Karl Martin August Kähler (1835 – 1912)
Deutscher
evangelischer Theologe,
der in seiner Jugend ganz in dem Bann Goethes stand und in seiner inneren Entwicklung wesentlich vom deutschen Idealismus beeinflusst wurde. Kähler studierte in Königsberg, Heidelberg, Halle und Tübingen. 1860 habilitierte
er sich in Halle und lehrte als a. o. Professor in Bonn (seit
1864) und Halle (seit 1867), wo er dann 1879 ein Ordinariat erhielt. Er war insbesondere
Schüler Tholucks, von dem er auch entscheidend
gefördert wurde. Kähler wird – neben Cremer und Schlatter – zu den Hauptvertretern einer biblischen Theologie gezählt.
Entsprechend beschäftigte er sich in hohem Maße mit der theologischen
Erschließung der Bibel, die für ihn als »sich
selbst ausgelegte Schrift« das Fundament der Theologie war.
Die liberale Leben-Jesu-Forschung lehnte er ab, weil sie das Evangelium
Jesu - nicht als gegenwärtigen Glaubensgrund, sondern - als Resultat
historischer Quellenforschung auffasst. »Ich
sehe diese ganze >Leben-Jesu-Bewegung< für einen Holzweg an.« »Gott lässt sich nur in Christo finden, und Gott will uns nur
in Christo haben. Christus aber ist das geschichtliche Individuum mit dem
Prolog des alten Bundes und mit dem Epilog seiner Bekenntniskirche, seiner
Kirche mit der Bibel!« Siehe auch Wikipedia , Heiligenlexikon und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Unbewusstes
und bewusstes Christentum
[…] Was das Christentum, was Christus, »diese
geschichtliche Tatsache von einzigartiger Bedeutung« sei, das wird
die Menschheit erkennen, wenn sie den unendlichen
Prozess wissenschaftlicher Entwicklung durchlaufen hat, d. h.
eben weil derselbe unendlich ist, nie. Bis dahin begnügen wir uns, mit
den Versuchen, diese tiefste Rätsel zu lösen, da doch einmal der Mensch
kraft seiner Erhabenheit über das Tier nicht darauf verzichten kann, solche
Versuche zu machen. Aber jeder mache seinen Versuch für sich; er erhebe
nicht den Anspruch, dass er auch andern für wahr gelte; vornehmlich mute
er unsrer Zeit nicht zu, dass sie die alten kirchlichen Erkenntnisse annehme,
wie wahr sie auch sein mögen; denn diese Zeit wendet sich mit
Notwendigkeit von allem Übermenschlichen, Ungewöhnlichen ab.
Man mute ihr auch ferner nicht zu, dass sie im Glaubengehorsame sich beuge.
Denn dazu hat man kein Recht. Mit dem klaren Ausdrucke des Wissens um das Christentum
beginnt die Theologie,
die Wissenschaft vom Christentum; das Christentum aber
ist nicht Gedanke, sondern Tat und Leben. Darum bleibe das Christentum,
das in den Menschen lebte und wirkte, ohne dass sie darum wussten, auch wenn
sie nun darum wissen, eine gefühlte und bewährte Macht, aber wissenschaftlich
unbewusst. Sonst möchte es unter diesem hellen Lichte zerschmelzen, oder
seine wärmende zündende Macht würde von der Kristallsäule
der Vernunft in das kühle Farbenspiel des Regenbogens zerlegt.
Das ist modernes Christentum, das ist unbewusstes
Christentum unsrer Tage. Unbekannt und unerkennbar wandelt durch seine
Dämmerung das Gespenst eines vor Jahrhunderten verstorbenen Mannes ohnegleichen.
Und wenn er hervorträte aus den Nebeln dieser Nacht, wenn er an das Schifflein
dieser Gemeinde träte und spräche sein gewaltiges »Ich
bins«, wie könnte ihm der zuversichtliche trostreiche
Ruf antworten: »Es ist der Herr«?
Wie könnte der Mund eines solchen unbewussten Christen, wenn jene Gestalt
seine Hände nähme und seine Finger in ihres Leibes Narben legte, anbetend
aussprechen: »Mein Herr und mein Gott«?
Und wollten wir das »glauben« nennen, wenn diese
unbewussten und nicht wissenden Christen sich dem Zugeständnisse nicht
entziehen können, dieses Kultur erzeugende und pflegende Christentum weise
zurück auf eine außerordentliche Ursache – und wie gering ist
die Zahl derer, welche klar genug denken, um nur dieses einzusehen! - , wollten
wir das im Widerspruche mit Schrift und Christenerfahrung »glauben«
nennen, sie könnten nur das gemeinsame Bekenntnis aussprechen: wir wissen
nicht, an wen wir glauben.
Wahrlich, das letzte Bekenntnis, welches wir diesem modernen Christentum ablockten,
es lautet sehr verschieden von dem apostolischen Worte, welches zuerst mit der
klaren Frische eines Wintertages und doch zugleich mit der Lebensfülle
eines Lenzmorgens in unsre Herzen fiel! Oder gibt es hier nur einen Wortstreit,
erwachsen unter dem vielen Unkraut auf dem in Disteln aufschießenden Acker,
an dessen Rand die Tafel steht mit der warnenden Aufschrift »Glauben
und Wissen«? Es ist doch keine täuschende Einbildung, wenn
wir uns sagen: tausende gehen hin, ihre Seele in Dunkel gehüllt, welches
des Lebens Entfaltung hindert, ihr Herz von Fragen gequält, die wie scharfe
Messer die Sehnen ihrer Arbeitskraft durchschneiden, und vermöchten wir
es, ihr Auge vertrauend auf das Kind zu Bethlehem zu richten,
sie würden zu neuem Leben in klarer kräftigender Freiheit erwachen.
–
Wir erkennen es an, dass seit Jahrhunderten das Christentum die entscheidende
und herrschende Macht in der Kulturentwicklung ist, dass seinem lebenskräftigen
Samen die edelsten Bildungen derselben entstammen. Ist dem so, dann greift sein
Machtgebiet auch weit hinaus über die engen und verborgenen Kreise, welche
in ihm bewusst das Heil erkannten. Sind doch gerade diese nicht selten geneigt,
jene herrlichen Erzeugnisse nur als Bastarde anzusehen und zu urteilen, nur
um das Opfer der Anteilnahme an ihnen könne man den Zutritt zum Heiligtum
erkaufen. Gibt es da nicht in der Tat weite Gebiete, über denen die Inschrift
mit Recht glänzt: »Unbewusstes Christentum«?
Ja, tun wir Unrecht, wenn wir seit Spener und Francke, seit Menken
und Schleiermacher
mit einem tiefgewurzelten Misstrauen auf jene Rechtgläubigkeit schauen,
die da meint, den Geist des Christentumes in klare Lehrformeln, gleichsam in
scharfkantige diamantene Kristalle gebannt zu besitzen, welche aber auch die
Kräfte, die das Leben wandeln und zusammenschließen, in starre Denkzeichen
verwandelt hat? Die Herzenstheologie hat doch wohl
nicht ohne Grund die sogenannte Orthodoxie von Kanzel und Lehrstuhl verdrängt,
Scheint es denn nicht besser getan, die Christen in der unbestimmten Weite eines
nicht klar bewussten Christentums zu erhalten, ihre Herzen seinen unbewussten
Antrieben zu überlassen? – zumal da bei jedem Schritt in die Theologie
hinein die neuere Wissenschaft eine Frage entgegenbringt, welche die Zuversicht
des Gefühles in die Pein des Zweifels zu verwandeln droht; zumal da auf
jedem Tritte des denkenden Eindringens in die Geheimnisse des Glaubenslebens
die Gefahr lauert, dass ein jeder anders denke und mir dem Missverständnis
die Entfremdung sich einstelle!
Solchen Betrachtungen haben wir im ersten Augenblicke nicht leicht etwas entgegenzusetzen.
Die unleugbare Wahrheit derselben scheint der Lehre vom unbewussten Christentum
eine gegründete Grundlage zu bieten. Und doch stimmen wir nur zaudernd
ein; zu dem Zuge unsres christlichen Lebens stimmt viel harmonischer das helle
Zeugniswort des Apostels: ich weiß, an wen ich glaube. Gibt es aus diesem
Zwiespalte keinen Ausweg? Mir deucht, es könne nicht verlorene Mühe
erscheinen, wenn wir einen solchen suchen. Gelingt es uns, das Echte aus jenen
allgemeinen Betrachtungen auszusondern, so werden wir imstande sein, dem
unbewussten und dem bewussten Christentum ihre Grenze zu ziehen.
Wir werden erkennen, dass man in dem vorliegenden Gebrauche dem Namen Christentum
eine unzulässige Weite verleiht. Denn vor dem klaren Licht apostolischer
Einsicht teilen sich die verschwimmenden Wolkengebilde, indem die
Empfänglichkeit für das Christentum samt seinen sittigenden
Wirkungen sich von seiner vollkräftigen Verwirklichung im Glaubensleben
der einzelnen und der Gemeinde scheiden. Wir werden aber zugleich uns
dessen erinnern, dass es verschiedene Stufen und Arten der Bewusstheit geistigen
Besitzes gibt; und nach dieser klaren Bestimmung wird sich das Urteil über
Notwendigkeit und Entbehrlichkeit, über fördernden oder schädigenden
Einfluss dieser verschiedenen Arten und Stufen der Bewusstheit bemessen.
