religionspsychologie kann nicht aus historischen Forschungen, sondern nur aus einem Studium des gegenwärtigen Menschen gewonnen werden (S.11).

Mit der Religion selber kann man überhaupt nicht experimentieren, . . . wohl aber kann man mit dem Menschen experimentieren, der religiöse Erlebnisse gehabt hat, ... endlich kann man anstandslos mit Gedanken über Religion experimentieren (12).

Die Religionspsychologie hat sich rückhaltlos auf das Tatsachenmaterial zu stützen, das in der experimentellen Psychologie und Psychiatrie erarbeitet worden ist (13).

Was wir brauchen, ist eine experimentelle Methode, die eine so tief eindringende Analyse gestattet, daß Material zutage kommt, von dessen Existenz der Beobachter vorher selber nur unklar etwas ahnte. Es muß eine Untersuchungsmethode gefunden werden, die gestattet, die wirkliche Sachlage in der Psyche auch gegen die falsche Auffassung der Berichterstatter zu erkennen, und außerdem noch Details sichtbar macht, die für gewöhnlich ganz unbeachtet ihre Einwirkung ausüben (20).

Wir kommen somit zu dem Resultate, daß die Lust-Unlustzustände der Religion ihr psychisches Wesen nicht genügend umschreiben, sondern in der empirischen Religion ein sekundäres und begleitendes Moment sind. Das eigentliche Wesen liegt in dem geistigen Gehalt und in der geistigen Funktion des religiösen Erlebens (412).

Setzung des Ichs und religiöser Gedanke werden vom lebendigen religiösen Erleben nie als etwas Verschiedenes empfunden, sondern das religiöse Erlebnis ist stets beides zugleich: Gedanke und Beziehung des Ichs (491).

Letztlich liegt die Wurzel der Religion in einem undifferenzierten Gefühlszustande, der Gedanke und Ichfunktion auf einmal ist (493).

Es fällt auf, in wie hohem Maße sich die gewonnenen Resultate mit den religionspsychologischen Thesen Fr. Schleiermachers berühren (494).

Das Urgeheimnis der Religion liegt in einer ohne Bewusstsein der Freiheit sich vollziehenden neuen Einstellung des Ichs (581).

Die Willensseite des religiösen Erlebens ordnet sich ebenso wie die Vorstellungsseite als sekundäres Moment dem religiösen Gedanken und der religiösen Einstellung des Ichs unter (583). —

Die experimentelle Forschung will gar nicht an die Stelle der historischen Forschung und der gewöhnlichen Selbstbeobachtung treten und sie ersetzen, sondern sie will dort, wo diese beiden Methoden nicht mehr weiterkommen, vertiefen und klären... Unser experimentelles Material schließt sich glatt an die gewöhnliche Selbstbeobachtung an, füllt die dort vorhandenen Lücken aus und deckt die dort verborgenen, feineren Vorgänge auf (693).
Enthalten in: Textbuch zur deutschen systematischen Theologie und ihrer Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, Band I 1530 – 1934 von Richard H. Grützmacher 4.Auflage, 1955 C. Bertelsmann Verlag Gütersloh (S.297f.)

Notwendigkeit einer spezifisch christlichen Dogmatik
Aus: »Grundriß der Dogmatik«. 1924.
Die Religionspsychologie ist eine rein empirische Einzelwissenschaft, die das religiöse Erleben unter Ausschaltung der Wahrheitsfrage untersucht (S.8).

Die christliche Religion behauptet, daß es eine übernatürliche Einwohnung des Heiligen Geistes Gottes gibt,

erstens in den Propheten,

zweitens in der geschichtlichen Gestalt Jesu Christi, in dem die Fülle des Geistes Gottes dauernd wohne,

drittens in jedem gläubigen Christen, in dem der Heilige Geist Gottes Wohnung nimmt.

Die allgemeine Erkenntnistheorie der Religion kann nicht mehr nachweisen, als daß eine solche Übersteigerung sehr wohl denkbar und keineswegs ausgeschlossen oder unmöglich ist. Ob eine solche tatsächlich geschehen ist, kann offensichtlich nicht mehr mit den Mitteln der Verstandeserkenntnis, sondern nur durch einen Glaubensbeweis, d. h. durch den Beweis des Geistes und der Kraft begründet werden (39).

Will man dem Beweis des Geistes und der Kraft eine theoretischere und wissenschaftlichere Form geben, so lässt sich das nur in der Form der wertenden Religionsvergleichung tun (40).

Jesus allein unter allen Religionsstiftern der großen Erlösungsreligionen behandelt die Welt ebenso wie das Judentum und das Griechentum als gottgewollte und gottbereitete Stätte der Wirksamkeit des Menschen und würdigt trotz aller Betonung der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen Gottes Naturgaben stets positiv (45).

Bei voller Erfassung der irrationalen Eigenart des Christentums verschwindet der rationale Widerspruch gegen den Absolutheitsanspruch und ergibt sich die Notwendigkeit einer spezifisch christlichen Dogmatik, in der die Eigenart des Christentums allseitig dargelegt und mit den Mitteln rationalen wissenschaftlichen Denkens teils kontrastierend, teils harmonierend ausgedrückt wird (56).
Enthalten in: Textbuch zur deutschen systematischen Theologie und ihrer Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, Band I 1530 – 1934 von Richard H. Grützmacher 4.Auflage, 1955 C. Bertelsmann Verlag Gütersloh (S.298f.)

Über das Wesen der christlichen Ethik
Aus: »Theologische Ethik«. 1926.
Das Leben unter der Herrschaft der Sünde (§11)
1. Die Tatsache der allgemeinen Sündhaftigkeit und des Widerstrebens der natürlichen Grundrichtung des menschlichen Ichs gegen die von ihm selbst anerkannten höchsten sittlichen Wertmaßstäbe ist in der Prinzipienlehre vorweggenommen und festgelegt. Eine Erörterung der Bedeutung dieser Tatsache für die Weltanschauung, insbesondere die Frage nach dem Ursprung und der geschichtlichen Entwicklung dieses Zustandes nebst dem Problem der Erbschuld bleibt der Dogmatik vorbehalten. Das System der Ethik hat an der Sündenlehre noch zwei Aufgaben zu lösen.

Erstens ist nicht nur die Grundrichtung der sündigen Gesinnung festzustellen, sondern sind die Wesensmerkmale der Sünde noch genauer darzulegen.

Zweitens ist ein Bild der individuellen Mannigfaltigkeit des sündigen Verhaltens zu entwerfen und mit der festgestellten Grundrichtung in Beziehung zu setzen.

2. Die allgemeinste formale Gesinnung der sittlichen Verfehlung lässt sich gemäß dem Gesagten in den Begriff der Normwidrigkeit oder des Ungehorsams gegen die höchsten angeeigneten sittlichen Wertmaßstäbe zusammenfassen. Da in diesem Falle der Mensch nicht realisiert hat, was der Imperativ des sittlichen Wertmaßstabs vorschreibt, ist jede sittliche Verfehlung eine Schuld. Die sittliche Verfehlung wird zur Sünde, sobald die religiöse Betrachtungsweise hinzutritt, die das durch Selbstsetzung zu realisierende Gesetz zugleich als Ausdruck des Willens Gottes auffasst. Die Schuldverhaftung wird dann Gott gegenüber gefühlt. Die größte Vertiefung der Sündhaftigkeit und des Schuldbewusstseins wird, wie gezeigt, durch das Christentum erreicht, weil entsprechend dem höheren Imperativ der Abstand des wirklichen Seins vom sittlichen Ideal größer wird.

3. Fragt man nach den Triebfedern, die den Menschen zum sündigen Handeln veranlassen, so zeigt sich, dass stets die Lust an dem Verbotenen die Ursache des sündigen Handelns ist. Hierbei ist aber nicht die Sinnenlust die Hauptursache, sondern der Mensch empfindet das natürliche Glücksgefühl überall, wo er sein eigenes ich und seinen Willen durchsetzen kann, sowohl auf sinnlichem als auch auf geistigem Gebiete, während alle Hemmungen des Ichbewusstseins als Unlustgefühle zum Bewusstsein kommen. Der sündige Naturtrieb ist deshalb an den geistigen Sünden des Hochmutes, des Stolzes, der Eitelkeit usw. viel wirksamer und tiefgehender zur Darstellung zu bringen als an den groben fleischlichen Sünden.*
*Es handelt sich durchaus nicht nur um die concupiscentia Augustins. Zwar gibt es viele Individualitäten, denen an diesem Punkte die Sündhaftigkeit aufgeht; ja, das Triebleben ist eine Haupttriebfeder der Sünde. Aber Jesus ist gegen die Pharisäer viel schärfer gewesen als gegen Dirnen und Ehebrecherinnen, denn dort ist recht Sünde, weil der Stolz, die Eitelkeit, der Hochmut, die Selbstüberhebung maßgebend für das Handeln sind. Deshalb ist es richtig, dass die Tugenden der Heiden glänzende Laster sind – es sind schon Tugenden, aber im Menschen werden sie erst recht Sünde, weil sie dem Stolz und dem Hochmut des Menschen dienen. Sie sind auch viel mehr verwurzelt in der Seele: von Trunksucht und geschlechtlicher Lust loskommen kann jeder Durchschnittsmensch mit ernstem Willen, nicht von Eitelkeit und Stolz.

Fragt man nach der Ursache der Kraftlosigkeit der sittlichen Imperative, so zeigt die religiöse Erfahrung, dass neben der natürlichen individuellen Verschiedenheit der Willenskraft der grad der Aufgeschlossenheit für Gott die Stärke der sittlichen Kräfte bestimmt. Die Sünde ist daher als Lust an der Welt und als Verschlossenheit gegenüber Gott, d. h. als Unglaube zu bezeichnen.

4. Da das Gewissen stets für den höchsten sittlichen Wertmaßstab eintritt, kann der Ungehorsam gegen die sittlichen Wertmaßstäbe, solange das Gewissen nicht stumpf wird und nicht auf ein niederes Niveau herabsinkt, nie mit voller innerer Wahrhaftigkeit ausgeübt werden. Im Wesen der Sünde liegt daher ein Zug der Unwahrhaftigkeit und Lüge. Er kommt nur wenig zum Bewusstsein, so lange leidenschaftliche Lust zur Sünde die beherrscht. Er wächst mit der Abnahme der Lust, d. h. mit dem Entstehen der Erkenntnis von der Vergänglichkeit und Nichtigkeit aller irdischen Lüste.

5. Es lässt sich eine reiche Mannigfaltigkeit in der quantitativen Abstufung des Grades der Sündhaftigkeit feststellen. Die Sündhaftigkeit wächst von der bloßen Begierde nach sündigem Genuss zu einzelnen sündigen Taten und dann zu dauernden Dispositionen, die bis zu völliger Verstockung gegenüber den höheren Maßstäben und ihrer bewussten Ablehnung anwachsen können.*
*Hier liegt der ethische Wert der Psychoanalyse, dass sie endgültig den Wahn zerstört hat, dass alle Menschen von Natur aus gut sind, dass sie ganz deutlich macht, wie in jedem Menschen die potentielle Anlage zu allem Bösen und zu allen Verbrechen liegt. In den Menschen besteht gegenwärtig ausnahmslos ein sündiger Charakter, d. h. eine feste Willensrichtung auf sündige Taten, die in verschiedenen Graden der Sündenknechtschaft zum Ausdruck kommt. Doch ist die sündliche Grundrichtung nicht bei allen Menschen in gleicher Stärke vorhanden.

