Albert Görres (1918 - 1996)
Deutscher Philosoph, Psychologe und Psychoanalytiker; der Philosophie, Psychologie und Medizin studierte. Medizinische Promotion bei Viktor von Weizsäcker, psychoanalytische Ausbildung in Berlin, Heidelberg und Amsterdam; klinische Tätigkeit in Psychiatrie, Innerer Medizin und Psychotherapie, zuletzt an der Psychosomatischen Klinik in Heidelberg bei Alexander Mitscherlich. 1955 Habilitation in Mainz, dort Professor für Tiefenpsychologie; von 1966-73 Vorstand des Psychologischen Institutes und der Abteilung für Klinische Psychologie der Universität München; seit 1973 - 1996 Direktor des Klinischen Institutes für Medizinische Psychologie und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Kennt die Religion den Menschen?
Wer ist das eigentlich - Gott? Gesichtspunkte der Tiefenpsychologie
Christus
Jesus Christus verstehen
Kennt
die Religion den Menschen?
Es scheint nicht schwer zu sein, dem Wort Religion eine Bedeutung
abzugewinnen, die das in allen Religionen Gemeinsame trifft. In allen scheint
es doch um die Beziehung des Menschen zum Göttlichen, zum Absoluten, zum
Unendlichen zu gehen. Wer mit dieser Vorstellung von Religion ein Zen-Kloster
besucht, dem kann es begegnen, dass ihm ein Zettel in die Hand gedrückt
wird, dessen Text sagt: »Zen ist eine Religion ohne Gott und ohne Buddha.
Zen ist eine Religion ohne zu verehrende Objekte. Zen ist eine Religion, die
das Selbst verehrt. Zen ist eine Religion, die nach einem tiefen Bewusstsein
des Selbst strebt. « Der Leser des Textes spürt, daß hier nicht
einfach ein willkürlicher Mißbrauch des Wortes Religion vorliegt,
sondern eine faszinierende Begriffswende. Der Verfasser des Textes sagt: Tatsächlich
gibt es eine Wirklichkeit, die mit allem Einsatz verehrt und gepflegt werden
muß und deutlich im Bewußtsein ergriffen werden soll. Aber sie ist
nicht ein göttliches Gegenüber, ein anderes, zu dem ich eine Beziehung
suche oder vorfinde. Das zu Verehrende, das im Bewußtsein zu gewinnende
Gut ist das Selbst. Dort ist alles zu finden, was sonst Religion ihren Anhängern
verspricht. Seligkeit, Friede, Freude, wunschloses Glück, Erleuchtung,
Weisheit, der richtige Weg. Wer sein Selbst hat, hat alles, was überhaupt
für den Menschen zu haben ist. Ihm fehlt nichts mehr. Er hat die große
Befreiung erfahren.
Zen-Mönche betrachten die Mystiker des Christentums nicht ohne Sympathie.
Sie gestehen zu, dass einige Christen dieselben Grunderfahrungen der Gewinnung
des Selbst gemacht haben wie sie; aber sie meinen, diese hätten überflüssigerweise
ihre Erfahrungen falsch gedeutet, indem sie Gott nannten, was einfach Selbsterfahrung
der eigenen seelischen Tiefe und damit des Seinsgrundes war. Wenn also Zen-Buddhisten
ihre Lebensweise Religion nennen, so meinen sie mit dem Wort die Verehrung und
Pflege des höchsten Wertes, des höchsten Gutes, der im Universum zu
haben ist, eben des Selbst.
Ich hebe diese Auslegung des Religionsbegriffes hervor, weil hier der Punkt
ist, von dem her heute eine Synthese von Psychotherapie und Religion gesucht
wird. C. G. Jung und Arthur Janov kommen darin überein, dass sie wie
der Zen-Buddhismus von der Eroberung jener Seelentiefe, die von beiden »das
Selbst« genannt wird, allen Gewinn erhoffen, den früher der Mensch
außerhalb seiner Selbst, im Gegenüber des Göttlichen suchte.
Nun ist die Rede von der Gottheit als »Gegenüber« allzu anthropomorph.
Die christliche Lehre spricht von der Allgegenwart Gottes und sagt, daß
der Gott dem Menschen innerlicher sei als sein Innerstes. Auf der anderen Seite
kommt es auch im Buddhismus vor, daß das »Nichts« wie oder
als eine Person angesprochen wird: »Du Nichts.« Die sogenannte Selbsterfahrung
könnte eine mystische, aber anonyme Gotteserfahrung sein, die in voreiliger
Interpretation das eine mit dem anderen verwechselt. Es gibt ja keine Erfahrung
ohne Interpretation, und es gibt nur wenige Fälle, in denen Erfahrung unfehlbar,
nicht von Irrtum bedroht wäre. Aber auch ein Christ kann mit Angelus Silesius sagen: »Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir; suchst
du Gott anderswo, du fehlst Ihn für und für. « Denn der Christ
glaubt nicht nur die Transzendenz des »ganz Anderen«, sondern auch
die Immanenz des immer anwesenden Gottes.