Unter denen, denen die Aufgabe zugefallen ist, die Wahrheit und Unentbehrlichkeit
des Christentumes auch dem forschenden Verstande darzutun, vererbt sich ein
Grundgedanke, auf den sie zuletzt immer zurückkommen. Es ist die Erkenntnis,
dass eine unleugbare Übereinstimmung zwischen dem wahren Wesen des Menschen
und allem dem besteht, was unsre Religion mitzuteilen behauptet und was ihre
Bekenner ihr zu verdanken bezeugen. Dieser Gedanke hat einen ansprechenden Ausdruck
in dem Worte des afrikanischen Apologeten Tertullianus
erhalten, dass die menschliche Seele von Natur eine Christin sei. Was aber war
es, worin er dies Zeugnis fand? Es war vornehmlich die Beobachtung, dass in
Augenblicken innerster Erregung das Gemüt der Heiden die Fesseln des überlieferten
Aberglaubens bricht und ahnend Andacht und Gesuch um Hilfe an den einen
Gott richtet. Diese einzelne Äußerung,
welche dem tiefsinnigen Bekenner aufgefallen ist, dürfen wir nur als Beispiel
einer ganzen Reihe gleichartiger Erscheinungen betrachten. Es verhält sich
in der Tat so, dass Ahnungen in jeder Menschenseele ein traumhaftes Leben führen,
Bedürfnisse in ihr bald schlummern, bald laut, wenn auch unverstanden,
sich vernehmbar machen, die unter helles Licht treten und ihre erquickende Befriedigung
finden, wo das zeugungskräftige Wort christlicher Verkündigung erschallt
und als Same eines neuen geistigen Lebens in das Herz fällt.
Gehen wir einen Augenblick dem Menschenleben dahin nach, wo es allein seinen
eigenen Kräften überlassen ist und zugleich seine eigentlichen Tiefen
unbefangen unsrer Beobachtung erschließt! Es war dem natürlichen
Menschen eine unliebsame Kunde, welche der unerbittlich strenge große
Denker unsres deutschen Nordens, der Cato Censorius unter
den neueren Philosophen brachte, aber sie entstammte einem scharfen Blick in
unser Herz. Es wird, so lehrt Kant, in unsrem Innern
ein Befehl laut, ohne einen Grund für sein Ansehen anzugeben, ohne irgendeine
Bedingung für seine Geltung zuzugestehen. Im Namen
der heiligen Pflicht, die wir nicht aus eigner Vollmacht über uns nehmen,
die vielmehr mit uns geboren wird, fordert er selbst das Opfer unsres Lebens.
Wenn nun alles in unsrem natürlichen Dasein außer und in uns sich
empört gegen dieses Gesetz, woher diese Stimme so unbeugsam in ihrer Forderung,
so unentfliehbar in ihrer Obmacht, dass dem Empörer unrettbar die Stunde
schlägt, in der sie ihn vor den Richterstuhl fordert und ihren Wahrspruch
durch Strafen bekräftigt, mit deren Qual sich kein noch so herbes Geschick
vergleichen lässt?
Sie ist die Zeugin von unsrer höheren Natur, der
unser erscheinendes Wesen entfremdet ist; die Prophetin einer heiligen Macht,
der wir diese Natur verdanken und die bis in unser Herz hinein das Recht geltend
macht, welches sie mit derselben unsrem Tun gesetzt hat. So entstammt
denn, was immer von Pflichttreue zu Stand und Wesen kommt, einem den meisten
verborgenen Quell; und wem es sehr mangelhaft bleibt, wenn es statt eines sicheren
klaren Fortbauens zumeist nur einzelne voneinander gerissene Handlungen sind,
in denen wir sie erkennen, so deute das darauf hin, dass die volle Kraft nur
dann sich entwickeln mag, wenn die Hülle entfernt, wenn jene befehlende
und richtende Macht auch noch in andrer Weise Bundesgenosse im Streite der höheren
Natur gegen die niedere wird. »Alle Sittlichkeit
ist unbewusste Religion«(Jul.
Müller), aber kräftige vollendete Sittlichkeit ist nur
da, wo sie bewusst und tatsächlich religiös wird. Im Gewissen kündet
sich das Bedürfnis einer sittlichen Religion an, d. h. einer Religion,
welche das gesamte sittliche Leben umspannt und mit erneuernder Kraft durchdringt.
– Aber weiter peinigende Rätsel treten uns an diesem Punkt entgegen.
Es ist nur der Widerschein jener harten Forderung, wenn unser Dichter sagt:
Das Leben
ist der Güter höchstes nicht,
Der Übel größtes ist allein der Schuld.
Doch dieses Wort ist ja eine markerschütternde Klage um den Unwert und
die Flüchtigkeit des Lebens, das wir trotz allem als die Grundbedingung
aller irdischen Güter anerkennen müssen – zugleich
eine schmerzende Klage um das Siechtum unsres edleren Wesens und um die Verderbtheit
der Welt, durch welche das größeste Übel, die Schuld, unvermeidbar
wird. Wo liegt die Lösung dieses Doppelzwiespaltes? Mit derselben
verzichtenden Klage, die doch notwendig die Verwahrung gegen eben diesen Verzicht
in sich schließt, mit einem bitteren Weheruf schließt im Grunde
die griechische Tragik; sie fand keine Scheidung und keine Versöhnung zwischen
Schuld und Schicksal in ihrer heillosen unentwirrbaren Verschlingung. Ihre innere
Zerrissenheit ist der Notschrei nach einer Macht, welche das Geschick in Zusammenstimmung
hält und bringt mit der Sittlichkeit; welche der Pflichttreue das höhere
Leben verbürgt, wenn ihr das niedere geopfert werden soll; welche von jener
Schlinge uns entstrickt, deren sinnenbetörende Verwirrung das Wort des
bitteren Vorwurfes zeichnet:
Ihr führt
ins Leben uns hinein,
ihr laßt den Armen schuldig werden,
überlaßt ihr ihn der Pein,
denn jede Schuld rächt sich auf Erden.
Unser ganzes Leben erweckt das Fragen nach einer sittlichen
Weltordnung, deren Hand nicht nur die starre schneidende Durchführung einer
ewigen Notwendigkeit verwaltet, sondern auch den heilenden Balsam einer Sühne
für die tatsächlich unvermeidliche Verschuldung bereit hält.
– Und welcherlei macht mag das sein? Es klang ja wohl heidnisch,
und war ja auch im eigne Denken echt heidnisch gemeint, wenn der jugendliche
Schiller in seltener Pracht der Sprache den toten
Gott schmähete, unter dessen ruhigen Thronen die Welt sich wie eine Maschine
abspielt, und um die verlorene Herrlichkeit der Hellenen klagte:
Da die Götter menschlicher
noch waren,
waren die Menschen göttlicher.
Und doch birgt sich hinter der ästhetischen Hülle ein Heidentum, welches
vom wahren Menschenleben eine wärmere Erinnerung bewahrt als jene angeblich
christlich bestimmte Pflicht-Philosophie. Hier kommt das Sehnen nach der lebendigen,
nahenden, sich kundtuenden Gottheit zu Worte, deren sich das landläufige
Christentum in Kants Tagen so ziemlich entschlagen
hatte; das Sehnen, dem das Versprechen antwortet:
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
und sie steigt von ihren Weltenthron.
Auch dies Versprechen, wie es gemeint war, ist freilich ein Wahn, aber doch
ein Seherwort, dessen Gehalt hinaus geht über des Redenden nächstes
Verständnis.*
*Schiller, das Ideal und das Leben.
Vergleiche die beiden zusammengehörigen Strophen, welche von dem sittlichen
Ideal und der Schuld handeln; sie nehmen nur die religiöse Sühne,
welche das Christentum geschichtlich bietet, in ästhetisch-spiritualistischer
Verflüchtigung voraus. Dieser Idealismus, wie er ähnlich in Goethes
Iphigenie erscheint, spricht hier klarer die Forderung des göttlichen Wirkens
aus, erkennt schärfer die Schuld an und legt Verwahrung gegen den flachen
deistischen Moralismus und Optimismus ein, der neuerdings wieder um sich greift,
nur in pantheistischer Verschlechterung. – Es kam hier selbst verständlich
nur darauf an, daran zu erinnern, dass die Bedürfnisse einzeln laut werden,
welche die gemeinsame Befriedigung nur in der Heilsoffenbarung des lebendigen
Schöpfers finden.
Sei es genug an diesen Zeugnissen, dass die menschliche
Seele in ihrem höchsten Dichten und Trachten eine Christin ist;
es ist nicht unsere Aufgabe alle jene Strahlen zu sammeln, welche die Nacht
des alten und neuen Heidentumes durchbrechen. Welcher Art aber diese natürliche
Beziehung auf das Christentum sei, kann uns nicht länger verborgen bleiben.