6. Außer der quantitativen Abstufung besteht eine reiche qualitative Mannigfaltigkeit der Sünden. Ihre Klassifikation wird im Unterricht meist nach dem Schema der zehn Gebote versucht. Als andere Einteilungsprinzipien kommen die Lasterkataloge (z.B. Röm.1, 29f.; Gal. 5,19ff.) oder 1.Joh. 2,16 (Fleischeslust, Augenlust und Hoffart) oder

das scholastische Schema der sieben Todsünden

superbia (Hoffart, Hochmut, Stolz), avaritia (Habsucht, Geiz), luxuria (Wollust, Schwelgerei, Zügellosigkeit), ira (Zorn, Erbitterung, Wut), gula (Maßlosigkeit, Unmäßigkeit, Fresssucht), invidia (Neid, Missgunst, Eifersucht), acedia (Faulheit, Trägheit)

in Betracht.

Sie sind aber alle zufällige Anordnungen. Wir halten uns besser an die erarbeiteten Wesensbezeichnungen und Grundrichtungen der Sünde. Der Unglaube und die Lüge verlieren fast ausschließlich in der quantitativen Richtung, obgleich sie dabei eine große Mannigfaltigkeit entfalten können.
Die qualitative Mannigfaltigkeit wird hauptsächlich durch die verschiedenen Arten der sündigen Lust bedingt. Für sie hat R. Seeberg folgenden brauchbaren Lasterkatalog hergestellt:

Die beiden Hauptstämme der Sünden sind die der sinnlichen und der geistigen Lust.

Erstere
bezieht sich auf

Nahrung und Lebensweise (Völlerei, Trunksucht, Weichlichkeit, Luxus),
das geschlechtliche Leben (Unsauberkeit, Inkontinenz, Unzucht, Ehebruch),
die körperliche Betätigung (Trägheit und Vielgeschäftigkeit),
Erwerb und Besitz (Habgier, Geiz, Verschwendung, Härte).

Die Sünden geistiger Lust gliedern sich in Sünden bezüglich

unserer Schätzung durch die Mitmenschen (Eitelkeit, Stolz, Ehrlosigkeit, Traurigkeit, Verzweiflung, Selbstmord),
unserer Schätzung der Mitmenschen (Unwahrhaftigkeit, Verachtung, Ehrverletzung, Herabsetzung, Neid, Servilismus, Unselbständigkeit),
des Zusammenwirkens mit den Mitmenschen (Herrschsucht, Verschlossenheit, Unverträglichkeit, Ausbeutung, Lieblosigkeit samt dem Hass in seinen verschiedenen bis zur Lebensvernichtung sich steigernden Abstufungen).

Die erste Gruppe findet ihre Spitze im Zustand der Bestialität, die zweite in der satanischen Form der Sünde.

Durch die Verschiedenheit der Richtungen der sündigen Lust entsteht die große Mannigfaltigkeit der individuellen sündigen Charaktere, da meist eine Sünde als Grund- und Schoßsünde das Willensleben beherrscht. Die Mannigfaltigkeit wird vermehrt durch die Beimengung verschiedener Grade des Unglaubens und der Lüge. Hierbei engt die Betätigung der sündigen Anlage in einer bestimmten Richtung die Entwicklung der Sünde nach anderen Richtungen ein. Durch diese wechselseitige Kompensation ist dafür gesorgt, dass es schwer zu einer absoluten Vernichtung alles Besseren im Menschen und zu den äußersten denkbaren Auswüchsen der Sündhaftigkeit kommt.

7. Aus Nr. 5 und 6 folgt eine weitgehende tatsächliche Verschiedenheit der sündlichen Charaktere. Es fragt sich, wie weit die vorhandene Verschiedenheit auch eine Abstufung im Werturteil über die sündigen Charaktere zulässt. Der stoische Grundsatz: omnia peccata paria findet einige Stützen in den Anschauungen des Neuen Testaments (Jesu Gleichsetzung des Gedankens und der Tat in der Bergpredigt, vergl. auch Röm. 2, 25; 3, 9, 19 und Jak. 2, 10).

Er ist richtig in dem Sinne, dass jede Sünde volle Schuldverhaftung gegenüber Gott bedeutet, weswegen die Unterscheidung von peccata venialia et mortalia in Hinsicht auf das Endurteil abzulehnen ist. Mit dieser Anschauung muss aber die Erkenntnis verbunden werden, dass psychologisch die Sünde Grade hat, die in verschiedenem Maße seelenverwüstend wirken, weshalb nicht alle Sünder gleich fern vom Reiche Gottes sind (vergl. Mark. 12, 34). Diese Erkenntnis ist denn auch stets wenigstens durch die Lehre von der Sünde wider den heiligen Geist (Matth.12, 31), die als völlige wissentliche Verstockung und Verhärtung gegen das anerkannte Gute aufgefasst zu werden pflegt, aufrechterhalten worden.

8. Vervollständigt wird das Bild durch einen Blick auf den sozialen Hintergrund der Sünde. Nicht nur individuell werden Sünden zu habituellen Bestandteilen des Charakters, sondern auch in der sozialen Gemeinschaft entwickeln sich habituelle sündige Gewohnheiten, die mit der Autorität eingebürgerter Sitten oder doch mindestens mit starker suggestiver Kraft auftreten. Hierdurch wird die Macht der Sünde wesentlich vermehrt und die Versuchung so sehr gesteigert, dass selbst bei sündloser Anlage eine Durchführung der Sündlosigkeit im praktischen Leben als fast undenkbar erscheint. Andererseits lässt sich auch im sozialen Leben ein ähnliches Gesetz der Einengung und Kompensation beobachten, wie in Nr. 6, da eine Sünde die andere hindert und sehr oft sich sündige Taten gegenseitig aufheben. Besonders die Sündenexreme pflegen sich gegenseitig die Waage zu halten.

9. Aus allem Dargelegten folgt eine abschließende Bestätigung der schon in der Prinzipienlehre vertretenen Auffassung, dass der Mensch aus eigener Kraft sich nicht von der Sünde erlösen kann, also die objektive sittliche Unfreiheit. Denn es handelt sich nicht bloß um einzelne sündige Taten des Menschen, sondern um einen festen sündigen Charakter; und dieser Charakter enthält nicht nur eine sündige Richtung neben der guten, sondern er ist, am höchsten sittlichen Maßstabe der Liebe gemessen, von Grund aus falsch gerichtet. Trotz dieser sündhaften Verderbnis besteht aber

erstens die formale Seite des Setzens sittlicher Maßstäbe unverändert fort, und

zweitens ist die geistige Natur des Menschen in den allermeisten Sündern doch soweit lebensfähig, dass sie als Unzufriedenheit mit sich selbst, als kraftloser Versuch sich zu höheren Idealen aufzuschwingen, als die Tendenz, wenigstens ein niederes sittliches Ideal im Leben zu realisieren, als Erheuchelung eines scheinbar besseren Zustandes, endlich als Sehnsucht nach Erlösung zum Ausdruck kommt.

Hierin besteht die Erlösungsfähigkeit des Menschen, da hier die Anknüpfungspunkte für die Arbeit des heiligen Geistes Gottes gegeben sind.*
*Kein anders christliches Bekenntnis in der Welt spricht stärker über die menschliche Sünde als die Konkordienformel; und doch sagt sie, die Sünde ist nicht Substanz, sondern Akzidenz des Menschen. Der Mensch ist erlösungsfähig geblieben; er bleibt Gottes Kreatur und ist nicht Kreatur des Teufels geworden. Das ist auch die biblische Auffassung. Allem Barthischen Radikalismus gegenüber müssen wir dies immer wieder betonen. […]

Die umwandelnden Heilsfaktoren
(§ 12)
1. Wenn eine Bekehrung aus eigener Kraft nicht möglich ist, so bedarf der Mensch eines außer ihm liegenden Stützpunktes. Dieser Stützpunkt kann aber nicht bloß ein unpersönlicher sein, da sich persönliches sittliches Leben immer an anderem persönlichen Leben entzündet. Deshalb hat Herrmann richtig gesehen, wenn er aus Luthers und Kants Anregungen herauslas, dass in der aktiven Gesinnung des Vertrauens der Grundsatz zu einem neuen sittlichen Aufstiege zu finden sei. Ein solches Vertrauen ist nur zu einer Person möglich. Deshalb sind christliche Persönlichkeiten oder auch die christliche Gemeinde die zuerst zu nennenden Faktoren bei der Erringung eines neuen Lebens.

2. Die christlichen Persönlichkeiten sind aber auch nicht die selbsttätigen und ursprünglichen Entstehungsorte des neuen Lebens, sondern weisen über sich selbst hinaus. Historisch hat sich ihr Innenleben an früherem entzündet, und sachlich ist es ohne Stütze an einem persönlichen Worte des persönlichen Gottes nicht denkbar. Er weist auf einen gemeinsamen letzten Ursprung zurück: es ist das in der Erscheinung Jesu Christi verkörperte persönliche Wort Gottes, von dem alles neue und normale Leben der Christenheit ausgeht. In dem Schriftwort von Christus verbindet sich das Persönliche mit dem Sachlichen, eine übermenschliche Verheißung mit einer ganz innerweltlichen menschlichen Persönlichkeit, eine historische Persönlichkeit eines ganz bestimmten Zeitabschnittes mit dem übergeschichtlichen Walten der auf diesen Zielpunkt hinstrebenden ganzen Heilsgeschichte Gottes an den Menschen. Deshalb ist die Glauben weckende und Vertrauen und Liebe gewinnende Gestalt Jesu Christi der entscheidende Faktor und die unerlässliche Voraussetzung für die Erziehung des christlichen Charakters. In ihm wird das ganze Wort Gottes verständlich und zu einer lebendigen Größe.

3. Die Sakramente sind nach evangelischer Auffassung nur unterstützende Faktoren der Wortverkündigung (verbum visibile) und keine selbständig wirkende Vorraussetzungen für die Wiedergeburt. Als Hilfsfaktoren sind sie immerhin nicht unwichtig. Sie bedeuten nicht bloß eine wirkungsvolle Darstellung, sondern auch eine gültige objektive Zusprechung der im Neuen Testamente verheißenen Gnadengüter an das einzelne christliche Individuum.

4. Das Wort der Schrift und das persönliche Leben des Christen wirken nach den allgemeinen psychologischen Gesetzen der Aneignung fremden geistigen Lebens. Aber dennoch scheitern die Versuche, die Entstehung des neuen Lebens restlos durch allmähliche Umwandlung des Seelenbestandes und durch allmähliches Wachsen der verkümmerten natürlichen sittlichen Anlagen unter dem Einflusse der genannten umbildenden Faktoren zu erklären, an einer geheimnisvollen Ursprünglichkeit und Selbsttätigkeit in der Entstehung neuen Lebens. Ohne die Hilfe einer unmittelbaren neuschaffenden Tätigkeit des heiligen Geistes Gottes kann ein neues christliches Leben nicht entstehen. Es ist falsch, mit den Schwarmgeistern aller Zeiten diesen inneren Faktor zum allein ausschlaggebenden zu machen; das trifft nur für die Psychologie der Offenbarungsträger, aber nicht für die Psychologie des gläubigen Christen zu. Aber ein Ansatz zu jener Eigenbewegung, die reicher im prophetischen Bewusstsein pulsiert, fehlt es in keiner Wiedergeburt, und mindestens in dem Erwachen des Gebetslebens tritt trotz aller Bindung an die historischen Heilsfaktoren jenes Moment der Unmittelbarkeit und des direkten Erfülltwerdens mit dem göttlichen Geiste klar zu Tage.*
*Es gibt nur zwei Entartungen:
1. Die schwarmgeistige. Gott ist in der Seele und wirkt. Die Schrift ist gegenüber dem inneren Licht bedeutungslos.
2. Die katholische. Dort setzt die Verbindung mit Gott eine »gratia infusa« voraus. Das führt aber zu materieller Substanzialisierung.