Wie auch immer man nun Religion definiert, eine Gemeinsamkeit bleibt übrig:
Religion ist das, was den Menschen ins Heil bringt, in das eigentliche Existieren,
in die letztmögliche Freiheit, zu seinem höchsten Gut, Wert, Ziel
und Sinn; Religion ist jenes, was das Leben letztlich sinnvoll und lebenswert
macht, die notwendige Bedingung geglückten Menschseins.
Zahllose Menschen sind der Meinung, weder Gott noch das tiefe Selbst sei der
Mühe wert. Sie glauben, Welt und Natur seien so zweckmäßig zur
Selbstversorgung eingerichtet, dass ein Ausleben aller Gefühle und
Bedürfnisse der beste Lebenskompass sei. Gut ist, was am meisten bringt.
Aufgrund des Evolutionsprozesses sei der Mensch so genau in die Welt eingepaßt,
dass die Welt alles enthalte, was das Herz begehrt und was zum Glück
notwendig ist. Mehr sei auch nicht zu haben. Entweder kommt der Mensch mit dem
Gegebenen, mit den Tatsachen aus oder er verzehrt sich in unerfüllbaren
Wunschträumen. Diese Auffassung von der Welt als dem einzigen und ausreichenden
Versorgungsspeicher des Menschen kennt konsequenterweise nur eine Hauptsorge:
Wie werden die Güter dieses Glücksspeichers Welt richtig verteilt;
vom Einzelnen her gesehen: Wie komme ich zu meinem größtmöglichen
und bestmöglichen Anteil? Sehe jeder andere, wo er bleibe. Anders gefragt,
wie werden die würdigen Empfänger dieser Güter von den weniger
würdigen und unwürdigen unterschieden?
Die religiöse Frage nach dem Heil des Menschen ermäßigt sich
zu der Frage nach den polit-ökonomischen Bedingungen des Wohlbefindens
und der Lebensqualität. Wenn nämlich das Heil eine Illusion ist, ein
Traum und Kinderwunsch, dann tritt an seine Stelle mit Recht jenes universale
Gut, das wir alle, Fromme und Unfromme, Zen-Buddhisten, Marxisten, Playboys
ebenso wie Terroristen und Mönche auf sehr verschiedenen Wegen anstreben:
Wohlbefinden, Sich-gut-Fühlen.
Ursprünglich ist Religion die Spezialistin für alles, die universale
Erklärung und Gebrauchsanweisung für das Ganze, für alles Wichtige
und für viele Einzelheiten. Religion sagt dem Menschen, wie er mit der
Wirklichkeit zurechtkommt, wie Wohl und Heil zu finden sind.
Religion kennt nicht nur den Menschen und die Götter, sie kennt auch die
Natur. Sie ist das Universal-Wissen, zuständig für alle Fragen des
Himmels und der Erde. Es gibt zunächst keinen Eigenbereich außerhalb
ihrer. Kultur, Technik, Sitte, Politik, Wirtschaft, Kunst, Spiel, schlechthin
alles hat religiöse Wurzeln und Bezüge. Das Sakrale ist so alldurchdringend,
daß die Entdeckung eines profanen Bereiches einen gewaltigen Schritt in
der Entwicklung des Bewußtseins darstellt.
Über die Entstehung von Religion gibt es drei mögliche Grundauffassungen:
1) Religion kann das Ergebnis einer Mitteilung der Gottheit an den Menschen sein.
Gott spricht, der Mensch hört und glaubt dem sich mitteilenden Gott.
2) Die zweite Theorie sieht Religion als das Ergebnis menschlichen Phantasierens,
Intuierens, Nachdenkens und Vermutens. Die vorgefundene Wirklichkeit enthält
Momente, die den Geist drängen, über sie hinauszugehen. Hinter dem
Sichtbaren ein Unsichtbares, hinter dem Relativen ein Absolutes, vor der Schöpfung
einen Schöpfer zu vermuten. Die Theorie faßt also Religion als Ergebnis
eines unmethodischen, naturhaften Philosophierens auf und rechnet damit, daß
Religionen, ebenso wie alle Philosophien, Wahrheit und Irrtum in schwer unterscheidbarer
Mischung enthalten.
3) Die dritte Auffassung setzt ohne weitere Begründung voraus, Religion könne
keinen wirklichen Gegenstand und keinen Wahrheitsgehalt haben, weil die der
menschlichen Erfahrung zugängliche Wirklichkeit, die Welt der Tatsachen,
nicht den geringsten Anhaltspunkt enthielte, es gäbe noch irgend etwas
anderes außer eben diesen handfesten Tatsachen, deren Darstellung und
Erklärung Sache der Wissenschaft sei. Keinen Anhaltspunkt für Göttliches.
Religion müsse eine psychologisch zu erklärende Illusion des Menschen
sein, eine grandiose Fehlleistung, dennoch aber von Wert, weil sie Angst mindert,
Hoffnung und Trost spendet, das soziale Gewissen beschwichtigt; manchmal sogar
zu sozialem Verhalten anregt, die Herrschaftsverhältnisse stabilisiert
und auch vielen für Kampf, Jagd und schwere Arbeit Ungeeigneten Versorgung,
Ansehen und Einkünfte als Religionsbeamte sichert.
