Martin
Kähler (1835 - 1912)
>>>Gott
inhaltsverzeichnis
Der sogenannte historische
Jesus
Der geschichtliche biblische
Christus
Der
sogenannte historische Jesus
Meinen Mahnruf kann und will ich recht auffallend in das Urteil zusammenfassen:
Der historische Jesus der modernen Schriftsteller
verdeckt uns den lebendigen
Christus. Der Jesus der »Leben
Jesu« ist nur eine moderne Abart von Erzeugnissen
menschlicher erfindender Kunst, nicht besser als der verrufene dogmatische
Christus der byzantinischen Christologie; sie stehen beide gleich weit von dem
wirklichen Christus. Der Historizismus ist an diesem Punkte ebenso willkürlich,
ebenso menschlich hoffärtig, ebenso vorwitzig und so »glaubenslos-gnostisch«
wie der seiner Zeit auch moderne Dogmatismus. Das gilt von beiden als »Ismen«.
Ich beginne mit der Frage: Was heißt »historischer
Jesus«? Diese Bezeichnung hat eine Geschichte nicht minder als
die philosophischen Termini; und die Jungen ahnen großenteils gar nicht
mehr, was er in den früheren Schriften bedeutet. Zu allererst hat er den
biblischen Christus dem
dogmatischen entgegenstellen wollen, nämlich den lebensvollen,
anschaulichen Menschensohn in seinem Tun, Reden und Erleben jener Zeichnung
in Begriffen, welche in dünnen Umrissen, die dem Denken so schwer vereinbaren
Grundlagen dieses einzigen Lebens aufzeigen sollte.
Und da der vierte Evangelist ihn als das
ewige Wort bekennt, so wird man eigentliche Berichte nur bei den sogenannten
Synoptikern zu suchen haben. Allein, alsbald fand sich die Einsicht, daß
auch hier schriftstellerische Absicht, fromm umgestaltende
Sage, unwillkürliche Entstellung gewirkt habe, und nun blieb nichts
andres übrig, man mußte auf die Suche nach dem historischen Jesus
ausziehen, der hinter den urchristlichen Berichten,
ja hinter dem Ur-Evangelium steht, undeutlich durchscheinend.
Das ist nun eifrig getan; manchem aber will es scheinen: Obwohl man mit Spießen
und Stangen ausgezogen ist, »er ging hinaus, mitten durch sie hinstreichen«. Wenn er aber unter sie tritt mit seinem »Ich bin’s«,
wer wird nicht erschüttert zusammenbrechen?!
Ich sehe diese ganze »Leben-Jesu-Bewegung«
für einen Holzweg an. Ein Holzweg pflegt
seine Reize zu haben, sonst verfolgt man ihn nicht; er ist gewöhnlich auch
zunächst ein Stück des richtigen Weges, sonst gerät man gar nicht
auf ihn. Mit anderen Worten: wir können diese Bewegung nicht
ablehnen, ohne sie in ihrer Berechtigung zu verstehen.
Sie ist durchaus im Rechte, sofern sie die Bibel wider abstrakten Dogmatismus
setzt; sie verliert ihr gutes Recht, sobald sie beginnt, an der Bibel herum
zu schneiden und zu reißen, ohne sich über die besondere Sachlage
an diesem Punkte und über die eigentümliche
Bedeutung der Schrift für diese Erkenntnis völlig klar geworden
zu sein.
Die Überlieferung von Ihm kann gar nicht emsig und treu genug ausgeschöpft
werden. Nun versenkt man sich in sein Tun und Lassen; man sucht es zu verstehen;
man verfolgt es in seinen Voraussetzungen; man versenkt sich in sein Bewußtsein;
in sein Werden, ehe er hervortrat — man geleitet
den jugendlichen Jesus durch die Klüfte und Felder, an der Mutter Schoß,
in des Vaters Werkstatt und in die Synagoge — — und man ist eben
auf dem Holzwege.
Denn die erste Tugend echter Geschichtsforschung ist die Bescheidenheit; Bescheidenheit
kommt von Bescheid wissen; und wer Bescheid weiß mit geschichtlichen Tatsachen
und Quellen, der lernt Bescheidenheit, sowohl im Wissen als auch im Verstehen.
Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche
ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen
kann Ich betone: für eine Biographie Jesu von Nazareth von dem Maßstabe
heutiger geschichtlicher Wissenschaft.