Das Aufsteigen eines neuen Lebens (§13)
1. Das Tempo in der Entwicklung des neuen Lebens ist ein überraschend verschiedenes. Das Resultat ist überall das gleiche: ein Zustand der mit dem biblischen Bilde der Wiedergeburt

(Joh. 3; 1.Petr. 1, 3. 23; Jak. 1, 17f.; 2. Kor. 5, 17; Tit. 3, 5; Hebr 6, 6; 2. Kor. 4, 16; Kol. 3, 10; Eph. 4, 23f.; Röm. 12, 2; 2. Kor. 3, 18)

oder durch den Begriff der Bekehrung

(Act. 15, 3; Math. 13, 15; Luk. 1, 16f.; 22, 32; Act. 3, 19. 26; 9, 35; 11, 21; 14, 15; 15, 19;26, 18. 20; Matth. 3, 8. 11; Mark. 1, 4; Luk. 3, 3. 8; 5, 32; 15, 7; 24, 47; Act. 5,31; 13, 24; 19, 4; 2, 21; 26, 20; Röm. 2, 4; 2. Kor. 7, 9f.; 2. Tim. 2, 25; Hebr. 6,1.6; 12, 17; 2. Petr. 3, 9; Matth. 3, 2; 4, 17; 11, 20f.; 12, 41; Mark. 1, 15; 6, 12; Luk. 10, 13; 11, 32; 13, 3. 5;15, 7. 10; 16, 30; 17, 3f.; Act. 2, 38; 3, 19; 8, 22;17, 30; 26, 20; 2. Kor.12, 21; Apok. 2, 5. 16. 21f.; 3, 3. 19; 9, 20f.;16, 9. 11)

bezeichnet zu werden pflegt.

Aber die vorangehenden Stadien gestalten sich in den psychologisch und kirchengeschichtlich bekannten Fällen sehr verschieden. Ganz unvorbereitet sind Bekehrungen freilich nie, und wenn Termine von Bekehrungen angegeben werden, so werden sie meistens zu spät angesetzt. Dennoch sind plötzliche und fast unvermittelte Umwandlungen zweifellos vorgekommen. Wir beschreiben hier das allmähliche Aufsteigen, da nur in dieser Form alle Momente des Prozesses dargestellt werden können, die bei plötzlichen Bekehrungen teils übersprungen, teils in abgekürzter Form erlebt werden.*
*Die Kirchengeschichte bietet sowohl Beispiele für einmalige, plötzliche Prozesse als auch allmähliche Entwicklung. Augustin ist schon vor der Bekehrung Christ, er hält die ganze Schrift für wahr. Nur ein sittliches Hindernis steht ihm noch im Weg. Es ist unsicher, von wie viel »Bekehrungen« man streng genommen bei ihm reden müsste
.

2. Wenn man das Aufsteigen des neuen Lebens in dem Schema der Einwirkung eines fremden Einflusses und seiner Verwandlung in eigenes Leben beschreibt, so ist das allererste Stadium das bloß gedächtnismäßige Behalten von Gedanken der Heilsbotschaft. Die eigene Stellungnahme dazu bewegt sich ausschließlich in der Sphäre des Intellektes und nichts Persönliches hemmt die Ablehnung, so dass Missverständnisse und Spott keinerlei entscheidende Gegenwirkung finden. In diesem Zustande ist das vorhandene Wissen um die Heilsbotschaft ein toter Ballast, der wie alles nicht persönlich Angeeignete schnellem Vergessen anheim fällt. Der Ballast wird meist als etwas Gleichgültiges, manchmal aber auch als ein störendes Hindernis empfunden. Ganz ohne Bedeutung ist sein Vorhandensein trotzdem nicht, da er bei geeigneten Schicksalswendungen des Erlebens plötzlich überraschend wirksam werden kann.*
*Hier liegt u. a. die ethische Berechtigung des oft so geschmähten Lernens religiöser Stoffe in der Erziehung. Für alle Stadien ist unbedingt die Schrift Ausgangspunkt. Ein solcher Wissensstoff ist nicht einfach toter Ballast. Auch praktisch nützt in schweren Stunden nur der im Gedächtnis vorhandene Stoff.

3. Das zweite Stadium ist die Entstehung eines von innen aufsteigenden, zu dem Fremden eine persönliche Stellung nehmenden Reaktionsprozesses des Ichs. Er umschließt Bewegungen, die in der Popularpsychologie als Vorgänge des Gefühls und des Willens bezeichnet werden. Der Reaktionsprozess ist ein doppelter, ein positiver und ein negativer. Positiv entsteht Interesse für den Inhalt des gehörten Wortes, und es kommen Akte der Billigung und Zustimmung, des persönlichen Mitempfindens und Nachempfindens zustande, in denen das Ich weit stärker beteiligt ist als durch eine bloß intellektuelle Stellungnahme und sich in das Neue einfühlt (»Einfühlung« im Sinne von Th. Lipps), aber doch sich noch nicht ganz bindet. Eine volle Aneignung durch eigenes Nachschaffen findet noch nicht statt. Negativ reagieren die vorhandenen sündigen Einstellungen des Ichs, weswegen ein stärkeres Zumbewusstseinkommen und auch eine tatsächliche Verstärkung der sündigen Tendenzen meist Hand in Hand mit dem Wachsen des Neuen zu gehen pflegen. Selten wird in diesem Falle das Neue spurlos verschwinden, obgleich es häufig vorkommt, dass die negative Reaktion, besonders wenn sie durch äußere Einflüsse verstärkt wird, die positive unterdrückt.

4. Das dritte Stadium ist die volle Aneignung des Neuen durch das Ich, indem der Unterschied zwischen Fremdem und Eigenem verschwindet und das neue Leben nun als eigenster Besitz aus dem innersten Kerne der eigenen Persönlichkeit hervorwächst. Diese Aneignung ist identisch mit voller Öffnung für Gott und voller Hingabe an Gott. Sie hat naturgemäß einen besonders schweren Endkampf zu bestehen, denn die Aneignung des Neuen schafft und weckt ein neues Ich, dem ein anderes ebenso eigenes und notwendiges gegenübersteht. Diese Spaltung des Ichs endet notwendigerweise entweder im Hass gegen das Christentum oder im endgültigen Siege des neuen Lebens.

5. Ist das neue Leben da, so hat der Mensch das Bewusstsein, von drückender Knechtschaft erlöst und neugeschaffen zu sein. Stellt er den Vorgang unter den Gesichtspunkt, dass Gott ihn durch den heiligen Geist umgeschaffen hat, so nennt er den Vorgang Wiedergeburt; er stellt den Vorgang unter den Gesichtspunkt, dass das neue Leben, obgleich von Gott geschenkt, durch Selbstsetzung realisiert werden musste, so heißt der Vorgang Bekehrung. Die vorbereitenden Stadien kann man mit den traditionellen Namen der Berufung und Erleuchtung oder mit dem neueren Namen der Erweckung bezeichnen. Die Wiedergeburt bedeutet keine physische Umwandlung der Seele, da ihre natürlichen Gaben und Fähigkeiten unverändert bleiben.*
*»Wiedergeburt ist also nicht Veränderung der psychophysischen Konstitution. Da aber das Seelenleben nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, sondern ein großes lebendiges Ganzes bildet, kann manche Funktion des Seelenlebens durch die neue Gesamthaltung neu gestärkt und gekräftigt werden. So ist zu verstehen, wenn Wichern schreibt, er habe erst nach seiner Bekehrung mit Ausdauer und Erfolg Philologie treiben können«.

Sie bedeutet auch keine absolute Neuschaffung oder Eingießung einer neuen Provinz in die Seele, da vielmehr der Bekehrte stets das Bewusstsein hat, nunmehr erst sein eigentliches wahres Selbst gefunden zu haben, das er aber aus eigener Kraft nicht realisieren konnte, bevor es ihm von Gott durch Christus wiederhergestellt wurde. Die Umwandlung bedeutet auch nicht eine Tilgung der Naturbasis und der sündlichen Dispositionen, wohl aber den entscheidenden Bruch ihrer Macht, da die dem neuen Leben feindlichen Einstellungen ganz von selbst mit der Zeit zurücktreten und abnehmen, so lange keine Stockungen und Krisen in der Entwicklung durch Rückfälle oder neue Hemmungen entstehen.*
*»Die Sünde wird nicht glattweg getilgt, so dass man wie der junge Wichern meinen kann, dass man die Sünde gar nicht mehr sehe. Wenn man selbst »den alten Adam nicht zu Gesicht bekommt« so sieht ihn meist die Umgebung an uns um so deutlicher. Aber das zum Tode bestimmte Bild dieses alten Adams ist verklärt durch das Bild Jesu Christi in uns. Damit ist das alte Leben beim wiedergeborenen Christen doch entmächtigt. Barth und Gogarten kämpfen mit übertriebener Aufrichtigkeit dagegen. Der große, echte Luther hat beides, neues Leben und Sünde, die täglich der Vergebung harrt. Auch das Neue Testament zeigt überall die »dynamische« Linie«.

6. Von hier aus ist noch einmal auf das Verhältnis von Gesetz und Evangelium zurückzublicken. Es zeigte sich hier wieder, dass das Wort Gottes je nach der inneren Stellungnahme des Ichs zu ihm eine doppelte Wirkung hat, einerseits eine richtende und die Sünde vermehrende, andererseits eine das neue Leben weckende und schöpferische. Es wird also, je nachdem, als Forderung Gottes oder als eine Kraft selig zu machen, d. h. sowohl als Aufgabe wie auch als Gabe empfunden. Bringt man diesen Tatbestand unter die Begriffe Gesetz und Evangelium, so lässt sich sagen: Bis zur Bekehrung steht die Wirkung der Offenbarung als Gesetz im Vordergrunde. In der Krise der Bekehrung und nachher wirkt das Werk Gottes als Evangelium, und das Gesetz wird prinzipiell entbehrlich, obgleich es als Formulierung sittlicher Forderungen praktische Bedeutung behält. Hieraus wird deutlich, dass das Gesetz niemals den eigentümlichen Geist des Evangeliums Jesu Christi geben kann. Die Bekehrung kann daher auch als eine Erlösung vom Gesetz aufgefasst werden. Gesetz und Evangelium bedeuten also, wie sich hier von neuem zeigt, nicht dasselbe wie Altes und Neues Testament, sondern soweit das Alte Testament weckende und tröstende Kraft hat, ist es Evangelium, soweit das Neue Testament als sittliche Forderung auftritt ist es Gesetz
Aus: Theologische Ethik von Carl Girgensohn. Aus dem hinterlassenen Manuskript mit Benutzung von Nachschriften herausgegeben von Carl Schneider. Leipziger Kartell-Verlag 1926

Der Gott Jesu Christi
10. Rede über die Christliche Religion
Das geheimnisvolle Wesen des Weltengrundes
… Wir können uns zwanglos einen Geist denken, dem das gesamte historische Geschehen zeitlos und in jedem Augenblicke gegenwärtig vor Augen steht. Von hier aus ergibt sich der schwindelerregende Ausblick auf eine Weltordnung, in der die Zeit aufgehoben ist, obgleich die zeitliche Aufeinanderfolge der Dinge bestehen bleibt. Es lässt sich denken, dass in der Wirklichkeit alles in zeitlose Aufeinanderfolge vor sich geht. Nur unserem beschränkten Verstande ist es versagt, die einzelnen Vorgänge anders als zeitlich auseinander tretend anzuschauen. In Wirklichkeit mögen die Dinge so geordnet sein, dass die einzelnen Prozesse geschieden bleiben, obgleich sie sich zeitlos in schlechthiniger Simultaneität abspielen.

»Gott sieht die Zeit nicht nur der Länge nach, sondern auch in die Quere«.