Auch diese dritte Auffassung, die in vielen Varianten vertreten wird, etwa in
der von Marx und von Freud, gibt natürlich zu, dass auch in diesen
letztlich unbegründeten Aberglaubensphantasien des unaufgeklärten
Menschen viel richtiges Wissen über den Menschen enthalten sei, wie eben
große Irrtümer oft auch Wahrheiten enthalten. Wir können also
einfach fragen, ob es so etwas wie den Menschen betreffende gemeinsame Überzeugungen
aller Religionen gibt, oder ob die Menschenkenntnis der Religion in deren Widersprüchen
und Absurditäten auf der Strecke bleibt.
Religionen, soweit sie menschliche Gebilde zum Zwecke der Daseinserleichterung
sind, verhalten sich wie Menschen, listig, pfiffig und manchmal frevelhaft.
Sie kennen zum Beispiel großartige Spiele zur Entlastung eines in der
ganzen Menschheit verbreiteten immerwährenden Schuldgefühls. Das in
diesem Schuldgefühl vorausgesetzte Böse ist in vielen Religionen nicht
etwas, das der Mensch zu verantworten hätte; vielmehr entspringt das Böse
in der Gottheit selbst. Im Hinduismus ist die Welt durch einen rätselhaften
Sündenfall Brahmas entstanden, und so ist Existieren in der Wurzel
schon falsch. Im babylonischen Mythos entsteht der Mensch aus dem Blut eines
mörderischen und zur Strafe getöteten Gottes. Der Sinn des Menschseins
ist hier, das aus dem göttlichen Bereich ausgestoßene Böse gewissermaßen
zu binden. Der Mensch ist die Giftgrube der Götter, die durch ihn frei
vom Bösen werden. Religionen sind oft frevelhafte Verleumdungen des Göttlichen
mit dem Ziel, der Gottheit alles Üble zuzuschieben. Sie sind unter anderem
Gipfel von Verlogenheit, weil der Mensch ein Meister der Lüge ist, ein
Schelm, der ihn entlastende metaphysische Hilfskonstruktionen erfindet.
Dennoch: Auch im frevelhaftesten Verfall halten alle Religionen eine Grundüberzeugung
über den Menschen fest: Das Verhältnis des Menschen zum göttlichen
Bereich ist von sich aus ein Verhältnis der Abhängigkeit, kein Verhältnis
von gleich zu gleich. Den Göttern kann man nicht kameradschaftlich auf
die Schulter klopfen.
Das Göttliche ist das Ehrfurchtgebietende. Diese Ehrfurcht ist freilich
oft eine zwiespältige, sie beruht zum Teil auf Machtverhältnissen;
das Göttliche ist das unendlich Starke, das immer an Kraft Überlegene.
Aber es wird oft nicht als das Heilige, als das unendlich Gute gesehen. Auch
die Götter freveln, sie haben ihre Schwächen, zum Beispiel sind sie
leicht aufgeregt, so daß im alten Ägypten eine häufige Gebetsform
der beruhigende Zuspruch ist, in dem der Beter sich dem Gotte wie einem Rasenden
nähert, den er besänftigen will.
Weil Religion oft auf eine den Menschen schonende Weise vom Übel und vom
Bösen Rechenschaft ablegen und es erklären will, gerät viel Übles
in die Vorstellung vom Göttlichen hinein. Auf der anderen Seite ist in
den meisten Religionen doch auch das Heilige, Vollkommene, unbedingt Verehrungswürdige
im Göttlichen geborgen.
Eine alle Religionen verbindende Überzeugung sagt: Das Sichtbare und Anfaßbare
ist eine Oberfläche, die Unsichtbares zugleich anzeigt wie verbirgt. Das
Unsichtbare, das Verborgene aber ist für das Schicksal des Menschen auf
Gedeih und Verderb, für Heil und Unheil von größter Wichtigkeit.
Das Unsichtbare, das Geheimnis ist das Eigentliche. Das Göttliche ist
die Antwort. Es ist des Rätsels Lösung. Es ist das, worauf der
Mensch vor allem und in der Wurzel angewiesen ist.
Dieses Göttliche nun ist für den Menschen gleichzeitig eine Gefahr
und eine Hoffnung. Ihm nahe kommen, kann zerstören oder beseligen und vollenden.
Darum ist das Unsichtbare sowohl etwas, das man vergessen kann und gern vergißt,
um sich Angst zu ersparen, aber auch die verborgene Mitte aller Wirklichkeit,
um die das Rad des Lebens kreist und um die unsere gesammelte Aufmerksamkeit
unablässig kreisen sollte. (Religio kommt wahrscheinlich von relegere:
wieder und wieder lesen, bedenken, durchgehen.)