Stellen wir die Frage: ist das Christentum? So
lautet die selbstverständliche Antwort: ebenso gewiss, als Hunger Sättigung,
als Bedürfnis Befriedigung ist. Es ist ein Verlangen, das nicht aufhört
sich fühlbar zu machen, ein Sehnen nach
Christentum, welches aber dieses seines Zieles unbewusst bleibt, bis dasselbe
sich ihm als Erstattung alles Mangels darbietet. –
Oder wäre es etwa so, wie eine philosophische Theologie uns einreden will,
wenn sie lehrt: der natürliche Mangel wandelt sich mit innerer Notwendigkeit
in Reichtum; sobald dem Menschengeiste sein Bedürfnis nur hell in das Bewusstsein
tritt, findet er in seiner eignen Kraftfülle auch die Befriedigung, und
das Christentum ist nichts, als das aus den Tiefen des gesamten geistigen Lebens
sich emporringende Bewusstsein von solcher in demselben schlummernden Kraft?
Waren etwa so die ergreifenden Worte des »Stifters
unsere Religion« gemeint (Matth. 5, 3-11;
Luk. 6, 21. 22.), da er die ihm Nahenden mit jenen Seligpreisungen begrüßte,
welche in eines jeden Menschen Brust den vollsten Widerhall finden? Ich denke,
jeder unbefangene Sinn hat ihn anders verstanden.
Die verkündete Seligkeit ruht nicht auf einer Reife gleich der des Keimes,
der nur des günstigen Bodens bedarf, um aus innerer Macht die Pflanze aufwärts
zu treiben, vielmehr auf einer Reife der Empfänglichkeit,
welche durch das erweckende Wort zur vollen Erkenntnis innerer Machtlosigkeit
gezeitigt, fähig ist, die schöpferische Zeugungskraft in sich aufzunehmen
und walten zu lassen. Nicht dem, der mit kraftloser Scheinnahrung sich
überfüllt hat, sondern dem, der den Hunger mit Schmerzen fühlt
und nach echter Speise umschaut, kann dieser Mann selbst zum Himmelsbrote des
Lebens werden.- S.120-126
[…]
Aus: Martin Kähler, Zeit und Ewigkeit, Der Dogmatischen Zeitfragen III:
Band, Leipzig, 1913 . A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung
Der
Menschheit Fortschritt und des Menschen Ewigkeit
Das füllt mit Jubel, füllt mit Klage
Die Blätter der Geschichte Jahr für Jahr:
Die Menschheit schreitet fort mit jedem Tage,
Der Mensch bleibt immer, der er war,
Geibel
[…] Der Strom mit seinem anmutenden Wechsel innerhalb
der beschränkenden Ufer; das Meer grenzenlos
und immer sich gleich; jener diesem zueilend, - das sind die alten Bilder
für des Lebens Bewegung, in der wir stehen, und für die unwandelbare
Ewigkeit, der
wir bestimmt sind. […]
So freundlich und lockend schaut uns die reich erfüllte Zeit an, belebt
durch den Fortschritt der Geschichte, der sich im einzelnen leicht verstehen
lässt.
Aber nur ahnend erfassen wir den Gedanken der Ewigkeit. Deutend malt ihn die
Dichtung in dem ohne Ende sich wiederholenden Regen der Gewässer, die sich
aus sich selbst gebären, nur um in sich selbst zurückzukehren, ohne
jedoch je von der Stelle zu rücken – bildet die Symbolik ihn ab in
dem unaufhörlich in sich geschwungenen Kreise des
Ringes. Und wenn unsere Natur sich im Innersten von dem Worte Goethes
angesprochen fühlt: »im Wechsel liegt
die Ewigkeit des Lebens«, so schwindelt der Verstand, wenn es gilt,
jene Ewigkeit vom Wechsel zu lösen, und ein
nicht endendes Jetzt zu denken, in dem doch kein Tröpflein einer reich
wechselnden Entwicklung verloren ist. Gleich den unbeweglich
starrenden Augen der schlangenumwallten Medusa wirkt sie in uns bei dem Versuch
eines solchen Hineinschauens ein geistiges Erstarren. Als erdgeborene Kinder
des Tages wenden wir uns so gerne zum bunten, quellenden und wachsenden Leben
zurück. Ja wir möchten eben die Ewigkeit lieber im Wechsel selbst
schauen, und vertrauter, verwandter unseren Zeitmeinungen möchte es Ihnen
scheinen, hätte ich meine Aufgabe gestellt: »die
Ewigkeit der Menschheit in ihrem Fortschritte«.
Und doch hätte ich Ihnen damit nur ein trügerisches Gewebe geboten.
Das folgerechte Denken, das unwillkürliche Zeugnis unserer höheren
Natur, würde alle daran gewandte Mühe mit einem Rucke vernichten.
Ich musste die Ewigkeit in ihrer Erhabenheit von der Entwickelung scheiden,
die von der Zeit beschlossen wird.
Kein Fortschritt für unsere Auffassung ohne Ausgangspunkt
und ohne Ziel, und erst jenseits zeitlicher Ziele
beginnt das Gebiet der Ewigkeit. Nur täuschend schieben wir ihr
das Unding einer endlosen Zeitdauer unter, denn sie kennt kein Ehedem und Dereinst;
was aber in der Zeit ist, das ist nacheinander. Ob auch unser Blick selbst von
den Höhen des Matterhorn oder des Montblanc über den Horizont nicht
hinausträgt, ob dort aller Lande Schranken gefunden, und im schimmernden
Nebel Himmel und Erde sich zu mischen scheint; an jenen Grenzorten angelangt,
schauen wir was jenseits liegt, aber klaffend wie ehedem steht vor uns der Raum
zwischen unserer Heimat und dem Reich der Gestirne.
Gleichermaßen: ob uns auch eine schrankenlos ausgedehnte
Vergangenheit oder Zukunft zur Ewigkeit zu werden scheint, langsam messend
schreiten wir von Zeitpunkt zu Zeitpunkt fort und finden den Verlauf immer noch
messbar. So unvorstellbar und unsicher jene Millionen von Jahren sind, mit denen
unsere Naturforscher rechnen, wenn sie die Entstehung der Erde schildern; ihr
Millionen so gut wie die Siriusweiten, nach denen die Sternenkundigen die Himmelsräume
vermessen, sie zeugen dafür, dass das Endliche aus sich und in sich nie
unendlich wird. Es ist nur die Blödigkeit unseres geistigen Auges, welche
uns solchen Trug vorspiegelt. Wir werden an eine Grenze
des Zeitanfanges geführt, welcher der denkende Verstand eine gleiche
Grenze des Zeitendes an die Stelle stellen muss. Und wenn wir auch eine
Vorstellung von
unbegrenzter Dauer nicht wohl anders gewinnen können als durch
Aneinanderreihung und Aufeinanderhäufung von Zeitmassen; für
das begreifende Urteil bleibt
es dabei:
lange, längste, angeblich
unendlich lange Zeitfolge erreicht nicht jenes stetig
dauernde Jetzt, das wir Ewigkeit nennen.
Aber nicht nur das schärfere Denken, auch das innerste Regen unseres Herzens
verwahrt sich gegen solche Vermengung. Neben der Lust an dem Wechsel, neben
dem Kraftgefühl, von dem erfüllt wir aus dem Alten hinaus, in das
Neue hineinwachsen, hegen wir das tiefe Weh um die Vergänglichkeit, das
vergebliche Ringen nach bleibendem Besitz im Gebiet edlerer Güter. Mag
das sich verlieren, sich daran geben, sich opfern im Rausche schaffenden und
genießenden Daseins, den tatkräftigen Sinn locken und die Brust hoch
und stolz schwellen; im Grunde der Seele erhebt sich doch der Wunsch, sich selbst
festzuhalten und im Genusse alles dessen
zu ruhen, was wir einst erworben. Der in der Jugend so fröhlich begrüßte,
genossene, durchrungene Wechsel ermüdet den Mann; wir suchen mit Goethe
die »Dauer im Wechsel«, einen unverlierbaren
Bestand.
Denke , dass die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt:
den Gehalt in deinem Busen
und die Form in deinem Geist.
So löst sich jene große Frage
nach unserem zweiten Vaterland,
denn das Beständige der irdschen Tage
verbürgt uns ewigen Bestand.
Wer aber könnte sich genügen lassen an den täuschenden Verheißungen,
welche die »Gunst der Musen« ihren
Auserwählten bietet, wenn die zarte Wehmut um des Lebens
Endlichkeit sich mit den Jahren in schleichenden, markzehrenden Schmerz
wandelt, wenn sich zu ihm die bittere Klage um den Verlust der Geliebten, um
falsche eingeschlagene Bahnen, um vergeudete Jahre gesellt. Aus der Tiefe jedes
bei sich einkehrenden Herzens klingt das Lied des Heimwehs
nach der Ewigkeit, jenes Lied des alten Claudius,
wenn er darum trauert:
dass wir hier ein Land bewohnen,
wo der Rost das Eisen frisst;
wo durchhin um Hütten und um Thronen
alles brechlich ist;
wo wir hin aufs Ungewisse wandeln
und in Nacht und Nebel gehen,
nur nach Wahn und Schein und Täuschung handeln
und das Licht nicht sehn;
wo im Dunkeln wir uns freun und weinen
und rund um uns, rund umher
alles, alles, mag es noch so scheinen,
eitel ist und leer.