Die neuere Biographie sucht ihre Stärke in der psychologischen Analyse?
in dem Aufweise der Fülle und Kette von Ursachen, aus welchen die Erscheinung
und Leistung des geschilderten Menschen entsprungen ist; so fordert denn die
echte Menschheit dieses Jesus jedenfalls, daß
man sein Werden verstehe, die langsame Entwicklung
seiner religiösen Genialität, das Durchbrechen seiner sittlichen Selbständigkeit,
das Aufdämmern und Aufleuchten seines messianischen Bewußtseins.
Die Quellen aber enthalten von dem allen nichts, auch
gar nichts.
Vor einem Dogma, wenn es ehrlich als solches geboten wird, ist heute jedermann
auf seiner Hut. Erscheint aber die Christologie
als Leben Jesu, dann sind nicht sehr viele, welche den dogmatisierenden Regisseur
hinter dem fesselnden Schauspiel des farbenreich gemalten Lebensbildes spüren.
Den verborgenen Dogmatiker aber spürt gewiß niemand so sicher heraus,
als wer selbst ein Dogmatiker ist; wer sich gewöhnt hat, die Fortwirkungen
von Grundgedanken in allen einzelnen Urteilen mit Bewußtsein und Absicht
zu verfolgen. Und darum wird der Dogmatiker ein Recht haben, hier
eine Warnungstafel vor der angeblich voraussetzungslosen Geschichtsforschung
aufzurichten, wenn sie eben aufhört, Forschung zu sein und zum künstlerischen
Gestalten fortschreitet. — Und weil es in Prosa, etwa auch auf
der Kanzel, geschieht, meint man, das sei eben nur Darlegung des geschichtlichen,
biblischen Christusbildes. Weit gefehlt. Es ist zumeist
der Herren eigner Geist, in dem Jesus sich spiegelt. Und das hat doch
hier in der Tat mehr zu besagen als auf anderen Gebieten.
Der
geschichtliche biblische Christus
Deshalb treiben wir Verkehr mit dem Jesus unserer Evangelien,
weil wir da eben den Jesus kennenlernen, den unser
Glaubensauge und unser Gebetswort zur Rechten Gottes
antrifft; weil wir es mit Luther wissen, daß
Gott sich nicht will finden lassen als in seinem lieben
Sohne, weil er uns die Offenbarung ist; richtiger und ausdrücklich:
weil er uns das Fleisch gewordene Wort,
das Bild des unsichtbaren Gottes, weil er uns der offenbare Gott ist.
Das sucht der Glaubende. Das feiert die Gemeinde. Die wenigsten können
die Arbeit der Historik vollziehen, nur wenige kraft ihrer Bildung diese Arbeit
in etwa beurteilen. Des Ansehens der Bibel wären wir dann freilich enthoben,
aber dem Ansehen — nicht einer arbeitenden Wissenschaft, sondern —
der angeblichen Ergebnisse dieser Wissenschaft wären wir unterworfen. Und
niemand kann uns die Frage beantworten: bei welchem fünften
Evangelisten sollen wir das Bild des erhöhten Christus,
das Bild des offenbaren Gottes suchen? bei
welchem Biographen? wir haben die Wahl in einer Reihe von Heß
und Zündel über David
Strauß bis hin zu Renan,
Noack, der sozialdemokratischen Pamphlete zu schweigen.
Entweder also müssen wir auf den offenbaren Gott verzichten — oder
es muß eine andere Wirklichkeit Christi geben als die des biographischen
Einzelwerkes; einen andern Weg, zum geschichtlichen Christus zu gelangen,
als den der quellen-prüfenden und historisch-analogisch konstruierenden
Kritik der historischen Theologie. Besinnen wir uns! Was ist denn eigentlich
eine geschichtliche Größe? ein seine Nachwelt
mitbestimmender Mensch nach seinem Wert für die Geschichte gewogen? Eben
der Urheber und Träger seiner bleibenden Fortwirkung. Als wirkungsfähiger
greift der Mensch in den Gang der Dinge ein; was er dann ist, das wirkt, dadurch
wirkt er. Bei Tausenden, deren Spuren in der Entwicklung der Zeitgenossen und
der Nachwelt sich erst spät oder nie verwischen, bleibt ihre
frühere Entwicklung für die Forschung das unter dem Boden versteckte
Wurzelwerk, bleibt auch das einzelne ihres Wirkens für immer vergessen.