Fassen wir diese »zweite Dimension« der Zeit richtig auf, dann gewinnen wir eine Vorstellung davon, was es heißt, dass der Weltgrund zeitlos oder, wie man es mit einem anderen Worte bezeichnen kann, ewig ist. Denn ewig sein heißt nicht: in ununterbrochener Zeitfolge fortexistieren. Wer die Ewigkeit anschauen will, kommt ihr nicht näher, wenn er die Jahre zählt und kein Ende findet. Ewig sein heißt zeitlos sein, oder richtiger: über die Schranken der Zeit erhaben sein. Der ewige Geist kennt keine Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern alles Geschehen ist in ihm gleich gegenwärtig. So haben wir uns auch die Ordnung der absoluten Wirklichkeit zu denken: in unveränderlicher, zeitloser Ruhe alles auf einmal umfassend und dennoch die ganze Fülle des Daseins, die wir uns in dem Schema der Zeitordnung zur Anschauung bringen, unvermindert und unvermischt in sich beschließend.

Vielen scheint es, dass der philosophische Gedanke in zügelloser Willkür dahinjagt, wenn er derartigen Spekulationen nachgeht. Es mögen ja ganz artige Betrachtungen für ein müßiges Spiel der Phantasie sein, wenn man solche und ähnliche Gedankenreihen zum Zeitvertreibe an seinem Geiste vorübergleiten lässt. Ist es aber nicht zuviel behauptet, wenn man für sie auch objektive Geltung in Anspruch nimmt? Woher wissen wir, dass die letzte Wirklichkeit grade so und nicht noch ganz anders beschaffen ist? Nach welchem Maßstabe sollen Wahrheit und Irrtum in solchen Gedankenketten, die den festen Boden der Empirie völlig zu verlassen scheinen, geschieden werden? In der Tat, wir werden uns hüten müssen, in den alten Erbfehler aller Philosophen zu verfallen, die ihre Gedankenbilder für einen vollendeten Ausdruck der Wirklichkeit hielten.

Der Wert solcher Spekulationen liegt vielmehr darin, dass an ihnen die unerforschliche Tiefe der Welt klar zum Bewusstsein gelangt. Wir verlassen mit den dargelegten Gedanken keineswegs völlig den Boden der empirischen Beobachtung. Es gibt doch zu denken, dass sich ähnliche Gedanken auch bei den besonnensten Forschern in vorsichtiger Form immer wieder erneuern. Wenn ein Zeitalter glaubte, sie für immer ausgerottet zu haben, so war das stets nur die Vorbereitung für ein verstärktes, der neuen Situation angepasstes Wiederaufleben der uralten philosophischen Bildersprache. In der empirischen Wirklichkeit muss also wohl etwas liegen, was immer wieder auf jenes von uns entworfene Bild einer raum- und zeitlosen Wirklichkeit hinweist. Die empirische Sinneswelt trägt für den denkenden Beobachter deutliche Spuren dessen, dass sie nicht die letzte, absolute Wirklichkeit ist, an sich. In ihren Widersprüchen und unerklärlichen Rätseln weist sie unmissverständlich auf ein anderes, umfassenderes Sein hin, welches in der sinnlichen Anschauung nur unvollkommen und zum größten teile gar nicht zur Erscheinung kommt.

Hinter dem Schleier der Sinnenwelt sehen wir Gestalten sich regen, die wir nicht deutlich erkennen können. Wir können sie nur beschreiben, wie wir sie sehen. Was sie an sich ihrem Wesen nach sind, vermögen wir zu ahnen, aber nicht zu wissen. So verhält es sich auch mit der raum- und zeitlosen Ordnung der Dinge.
Durch den Schleier der raum-zeitlichen Anschauung hindurch erkennen wir deutlich eine raum- und zeitlose Wesenheit der Welt. Wir wissen gewiss, dass der Urgrund der Welt nicht zeitlich und räumlich ist. Wir wissen gewiss, dass die empirische Sinnenwelt nur ein schwacher, vielfältig gebrochener und getrübter Widerschein des blendenden lichtes, das die Welten belebend und schaffend durchflutet. Aber sollen wir Positives über den Urgrund der Welt aussagen, so vermögen wir es nicht. Hinter den Dingen liegt die unerforschliche Tiefe des Seins, die dem Menschenauge in dieser Welt für immer verborgen ist.

Die europäische Philosophie ist von jeher gewohnt gewesen, die letzte Grundlage der Wirklichkeit, welche sie durch ihre Spekulationen erreichte, mit dem Namen »Gott« zu bezeichnen. So war es schon zu Beginn der griechischen Philosophie. Der Urstoff wurde damals ohne weiteres Gott genannt. So ist auch weiter geblieben. Die Philosophie lernte Neues und Tieferes über den Weltgrund denken, aber der alte Name blieb. So ist denn auch der heutige Philosoph gewohnt, jenes letzte unfassbare Etwas, welches den Erscheinungen der Sinnenwelt zugrunde liegt, Gott zu nennen. Aus den dargelegten Gedankengängen lässt sich etwas Wichtiges für den philosophischen Gottesbegriff lernen: Gott ist raum- und zeitlos, oder positiv ausgedrückt: er ist allgegenwärtig, d. h. die raumlose Ursache der gesamten räumlichen Erscheinungswelt, und ewig, d. h. die zeitlose Ursache aller Erscheinungen in der Zeit. Klar ist auch, dass ein allgegenwärtiger und ewiger Gott keinen anderen Gott neben sich haben kann.

Aber dieser philosophische Gott ist ein recht fremdartiges Wesen, das zu uns Menschenkindern in einem äußerst kühlen Verhältnis steht. Freilich er trägt auch uns, wie alle anderen Dinge. Aber der raum- und zeitlose Urgrund der Welt ist so wenig anschaulich und konkret vorstellbar, dass wir mit ihm nicht viel anfangen können. Wenn wir von Gott nichts mehr als das aussagen dürfen, so ist er für uns ein interessanter abstrakter Gedanke ohne praktische Bedeutung. Er ist in dieser Gestalt ein wertgeschätzter Gast in der Studierstube des grübelnden Denkers, im Strome des Lebens ist er völlig bedeutungslos.

Indessen ist der beschriebene Gottesbegriff nicht das letzte Wort der Philosophie in dieser Sache.
Bisher betrachteten wir die räumlich-zeitliche Außenwelt, welche uns von den Sinnen gemalt wird. Wenn man von ihr ausgeht, so gelangt man allmählich zu der Vorstellung eines unerforschlichen, raum- und zeitlosen Weltgrundes. Dieses abstrakte und inhaltsleere Schema lässt sich erheblich erweitern, wenn wir einen anderen philosophischen Ausgangspunkt wählen und uns in die Wunder des psychischen Innenlebens versenken. Letzteres ist auch ein Bestandteil der empirischen Wirklichkeit.

Der unsichtbare menschliche Geist mit seinem Denken und Streben gehört ebenso zur Empirie wie die leblose Materie und die mannigfachen sichtbaren Dinge um uns herum. Eine philosophische Betrachtungsweise, welche diesen Faktor aus dem Spiele lässt, ist daher notwendigerweise einseitig und kann die Fülle der Wirklichkeit nicht erschöpfen. Schon die alten Philosophen haben diesen Satz aufgestellt: Wenn du die Welt erkennen willst, so erkenne dich zuvor selbst.

Das klingt merkwürdig. Wir Modernen sind so sehr gewohnt, die objektiven Tatsachen als entscheidende Instanz in Fragen des Weltverständnisses anzusehen, dass wir den Satz eher umkehren würden: Erst erkenne die Welt, d. h. beobachte nüchtern die objektiven Tatsachen und erforsche ihre Gesetze, dann wirst du vielleicht auch dich selbst erkennen können.

Indessen, wir sind soeben diesen Weg gewandelt, und haben uns überzeugt, dass er zu keiner befriedigenden Auffassung, sondern zu lauter Rätseln führt. Dabei haben wir bemerkt, in wie hohem Maße unsere Anschauung von rein subjektiven Faktoren abhängig ist. Das Weltbild wird uns durch das Medium der Sinne vermittelt und von unserer empfindenden und wahrnehmenden Seele aufgebaut. Es ist daher niemals rein objektiv, sondern besteht zunächst aus psychischen Elementen. Es kann daher auch nicht vom Standorte der »objektiven« Außenwelt befriedigend erklärt werden. Wenn überhaupt, so kann es vielleicht durch weise Selbsterkenntnis der Seele richtig gedeutet und verstanden werden. Jene Regel der Alten enthält daher eine tiefe und unvergängliche Wahrheit. Sehen wir zu, was die Philosophie über den Weltengrund auszusagen hat, wenn sie sich auf den Boden des geistigen Innenlebens stellt.

Wenn menschliche Intelligenz und menschliches Geisteslebens in der Welt als ein nicht zu übersehender Faktor der Wirklichkeit existieren, so ist sicher, dass im Weltengrunde eine genügende Ursache für diesen Tatbestand zu finden sein muss. Die Tatensache, dass der Mensch ein eigenartiges, intelligentes und zwecksetzendes Geistesleben besitzt, ist stets die stärkste Instanz gegen eine Mechanisierung des Weltganzen gewesen. Der Weltengrund ist imstande, Intelligenz und Geistesleben aus sich hervorzubringen. Folglich kann er nicht ganz intelligenzlos sein, sondern irgend etwas, was dem menschlichen Geiste wesensverwandt ist, muss in ihm enthalten sein. Dieser Gedanke verknüpft sich mit einer weiteren Erwägung. Bei der Beobachtung der »objektiven« Außenwelt konstatierten wir, dass sie uns trotz aller eindringenden Untersuchung immer nur die Außenseite eines schlechterdings verborgenen Seins bleibt.

Soweit auch die wissenschaftliche Forschung vordringt, stets ist sie vor »Erscheinungen« gestellt. Ins innere Wesen der Dinge, wie es an sich ist, dringen Mikroskop und Seziermesser nicht ein, weil sie stets nur neue Erscheinungen der Sinnenwelt zutage fördern. Wenn man jedoch irgendwie sich von dem Medium der sinnlichen Wahrnehmung befreien und die Dinge innerlich anschauen könnte, wie sie unabhängig von den Vorgängen in unseren Sinnesorganen sind! Die Größten unter den Philosophen haben behauptet, dass es möglich sei. Sie finden im menschlichen Geiste den Schlüssel zu dem Rätsel. Der Mensch hat die Eigenschaft, sowohl Erscheinung als auch Ding an sich zu sein. Von außen betrachtet ist er räumlich ausgedehnter Körper. Von innen betrachtet, erlebt er sich als menschliche Seele, als empfindenden, fühlenden, denkenden und strebenden Geist. Hierin liegt sein inneres, eigentümliches Wesen, das hinter der körperlichen Erscheinung verborgen ist.

Der Mensch als Ding an sich ist Geist. Wenn es sich beim Menschen so verhält, dann liegt der Schluss nahe, dass es bei den übrigen Dingen der Außenwelt nicht anders ist. Auch sie erscheinen in der Sinnenwelt als räumlich ausgedehnte Körper. In Wirklichkeit aber sind sie Geist, in demselben Sinne, in welchem der Mensch Geist ist. Der Mensch ist der komplizierteste und höchststehende Körper in der Erscheinungswelt, der als inneres Äquivalent das feinste und komplizierteste Seelenleben besitzt, das es in der Welt gibt. Die Körper niederer Ordnung sind entsprechenderweise die Außenseite einer psychischen Wirklichkeit niederer Ordnung. Das verborgene Wesen der Welt scheint sich nun tatsächlich zu entschleiern. Alles ist Geist, immaterielle, psychische Wirklichkeit. Die einzelnen Bestandteile dieser Wirklichkeit wirken so aufeinander, dass der Geist höherer Stufe, welcher die Fähigkeit sinnlicher Anschauung besitzt, eine räumlich geordnete Körperwelt vor sich sieht. Draußen, außer uns, gibt es unzählige geistige Energiezentren, Monaden oder wie man sie sonst nennen will, welche auf unsere Sinnesorgane so einwirken, dass in uns das Bild der alltäglichen Sinnenwelt entsteht.