O du Land des Wesens und der Wahrheit,
unvergänglich für und für,
mich verlangt nach dir und deiner Klarheit!
mich verlangt nach dir!
Nein, wir haben in des Lebens Bewegung nicht unser Genüge, der Fortschritt
kann uns die beruhende Dauer nicht ersetzen. Ja, unser Sinn hat selbst sein
Zeugnis abgelegt, wenn er neben den Namen: Zeit, Dauer,
Unendlichkeit dem Worte »Ewigkeit«
sein sonderliches Gepräge aufdrückte. Er schuf für unser irdisches
Vorstellen eine unfassbare Hieroglyphe, aber bekundete umso gewisser den Zug
unseres Herzens. So ist unsere Sprache der Prophet, der zusammenstimmt mit dem
Worte des gottbelehrten Weisen, dass Gott die
Ewigkeit in des Menschen Herz gelegt hat (Prediger
Salomo 3, 11). Siehe
auch Heinrich Lang
Mag daher der Gedanke an die Ewigkeit uns zunächst befremdend sein, fremd
kann und darf er uns nicht sein und namentlich nicht bleiben. Deshalb bin ich
der guten Zuversicht, dass der Schein der Fremdheit schwinden wird, wenn ich
es jetzt unternehme, mit Ihnen in den Tiefen unseres Wesens
zu graben. Und solches Unternehmen hat sein gutes Recht. Allerwegen und
allezeit begegnet und beschäftigt uns heute das rüstige und erfolgreiche
Regen im Fortschritt unseres Geschlechtes. Da bedarf es der Besinnung, um nicht
zu vergessen, dass die Ewigkeit in jedes Einzelleben
hineinragt, dass dieses selbst nicht minder als jener Gesamtfortschritt in die
Ewigkeit mündet. Darum geschieht es, dass ich dem Fortschritte der Menschheit,
des ganzen Geschlechtes, die Ewigkeit des Menschen, jeden einzelnen Gliedes,
gegenüberstelle. S.167-170 […]
Je weniger indes die Geschichte je zu einem befriedigenden Abschlusse kommt,
je weniger wir die ganze Menschenaufgabe in unserem kurzen Einzeldasein zur
Durchführung reifen sehen, desto bestimmter liegt uns die Forderung vor,
dass wir jenseits dieser Zeitspanne die Vollendung finden.
Jener unruhige Mahner und Forderer in unserem Herzen, das unentrinnbare Gewissen,
es ist der unwiderlegliche Prophet einer Ewigkeit,
für die wir bestimmt sind. So oft hört man die Rede,
es sei in unserem Innern keine Gewissheit über die
Fortdauer nach der Trennung vom Leibe zu gewinnen. Versuchen Sie es nur
einmal zu vergessen, was nur äußere Erfahrung
uns lehrt, dass wir sterben müssen, und legen Sie sich dann die
Frage vor, ob wir in unserem Herzen auch nur eine Ahnung
von der Endlichkeit unseres Lebens finden. Im Gegenteil, alles drängt
auf unabreißbare sittliche Arbeit; durchaus lebt in uns das Bedürfnis,
dass dieselbe zu einer Vollendung gedeihe. Naturbedürfnisse aber trügen
nicht, auch nicht im geistigen Leben. Das ist
ein Zug unseres Wesens, in dem der Schöpfer die Ewigkeit in des Menschen
Herz gelegt hat. Bilden aber diese irdischen Tage in dem das
Drama unseres Lebens nur die Exposition, vielleicht die Peripetie [entscheidender
Wendepunkt, Umschwung], und steht die Lösung noch aus, dann sind jene peinigenden
Fragen über die Stellung in Gesellschaft und Geschichte zum besten Teile
beantwortet. Der Gott, welcher jeden sein sittliches Leben
neu beginnen lässt, um es in eine Ewigkeit münden zulassen, hat jedem
unvergängliche, unendlichen Wert gegeben, gerecht und liebevoll uns alle
gleichgestellt, um dereinst zu erweisen, dass seine Weisheit auch gewusst hat,
die mannigfaltige Führung, die uns so dunkel erscheint, damit in vollen
Einklang zu setzen. S.184f. […]
Wer sich der Gemeinschaft mit dem Ewigen gewürdigt weiß, wie sollte
er in solcher Gemeinschaft nicht die Kraft der Ewigkeit
spüren, welche tragend und erhebend
sein endliches Leben durchdringt und umschließt?! Verbürgt
aber einem jeden von uns diese Gemeinschaft selbständigen, unvergänglichen
Wert; ja leistet das schon die Bestimmung, die Fähigkeit für sie,
so müssen auch alle zeitlichen Verhältnisse für uns an Wert verlieren;
sie dürfen uns nicht mehr Zwecke unseres Lebens sein; sie sinken herab
zu Erziehungsmitteln, die wir nützen mögen, um für die volle
Gottesgemeinschaft zu reifen. Ragt denn die unwandelbare
Ewigkeit Gottes, dem sie alle leben, die hingesunkenen Geschlechter wie
die, welche er rufen wird, dass sie seien – ragt sie hinein in die Tiefen
unseres eigenen Innern, so entwertet sie nur die endlichen Beziehungen, um von
deren Knechtschaft zu befreien, um einem jeden die königliche
Freiheit der Kinder Gottes anzubieten. Vor dieser sich uns enthüllenden
Majestät schwinden alle irdischen Unterschiede zusammen, vor ihr ist der
Fürst und der Sklave, der schöpferische Genius und der zum Rade einer
Maschine erniedrigte Handarbeiter von gleichem Werte.
An der Ewigkeit des Gottes, zu dem wir beten, gewinnen wir den Felsgrund, auf
den uns aus dem Gewoge der endlichen Bewegung zu retten vermögen.
Wenn man gesagt hat, der Adel unserer Natur werde kund in freier Sittlichkeit,
so freuen wir uns solches Zeugnisses für einen Glauben, den keine einschmeichelnde
Lehre von schöner, unverantwortlicher Natürlichkeit brechen konnte.
Aber woher kommt dem Menschen der Mut zur Freiheit, zur Kraft, die Verpflichtung
dieses Adels im Schmerzenssturm der Selbstüberwindung, ja der Selbstaufopferung
zu bewähren? Allein aus dem Glauben, dass nicht der äußere Erfolg
und das irdische Geschick unbedingten Wert besitze, sondern nur die unvergängliche
unsichtbare Gestalt des inneren Menschen. Wer aber vermag ihn zu schätzen,
wer für seine Geltung zu bürgen, als der Vater, der in das Verborgene
sieht und der mit der unnachsichtigen Forderung des Gewissens auch die zuversichtliche
Hoffnung auf die Vollendung in unser Herz gepflanzt hat. Und so bewährt
es sich auch von hier aus, dass Religion der tragende
Grund echter Sittlichkeit ist, dass die tiefen Denker recht
hatten, welche lehrten, die Religion sei es, die den Menschen zum Menschen mache.
S.186f. […]
So wäre denn jene großartige Entwickelung, in der wir die Kirche
Christi durch die Jahrhunderte schreiten sehen, jene staunenswerte Arbeit der
edelsten und tiefsten Geister, welche die Tiefen christlicher Wahrheit zu ermessen
suchte und welche nur Unkenntnis oder oberflächlicher Fortschrittstolz
von oben herab ansehen und zu den verlogenen Altertümern stellen kann –
sie wären nichts, als ein buntes Kleid, darin sich
das immer sich gleich bleibende gehüllt hat? So kann es nicht
sein. Dafür bürgt uns ja schon allein der Blick auf die eine Seite
dieser Arbeit, in der das Christentum die gleiche Menschenwürde immer klarer,
immer voller zur Geltung gebracht hat. Das Christentum, dieses unschätzbare
Gut muss in seiner Wahrheit und in seiner Kraft so geartet sein, dass es die
Fülle seines Lebens im Keime beschlossen immerdar jedem mitteilt, und doch
diese Fülle nur in lange fortgehendem Ringen von unserem Geschlechte zu
allseitigem vollkräftigem Besitz angeeignet werden mag. S.191
[…]
Während das Christentum sich für seine Verbreitung einen Weg vorzeichnet,
der ihm für seine irdische Laufbahn durchaus verwehrt, alle einzelnen Individuen
zu umschließen, gibt es doch seinen Anspruch auf sie alle nicht daran.