Diese Aussagen auf den Menschen gewendet bedeuten: Der Mensch ist einer, der
ein absolutes Gegenüber oder ein absolutes Innen hat. Der Mensch wird er
selbst durch Teilhabe an diesem; ohne diese Teilhabe ist er so wertlos wie ein
Rahmen ohne Bild und ebenso unverständlich. Menschsein gibt nur Sinn, weil
es das Göttliche gibt, das alle Wunden heilt, allen Mangel in Überfluss
verwandelt, alles Befremdende des Daseins durchsichtig macht.
Manchmal erhebt sich der Mensch zu einer hohen Auffassung vom Heilszustand.
Dies zeigt das folgende aus dem Mittleren Reich Ägyptens erhaltene Gespräch
zwischen Atum, dem Hochgott, und Osiris als dem Vertreter der Toten:
(Osiris:) »O Atum, was soll es, dass ich in eine Wüste hinziehen
muss? Sie hat doch kein Wasser, sie hat doch keine Luft, sie ist sehr tief,
völlig dunkel und grenzenlos« — (Atum:) »Du wirst dort
in Sorgenlosigkeit und Frieden leben. « — (O.:) »Aber in ihr
kann man keine Licbesfreuden finden. « — (A.:) »Ich habe Verklärtheit
gegeben anstelle des Wassers, der Luft und der Lust, und Seligkeit anstelle
von Brot und Bier. «
Auf mehreren thebanischen und Bersheh-Särgen steht die im Wortlaut ähnliche
Inschrift:
»Ich habe Verklärtheit gesetzt anstelle von Geschlechtlichkeit, Herzensweite
anstelle von Herzensbegierde, Herzensruhe anstelle von Brotessen.«
Hier ist mit großer Klarheit der Heilszustand als eine völlig verwandelte
Daseinsweise beschrieben.
Teilhabe am Göttlichen fällt dem Menschen, so wie er ist, nicht einfach
zu. Er ist noch zu retten, aber es gibt Bedingungen, ohne sie geht nichts. Entweder
muß das Göttliche etwas für ihn tun, oder er muß etwas
für den Gott tun, meist beides. Religion ist immer auch Beschreibung eines
Heilsweges und Hinweis auf einen Heilsbringer oder eine heilsbringende Macht.
Religion ist Hoffnung. Sie ist das, was das Fehlende, Wichtigste, das Heil,
ins Leben einbringt; Gewinn einer ohne sie unerreichbaren Mitte.
Die vielfältigen Erscheinungen von Religion in Welt und Geschichte scheinen
außer vielem anderem und schwierigem stets auch diesen einfachen Kern
zu enthalten. Der Mensch ist einer, der vom Göttlichen gefährdet ist
und der des Göttlichen bedarf, den das Göttliche etwas angeht. Alle
Religionen scheinen den Menschen als einen zu betrachten, der von sich aus weder
weiß noch herausfinden kann, wie Glück und Heil zu erlangen sind,
und wie man mit der Gottheit umgeht. Als einen, dem selbst, wenn er es wüßte,
die Kräfte fehlen; als einen, der selbst, wenn er sie hätte, zu schief
liegt, um solche Kräfte anzuwenden. Religion betrachtet den Menschen als
einen, der in keiner Weise okay ist, weil ihm in irgendeiner wichtigen Hinsicht
etwas fehlt weil er unwissend, schwach, ungut ist. Religionen erinnern uns an
eine kostbare innere Möglichkeit des Menschen: Anbeten, Loben, Danken und
Rühmen. Diese kostbarste ist auch die vergessenste.
Versuchen wir eine Zusammenfassung in drei Thesen.
1. Das Rätsel Mensch hat nur eine Lösung. Das Göttliche ist die
Antwort, die Lösung des Rätsels; Teilhabe am Göttlichen ist der
Sinn des Lebens.
2. Der Mensch ist ein leeres Gefäß, dessen Sinn im Erfülltwerden
liegt. Das Göttliche ist das Beseligende, Beglückende und Erfüllende.
Der Mensch ist durch und durch auf es angewiesen. Es steht und fällt mit
der Teilhabe.
3. Der Mensch ist so, dass er Grund hat, das Göttliche zu fürchten.
Es ist eine lodernde Flamme, die ihn verbrennen kann. Es gibt den »Zorn«
des Gottes auf den Menschen, der durch Schuld und Unwürdigkeit des Menschen
verursacht wird; möglicherweise aber auch auf ein Böses in der Gottheit
selbst zurückgeht. Man weiß nicht, womit man sich da einläßt.
Keinesfalls ist der Mensch so beschaffen, daß er einen Rechtsanspruch
auf die Anerkennung, auf das Wohlgefallen, auf die Huld des Gottes hat.
Immerhin ist der Mensch bei aller Nichtigkeit solchen Ranges, daß die
Gottheit sich für ihn und sein Verhalten interessiert. Gebete, Opfer und
Herzenssehnsucht werden vielleicht nicht immer erhört, aber doch gehört,
sie erreichen das Göttliche.
Das Sinnen und Trachten des Menschen mag eine Tendenz der Abwendung und Entfernung
von Gott haben. Der Weltprozess mag als ganzer deifugal sein. Irgendwie
aber ist der Mensch doch zu retten; sei es, dass er selbst sich aus dieser
entfernenden Bewegung zurücknimmt, sei es, daß er von der Huld des
Göttlichen eingeholt und ergriffen wird.