Diese Schlussfolgerungen dürften im großen und ganzen bündig und unwiderlegbar sein. Es sind auf dieser Grundlage eine Reihe sehr verschiedener Weltanschauungen möglich, je nachdem, was man sich über die Beschaffenheit des menschlichen Geistes beziehungsweise der menschlichen Seele für Vorstellungen macht.

Sieht man im Willen die Grundfunktion des Geisteslebens, so wird man sich das verborgene Wesen der Dinge als Willen denken.

Andere stellen die Intelligenz, das Vorstellen oder sonstige psychische Funktionen an denselben Platz.

Auf die detaillierte Ausgestaltung solcher Weltbilder wollen wir uns hier nicht einlassen. Uns interessiert nur der kühne Eroberungszug in den innersten Kern der Wirklichkeit als Großes und Ganzes. Von ihm muss man, wie mir scheint, zunächst urteilen, dass er geglückt ist. Es ist merkwürdig, wie sich dem Menschengeiste immer wieder Gedanken dieser Art aufdrängen. Man studiere irgend einen vielgenannten Philosophen eines beliebigen Zeitalters, dessen Philosophie nicht im Skeptizismus stecken blieb. Man wird finden, dass auf dem beschriebenen zu der Erkenntnis vordringt, dass der Weltgrund dem Menschengeiste gleicht und dass der Geist das verborgene Geheimnis der Sinnenwelt ist. Die wenigen Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Spekulationen dieser Art werden sich immer wieder erneuern, weil hier wirklich ein neuer tiefer Einblick in das Wesen der Dinge möglich wird. Nun gewinnt der Gottesbegriff, wie es scheint, Inhalt, Farbe und Leben. Wenn es möglich ist, Eigenschaften des menschlichen Geistes auf den Weltengrund zu übertragen, was hindert uns, ihm Fühlen, Wollen und Denken zuzuschreiben? Eine reiche Fülle lebensvoller Eigenschaften lassen sich dann von ihm aussagen. Als lebendige, geistige Persönlichkeit können wir ihn uns denken, oder als logische zweckesetzende Intelligenz. Der kalte und fremde Weltengrund scheint plötzlich näher gerückt zu sein und wir verspüren Geist von unserem Geiste, Art von unserer Art in ihm.

Indessen bei näherer Betrachtung erweist es sich, dass der Abstand, welcher uns von der Erkenntnis der Gottheit trennt, doch noch immer unermesslich groß ist. Mag man sich Gott so menschlich, wie man will, eines bleibt dabei unzweifelhaft: unser Geist und der Gottesgeist sind nicht identisch. Wir sind nicht imstande, die ganze Welt zu tragen und zu bewegen, wie der Gottesgeist es tut. Wir sind an subjektive Vorstellungsweisen gebunden, welche für den Weltgeist nicht existieren können. Unser Innenleben ist in die Fesseln der Zeit gespannt, welche den Weltengrund nicht umschließen. Gott ist also bei aller Verwandtschaft erheblich anders als unser Geist. Wir können ihn uns nur nach dem Bilde unseres Geistes denken. Er muss Eigenschaften besitzen, welche unseren geistigen Fähigkeiten analog sind, aber wir können nicht sagen, wieweit die Analogie reicht. Damit rückt er plötzlich wieder in die Ferne. Alles Menschliche, was wir ihm zuschreiben, verwandelt sich in ein Symbol für etwas schlechthin Unaussagbares und Unerforschliches. Der Weltgrund ist letztlich doch nicht unser Geist, sondern er bleibt uns fremd und unbegreiflich. In seine äußersten Tiefen dringen wir nicht ein, sondern je weiter wir in der Erkenntnis fortschreiten, desto rätselhafter und unergründlicher erscheint uns sein Wesen. Jener kühne Eroberungszug ins Übersinnliche ist demnach geglückt und nicht geglückt.

Geglückt, - denn er sagt etwas Neues und Großes von den Tiefen der Welt, nämlich dass sie dem Menschengeiste wesensverwandt sind.

Missglückt,
- denn er entschleiert doch nicht, wie man anfänglich hoffte, das letzte, verhüllte Geheimnis der Gottheit.

Es bleibt eine offene und auf philosophischem Gebiet unlösbare Frage, in welchem Grade sich der Weltgeist vom Menschengeiste unterscheidet.

Dieser Unterschied ist aber von größter praktischer Bedeutung. Wir wollen gerne wissen, ob Gott ein persönliches Interesse an uns hat ob sein Ohr für unsere Bitten und Wünsche offen steht. Mit anderen Worten, die praktisch wichtigste Frage ist, ob ein Verkehr mit der Gottheit möglich ist und ob wir Gott in unsere Menschenschicksale mit hineinziehen dürfen. Darüber gibt der philosophische Gottesbegriff keine bestimmte Auskunft. Wenn wir uns Gott ganz nach Menschenart denken dürften, so wäre es sicher, dass er lebhaften Anteil an unseren Schicksalen nimmt. Aber da er jedenfalls anders ist als wir, lässt sich nicht sicher sagen, ob er Menschliches ebenso menschlich beurteilt wie wir.

Gott bleibt ein unbekannter, ferner Gott, solange wir uns bloß auf dem Boden des abstrakten Denkens bewegen. Er ist auch in seiner vollkommensten philosophischen Gestalt kaum mehr als ein abstraktes Gedankending, dessen Bedeutung im praktischen Leben der Sinnenwelt nicht sehr hoch einzuschätzen ist. Dazu kommt noch, dass die Schlussfolgen, mit denen der Philosoph zu einer Beschreibung des Weltengrundes gelangt, zwar klar und bündig, aber doch nicht absolut unanfechtbar sind. Unanfechtbare wissenschaftliche Erkenntnis gibt es nur auf dem Gebiete der empirischen Sinnenwelt. Sobald die Gedanken des Philosophen sich mühen, über diesen Bannkreis hinaus vorzudringen und über die letzten Gründe des Seins etwas zu sagen, werden sie mehr oder weniger hypothetisch und schwankend. Eine unanfechtbare Stringenz der Schlüsse ist hier nicht zu erreichen, obgleich man im Allgemeinen genügenden Grund hat, an die Richtigkeit der dargelegten Erwägungen zu glauben, und obgleich eine strikte Widerlegung der These, dass der Weltengrund nach dem Bilde des Menschen zu denken sei, ebenfalls unmöglich ist. So bleibt es denn trotz allem dabei, dass die philosophische Gotteslehre zwar interessante und nützliche Gedanken über Gott vorzubringen hat, dass er aber durch sie dem menschlichen Geiste nicht nahe gebracht und wirklich lebendig gemacht werden kann.

Jetzt ist es Zeit, sich daran zu erinnern, dass die Philosophie den Namen »Gott« nicht selber geprägt hat. Sie hat ihn nur geborgt und auf ihre Gedankengebilde übertragen. Lange vor der Entstehung philosophischer Weltbetrachtung war die Gottesidee in der Religion heimisch. Von hier entlehnte die Philosophie den Gottesnamen, um ihre neuen Gedankengebilde in alte, bekannte Formen einzukleiden.

In der Religion erhält die Gottesidee ihren Inhalt durch ein eigentümliches inneres Erleben. Man fühlte, dass die Seele von geheimnisvollen, tiefen Kräften berührt wurde. Man spürte das Eingreifen einer dunklen, fremden Macht, welche die Seele überwältigte und sie ihre schlechthinige Abhängigkeit vom Urgeiste empfinden ließ. Als zum ersten Male eine empfängliche Seele dieses Mysterium der Gegenwart göttlichen Geistes im Herzen erlebte, als sie das erste Mal unter der Berührung göttlichen Odems erschauerte, - da nannte sie das Wesen, welches ihr unsichtbar nahe war, Gott. Seitdem gibt es lebendige Religion und einen religiösen Gottesbegriff auf Erden.

Wo jenes grundlegende sich wiederholt, gewinnt der Gottesgedanke Inhalt und Kraft. Gott ist dann nicht mehr der ferne, fremde Gott, sondern eine reale geistige Macht, welche mit der Seele in Verkehr tritt. Der religiöse Mensch kann, solange er von philosophischen Grübelfragen unbeeinflusst bleibt, Gott nur als einen persönlichen, lebendigen Gott denken. Erst nachträgliche Reflexion lässt ihn an der Richtigkeit dieser Deutung seines Erlebnisses irre werden. Wer beobachten gelernt hat, wie vielen Selbsttäuschungen die Seele preisgegeben ist, wird auch der Religion gegenüber misstrauisch und fragt sich, ob er es hier mit Wirklichkeit oder Illusion zu tun hat. Darin aber sind alle religiös empfänglichen Menschen einig, dass ihre Eindrücke so beschaffen sind, als ob eine persönliche, lebendige Macht vom ihrer Seele Besitz ergreife und in Verkehr mit ihr trete. Wo der Eindruck stark genug ist, werden ihm skeptische Bedenken auf die Dauer nur wenig anhaben können. Das Stück erlebter geistiger Wirklichkeit lässt sich, wenn es echt ist, weder fortinterpretieren noch wegdisputieren. Infolgedessen hat die Gottesidee in der Religion eine andere und günstigere Stellung als in der Philosophie. Sie bedeutet hier nicht mehr einen abstrakten Gedanken, der als mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese aus der Beobachtung der Erscheinungswelt erschlossen wird, sondern sie ist Ausdruck tiefster Glaubenserfahrung und ruht auf den Einwirkungen einer lebenzeugenden, mächtigen Geisteskraft.

Wenn der Gott in der Religion so erlebt wird, so folgt daraus noch nicht gleich, dass der Geist, welcher die Seele berührt, der eine, allwaltende Gott Himmels und der Erde ist. Das elementare religiöse Erleben garantiert nur die Lebendigkeit und Geistigkeit Gottes. Alles weitere bleibt eine offene Frage. Man kann etwa an Dämonen denken, welche sich der Seele nahen und von ihr Besitz ergreifen. Man kann sich Gott als einen starken Geist, der einen teil der Erde beherrscht, etwa als einen Landesgott oder Nationalgott. Bekanntlich haben die primitiven Stufen der Religion eine Fülle derartiger Gottesvorstellungen produziert.

Dieses Stadium der Religion wurde durch zwei mächtige Faktoren überwunden. Der eine Faktor war die Entwicklung des philosophischen Denkens. Wo die philosophische Gedankenarbeit soweit fortgeschritten war, dass sie die oben wiedergegebenen Schlüsse über das Wesen des Weltengrundes vollzogen hatte, musste sie bedeutenden Einfluss auf die Religion gewinnen. Polydämonistische und polytheistische Gedanken über Gott wurden durch sie unmöglich gemacht. Das Schlussproblem der Philosophie war der geheimnisvolle, geistige Weltengrund, der alle Dinge erhält, bewegt und trägt. Die Philosophie war durch die ganze Entwicklung ihres Denkens genötigt, seine Einheit und Einzigkeit zu behaupten. Wenn diese Gedanken sich mit der Gotteserfahrung der primitiven Religionen verbanden, so musste daraus die Vorstellung des einen Gottes Himmels und der Erde entstehen. Die Annahme mehrerer begrenzter göttlicher Mächte vertrug sich nicht mit einem stark entwickelten philosophischen Denken. Infolgedessen sehen wir in der Geschichte überall mit dem philosophischen Geiste auch den Monotheismus in die Religionen einziehen. Eine monotheistische Deutung passte ebenso gut zu dem primitiven religiösen Erlebnis, wie eine polytheistische. Es war daher nur selbstverständlich, dass die Religionen unter dem Einfluss der Philosophie auf den Polytheismus verzichteten und allmählich den Übergang zum Monotheismus vollzogen.