Spät in die Entwickelung eintretend, will es doch nicht ein durchaus Neues
von heute und gestern sein, sondern knüpft an den Beginn menschlicher Entwickelung
an und stellt sich als die Wiederherstellung des Uranfänglichen, aber Verderbten
und Verlorenen dar. So kann es alle zerstreuten Spuren echter Sittlichkeit und
Frömmigkeit für sich in Anspruch nehmen. Und wenn der innere Drang
nach sittlicher Vollendung uns ahnen lässt, dass wir diesseits nur ein
Bruchstück unseres Lebens vor uns haben, so trägt die Offenbarung
uns die klare Versicherung entgegen: das »Land des Wesens und der Wahrheit«
warte unser; wir seien hienieden nur Gradierwerke, damit die wilden Wasser ausgeschieden
werden. Mehr noch: - sie zeigt uns, dass nicht nur jedes
Einzelleben die irdischen Jahre überdauert, sondern dass jene Entwickelung
des Geschlechtes, welche in der Tat nach mancher Richtung von einem mächtigen
Fortschritte getragen wird, ihr Ziel der Vollendung finden soll. Und hier ist
es, wo der volle unendliche Wert jedes einzelnen zur Geltung kommen kann. Der
Tag des Abschlusses unserer gemeinsamen Geschichte wird auch der Tag sein, an
dem jeder seine Abrechnung finden wird, nicht als ein vereinzeltes Atom, sondern
als das Glied, als der Mitarbeiter an dem großen Werk unserer Weltzeit.
Zusammen sollen sie einmünden, die einzelnen Bächlein
und der große Strom in das gewaltige Meer der Ewigkeit, eintreten
in die nicht endende Gegenwart, in welcher noch kein Tröpflein der reich
wechselnden zeitlichen Vergangenheit verloren ist.
Das ist die große Verheißung, welche allein imstande ist, die
peinigenden Rätsel des Erdenlebens zu lösen. Diese begrenzte
Zeit sinkt nicht herab zu einer leidigen Schule, der man so bald wie möglich
entlaufen möchte, zu einem Spiele mit irdischem Tand, den der Weise zu
verachten hat. Vielmehr, es kein Streben und Arbeiten, kein Ertrag und keine
Frucht unserer Geschichte verloren; auch sie sind Saaten, bestimmt voll auszureifen
und am Tage der Garben in die Scheuern der Ewigkeit
gesammelt zu werden. So verstanden ist die Geschichte nicht ein rastloses Jagen,
ein Arbeiten, das nie zum Ziele kommt und darum keinen wahren Inhalt haben kann.
Unendliche Bewegung kann ja nur unendliche Wiederholung sein. Der Fortschritt,
wie er seinen Ausgangspunkt hatte, findet seine Vollendung in der Ruhe, die
über die Zeit hinausliegt. Und wird der Anspruch des einzelnen an die Fülle
menschlicher Entwickelung, der Anspruch dahingesunkener Geschlechter an die
Blüte, welche die Nachgekommenen von ihrer Aussaat genossen, unaustilgbar
in unserem Innern kund: er soll seine Befriedigung finden. Nicht im vorausgreifenden
Haschen der unsicheren Zukunftsahnung, nicht im schattenhaften Besitze rückwärts
gewandter Geschichtsforschung, nein – im vollen wirklichen Genusse der
Gegenwart wird das Geschlecht sich des gesamten Ertrages seiner Arbeit erfreuen;
das Geschlecht, das nur ein Ganzes ist, wenn ihm die scheidende
Macht der Zeit nicht mehr den besten Teil seiner Glieder raubt.
Es war das Hineinragen des Ewigen in die Zeit, die Ewigkeitsbestimmung
der Sittlichkeit und die Ewigkeitsgabe der Religion, welche uns allein die gleiche
Menschenwürde der einzelnen verbürgte. Es ist das Übergehen
der zeitlichen Gesamtentwickelung in die Ewigkeit, welches uns erst einen Frieden
herstellen lässt zwischen unserer Verflechtung in die wechselvolle endliche
Geschichte und zwischen dem Anspruche, den jeder einzelne an ihr letztes Ergebnis
und das vollendete Geschlecht an alle seine Glieder hat.
Der Gott, der die Ewigkeit in unser Herz legt, hat uns für die
Ewigkeit bestimmt und öffnet seinem Menschengeschlecht ihre Pforten.
Nicht ohne Bewegen liest man den schlichten Bericht, den uns ein treuer Mann
von einem tief in sein Leben eingreifendes Begegnis folgendermaßen erstattet.
Als siebenjähriger Knabe fand er Eingang in die Prachtsäle eines Fürsten,
in denen ein strahlendes Fest gefeiert wurde; geblendet von dem bisher nie gesehenen
Glanze schaute das Kind um sich; da traf sein Blick flüchtig auf den des
großen Theologen Albrecht Bengel.
»Von dem Augenblicke an verschwand vor meinen Augen alle Herrlichkeit,
die ich angaffte, wie ein Nebel, den die Sonne mit ihrer Kraft verscheucht.
Ich ward wie von dem kräftigen Magnet durch die Augen, die voll Licht und
Leben waren, und durch die Stirne, auf der ich das Wort >Ewigkeit<
zu lesen meinte, in eine andere Sphäre hingezogen«.
Und dieser einmalige, aber lebendige Eindruck wirkte in ihm für alle Zukunft
fort. Kein Wunder, wenn wir jenes Mannes eigenes Bekenntnis vernehmen:
»Mein Leiden war meistens geistlich und verborgen, sachte und anhaltend;
und sonderlich gab mir bisweilen einen geschwinden Stich die Ewigkeit, die der
Mensch vor sich hat, da ohne peinliche Furcht vor dem Weh, ohne Freude auf das
Wohl, die Ewigkeit an sich selbst mit ihrer großen Wichtigkeit
mein Innerstes durchdrang und schärfer durchläuterte, als keine Widerwärtigkeit
zu tun vermag.«
Was in der Seele auch des edelsten der Erdgeborenen als läuterndes
Feuer sich kund tut, es strahlt aus seinem Wesen als ein
Licht, welches dem Geiste »die geborene Majestät
Gottes« offenbart, nicht ihn zu erdrücken, sondern ihn zu
erheben. Denn nicht allein den erschütternden Ernst, die Verantwortlichkeit
unseres Lebens vergegenwärtigt die Ewigkeit unserem
geistigen Auge. Sie schaut nicht mit
erstarrendem Blicke der Medusa; sondern Lebenskraft geht von ihr aus. Sie weckt
uns auch den Lebensmut; denn sie enthüllt uns den unwandelbaren Felsgrund
unseres Lebens, überspült zwar von den wirren Strudeln endlicher Bewegung,
aber in den unergründlichen Tiefen gefestigt;
sie zeigt uns den Preis unserer Lebensarbeit sicher geborgen
auf dem Gipfel des Felsens, hoch über dem Wechsel der brandenden Wogen
der Zeit. S.193-195
Aus: Martin Kähler, Zeit und Ewigkeit, Der Dogmatischen Zeitfragen III.
Band, Leipzig, 1913 . A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung
Die
Theologie als Schatzhaus und Sprachmeisterin
Die Theologie in ihrer Bedeutung
für die Gemeinde dargestellt
[…] Wenn ich nun schulmäßig redete, müsste ich erst eine
Definition davon geben, was Theologie
sei. Das will ich nicht tun. Anstatt einer Definition will ich versuchen,
den lieben Freunden und Brüdern zu sagen, was wir von der Theologie haben
müssen und was sie für die Kirche ist.
Sie ist erstens eines der Schatzhäuser
der Kirche. Was Gott der Herr seit Jahrhunderten durch seine Kirche gewirkt
hat, durch welche Wege er die Seinen hin und her geführt hat, das liegt
im Schoße der Vergangenheit. Es ist auch in der Literatur beim Antiquar
hinterlegt. Aber es gibt ja Antiquare, wenn man zu denen kommt und fragt:
»Was hast du?« so wissen sie es selber nicht. Ein Antiquariat
ist eben erst dann etwas wert, wenn es gut geordnet ist und man sich darin zurechtfinden
kann. Eine Bibliothek ohne Bibliothekar, eine schlecht aufgestellte Bibliothek
ist ein wahres Leid und Last. Wenn wir die Vergangenheit der Kirche bloß
in der Literatur hätten, so würden wir alle zufällig auf dieses
oder jenes Buch stoßen, und wir würden uns vielleicht darauf verlassen,
dass Gott der Herr es uns in die Hand spielt und das wird vielfach wirklich
so sein. Aber jenen Schatz zu verwalten und mit diesen
Schätzen der Vergangenheit in stetem Zusammenhange zu bleiben, wäre
nicht möglich, wenn nicht die Theologie wäre, welche über die
Arbeit der Vergangenheit Buch führt, über die Arbeit, welche allerlei
Leute in der Gegenwart (die manchmal sehr geneigt sind,
auch in christlichen Dingen sich darüber zu freuen, wieweit sie es eben
jetzt gebracht haben) daran erinnert, dass an dem Baume, der schon lange
gewachsen ist, reife Früchte sind, und welche ihnen die großen und
wichtigen Schätze der Vergangenheit immer wieder zuführt.
Also die Theologie, ein Schatzhaus, bei dem man anklopfen muss und mag, wenn
man bereit ist in der großen Schule zu lernen, in die Gott der Herr seine
Christenheit geführt hat. Und damit tritt uns schon eine Weitere entgegen.