Es scheint keine radikal pessimistische Religion zu geben, die die Gesamtgeschichte
depressiv als hoffnungslose Unheilsgeschichte sieht. Das ist angesichts der
tatsächlichen Weltverhältnisse sehr erstaunlich.
Das Göttliche ist das Herrliche; das Göttliche ist aber auch das Schreckliche.
Die Last der Götter wird zähneknirschend getragen. Die Löschung
des Göttlichen aus dem Bewußtsein, seine Vernichtung, hat großartige
Vorteile: Der Mensch bleibt zwar abhängig von seinesgleichen, aber er wird
unabhängig von einem höchsten Herrn. Die erschreckende Verantwortung
vor ihm, die Notwendigkeit zur Anstrengung, die metaphysische Angst, das religiöse
Schuldgefühl, die Bindung an göttliche Gesetze, alles das fällt
weg. Der Mensch kann ohne das Minderwertigkeitsgefühl des Unvollkommenen,
ohne religiöse Überforderung, ohne die Unruhe des Knechtes, der nie
genug getan hat, ohne die Last einer verfehlten Vergangenheit, ohne Selbstüberwindung,
ohne Abtötung, ohne sich bis aufs Blut erproben zu lassen, ohne Demütigung
existieren. Er schuldet dem Gott keine Dankbarkeit und keine Rechenschaft. Es
gibt letztlich keine Pflichten für ihn, die er nicht selbst anerkennt.
Er darf alles, er soll nichts, er ist das Maß aller Dinge. Er kann er
selbst sein und er selbst bleiben, wie er sich und wie es ihm gefällt.
Wie kommt es zu jenen Daseinsdeutungen? Wie entstehen Religionen? Es gibt viele
Religionstheorien, die Religion aus nicht Religiösem ableiten. Aus psychischen
und soziologischen Mechanismen, Interessen, Kräften, aus politökonomischen
Faktoren. Am plausibelsten unter ihnen scheint mir die Projektionstheorie, die
annimmt, der Mensch habe die Neigung, sich den Gesamtkosmos so vorzustellen,
wie er sich selbst erlebt: Als stoffliches Gebilde, das ein irgendwie den Stoff
übersteigendes geistiges Prinzip enthält. Der Geist in ihm selbst
verhält sich dann zum Leib und zur Welt ähnlich wie das Göttliche
zum Kosmos.
Ich kann hier nicht einmal die wichtigsten Theorien der Religionsentstehung
diskutieren. Statt dessen möchte ich vorschlagen, dass wir mit der
Möglichkeit rechnen, Religionen seien tatsächlich so entstanden, wie
sie es häufig selbst beschreiben: Einzelne Menschen hätten eine wirkliche
unmittelbare Erfahrung des Göttlichen gehabt, eine Erleuchtung, eine Gottesbegegnung,
und sie hätten diese mitgeteilt. Darüber hinaus können wir annehmen,
Religion sei auch ohne jede besondere Offenbarung der ungefilterte Niederschlag
jener Intuitionen der Menschheit, in denen diese vor aller Besinnung auf ihre
Denkvorgänge die Oberfläche der Welt ständig nach Hinweisen auf
Tieferes, Verborgenes, Geistiges abtastet. Aber nicht nur die Oberfläche
der Weltdinge, sondern auch das eigene Wesen, die eigene Seele, den eigenen
Geist und ihn als etwas über sich selbst Hinausweisendes, eben auf unendlichen
Geist, auf göttlichen Geist Verweisendes interpretiert.
Religion sei also die Urphilosophie der Menschheit, inspiriert von Erfahrungen
ihrer Mystiker und Propheten. Ihr gegenüber hätten Philosophie und
Wissenschaft die kritische Pflicht, wuchernde Einschüsse der Phantasie
und des Absurden auszuwaschen, ohne das Gold der Intuitionen und Erleuchtungen
zu verschütten. Wenn das zutrifft, dürften wir sagen, in den Religionen
stelle sich unter oft absurden Einzelgestaltungen doch im Ganzen eine intuitiv
ahnende Selbsterkenntnis des Menschen als eines Heilsbedürftigen dar, der
sich das, wessen er bedarf, nicht selbst verschaffen kann, eines Wesens, das
hoffend auf einen göttlichen Heilsbringer und sein Kommen vertraut.
In den Religionen hat der Mensch verstanden, dass er mit dem Lebensnotwendigen
und dem Angenehmen nicht auskommt, dass er sich mit den Welttatsachen nicht
begnügen kann und nicht begnügen soll. In den Religionen hat er meist
auch begriffen, dass er selbst nicht Gott ist; wenngleich ihn, den Einzelnen
und ganze Völker niemand hindern kann, auch aus diesem Aberglauben, diesem
absurdesten aller Irrtümer, eine Religion zu machen.