Diese Verknüpfung von Philosophie und Religion gereichte der Religion aber nicht nur zum Segen. Einerseits bedeutete die Einführung des philosophischen Gottesbegriffes zweifellos einen Fortschritt. Der Fortschritt hatte aber eine Kehrseite, die unter Umständen gefährlich werden konnte. Die ganze Abstraktheit und Wesenlosigkeit des philosophischen Gottesbegriffes lastete nun auch auf dem religiösen Gottesbegriff. Wenn die Philosophie sich mit einer Religion verband, in welcher das Innenleben nur schwach entfaltet war, konnte sie geradezu ertötend wirken. War der erlebte Gott persönlich oder unpersönlich? War er ein Gott, der sich um Menschen kümmert und zu dem man beten kann? Diese Fragen, die für das religiöse Bewusstsein ursprünglich nicht existierten, legten sich jetzt schwer und erkältend auf die Gemüter der Frommen.

Wo die Religion nicht ungewöhnlich viel Herzenswärme und tief bewegtes Innenleben besaß, gewann die Philosophie die Oberhand, und dann wurde der religiöse Gottesbegriff ebenso weltfremd, abstrakt und leblos, wie der philosophische. Freilich, eine kleine Spur warmen Lebens musste auch nach der Verschmelzung übrig bleiben. Aber in der Regel war es doch nur eine mehr oder weniger starke religiöse Färbung des philosophischen Gottesbegriffes. Die Philosophie erwies sich fast überall als Tyrannin. Ihr Gottesbegriff gewann meist die unbedingte Vorherrschaft und wurde durch die Frömmigkeit nur leicht modifiziert. Historisch können wir diesen Vorgang an der Entwicklung der indischen Religion und der spätgriechischen Philosophie studieren. In beiden Fällen verband sich eine hoch entwickelte Philosophie mit einem verhältnismäßig schwach entwickelten religiösen Innenleben, Es geschah zum größten Nachteile der Religion. Letzter war nicht imstande, das ungeheure abstrakte Begriffsmaterial, das ihr aufgebürdet wurde, innerlich zu erwärmen, und deshalb gab es sowohl in Indien als auch in Griechenland ein Stadium der Entwicklung, wo die Religion nichts weiter als eine religiös gefärbte Philosophie war. Man war stark im Denken geworden, aber schwach im Erleben Gottes.

Indessen braucht es nicht mit absoluter Notwendigkeit so zu gehen. Wenn das religiöse Leben stark genug ist, so kann sich auch das Umgekehrte ereignen, dass der religiöse Gottesbegriff den philosophischen als Färbung und Modifikation in sich aufnimmt, ohne doch an seiner Lebendigkeit und Wärme Schaden zu leiden. In der Geschichte ist das nur einmal geschehen: in der Entwicklung des Gottesbegriffes der christlichen Kirche. Auch hier hat manchmal das Philosophische das Religiöse überwuchert und erstickt. Aber die Regel ist es nicht. In den Glaubenssystemen christlicher Denker ist häufig religiöse Innigkeit und Lebendigkeit mit großem philosophischem Tiefsinn gepaart.

Das konnte hier nur deshalb geschehen, weil sich in der Entstehungsgeschichte des Christentums der andere Faktor kräftig geltend gemacht hatte, der die Religion über die primitive Stufe hinaushebt. Eine Reinigung und Vertiefung der Gottesidee ist nicht nur durch philosophisches Denken zu erreichen, sondern weit wirkungsvoller und lebendiger durch Steigerung und Ausgestaltung des religiösen Verkehrs mit der Gottheit. Diesen Faktor hat der menschliche Wille nicht zu seiner freien Disposition, sondern er muss hier dankbar, mit offenem Herzen entgegennehmen, was die Gottheit ihm an Zuwachs religiösen Innenlebens zu teil werden lässt. Wenn es Gott gefällt, sich dem Menschen klarer zu offenbaren und ihn tiefer in seine Geheimnisse hineinblicken zu lassen, als die durchschnittliche Religiösität der Menschheit und vernünftige, kluge Beobachtung vermögen, so muss eine Fortentwicklung der Gottesidee die Folge sein.

Der Gott der Propheten
Ein einziges Volk der Welt ist von Gott so geführt worden. Das war die providentielle, weltgeschichtliche Bedeutung des Volkes Israel. Die Israeliten besaßen so wenig philosophischen Geist, wie kaum ein zweites Volk der Erde. Dennoch haben sie ohne Zuhilfenahme philosophischer Erwägung einen monotheistischen Gottesbegriff geschaffen, weil die Fülle der Offenbarung über sie ausgeschüttet wurde.

Sie haben anfangs wahrscheinlich nicht viel anders über Gott gedacht als die Nachbarvölker. Der durchschnittliche religiöse Israelit älterer Zeit sah seinen Gott schwerlich als den einen Gott Himmels und der Erde an, sondern verehrte ihn als einen Nationalgott, der in besonders engem Verhältnis zum Volkstum Israels stand. Im alten Testament sind reichliche Spuren dieser Anschauung vorhanden. Der Gott Israels galt lange Zeit hindurch vielen als ein Gott neben anderen Göttern. Israel hielt natürlich seinen Gott für den stärksten, und sein Gesetz verbot, anderen Göttern neben ihm zu dienen. Dasselbe dachten aber andere Nationen von ihren Göttern auch. Hierin liegt keine spezifische Eigentümlichkeit der israelitischen Religion. Was Israel einzig und alleine besaß, war etwas anderes. Das waren seine großen Offenbarungsträger, die gewaltigen Sprecher Gottes, welche Gott nur diesem Volk geschenkt hat.

Es ist uns Epigonen schwer, ja unmöglich, die gewaltigen Erlebnisse dieser großen Geister in vollem Umfange nachzuempfinden. Wir sehen, dass in ihrem Inneren der Quell der Offenbarung reicher sprudelt als in uns. Aber wie das war, was sie erlebten, können wir nur ahnen, nicht klar durchschauen. Für sie war zunächst ein gewisser ekstatischer, visionärer Zug charakteristisch. Gesichte und Stimmenhören sind ihnen alle eigentümlich. Rücken sie hierdurch in bedenkliche Nähe zu den Irren und Gestörten unserer Tage, so verliert sich dieser Eindruck wieder, wenn wir sehen, wie dieselben Männer eine großartige politische Wirksamkeit entfalteten, der es an nüchternem Wirklichkeitssinn wahrlich nicht fehlte. Dazu sind sie meist geniale Poeten, die in klassischer Vollendung die Sprache ihres Volkes meisterten und in tief empfundenen Dichtungen ihre Gedanken über Gott, Welt und die Schicksale ihres Landes niederlegten. Hierin treten sie uns in so schlichter, menschlicher Größe nahe, dass wir klar sehen: das waren keine »pathologischen« Gestalten. Ihr »ekstatisches« Wesen hat eine andere Ursache. Sie erleben etwas schlechthin Überwältigendes, Einzigartiges in ihrer Seele. Das religiöse Innenleben steigert sich bei ihnen aus einem mystischen, unaussprechlichen Erlebnis zu einer klaren, mit Worten zu beschreibenden Offenbarung. Der Geist kommt über sie, und sie müssen reden. Es gibt für sie keinen Widerstand, sie müssen sprechen und dem Volke Gottes Willen verkündigen. Gott berührt sie in den Tiefen der Seele anders und stärker als die übrigen Menschen. Sie wissen, fühlen und hören, dass Gott ihnen etwas Neues und Unerhörtes zu sagen hat, und geben ihre Botschaft weiter mit Worten, die aus Geist und göttlicher Kraft geboren sind. Ihre Seele war so sehr auf den Mittelpunkt ihres religiösen Lebens konzentriert, dass sie freilich im Leben oft einen geistesabwesenden, gestörten Eindruck gemacht haben mögen. Die menschliche Seele ist eben zu klein, um ohne Störungen ihrer »normalen«, d. h. alltäglichen Funktionen ein Gefäß der Offenbarung Gottes zu sein.

Israel hat viele solcher Männer besessen. Propheten nennt man sie nach dem griechischen Ausdruck, der sich in unserer deutschen Bibelübersetzung eingebürgert hat. Sie haben die Religion Israels zu der gewaltigen Geistesmacht gestaltet, die sie in der Geschichte der Menschheit ist. Auf Grund tiefer religiöser Erfahrung, ohne alle philosophischen Erwägungen kamen sie bald zu der Erkenntnis, dass es nur einen Gott in der Welt gibt, den Gott, der mit so unwiderstehlicher Macht in ihre Seelen eingriff. Die anderen Götter schrumpften neben ihm zu einem Nichts zusammen. Die Propheten spotteten über die Verehrung der Götzen neben dem einen Gott Himmels und der Erde. Der Gott, der sich ihnen offenbarte, konnte nichts Göttliches neben sich dulden. Er musste auch der Gott anderer Völker sein. Er hat Israel zu einem besonderen Gnadenbunde erwählt, es steht ihm aber völlig frei, Israel zu verwerfen und ein anderes Volk zu erwählen. Nach seinem freien Willen schaltet er in der Welt. In einer großartigen Unbekümmertheit um die Frage nach der Möglichkeit einer schrankenlosen Willkürherrschaft Gottes verkünden die Propheten auf Grund der ihnen zu teil gewordenen Offenbarung den Gott, welchem nichts unmöglich, dem alles in der Welt schlechthin unterworfen ist.

Das war freilich ein anderer Gottesbegriff, als die Philosophie auf Grund ihrer behutsamen Erwägungen lehrte. Der Gott der Propheten ist ein verzehrendes Feuer, ein mächtiger unwiderstehlicher Herrscher. Er ist aber zugleich der Gott der Barmherzigkeit, der im Menschenherzen Wohnung macht und durch den Mund seiner berufenen Sprecher seinen Gnadenbund verkündigen lässt. So erlebten ihn die Propheten im innersten Herzen und so zeugten sie von ihm. Sie sammelten den Schatz reiner Gottesoffenbarung, welchen das Volk Israel in seiner geschichtlichen Tradition besitzt.

Der Höhepunkt der Offenbarung
Der Höhepunkt der Offenbarung bildet der letzte und größte aller Propheten. Das Volk Israel war dazu berufen, das menschliche Gefäß größter und reinster Gottesoffenbarung hervorzubringen, den Propheten von Nazareth. Er überragt seine Brüder um Haupteslänge. In keinem floss der Strom göttlichen Wortes so kristallklar und unerschöpflich wie in ihm. Die besten und tiefsten Traditionen der altisraelitischen erneuerte er. Er predigte den Gott der Propheten, weil er das gleiche tiefe Innenleben besaß wie die Gottesmänner der Vergangenheit. Mit unerreichbarer und unübertrefflicher Klarheit schaute sein Blick in die göttlichen Geheimnisse hinein. Er wusste für sie Bilder und Begriffe zu finden, in denen er das Gesehene auch den blöden Augen veranschaulichte. In der ganzen Geschichte hat es keinen zweiten so wirkungsvollen Prediger Gottes gegeben wie ihn.