Ein großer Theologe hat gesagt: Mein Christentum muss das Christentum
aller sein, meine Theologie ist nur die meine. Das ist nur sehr bedingt wahr.
Ein einzelner Mensch kann gar keine Theologie haben. Ein einzelner Mensch kann
christliche Erkenntnis haben, tiefe Erkenntnis, aber Theologie kann er vereinzelt
gar nicht haben. Denn Theologie ist ein in den Kunstformen
menschlicher Forschung durchgeführtes Wissen um die Schöpfung
Gottes, die wir Christentum nennen, und dieses in den Kunstformen menschlichen
Erkennens durchgeführtes Wissen, das kann kein einzelner haben, kann er
auch gar nicht als solches handhaben; das ist ein Ding, was von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert wächst und an Umfang in allen
Beziehungen über die Umfassungskraft jedes einzelnen hinausreicht.
Die Theologie ist also eine Sache – dieses Wort hören Sie vielleicht
gern – eine Sache der Gemeinschaft. Und zwar
ist die Theologie auch eine Erscheinung der unsichtbaren
Kirche. Freilich ist in der Theologie, wie in der Kirche überhaupt,
sehr viel von der sichtbaren Kirche, was vom Übel ist. Aber was die Theologie
zu einem wesentlichen Gliede der Kirche macht, das ist das, was in ihr lebt
aus der unsichtbaren Kirche. Wir wissen den Namen des Mannes gar nicht, der
Luther einmal den ersten Fingerzeig auf die freie Gnade gegeben hat –
nebenbei: aus dem Apostolikum – das ist gewiss eine Erweisung der unsichtbaren
Kirche; und was hat das gewirkt!
Und ist nun diese Theologie, die durch Jahrhunderte geht, etwas Wichtiges für
die Kirche? Soll ich Sie zum Beweise hierfür daran erinnern, dass der Apostel,
welcher das größte Werk der Mission vollbracht hat, das je vollzogen
ist, der Theologe unter den Aposteln heißt und darum bei der modernen
Theologie übel berufen ist? Soll ich Sie daran erinnern, dass die gesegnete
Reformation wohl ihre Quelle in der Klosterzelle und
in dem geängstigten Herzen eines Mönches, ihren Anstoß in der
Seelsorge an dem Ablass gehabt hat, jedoch durchgeführt worden ist von
einem Professor und Doktor der Theologie? Wer hat im Anfange des vorigen Jahrhunderts
mehr Söhne durch das Evangelium gezeugt als August
Neander und August Tholluck?!
So wirkt die Theologie auf die Kirche. So bedeutsam ist sie, weil sie der Gemeinbesitz
der Kirche ist und weil dieser Gemeinbesitz als Schatzhaus verwaltet werden
muss.
Aber die Theologie ist auch noch etwas anders. Sie ist eine Sprachmeisterin
für die Christen.
Der Apostel Paulus fand nötig, den Korinthern
zu sagen: »Ihr dürft nicht bloß in Zungen
reden. Denn wenn ich in Zungen rede, dann bin ich (so
hat Luther sehr gut übersetzt),
undeutsch dem, der es hört, denn er versteht nicht, was ich rede.«
Nun ist Zungenreden nicht etwa etwas Böses, nicht, wie jetzt offen gesagt
wird, eine traurige enthusiastische Entgleisung der ersten Christen. Paulus
sagt: ich danke Gott, denn ich rede mehr in Zungen, denn
ihr alle. Im Zungenreden betet sein Geist; er singt seine Dank- und Lobpsalmen,
er spricht mit Gott. Da werden die innersten Erfahrungen laut und finden einen
eigenartigen Ausdruck, der keinem andern verständlich ist, weil eine allen
geläufige Sprache dafür noch nicht ausgebildet ist. Derselbe Paulus,
der Theologe unter den Aposteln, ist denn auch der christliche
Sprachmeister von Gottes Gnaden gewesen, und von ihm hat die Christenheit
auch »mit dem Sinne«
d. h. mit dem Verstande »allgemein verständlich«
von dem Leben aus Gott reden gelernt. –
Des Apostels Urteil ist auch heute noch maßgebend. Der Dank und das Lob
für das Innerste unseres Lebens bleiben ein Zungenreden im Geist und das
gehört vor Gott. Wenn man aber anderen Leuten zumutet, immer von den besonderen
Erfahrungen in seiner eigenen Redeweise zu hören, dann gibt es eine Sprachverwirrung,
wie in Korinth, ein Babel. Davor zu bewahren, bedarf es einer Sprachmeisterin.
Es ist auch noch damit nicht getan, wenn wir raten: halte dich an die Bibel.
Die Sache ist nicht so einfach; man muss immer wieder daran erinnern. Waren
die Reformierten nicht ehrliche Bibelforscher oder waren es die Lutheraner nicht?
Haben beide es nicht ehrlich gemeint? Sie sind doch nicht übereingekommen.
Sind alle die verschiedenen Arten von uns Protestanten nicht ehrliche Bibelforscher
gewesen? Es hat sie nicht zu jener Einheit geführt, von der der Herr sagt:
»Dass sie alle eins seien, auf dass die Welt glaube,
das du mich gesandt hast.«
Es gilt den Ausdruck finden und regeln. Und nun meine Freunde! Wenn sie sich
und anderen Leuten die Bibel auslegen, wissen sie es gar nicht, wie viel Theologie
Sie im Kopfe und im Munde haben. Das ist in der Kirche gemeinsame Theologie,
gemeinsamer Besitz geworden. Aber Theologie ist es doch zuerst gewesen. So gibt
es manche Worte, die gehen von Jahrhundert zu Jahrhundert, werden aber von der
Theologie immer für den gemeinen Gebrauch umgeprägt. Nehmen Sie das
Wort Buße. Es hat zuerst ein kirchliches Zuchtmittel bedeutet; dann nannte
man ein Sakrament, ein Gnadenmittel so; mit dem erneuerten Evangelium gewann
es die Bedeutung von Sinnesänderung zum Glauben. So ist die Theologie eine
Sprachmeisterin, die uns hilft, uns zu verständigen.
Sie werden aber sagen: haben denn die Theologen nicht viel mehr Zänkerei
angerichtet, als andere Christen? Aber ich bitte sie, sich zu besinnen; ist
denn da, wo die Theologie gescholten wird, weniger Zänkerei? Gewiss nicht.
Sind die Stifter protestantischer Sekten vornehmlich in wissenschaftlicher Leistung
ausgezeichnete Theologen gewesen? Man verwechselt bei solchen Schilderungen
meistens Gemeinschaftsleiter mit Theologen; das ist bei unseren kirchlichen
Verhältnissen erklärlich, bleibt aber doch sachlich eine Verwechslung.
Das Zanken ist die allgemeine menschliche Sünde an uns, aber es ist nicht
das, was der Theologie als Theologie eigentümlich ist. Auch innerhalb der
Wissenschaft ist nicht die Theologie durch Streit ausgezeichnet. Der Schein
schärferen Streitens ergibt sich aus dem Unterschiede, dass es sich bei
den Theologen nicht nur um Kenntnisse und Einsichten, sondern um persönlichste
Überzeugungen handelt. Hiervon abgesehen gehen die Philologen viel schlimmer
miteinander um als wir Theologen.
Also die Theologie ist eine Sprachmeisterin. Sie ist noch mehr, sie ist
sozusagen ein fortwährender Fingerzeig auf
die Wahrheit; darauf, dass das Christentum den ganzen Menschen
will, und indem es den ganzen Menschen will, an eine seiner Seiten, die man
beim Christentum vielmals sehr gering schätzt, sehr starke Ansprüche
erhebt. Die Theologie ist unerbittlich, wenn man bloß von religiösem
Gefühle, bloß von der Praxis redet; wenn man meint, Gefühl und
Wille sei allein von der Religion, vom Christentum in Anspruch genommen, und
es sei am besten, wenn man ganz darauf verzichtet, dass das Christentum auf
Wahrheit beruhe.
Jetzt werden Bücher über das Wesen des Christentums geschrieben. Man
schreibt über das Wesen,
weil man nicht mehr den Mut hat, über die Wahrheit
zu schreiben. Jesus hat nie gesagt: ich bin das Wesen. Das wäre
Hegelisch gewesen. Aber er hat gesagt: »ich bin
die Wahrheit.« Und das gilt gegen alle Skepsis, und zwar nicht
bloß gegen die Skepsis der Theologen, sondern auch gegen die Skepsis der
lieben Brüder aus dem Laienstande. Sie wissen beide, woran sie sich halten
können. Wenn aber Christus die Wahrheit ist
und die Theologie hat Christum, dann hat die Theologie auch die Wahrheit, und
dann wird gefordert, dass man nach der Wahrheit frage und dass man sich nicht
damit begnüge, von der Wirklichkeit des Christentumes zu reden. Freilich
ist`s billig anzuerkennen, dass die Kirche da ist, dass wir um deswillen hier
sind, weil es Leute gibt, die erklären an Christum zu glauben. Die Wirklichkeit
kann kein Mensch auslöschen. Die Wirklichkeit Jesu des Auferstandenen,
die Wirklichkeit des dreifaltigen Gottes lässt sich freilich nicht ebenso
beweisen, und darum ist`s dabei auch nicht so einfach mit der Wirklichkeit abgemacht.