Die Christenheit hat viel Zeit gebraucht, um zu der Einsicht zu gelangen, daß
die heidnischen Religionen, wie alles Menschliche zwar auch Verleiblichung des
Unheils, des Irrtums, des Bösen und des Verderblichen enthalten, daß
dies aber nur ein Aspekt der Religion ist. In großen Mühsalen der
Selbstklärung des Glaubens und der Theologie haben die Christen in diesem
Jahrhundert begriffen, daß in allen Religionen nicht nur die Gebrechlichkeit
des menschlichen Denkens und Phantasierens, Sinnens und Trachtens sich niederschlägt,
sondern auch ein tiefes Innewerden des Menschen, der seine Endlichkeit entdeckt
und eben darum auf die Unendlichkeit des Göttlichen hin überschreitet.
Ein Innewerden des Menschen, der seine Schwäche und Gottesferne verspürt
und aus der Tiefe nach dem göttlich Heilbringenden sich ausstreckt. In
dieser hell-dunklen Weise des Geistes kennt die Religion den Menschen, ohne
Lehrsätze über ihn formulieren zu können, ohne Wahrheit und Irrtum
klar unterscheiden zu können, aber auch ohne ganz im Dunkel der Ahnungslosigkeit
und der Gottesfinsternis zu versinken. Der westliche Mensch, der in Jahrtausenden
gelernt hat, daß Nachdenken, Unterscheiden, Abgrenzen, Klären lebenswichtige
Dinge sind, die zum menschlichen Geiste gehören, ist oft peinlich berührt
von dem eigentümlichen Widerstand, den Asiaten dem Denken, der begrifflichen
Rationalität in wesentlichen Fragen entgegenstellen. Er findet es unter
der Würde des Menschen, wenn Hindus oft und gern meinen, alle Religionen
hätten denselben Inhalt. Das Nivellieren tiefster geistiger Unterschiede
ist für uns schwer erträglich. Für den Christen ist es auch unmöglich,
vor Leben und Sterben Jesu Christi hinzutreten und zu sagen: daß dieser
Mensch gelebt hat, gelehrt hat, gestorben ist und sogar für mich, das ist
nicht so wichtig. Ich glaube aber, wir verfallen noch keineswegs einer Nivellierungssucht,
wenn wir in den Religionen jenes gemeinsame Element der Einsicht für überaus
wichtig und Frieden stiftend ansehen, die Erinnerung daran, die durch die Jahrmillionen
geht, daß es für den Menschen etwas zu beachten, zu verehren, ja
anzubeten gibt, das wichtiger ist als alle Tatsachen. Wer zum Beispiel auf Bali
die leuchtende Heiterkeit und Freundlichkeit der Menschen miterlebt, die in
tagelangen Märschen ihre Opfergaben in den Haupttempel auf den Heiligen
Berg tragen, der wird nicht auf die Idee kommen, die Einzelheiten der Religion
dieser Menschen, ihres Glaubens und ihres Aberglaubens für bare Münze
zu nehmen. Er wird auch kaum bezweifeln können, dass diese, wie die
meisten Religionen dieser Erde vielleicht noch zu Lebzeiten der Jüngeren
unter den Lesern ausgestorben sein mögen. Aber dass sie, jetzt da
es sie noch gibt, eine wirkliche memoria Dei, ein Innewerden der göttlichen
Wirklichkeit, des göttlichen Geheimnisses, eine Feier dieses Geheimnisses
sind, daran wird er nur schwer zweifeln können. Die Kenntnis des Menschen,
die die Religionen vermitteln, besteht darin, daß sie ihn an das Wichtigste
erinnern, was es für ihn geben kann. Dass sie ihn mahnen, das Göttliche
zu suchen, auf das Göttliche zu hoffen und nicht von ihm abzulassen. Der
Mensch ist eine Lücke, ein Abgrund in ihm selbst, den nur der Unendliche,
der Ewige füllen kann.
Solche Hoffnung wird in großen Weltteilen heute noch von den Religionen
wachgehalten. Das mag morgen nicht mehr so sein. Solange aber in Sprache und
Gedächtnis des Menschen die Vokabel Gott noch vorkommt, solange stellt
eben diese Vokabel ihm eine Frage. Wenn sie vergessen wird, hat der Mensch auch
sich selbst vergessen.
Aus: Albert Görres: Kennt die Religion den Menschen?.
Erfahrungen zwischen Psychologie und Glauben, (Serie Piper 318, S.123-133)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Zustimmung von Frau
Silvia Görres
Wer
ist das eigentlich – Gott?