An seinen Worten lernt die Welt noch heute, was sie von Gott weiß. Unermüdlich, in immer neuen Wendungen lehrte Jesus sein Volk den himmlischen Vater kennen. Er ist weit von allen abstrakten, philosophischen Erwägungen entfernt. Was er redet, hat er erlebt und gesehn. Er redet aus dem vollen Besitze der Gegenwart Gottes. Den himmlischen Vater kennt er als den über alle Welt erhabenen Gott Himmels und der Erde. Dennoch predigt er ihn als den nahen Gott, als den liebenden Vater der kleinsten Dinge auf Erden. Der unermessliche, ewige, weltferne Gott kennt nach Jesu Lehre jeden Sperling und zählt die Haare auf dem Haupte des Menschen. Das Kleinste und Größte erfreut sich der gleichen liebenden Fürsorge. Allerdings predigt Jesus nicht nur von Liebe und Gnade Er weiß auch vom richtenden und zürnenden Gott zu zeugen, der den Sünder straft und sein Volk zu verstoßen vermag.. Starr und unerbittlich steht Jesus den Feinden des Reiches Gottes gegenüber. Der Grundton seiner Verkündigung ist aber doch die Botschaft vom gnädigen Gott, der durch ihn das Verlorene sucht. Von Gottes unendlicher Liebe und Barmherzigkeit hat niemand so durch Tat und Wort gezeugt, wie Jesus.

Wir würden aber Jesu Bedeutung völlig missverstehen, wenn wir ihn nur als einen Propheten auffassen würden, der eine verbesserte Lehre von Gott und seinem Willen schuf. Er war zweifellos ein Prophet. Als solcher muss er zunächst verstanden werden. Aber darüber hinaus muss man zu dem Eigentümlichen seiner Offenbarung fortschreiten, das ihn von allen anderen Propheten spezifisch unterscheidet. Dieses liegt, wie wir so oft gesehen, in seiner unvergleichlichen Persönlichkeit. Er predigte und lehrte nicht nur von Gott, sondern er war selbst Gott. Deshalb ist seine Offenbarung so unvergleichlich wirkungskräftig. Deshalb ist sie schlechthin einzigartig und unwiederholbar. In ihm ward der ewige Gottesgeist Mensch. Gott kann nun in Jesu Gestalt angeschaut werden. Wer wissen will, wie Gott ist, der schaue Jesus an, und in seiner Person wird ihm Gott menschlich verkörpert entgegentreten.

Allerdings ist das Gewand der Menschheit in mancherlei Beziehung kein genügendes Darstellungsmittel des Göttlichen. Gottes Ewigkeit und Allgegenwart, seine schlechthinige Geistigkeit und seine alles Weltliche weit hinter sich lassende Wesensfülle können an einer menschlichen Gestalt nicht geschaut werden. Hierzu brauchen wir nach wie vor die philosophischen Hilfsbegriffe, in denen wenigstens eine annähernde Vorstellung von diesem Tatbestande erlangt werden kann. Jesus muss in dieser Hinsicht aus dem Irdischen in das Transzendente übersetzt werden, wenn wir an ihm lernen sollen, was Gottes Wesen sei.

In anderer Hinsicht ist aber gerade die Menschlichkeit Jesu das einzige vollkommene Darstellungsmittel für die tiefsten und wertvollsten Seiten des Wesens der Gottheit. Das, was der Gottheit Leben verleiht und sie für Menschenherzen praktisch bedeutsam macht konnte gar nicht vollendeter und überzeugender dargestellt werden, als durch eine Menschwerdung des Göttlichen. Wie gleichgültig ist uns im praktischen Leben ein ewiger, geheimnisvoller Weltgrund, der uns nie deutlich sichtbar wird und den wir nicht fassen und begreifen können! Wie belebt sich dagegen der Gottesgedanke, wenn wir erfahren, dass Gott unsere Sünde straft, oder dass er liebend für unser Ergehen sorgt. Dies beides bildet aber den Kernpunkt der Offenbarung Jesu Christi. Gottes Heiligkeit und Liebe treten uns in Christo verkörpert und anschaubar entgegen. Die ungeheure Paradoxie im Wesen Gottes, dass er die Sünde der Menschheit unbarmherzig straft, und dass er dennoch dem reuevollen Sünder barmherzig Sünde vergibt, hat in Jesus greifbare Gestalt genommen. Alle Religionen haben etwas von dieser Eigentümlichkeit Gottes geahnt. Jesus hat sie nicht nur klar und deutlich, sondern uns auch anschaulich vorgelebt.

Er brauchte nicht viele Worte verlieren, um die Menschen zu lehren, was Heiligkeit ist, denn er war rein und heilig. Wer ihn kennen lernt, weiß, dass Gott vollkommene Reinheit von uns fordert, und wir sahen, wie von Jesu Person das schärfste und tiefgehenste Gericht über die Sünde der Menschheit ergeht. In derselben tatkräftigen Form zeigte er, wie tief und unerschöpflich Gottes Liebe sei. Er trat mitten in die Menschheit und liebte mit der ganzen Macht seines unergründlichen Herzens, - da wussten die Menschen, was Gottes Liebe ist.

Wie Christus sich freundlich dem Verlorenen naht, wie er seine Feinde auf betendem Herzen tragen konnte, - so ist Gottes Barmherzigkeit und Gnade beschaffen. Viele schöne Gedanken über Gottes Heiligkeit und Liebe hat Jesus uns geschenkt. Wir danken ihm dafür. Aber sie verblassen und werden entbehrlich, wenn man daran denkt, was seine bloße Existenz und sein persönliches Auftreten lehrten. Gott ist so, wie Jesus war, so heilig und streng und doch so unsagbar barmherzig und liebevoll! Wenn der lebendige Gott zu entschwinden droht, wenn durch philosophische Abstraktionen und verwickelte Zweifelsfragen die Gewissheit des richtenden und begnadigenden Gottes ins Wanken gerät, der fliehe zu der Gestalt Jesu Christi und schaue tief in sie hinein. Diese grenzenlose Reinheit und diese unermessliche Liebe waren einst wirklich! Sie waren echte, unanfechtbare historische Wirklichkeit! Kannst du da noch zweifeln, dass Reinheit und Liebe in dieser Welt etwas Wirkliches sind? Kannst du zweifeln, dass Gott heilige Liebe ist, wenn du die Gottesliebe menschgeworden vor dir siehst.

Wahrlich hier ist der Himmel offen und hier blicken wir hinein in Gottes Herz. Ob wir uns Gott denken können oder nicht, was verschlägt´s? Sein Herz ist uns bekannt. Seinen Liebeswillen hat er uns klar und unmissverständlich offenbart. Mögen zahllose unlösbare Rätsel uns rings umgeben, an diesem einen wichtigen Punkte können wir volle Gewissheit haben. Gott hat an dieser Stelle den Schleier vom Antlitz gezogen und uns seine heilige Liebe unverhüllt sehen lassen. In diesem Hauptstücke ist die Offenbarung Gottes vollendet und wir schauen Gott, wie er wirklich ist. Demütig und geduldig warten wir, bis er und von den Banden der Sinnlichkeit befreit, die es uns verbieten, sein sonstiges Wesen zu schauen, wie es an sich beschaffen ist. Vertrauensvoll harren wir, bis es ihm gefällt die Binde von unseren Augen zu nehmen und seine ganze Herrlichkeit zu offenbaren.

Bis dahin gibt es manches unlösbare Denkproblem in Bezug auf die Gottheit. Insbesondere die Gestalt Jesu Christi stellt dem Denken des Christen eine schwierige Frage, auf welche zum Schluss noch mit einigen Worten eingegangen werden muss.

Die Wesensdreieinigkeit Gottes
Wenn wir an die Gottheit Jesu Christi glauben und bekennen, dass Gott in ihm Mensch ward, so fragt unser Denken: Wie verhält sich der Gott in Christi zu dem Vatergotte, den Jesus während seines Erdenlebens betend anrief? Die Kirche hat hierauf mit der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes geantwortet. Es gibt drei göttliche Personen und doch nur einen Gott.

Was haben wir von dieser Lehre zu halten? Ist sie, wie viele behaupten, hoffnungslos veraltet? Oder lässt sich ihr noch heute ein Sinn abgewinnen? Viele meinen, die Trinität ohne weitere Diskussion ablehnen zu müssen, weil sie zu klar aller vernünftigen Überlegung widerspricht. Drei Personen sind nicht eine Person und ein Gott kann nicht drei Götter auf einmal sein.

Indessen haben wir jetzt schon Argumente in der Hand, welche dieses Bedenken hinfällig machen. Wir sahen, dass der logische Widerspruch kein absolut entscheidender Grund gegen eine Behauptung ist. Die Wirklichkeit ist komplizierter als unsere logischen Gedankenverknüpfungen. Es ist daher möglich, dass die Beobachtung in der Wirklichkeit Tatsachen aufweist, welch uns in logischem Widerspruch zu stehen scheinen. Ferner sahen wir, dass Gott für menschliche Weisheit unerforschlich ist. Wir fanden in der Gottheit eine Wirklichkeit, die wir notdürftig durch Analogien und Bilder uns vorstellen, aber nicht verstandesmäßig begreifen konnten. Uns fehlen die Mittel zu einer vollkommenen Erfassung des Übersinnlichen, und deshalb reden wir von der Gottheit in Bildern und Gleichnissen, statt in konkreten Anschauungen und klaren Begriffen.

Unter solchen Umständen eröffnet sich die Möglichkeit, dass ein widerspruchsvolles Bild vielleicht besonders geeignet ist, die Tiefe und den Reichtum des göttlichen Wesens zur Darstellung zu bringen. Wir können daher nicht so leichten Kaufes auf die Trinitätslehre verzichten, sondern haben uns ernstlich die Frage zu stellen, ob sie sich mit Notwendigkeit aus dem dargelegten Glaubensstandpunkte ergibt. Ist das der Fall, so werden wir sie trotz des in ihr enthaltenen Widerspruches beibehalten müssen.

Die Theologen unterscheiden Offenbarungsdreieinigkeit (ökonomische Trinität) und Wesensdreieinigkeit (ontologische Trinität). Die erstere bietet kein Problem. Wer überhaupt an einen persönlichen Gott glaubt, wird nicht bezweifeln, dass das göttliche sich den Menschen in sehr verschiedenen Formen offenbart hat. Gott wird geahnt in der Anschauung der Natur und wird gefühlt in den Regungen des religiösen Gemüts. Wo immer in der Welt etwas hiervon erlebt wurde, hat man an die Existenz des himmlischen Vaters geglaubt. Neben diese grundlegende Form der Offenbarung tritt die schlechthin einzigartige Gestalt Jesu Christi. Hier zeigt Gott Seiten seines Wesens, die vorher noch nicht enthüllt waren. In seinem Sohne hat Gott der Menschheit also eine neue Stufe der Offenbarung geschenkt. Endlich hat Gott von seinem Sohne ein mächtiges Innenleben ausgehen lassen, wie es die Welt in dieser Weise bisher nicht gekannt hatte. Es kam ein Wehen des göttlichen Geistes über die Seelen derer, die Christus nachfolgten, und gestaltete ihre Seelen um. Damit war wieder eine neue Seite göttlichen Wirkens und Wesens erschlossen.

Die Christenheit erhielt die Offenbarung des
Heiligen Geistes. Diesen unanfechtbaren historischen Tatbestand hat die Kirche zu der Formel zusammengefasst: Der eine Gott hat sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart. Damit ist zunächst noch nichts über verschiedene Personen in Gott ausgesagt, sondern einfach das, was in der Geschichte allen Augen sichtbar vorliegt, zu einem bequemen Schema zusammengefasst. In diesem Sinne wird jeder, der nur soweit im Bannkreise des Christentums steht, dass er in ihm göttliche Offenbarung findet, die Dreieinigkeit Gottes anerkennen können. Es ist vielleicht nicht unwichtig zu konstatieren, dass der Wortlaut des vielumstrittenen Apostolikums nicht mehr als die Offenbarungsdreieinigkeit festlegt. Genauere Angaben über die Art und Weise, in welcher die verschiedenen Erscheinungsformen des Göttlichen sich zueinander verhalten und im Wesen Gottes begründet sind, finden sich nur in Nicänum und Athanasianum.