In ihrem Werke lebt die reife, die geschichtsreif gewordene Persönlichkeit;
und an dieses Werk knüpft sich dann in unvergeßlichen Zügen
und Worten auch wohl ein unmittelbarer Abdruck ihres wirkungskräftigen
Wesens; und als Wirkung ist derselbe notwendig mitbestimmt, durch den Stoff,
in dem er sich abprägt, durch die Umgebung, auf welche er zu wirken hatte
und zu wirken vermocht hat. Schon rein geschichtlich gegriffen
ist das wahrhaft Geschichtliche an einer bedeutenden Gestalt die persönliche
Wirkung, die der Nachwelt auch spürbar von ihr zurückbleibt. Was
aber ist die Wirkung, die durchschlagende, welche dieser Jesus hinterlassen
hat? Laut Bibel und Kirchengeschichte keine andre als der Glaube seiner Jünger,
die Überzeugung, daß man an ihm den Überwinder von Schuld, Sünde,
Versucher und Tod habe. Aus dieser einen Wirkung fließen alle andern;
an dieser haben sie ihren Gradmesser, mit derselben steigen und fallen, stehen
und fallen sie. Und diese Überzeugung hat sich in das eine Erkenntniswort
gefaßt: »Christus, der Herr«.
Zu diesem Bekenntnis hat die Zeitgeschichte nichts getan und noch weniger die
jüdische Theologie. Die erzählende Zeitgeschichte in Josephus
kennt Johannes des Sacharja Sohn. Über
Jesus von Nazareth ist sie stumm. Die wirkliche Zeitgeschichte hat ihn
zu den Toten geworfen; nachdem er glücklich dem Volkswohl zum Opfer gefallen
war (Joh. 11, 49f.), gärt und tobt das Judenvolk
seinem staatlichen Untergange zu, ohne sich um ihn zu kümmern. Der kleine
Haufen der Nazarener kommt dafür nicht in Betracht. Die übrige Welt
hätte sich nie um ihn gekümmert, wenn nicht
Saul von Tarsus ihm eine Gemeinde gesammelt hätte, den aus
dem Senfkorn erwachsenden Riesenbaum, unter dessen Laubdach die Vögel
des Himmels Nester bauen. Vollends die jüdische Theologie und ihre Eschatologie!
Wir wissen doch, wie schwer der unscheinbare Rabbi zu ringen hatte mit den irdischen
Hoffnungen auf einen weltlich-strahlenden Davidssohn, der die Reiche der Welt
und ihre Herrlichkeit seinem Volke zu Füße legen sollte. Was dann
von Zügen jener Bilderwelt jüdischer Erwartung in die bilderreiche
Darstellung christlicher Hoffnung übergegangen ist, das macht noch heute
die Anstöße aus, an denen der hoffende Glaube so leicht mit sich
selbst in Widerspruch gerät.
»Christus der Herr«, diese
Gewißheit kann Fleisch und Blut nicht erlangen, festhalten und mitteilen;
das hat Jesus selbst dem bekennenden
Petrus gesagt (Matth. 16, 17), wie er es
den ungläubigen Juden (Joh. 6, 43 f.) vorhielt;
das hat des Petrus Schicksal
im Vorhof des Hohenpriesters bestätigt; das sagt Paulus
seinen Gemeinden, ihrer Zustimmung gewiß (1. Kor.
12,3). Wo aber diese Gewißheit entstanden ist und gewirkt hat,
da ist sie urkundlich gebunden gewesen an die andre, daß er der
Lebendige sei, der Gekreuzigte und Auferstandene. Und wo man in den Verhandlungen
der Historiker nach dieser Gewißheit fragt, da setzt man nicht ein bei
den viel umstrittenen abgerissenen letzten Erzählungen der Evangelisten;
vielmehr verhandelt man über das Erlebnis des Paulus; man stellt den ununterbrochenen
Glauben der Gemeinde fest, so hoch und so weit man ihre Zeufgnisse und Spuren
verfolgen kann. Der auferstandene Herr ist nicht der historische
Jesus hinter den Evangelien, sondern der Christus der apostolischen Predigt,
des ganzen Neuen Testamentes. —
Und wenn dieser Herr Christus
(Messias) heißt, so liegt darin das Bekenntnis zu seiner geschichtlichen
Aufgabe oder, wie man heut sagt: zu seinem Berufe, und wie unsere Alten mit
demselben sachlichen Werte des Ausdruckes sagten: zu seinem
dreifachen Amte; das heißt: das Bekenntnis zu seiner einzigartigen, übergeschichtlichen
Bedeutung für die ganze Menschheit. Dieser seiner Messianität oder
Christuswürde sind sie aber gewiß geworden im Widerspruche mit der
öffentlichen Meinung, sowohl über die
»Idee« des Messias, das heißt darüber, wie man
sich einen Messias dachte und was man von ihm forderte,
als auch über die Person dieses Jesus von Nazareth
— damals gerade so wie heute. Und wenn man hinterher, in Briefen und Evangelien
und zu allererst in Predigten, daran ging, diese Messianität
glaubhaft zu machen, so waren es immer zwei Beweistümer,
deren man sich bediente: persönliche Bezeugung seiner
Auferstehung und — Schrift.
Er als der Lebendige ist ihnen der Messias des alten Bundes.
Und darum sprechen auch wir von dem geschichtlichen
Christus der Bibel. So gewiß nicht der historische Jesus, wie er
leibte und lebte, seinen Jüngern den zeugniskräftigen Glauben an ihn
selbst, sondern nur eine sehr schwankende, flucht-und
verleugnungsfähige Anhänglichkeit abgewonnen hat, so gewiß
sie alle mit Petrus zu einer lebendigen Hoffnung
wiedergeboren wurden erst durch die Auferstehung Jesu von den Toten (1.
Petr. 1,3); so gewiß sie der Erinnerung des Geistes bedurft haben,
um zu verstehen, was er ihnen bereits gegeben hatte, und zu fassen, was sie
damals nicht tragen konnten (Joh. 14, 26; 16,12; 13);
so gewiß sie nachher nicht herausgetreten sind, um ihn durch Verbreitung
seiner Lehre zum Schulhaupte zu machen, sondern um seine Person und ihre
unvergängliche Bedeutung für einen jeden Menschen zu bezeugen; ebenso
gewiß waren sie auch erst dann imstande, sein Sein und Gehaben, sein
Tun und sein Wort als die Darbietung der Gnade
und Treue Gottes zu erfassen, da er vollendet
vor sie trat, er selbst die Frucht und der ewige Träger
seines Werkes von allumfassender unvergänglicher Bedeutung; und zwar jenes
Werkes, dessen schwerstes und entscheidendes Stück des historischen Jesus
Ende war.
Ob wir auch den Messias nach dem Fleische gekannt
haben, so kennen wir ihn nun doch nicht mehr (2. Kor.
5,16).
Das ist der erste Zug seiner Wirksamkeit, daß er seinen Jüngern den
Glauben abgewann.
Und der zweite Zug ist und bleibt, daß dieser Glaube bekannt wird.
Daran hängt seine Verheißung (Röm. 10,
9.10); daran hängt für uns die Entscheidung; daran hängt
die Geschichte der Christenheit. Der wirkliche, das heißt
der wirksame Christus, der durch die Geschichte der Völker schreitet, mit
dem die Millionen Verkehr gehalten haben in kindlichem Glauben, mit dem die
großen Glaubenszeugen ringend, nehmend, siegend und weitergebend Verkehr
gehalten haben — der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus.
Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte;
der Jesus, den wir mit den Glaubensaugen ansehen in jedem Schritt, den
er tut, in jeder Silbe, die er redet; der Jesus, dessen Bild wir uns einprägen,
weil wir daraufhin mit ihn umgehen wollen und umgehen als mit dem erhöhten
Lebendigen. Aus den Zügen jenes Bildes, das sich den Seinigen in großen
Umrissen hier, in einzelnen Strichen dort tief eingeprägt und dann in der
Verklärung durch seinen Geist erschlossen
und vollendet hat, — aus diesen Zügen
schaut uns die Person unsres lebendigen Heilandes
an, die Person des fleischgewordenen Wortes, des
offenbaren Gottes. Das ist nicht versichernde Predigt — das ist
das Ergebnis haarscharfer Erwägung der vorliegenden Tatsachen;
das ist das Ergebnis der sichtenden und prüfenden Dogmatik, nur darum in
Schriftwort gekleidet, weil es eben mit diesem Schriftwort übereinstimmt.
— Soll eine solche Schriftmäßigkeit etwa einen Verdachtgrund
gegen eine solche Dogmatik hergeben? und zwar auf dem Boden einer refor¬matorischen
Theologie?! S.287ff.
Enthalten in: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben
von Wolfgang Philipp, Band VIII der Reihe »Klassiker des Protestantismus«,
Carl Schünemann Verlag Bremen