Gesichtspunkte der Tiefenpsychologie
Der Mensch des Mittelalters war in Gott verhaftet fast wie
in einem Gefängnis. Glaube, Wissenschaft und Gesellschaft machten es ihm
psychologisch schier unmöglich, an Gott zu zweifeln. Aber der Mensch flieht
das Zwingende — und sei es auch nur der Zwang des Logischen. Das 20. Jahrhundert bringt für eine ständig wachsende Zahl von Menschen die Freiheit mit
sich, von diesem Wort zu halten, was sie wollen. Kein Zwang der heute geltenden
Logik, kein sozialer Suggestionsdruck, keine politische Gewalt, nicht einmal
ein klarer Spruch des Gewissens nötigt uns zu einer bestimmten Form der
Stellungnahme zu diesem Wort. Wir haben vielmehr eine reiche Auswahl fertig
vorfabrizierter und oft gegensätzlicher Stellungnahmen zur Verfügung,
wir können Gott anerkennen, in Zweifel ziehen oder verwerfen. Wir können
Pantheismus, Agnostizismus, Marxismus, Anthroposophie, Katholizismus oder Protestantismus vorziehen. Wir können Gott lieben, hassen oder fürchten, wir können
ihn einen toten oder einen guten Mann sein lassen, ohne dass ein Hahn danach
kräht, ganz nach unserem Belieben. Springer, Augstein und andere gehobene
oder verbilligte Neckermänner der Meinungsbildung machen es möglich.
Jeder Bäckerlehrling kann Gott leugnen oder ihn sich passend und bequem
auf Maß schneidern lassen ohne die geringsten intellektuellen Unkosten
oder gar Gefahren. Diese Freiheit, auf eigene Faust und Rechnung, ohne Rücksicht
auf Himmel und Hölle, auf Lohn und Strafe des göttlichen Endgerichts,
souveräner Herr seiner selbst sein zu können, bringt ihre eigene Lust
und Faszination mit sich; freilich vielleicht auch eine fortschreitende Verflachung
und Versandung der durchschnittlichen Existenz. [...]
Der Blick zurück auf Welterfahrung und Weltgeschichte, in der das Schicksal
von Sodom und Gomorrha, nämlich Verkommenheit, Verwüstung, Blut und
Tränen, Schmerz und Tod, bis heute die Tagesordnung der Geschichte bestimmt,
läßt nicht nur Lots Weib, sondern uns alle vor Entsetzen erstarren.
Wo bleibt in dieser Geschichte die wissende, die mächtige, die unbegrenzte
Güte der Gottheit? Einleuchtend bliebe die christliche Gotteslehre, wenn
es die Welt nicht gäbe. Angesichts der Weltverhältnisse aber scheint
die Frage unseres Themas nur die Antwort zuzulassen: Gott ist der, dessen Werke
auf einen üblen Charakter deuten. Er hat den Menschen gescheit genug gemacht,
um auf den Mond zu fliegen und mit den vertracktesten Methoden die verborgensten
Gesetze und Zusammenhänge der Natur zu erschließen. Klug genug, um
die kompliziertesten Verhältnisse der Mathematik zu entdecken. Aber so
dumm, dass er für Ziel und Sinn seines Lebens oft weniger Interesse
aufbringt als für Fußball, Schlager und Geld. So bös, daß
er die offenbarsten Rechte seines Nachbarn weglügt oder mißachtet.
So schwach und verführbar, daß seine Habgier, Eitelkeit und Genußsucht
ihn zu jedem Unrecht hinreißen. So herzlos, dass selbst die Frommen
es leicht ertragen, wenn der Nächste elend ist. Gott gibt fast jedem genug
Verstand, um die auf das Heilige hinweisenden Vokabeln zu begreifen; aber er
schlägt uns mit jener blinden Geistlosigkeit, in der Bildzeitungen verschlungen
werden, während für das, was uns wirklich angeht, weder Zeit noch
Kräfte übrigbleiben. Er ist ein übler Gott, denn er ist passiv.
Wir klagen ihn der unterlassenen Hilfeleistung an. Er sieht zu, wie Säuglinge
an Napalmwunden verbrennen, wie Eltern ihre Kinder zu Tode prügeln, wie
Millionen verhungern. Er sieht zu, wie Homosexuelle und Einsame verzweifeln.
Er greift nicht ein, wenn Freiheit und Würde von Völkern durch die
unmenschliche Diktatur der Macht oder die sanftere Brutalität von Massenmedien
und undurchschauten Herrschaftsverhältnissen verdorben werden. Er verbirgt
sich in seinem Schweigen und lässt zu, dass dem Durchschnittsmenschen
die göttliche Gegenwart zu einer Gespenstergeschichte verkommt. [...]
Für viele Menschen ist das Schweigen Gottes zu ihrer Abkehr von ihm ein
Zeichen, dass dieser Gott für sie nur unendliche Gleichgültigkeit
empfindet, die sie ihm nun mit gleicher Münze heimzahlen.
Gott fühlt sich übel an. Die Theologie unseres Gefühlsdenkens
folgt einer einfachen Formel: Eine böse Schöpfung muss einen
bösen Schöpfer haben. Ein böser Gott aber ist unerträglich
und absurd. Also kann es keinen Gott im alten Sinn geben; er ist leider mit
Recht verstorben. Allenfalls lässt sich ein jenseits von Gut und Böse
befindlicher, ein unpersönlicher metaphysischer Urgrund denken. Es ist
im Grunde gleichgültig, ob wir diesen Urgrund Materie, Sein, Transzendenz,
Evolution oder Zufall nennen oder ob wir ihm sonst irgendeinen gelehrten und
verblasenen Namen zulegen. Über einen unpersönlichen, also weder erkennenden
noch liebenden oder hassenden Urgrund kann man nichts aussagen, er hat aber
auch uns ebensowenig zu sagen wie wir ihm. Er schweigt nicht nur. Er wäre
von Wesen nichtssagend. Hier soll nicht im geringsten bestritten werden, dass
es Menschen geben kann, die Frieden und Genüge daran finden, das Unerforschliche
ruhig zu verehren. Andere aber werden die Unruhe nicht los, ob der legitime
Empfänger ihrer Verehrung und Dankbarkeit, ihrer Anbetung und ihres Dienstes
nicht der Unerforschliche sein sollte, dem von ganzem Herzen zu mißtrauen
sie sich zuzeiten so verzweifelt versucht fühlen.
Wenn wir unsere Gedanken lange genug auf solchen Wegen haben gehen lassen, die
in der Psychoanalyse von vielen Patienten begangen werden, dann wird es eines
Tages Zeit, daß wir dasselbe tun, was auch in psychoanalytischen Behandlungen
viele Patienten eines Tages nötig finden: Dass wir nämlich unsere
Gefühle wieder einmal an die Hand nehmen und zu denken anfangen. Der erste
klare Gedanke wird uns sagen: Gott kann unmöglich so sein, wie er sich
anfühlt. Ein kleinlicher, mieser, unhilfsbereiter oder nur schwächlich
helfender; einer, der fordert, was niemand zu geben vermag; ein Leuteschinder,
ein sadistischer Quäler von Kranken, Schwachen und Kindern — ein
solcher Gott kann nur ein Produkt der Phantasie unserer dunkelsten Stunden sein,
in der wir unsere eigenen Versuchungen und Möglichkeiten auf einen schweigenden
und verborgenen Grund projizieren. Dieser Gott ist in der falschen Weise nach
unserem Ebenbild gestaltet. Wir können auf die Frage, wer Gott eigentlich
sei, nur dann eine Antwort finden oder hören, wenn wir uns entschließen,
von unserem Verstand, sei er groß oder klein, stark oder schwach, einen
radikal vernünftigen Gebrauch zu machen und auf alle Reste jenes zähen
mythologischen Aberglaubens zu verzichten, der der Gottheit einen durchwachsenen
Charakter andichtet. Der Gott unseres Aberglaubens muß sterben. Jener
Gott, auf den der Schatten unserer Projektionen fällt und den wir darum
für übel halten, ist unsere Erfindung; es gibt ihn nicht. Durchwachsenen
Charakters ist der Mensch und nur er.
Ich halte es nicht für vernünftig, so von Gott zu denken, und einfach
darum nicht für erlaubt. Wir sollten unsere Mitmenschen weder verleumden
noch denunzieren; was aber dem Menschen recht ist, sollte Gott billig sein.
Ich meine, Gott könne nur göttlich sein und also auf keinen Fall jämmerlich
und mit Eigenschaften behaftet, die sich allesamt nur aus dem Elend der menschlichen
Person ableiten und die nur bei Elenden vorkommen können. Nur dürftige
Personen sind übel. Wer auch immer Gott ist — es wäre absurd,
ihn als kümmerlichen Versager, als metaphysischen Schwächling, als
mißgünstigen, alten Tyrannen zu denken, wie zum Beispiel der junge
Sigmund Freud ihn gedacht hat. Gott kann freilich auch keine automatische Amnestiemaschine
sein. Gerade wenn er die vollkommene Gutheit in Person ist, kann er selbst Hitler
und Eichmann, ja sogar Dir und mir verzeihen, wenn wir zugeben, daß wir
einer Verzeihung bedürfen; aber er kann uns nicht gutheißen, wie
wir sind. Er muß den Irrtum, die Lüge und das Böse, wenn und
soweit dieses Böse Leugnung und Unterdrückung der Wahrheit, des Rechts,
der Liebe und des Guten ist, mit der unendlichen Kraft göttlicher Verneinung
ablehnen. Diese unendliche Kraft der Verneinung des Bösen macht uns allerdings
unser Leben sauer, solange Böses an und in uns ist.
Gott kann weder erkannt noch geglaubt, weder geliebt
werden noch Vertrauen finden, solange nicht jene notwendige Stufe eines menschenähnlichen
Gottes, die alles Fragwürdige am Menschen in das Gottesbild mitnimmt, auf
einen göttlichen Gott hin überschritten wird. Dieser eine und einzige
Schritt ist vielleicht das eine und einzige Notwendige, das der Mensch lernen
muss, der heute in einer reifen, erwachsenen und intellektuell verantwortbaren
Weise nicht nur an Gott glauben, sondern ihn lieben will.
Aus: Was ist das eigentlich – Gott? Herausgegeben
von Hans Jürgen Schulz (S.25-26, 28-31, 32f)
Dem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde
Einmalige Sonderausgabe . Veröffentlicht im Januar 1969 als Band 119 in
der Reihe »Die Bücher der Neunzehn«
© 1969 by Kösel-Verlag KG, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlags,
München