Ist es nötig, zu solchen »genaueren« Angaben fortzuschreiten? Kann man sich nicht einfach mit der Offenbarungsdreieinigkeit begnügen?

Ist es notwendig, auch an eine Wesensdreieinigkeit, d. h. an eine wirkliche Dreiheit im Wesen der Gottheit zu glauben? Der Vorschlag, auf die Wesensdreieinigkeit zu verzichten, hat mancherlei für sich anzuführen. Er wird dem Umstande gerecht, dass die Tiefen des Übersinnlichen für uns nicht erforschbar sind. Es scheint daher durchaus wünschenswert zu sein, dass man sich allzu bestimmter Aussagen über sie enthält. Ferner würde die Paradoxie der kirchlichen Trinitätslehre völlig in Wegfall kommen.

Dass wir Menschen verschiedene Anschauungsformen brauchen, um das eine Göttliche zu denken, ist völlig einleuchtend. Anstößig ist nur, dass Gott selbst als eine Mehrheit und dennoch als Einheit gedacht werden soll.

Indessen gibt es einen Punkt, an welchem es schlechterdings notwendig ist, über die bloße Offenbarungsdreieinigkeit hinauszugehen, vorausgesetzt natürlich, dass man auf dem Boden der von uns dargelegten Glaubenserfahrungen steht. Sowie man mit der Annahme der Gottheit Christi wirklich Ernst macht, kann man der Konsequenz, dass im Wesen Gottes mehrere Persönlichkeiten enthalten sind, nicht aus dem Wege gehen. Jesus Christus ist, wie wir sahen, eine neue persönliche Gestaltung des Göttlichen. Mit allen anderen Erklärungen des Göttlichen in ihm konnten wir uns nicht einverstanden erklären. Dann steht aber der persönliche Gott Jesus Christus dem persönlichen Vatergotte als zweite Persönlichkeit gegenüber, und es bleibt nichts übrig, als Gott doppelpersönlich zu denken. An diesem Punkte hat naturgemäß der Streit am schärfsten eingesetzt. War es der Kirche erst einmal deutlich zum Bewusstsein gekommen, dass Christus wahrer Gott war, so war die entsprechende Ausgestaltung des trinitarischen Dogmas unvermeidlich.

Eigentümlich ist es hierbei mit der Lehre vom Heiligen Geist gegangen. Ihretwegen hat es nur wenig Streit gegeben. Als die Doppelpersönlichkeit: Vater und Sohn, feststehender Glaubenssatz geworden war, zog man ohne Zaudern die gleichen Konsequenzen für den Heiligen Geist. War dies Verfahren berechtigt? Zunächst konstatieren wir, dass es notwendig war, die Geistesmitteilung einer Person in Gott zu denken. Es ist schwer, ja unmöglich, sich den göttlichen Geist als unpersönlich vorzustellen. In diesem Fall wäre er eine Art von überirdischem, unsichtbarem Fluidum, welches mechanisch-magisch in die Seelen einströmt. So grob substantiell wird sich heute wohl niemand mehr die Sache vorstellen wollen. Persönliches Innenleben entzündet sich nur an persönlichem Leben. Das religiöse Bewusstsein macht von dieser Regel keine Ausnahme. Wenn der Heilige Geist als Ursache des christlichen Innenlebens gedacht werden soll, so muss er ebenfalls eine Persönlichkeit sein. Soweit liegt die Sache einfach. Aber nun erhebt sich die schwierige Frage, ob der Geist notwendig eine neue Person in Gott sein muss? Genügen nicht die Personen des Vaters und des Sohnes, um den persönlichen Charakter der Geistwirkungen zu erklären?

In der Tat muss zugestanden werden, dass die Annahme einer dritten Persönlichkeit in Gott nicht mit schlechthiniger Notwendigkeit aus der Glaubenserfahrung folgt. Hier steht die Sache anders als bei der Person Jesu Christi. Um der Persönlichkeit des Heiligen Geistes willen hätte sich die Kirche schwerlich in alle die Denkschwierigkeiten gestürzt, welche durch die Annahme mehrerer Personen in Gott bedingt werden. Aber nun, wo diese Schwierigkeit schon sowieso vorhanden ist, gewinnt die Frage einen erheblich anderen Charakter. Ist erst einmal der Unterschied von Person und Person in Gott an einer Stelle zweifellos konstatiert, so wird man ihn auch dort denken dürfen, wo weniger zwingende Gründe dafür vorhanden sind. Solche sind für die Lehre von der selbständigen Persönlichkeit des heiligen Geistes tatsächlich anzuführen.

Erstens
ist negativ festzustellen, dass die Glaubenserfahrung der Annahme einer besonderen Persönlichkeit des Heiligen Geistes in keiner Weise widerspricht.

Zweitens legt uns die Glaubenserfahrung der ersten Jünger eine solche Annahme nahe. Die Apostel fanden die Ausgießung des Heiligen Geistes als eine neue Offenbarung Gottes. Sie besaßen die Offenbarung Christi, wurden aber zu Pfingsten mit einer Macht bekannt, welche Jesu Wort an ihren Herzen ganz anders wirksam machte wie bisher. Damals wurde der Unterschied zwischen den Wirkungen Jesu und dem, was der Geist brachte, stärker empfunden wie jetzt, wo die Wirkungen der historischen Überlieferung von Jesus und der Einzug des göttlichen Geistes zu einer untrennbaren Einheit zusammenfließen. Die jünger haben daher keinen Augenblick Bedenken getragen, den Heiligen Geist als dritte koordinierte Größe neben Vater und Sohn zu stellen.

Drittes
endlich sind nach dem Berichte des neuen Testamentes die Jünger von Jesus selbst zu einer solchen Koordination des Geistes angeleitet worden. Die Geschichtlichkeit dieser Nachricht ist kritisch angefochten worden, doch scheint mir, dass sie sich dennoch weiter behaupten lässt. Die Urchristenheit hätte schwerlich die trinitarischen Formeln so einmütig und sicher gehandhabt, wenn sie nicht irgendwie auf die Offenbarung Jesu Christi zurückgehen würden.

Das alles zusammen lässt es als berechtigt erscheinen, wenn die Kirche bei der Ausgestaltung des Dogmas den Geist analog der Person Jesu Christi behandelte. Sobald an die Selbständigkeit der göttlichen Person Jesu Christi fest geglaubt wurde, stellte sich der Glaube an die selbständige Person des Geistes von selber ein. Und dabei wird es wohl auch für die Zukunft sein Bewenden haben.

Es bleibt uns also an der Paradoxie der Trinitätslehre nichts erspart. Sie geht wirklich in ihrer anstößigsten Form aus der dargelegten Glaubenserfahrung hervor. In Gott sind drei selbständige Personen. Aber wo bleibt dann die Einheit? Dann haben wir ja drei Götter und nicht einen! Es ist klar, dass das eine unmögliche Annahme ist. Der Monotheismus ist für das Christentum viel zu selbstverständlich, als dass darüber eine Diskussion überhaupt noch statthaft wäre. Aber wie dann die Paradoxie lösen?

Ganz kann sie nicht gelöst werden.
Es ist hier ebenso, wie bei der Lehre von der Gottheit Christi. Die Wirklichkeit Gottes ist so reich, dass sie nur in einer widerspruchsvollen Formel zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Paradoxie kann aber soweit gemildert werden, dass sie für das Denken nicht mehr unerträglich ist.

Erstens ist es zweifellos, dass die Einheit Gottes nicht allzu abstrakt und mathematisch gedacht werden darf. Gott trägt die ganze Lebensfülle des Weltalls mit ihrer Mannigfaltigkeit in sich. Folglich muss in ihm Raum für starke Differenzierungen sein, obgleich er der eine Gott ist und bleibt. Dieselbe Denkschwierigkeit, welche die Trinitätslehre belastet, kehrt an einer anderen Stelle wieder, wo kein Mensch daran denkt, sie als unvernünftig zu beurteilen. Wie die Vielheit der Einzeldinge zu einer Einheit zusammenzubringen sei, ist eines der ältesten und rätselhaftigsten philosophischen Probleme. Bis heute stehen sich Pluralismus und Monismus unausgeglichen gegenüber. Beide sind notwendige Denkweisen zur vernünftigen Betrachtung des Weltalls, auf die nicht verzichtet werden kann. Sie lassen sich aber nicht ohne logische Härten miteinander verbinden. An diesem Umstande hat in der naturphilosophischen Betrachtung noch nie jemand Anstoß genommen, sondern ihn einfach als gegebenen Tatbestand hingenommen. Darf man nicht vielleicht sagen: was der Philosophie recht ist, das ist der Trinitätslehre billig.

Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass alles, was wir vom übersinnlichen Wesen Gottes aussagen, nur ein Bild ist, um uns das Unbeschreibliche annähernd zur Anschauung zu bringen. Die Dreieinigkeitslehre besagt demnach genau genommen gar nicht, dass drei absolut selbständige Persönlichkeiten wirklich so, wie wir sie denken, in Gott vorhanden sind. Sondern auf ihren präzisesten Ausdruck gebracht, lehrt sie: Gottes Wesen ist so reich, dass wir die Fülle seiner Offenbarung nur zur Anschauung bringen können, wenn wir drei selbständige Persönlichkeiten in ihm tätig denken. Wenn Menschengeist das verrichten würde, was Gott tut, so würden wir die Zusammenarbeit dreier besonderer Individualitäten konstatieren können. Wir nehmen dasselbe daher auch für das innere Wesen der Gottheit an, vergessen aber nicht, dass die Drei in Gott nicht getrennte menschliche Personen sind. Wie Gott es macht, dass seine dreifaltige Persönlichkeit eine Einheit bildet, ist sein Geheimnis. Wenn wir die Anschauung des Übersinnlichen besäßen, würden wir es wahrscheinlich begreifen können. Da sie uns versagt ist, müssen wir uns mit dem mangelhaften und widerspruchvollen Bilde der Dreipersönlichkeit behelfen.

Mir scheint, dass so die Denkschwierigkeit ihr Anstößigkeit verliert und dass man von hier aus der Dreieinigkeitslehre eine wichtige Bedeutung zuschreiben kann. Sie ist wirklich ein volltönender, wertvoller Abschluss der christlichen Gotteslehre.

Erstens ist sie eine kräftige kurze Zusammenfassung dessen, was die Fülle der geschichtlichen Offenbarung bietet.
Wenn die Formel: Vater, Sohn und Heiliger Geist gebraucht wird, klingt in der Seele des Gläubigen immer etwas von der Freude am Großen, das auf Golgatha, zu Ostern und zu Pfingsten geschah, mit.

Zweitens ist sie ein ständiger Protest gegen die Verflachung des Gottesbegriffes.
An ihr wird uns die Unermesslichkeit und Unerforschlichkeit des Gottesgeistes immer wieder von neuem klar. Wie wüschen keinen Gott, der in bequemen, glatten Formeln gedacht werden kann. Unser Gott muss größer sein als menschliches Denken. Deshalb freuen wir uns, dass seine Offenbarung ihn nur noch geheimnisvoller und tiefer macht. Denn nie ahnen wir die Unergründlichkeit des Mysteriums der Gottheit stärker, als wenn er sich uns als der dreieinige Gott offenbart. S.293-323
Aus: Karl Girgensohn: Zwölf Reden über die christliche Religion. Ein Versuch modernen Menschen die alte Wahrheit zu verkündigen. C.H. Beck´sche Verlagsbuchhandlung, Oskar Beck, München 1907