Darum spricht die Bibel: in Christo kommt die Wahrheit.
Und die Wahrheit will erkannt sein, die
Erkenntnis aber fordert die Vernunft. Die Vernunft hat zwar Luther
sehr gescholten, wenn sie sich auf ihre eigenen Füße stellte
und gegen das Evangelium empörte; aber er hat sie unter die edelsten Schöpfergaben
gerechnet: »Vernunft und alle Sinne«
im ersten Artikel. Und an die Vernunft wendet sich die Theologie.
Ich bin noch immer nicht damit fertig, Ihnen zu sagen, was Theologie ist. Nun
muss ich etwas weit ausholen, entschuldigen Sie.
Es gibt in der Physik ein Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte. Techniker
wissen ganz genau was das ist. Gegenstände, die in Bewegung sind, stehen
unter Einwirkungen von verschiedenen Kräften; eine treibt nach links, die
andere nach rechts. Wenn Sie sich diese Wirkungen denken, so bilden sie, wie
wir sagen, einen Winkel. Aus diesem Winkel heraus geht eine andere Linie, die
zeigt, wo der Wettstreit der Kräfte den Gegenstand
hinbefördert. Das nennt man die Winkellinie oder Diagonale. Nun kommt`s
darauf an, welche Kraft ist die schwächere, welche die stärkere. Je
nachdem geht diese Linie mehr nach links oder rechts.
Die Theologie ist eine solche Diagonale. Sie beruht
auf zwei Triebkräften. Die
eine Triebkraft ist das Evangelium, der
Inhalt, den wir besitzen und er durch die Sprachmeisterin in die Welt gebracht
werden soll. Aber das geht nur durch die Vernunft, und die Vernunft steht auch
noch unter einer anderen Triebkraft, und diese Triebkraft ist das
Erkennen aller Dinge um sie her. Wie wir an der Theologie eine einflussreiche
Größe haben, die uns zusammenschließt, so ist es auch mit der
allgemeinen Wissenschaft in ihrem Bestreben, die Welt in ihrem Sein und ihrer
Entwicklung zu umspannen. Wir können uns ihres Einflusses nicht entschlagen.
Wie ist nun mit dieser Wissenschaft? Sie bildet eine sogenannte Weltanschauung
aus. Und nun ist es gar nicht anders möglich, als dass in unserer Seele
beide wohnen. Und wie sei gar nicht wissen, wie viel Theologie Sie in Kopf und
Mund haben, so wissen Sie vielleicht auch gar nicht, wie viel von jener Weltanschauung,
von jener Welterkenntnis Ihnen zur zweiten Natur geworden ist. Sie können
das auch gar nicht ohne weiteres los werden. Nun kommen diese beiden Kräfte,
stoßen aufeinander und müssen ausgeglichen werden; und der arme Mensch,
der von ihnen ergriffen ist, muss in irgend einer Richtung getrieben werden.
Auf die Ausgleichung der Kräfte kommt`s an.
Gott hat dazu unsere Arbeit in der Theologie verordnet. Das ist von Anfang an
so gewesen, das ist nicht etwa jetzt erst so, wo die Leute ausdrücklich
vom Christentum und Weltanschauung reden. Früher hat man schon von Ausgleichung
des Christentums mit der Bildung oder Kultur geredet. Aber das geht viel höher
in die Vergangenheit hinauf.
Was ist die erste Theologie in der Geschichte der Kirche gewesen? Apologie.
Aus der Verteidigung des Christentums gegen die Angriffe der heidnischen Denker
ist die Theologie erwachsen. Darum schelten auch viele Leute, die einer Theologie
gram sind, zumeist darüber, dass sie Apologetik
[wissenschaftliche Rechtfertigung von christlichen Lehrsätzen]
sei. Mir sagte jemand, ihm gefiele Harnacks Wesen
des Christentums nicht; es sei doch bloß Apologetik. Harnack will in der
Tat nichts anderes, als was er vom Wesen des Christentums erkannt hat, mit der
Weltanschauung auseinandersetzen und verteidigen. Die Apologetik geht also durch
die ganze Theologie und in all ihren Richtungen. Aber Sie wissen, die beste
Verteidigung ist der Angriff, - Apologie ist Polemik. Sie muss eine Auseinandersetzung
sein dessen, was wir am Christentume besitzen, mit dem uns durch unsere Anlagen,
durch die Entwicklung der Menschheit, durch unsere geschichtliche Stellung aufgenötigten
Denken. Das ist doch etwas, was die Christenheit, was die Christen, was auch
die engsten Kreise der Christenheit, was auch die Gemeinschaft angeht: sie sind
nur deshalb gewöhnlich so ruhig über diesen Punkt, weil sie gar nicht
dadurch beunruhigt sind, wie viel von dem theologischen Gift sie in sich haben.
S.1-7 […]
Wir haben gesagt, die Theologie ist eine Diagonale. Die beiden Kräfte,
welche den Weg der Theologie bestimmen sind sehr bestimmt und ausgesprochen
vorhanden. Man kann sie in zwei Worte fassen: Entwickelung
und Offenbarung.
Unsere gegenwärtige Denkweise hat mit Hilfe des Gedankens der Entwickelung
und mit der Kenntnis der Entwickelungsgesetze ungeheure Erfolge inbezug auf
die Natur errungen. Das hat die ganze Philosophie endgültig in die Betrachtung
unter dem Entwickelungsgedanken hineingezogen, und wir denken alle viel mehr
in diesen Formen, als wir selber meinen oder wissen. Das bemerkt man erst, wenn
man Bücher liest, die aus dem 18. Jahrhundert stammen, wo die Anschauungen
sehr anders lauten. Auch in der Geschichte gilt durchweg die Entwickelung. Man
muss nur nicht denken, dass das immer Darwinismus sei. Der Darwinismus ist nur
eine kleine Phase in der großen Periode dieser Betrachtung. Der Entwickelungsgedanke
stammt von Hegel, und manche Theologen wissen gar
nicht, dass sie in den Bahnen von Hegel weiter
gehen.
Also, die eine Seite des Winkels bildet heute der Gedanke der Entwickelung.
Aber Entwickelung ist ja ein inhaltsloser Gedanke. Es kommt darauf an, was sich
entwickelt und woher ihm seine Entwickelung stammt. So steht auch hinter der
Annahme der allumfassenden Entwickelung noch eine entscheidende Anschauung,
und die ist nicht modern, sondern uralt. Man nennt sie – im Gegensatze
gegen den sogenannten Dualismus
von Gott und Welt
– Monismus.
Das will sagen: es gibt nur ein in sich geschlossenes Ganze des Daseins, und
das ist dasselbe, dessen wir mit unseren Sinnen innewerden.
Es ist die Rede davon gewesen, dass ein scharfsinniger Astronom Gott am Himmel
mit seinem Teleskop gesucht habe. Das Teleskop ist das verlängerte Auge.
Was man irgendwo mit den Sinnen empfinden kann, das ist allein wirklich und
wenn Gott wirklich sein soll, so muss er in diesem sinnenfälligen Ganzen
darin sein. Alles dieses Wirkliche ist eben bloß
wirklich; und wenn es nichts weiter ist, kann es weder einen Anfang noch ein
Ende haben; und folglich muss dieses Ganze immer und ewig wirklich sein. Erst,
dass dieser uralte Gedanke, der uns von Griechenland herüberkommt, nun
mit den Entwickelungsgedanken sich verbindet, das veranlasst die ganze Gravitation
nach jener Seite hin. Nun wird gefordert: Weil das Christentum wirklich ist,
so muss es eben ganz hineingehören in dieses sinnenfällige, große
Etwas, so gut wie Gott hineingehört.
Dem gegenüber steht das wirkliche Christentum mit dem unentwegten Zeugnis:
ich glaube an Gott, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde;
ich glaube an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn, geboren von der Jungfrau
Maria;
ich glaube an den heiligen Geist.
Es ist gar kein Zweifel, dass dieser Glaube das geschichtliche Christentum ist.
Es hat viele Wandlungen erlebt; aber darauf steht`s und protestiert gegen den
Monismus. Und nun die Diagonale! Wir sehen sie mit unserem
Augenlicht noch nicht deutlich gezogen; wir sehen aber unendlich viele versuchte
Diagonalen. Und durch jeden von uns geht eine solche Diagonale zwischen diesen
beiden Richtungen. Wir dürfen aber auch als Theologen nicht sagen,
diese ganze große monistische Entwickelungs-Bewegung sei für uns
nicht da. Wir sollen ja den Leuten, die davon überzeugt sind, den Star
stechen. Wie sollen wir den Star stechen, wenn wir ihre Starkrankheit nicht
kennen? Wie soll man ihr Herz bewegen, wenn wir nicht einmal mit ihnen fühlen
können? Wir sollen ihnen das Evangelium so bringen, dass ihnen sein Verständnis
möglich sei.
Es ist ein Unterschied in dieser Beziehung zwischen denen, welche im Christentum
aufgewachsen sind, - ich meine: auch nur unter vorherrschendem Einflusse der
christlichen Anschauung – und zwischen denen, die ganz drüben gewesen
sind, und die dann herübergekommen sind, vielleicht sehr allmählich,
ohne dass sie viel davon sagen könnten, wann und wie diese Handlung bei
ihnen entstanden ist. Wer so geführt ist, hat wohl sehr stark den Eindruck,
dass man den Ausgleich nicht aufgeben kann. Das gilt auch für uns alle,
weil Christus gesagt hat: Ich
bitte nicht, dass Du sie aus der Welt nehmest, sondern dass Du sie in der Welt
bewahrest, auf dass die Welt durch sie zum Glauben komme. Welche Aussicht
gibt es nun dafür, dass bei diesem Ausgleiche die
theologische Diagonale nicht ganz mit der monistischen
Entwickelungslinie zusammen falle, sondern sich nach der Linie des geschichtlichen
Christentums zu wende?
Wir Christen können nicht mit einem einhellig von getragenen, von allen
übereinstimmend angenommenen, dem einfachen, gesunden Menschenverstand
einleuchtenden Geschichts- und Weltbild vor die Leute treten und sagen: Seht,
so erklärt das Christentum alles! Es ist bis jetzt noch nicht gelungen;
ich zweifle, ob es gelingen wird und kann. Warum nicht? Wir sehen hier in einen
Spiegel, und was wir sehen, ist in ein Rätselwort gefasst. Den Spiegel
haben wir, den hat uns Gott gegeben. Das Wort haben wir, das hat uns Gott gegeben.
Ein Rätselwort bleibt`s und es wird dabei bleiben, dass es für den
Weltverstand ein Ärgernis bleiben muss.
Es ist ein Rätsel, dass das Kreuz Christi die Lösung aller Welträtsel
sein soll; das ist das Ärgernis des Kreuzes. Es ist neben dem Ärgernis
des Kreuzes ein Rätsel, dass der Gottlose gerecht sein soll, und bleibt
ein Rätsel für den rein logisch denkenden Verstand.
Es ist ein Rätsel, dass das geschichtliche Christentum den Anspruch erhebt,
universell zu sein – diese in der Zeit entstandene, an geschichtliche
Grenzen gebundene, langsam die Welt umspannende Erscheinung.
Es ist ein Rätsel, dass die Versöhnung, nicht die Versöhnung
der Auserwählten, nicht die Versöhnung der Erkannten und bereits Berufenen,
sondern die Versöhnung der Welt ist, und dass es daneben doch bleiben soll
bei den Worten von der engen Pforte und von der kleinen Herde.
Es ist ein Rätsel, dass das Fortleben und Wirken der Wahrheit, die uns
Gott im Christentume durch Offenbarung gegeben hat, nicht
gefasst ist in einem Brief vom Himmel, nicht in einen Katechismus, auf den alle
schwören können, nicht in eine Dogmatik, in die man sich vertiefen
kann, sondern in ein Buch, das eine Sammlung ist von so verschiedenartigen Büchern
mit allerlei Stoff darin, mit dem man sich ja wohl freilich abfindet, indem
man ihn zu allerlei bezieht und verwendet, womit er gar nichts zu tun hat. Aber
es ist ein Rätsel, dass es Gott gefallen hat, uns seine Offenbarungen in
der Bibel zu geben. Wie er sich nicht vor aller Welt in Majestät offenbart
hat, sondern im Fleisch, in dem untergehenden Menschen, so offenbart er sich
weiter in einem solchen, die Wahrheit, wie es scheint, verkleidenden Buch, in
welchem wir sehen können, wie die Menschheit von Gott erzogen wird, um
sich in seine Gedanken hineinzwängen zu lassen, um sich überwinden
zu lassen. Dass sind alles Rätsel. (Wir wollen,
da ich nun einmal von Rätseln rede, kurz dazwischen werfen: haben wir denn
auch alle Rätsel des natürlichen Lebens gelöst? also darüber
brauchen wir uns nicht zu entsetzen.) Aber, können wir darauf rechnen,
mit diesen Rätseln den Sieg der Theologie zu gewinnen?
Ich habe schon gesagt, weissagen kann ich nicht!
Aber eins glaube ich auf Grund meiner Übersicht der Vergangenheit, so spärlich
und bruchstückmäßig sie sein mag, sagen zu dürfen: Ja diese
Bibel, in welcher die Geschichtlichkeit des Christentumes den geschichtlichen
Ausdruck gefunden hat, ist das unumstößliche Widerlager, an welchem
der Entwickelungsmonismus sich immer wieder brechen muss. Gerade, weil diese
Bibel gar keine göttlichen Bürgschaften hat, außer ihr selbst,
weil wir alles, was wir von ihr wissen, nur ihr selbst verdanken; weil sie in
dieser wunderbaren, natürlichen Entstehungs- und Verbreitungsweise, die
uns immer deutlicher wird, das unzerstörbare Zeugnis davon ist, wie
das Christentum durch das Wort in die geistige Entwickelung der Menschheit so
hineingeflochten ist, dass die Menschheit, sie mag sie schütteln wie sie
will, dieses Wort nicht mehr los werden kann. Denn an dem Anfang aller
modernen Kulturen steht die Bibelübersetzung, und keine alte Kultur bleibt,
ohne dass ihr eine Bibelübersetzung eingefügt wird. Soweit Menschenzungen
klingen, soweit wird bald die Bibel in ihnen gelesen werden.
Dieses Widerlager hält die Diagonale. Sie hält jetzt im Augenblick
noch nach rechts, aber sie hält nur dann nach rechts, wenn Gott der Herr
zu der Bibel eine Bewegung gibt, welche die Ohren für sein Wort öffnet.
Es sind solche großen Bewegungen mehr als eine in der Geschichte vorgekommen.
Ohne eine große Bewegung in der Christenheit kein Verständnis für
die Bibel, ohne die Bibel jede große Bewegung durchaus umsonst, verirrt
und verlaufen. Ist nun in unserer Gegenwart irgend etwas, was uns verspricht,
dass wir das Verständnis der Bibel voll gewinnen, voll festhalten? Auch
vielleicht in höherem Maße in weitere Kreise bringen können?
Ist in unserer Kirche etwas, was uns die Zuversicht dazu erwecken könnte?
Man sieht ja was einem zunächst steht, gewöhnlich nicht deutlich,
wenigstens wenn man weitsichtig ist, (wie ich es bin).
Aber wir haben eine verheißungsvolle Bürgschaft,
denn wir haben zwei Dinge.
Ein großes, köstliches Ding! Unsere evangelische Kirche ist im Begriff,
freilich unter vielen Nöten und Schwankungen – was ja den Christen
gut ist – doch sieghaft die Welt zu missionieren. Wenn unsere Christenheit
die Welt missionieren kann, dann muss dieses Christentum doch wohl eine Wirklichkeit
sein. Wenn die Missionspredigt den Papua, den Japaner und Chinesen dazu bringen
kann, dass er für dieses Evangelium stirbt, dann muss dieses Evangelium
eine Macht über Menschenherzen sein. Will`s Ihnen bange werden um eine
Bewegung, welche auch die Theologie fruchtbar machen kann, dann sehen Sie auf
die Mission. Es kann da jeder nur von seinem Gesichtspunkt aus reden. Ich kann
sagen: wenn ich eingetroster Bibeltheologe geworden bin, so hat mir zu einem
großen und guten Stück dazu geholfen, dass mir der Blick für
die Mission eröffnet wurde. Das ist die eine der großen Wirklichkeiten
der evangelischen Kirche in der Gegenwart.
Die andere liegt uns noch näher und ist für uns schwerer fassbar und
zuversichtlich greifbar, Aber wenn ich es doch beobachte, wie man es jetzt durchaus
nicht geneigt ist, das Christentum nur den sogenannten offiziellen Christen
zu überlassen, sondern es in verschiedener Weise lebendig in die Hand nimmt;
dass wo Laien vom Evangelium ergriffen werden, sie auch bereit und geneigt sind,
zeugend und dienend zuzugreifen; dass man sich zusammenschließt –
ich rede gar nicht allein von dem, was heute sonderlich Gemeinschaftsbewegung
heißt, aber ich will diese Bewegung auch ganz ausdrücklich mit eingeschlossen
haben in das, was ich jetzt meine – da ist eine Regung in der evangelischen
Christenheit, welche, wenn Gott die Gnade gibt, wachsen kann, um alle, die am
Verständnisse des Wortes Gottes arbeiten, zu unterstützen, wenn sie
die große Aufgabe der Theologie in unserer Zeit angreifen. Diese Aufgabe
aber besteht darin, dem Aberglauben Fanatismus der Diesseitigkeit
immer wieder die Tatsache in ihrer ganzen Größe und Wirklichkeit
entgegenzuhalten, dass wir eine Offenbarung des lebendigen
Gottes haben, der zu uns geredet hat in seinem Sohne, hochgelobet in
Ewigkeit. Amen! S. 16-20
Kähler, Zeit und Ewigkeit, Der Dogmatischen Zeitfragen III. Band, Leipzig,
1913 . A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung