Bernhard Bolzano (1781 – 1848)
eigentlich Bernardus Placidus Johann Nepomuk Bolzano

  Philosoph, Theologe und Mathematiker. Der Sohn eines italienischen Kunsthändlers und einer Prager Kaufmannstochter wurde 1805 katholischer Priester in Prag und 1819 durch Kaiser Franz I. wegen angeblicher Irrlehren abgesetzt. Mit seiner vier Bände umfassenden »Wissenschaftslehre« (1837) übte Bolzano starke Wirkung auf Edmund Husserl (Phänomenologie) aus. In seinem mathematischen Werk »Paradoxien des Unendlichen« (1851) nahm er entscheidende Gesichtspunkte der Cantorschen Mengenlehre vorweg.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Gründe aus Gottes Dasein
Paradoxien des Unendlichen


Gründe aus Gottes Dasein

Wenn es wahr ist, dass dem vollkommensten der Geister keine andere Regel des Wirkens gezieme als diese, immer das möglich größte Wohl der geschaffenen Wesen zu befördern, so liegt am Tage, dass auch die kühnste Einbildungskraft keine Einrichtung ausdenken könne, die Gottes würdiger wäre, als eben diejenige, welche wir voraussetzen, wenn wir die Behauptung wagen, dass Gottes Weltall beides, der Zeit sowohl als auch dem Raume nach grenzenlos sei; dass es nicht eine nur große, nur jede von uns aussprechbare Zahl übertreffende, sondern eine in Wahrheit unendliche Menge von Wesen enthalte; dass eine solche unendliche Menge derselben nicht bloß verteilt sei durch den unendlichen Raum, sondern dass auch in jedem endlichen Teile des Raums eine unendliche Menge geschaffener Wesen sich befinde; dass diese Wesen alle, nicht die zusammengesetzten Ganzen bloß, welche sie bilden, sondern auch alle einzelnen einfachen Teile für sich lebendige Wesen seien, Wesen, die eine gewisse Vorstellungs- und Empfindungskraft haben und eben darum auch eines gewissen, diesen Kräften angemessenen Grades der Glückseligkeit genießen; dass jedes solche Wesen nicht nur bisher schon eine unendliche Zeit hindurch bestehe und darum auch schon eine unendliche Menge angenehmer Empfindungen genossen habe, sondern auch noch in Zukunft ohne Ende fortdauern werde; daß jedes derselben Gelegenheit habe, beständig vollkommener und dadurch auch beständig glücklicher zu werden; dass kein Grad der Vollkommenheit, kein Grad der Glückseligkeit, wenn er nur endlich ist, so groß sei, dass nicht jedes dieser Wesen ihn einst erreichen, ja auch noch überschreiten könne, wenn es nur selbst will, nur die ihm dargebotenen Gelegenheiten nicht mit fortwährendem Eigensinn von sich stößt; dass endlich jedes gerade in diejenigen Verhältnisse der Zeit und des Raums gestellt sei, die eben notwendig sind, damit es am schnellsten in der Vollkommenheit fortschreite und auch zum Fortschreiten der übrigen das meiste beitrage.

Gewiß, dieses alles sind Einrichtungen, welche so segensreich, so ohne allen Widerspruch der Güte und Heiligkeit unseres Gottes gemäß sind, dass er sie muss getroffen haben, dass sie bestehen und bestehen müssen, sofern sie anders nicht seiner Allmacht selbst unmöglich sind; mit anderen Worten, sofern sie nicht einen inneren Widerspruch enthalten. Ein solcher aber ist hier so wenig zu finden, dass wir schon oben aus bloßen Begriffen der Vernunft sogar die Notwendigkeit der meisten dieser Einrichtungen nachzuweisen vermochten. Nicht etwas bloß Willkürliches, sondern schon in der Natur der Dinge gegründet und notwendig ist es, dass eine Substanz, welche einmal da ist, fortwährend da sei, und ebenso notwendig ist es, dass sie fortwährend wirke und durch dies Wirken auch das Vermögen erhalte, noch immer mehres zu wirken, d. h., dass sie an ihren Kräften wachse. Dass es solcher Wesen nicht etwa bloß Myriaden, sondern unendlich viele gebe, unendlich viele nicht nur im unendlichen Raume, sondern selbst in jedem endlichen Teile des Raumes, ist freilich nichts an sich selbst Notwendiges; wohl aber etwas, dessen Möglichkeit die Vernunft an seine Stelle zu setzen, sondern es vielmehr sorgfältig pflegt und verwahrt, damit es, nicht angegriffen vom Froste des Winters, im nächsten Frühling zu einem neuen Leben erwache und jetzt erst Früchte trage, so wird auch Gott uns alle, so viele wir uns zum Guten lenksam erweisen, nicht der zerstörenden Macht des Todes preisgeben, sondern zu einem neuen und besseren Leben erwecken. Der Gärtner zwar, weil er nur Gärtner ist, nur Bäume zu ziehen versteht, lässt den Stamm, der schon zu alt geworden, um Früchte, die für ihn Wert hätten, hervorzubringen, aus seinem Garten entfernen: Ins Garten Gottes aber hört dieser Baum nicht auf, brauchbar zu sein, er wird vielmehr brauchbar zu höheren Zwecken. Und so hören auch wir nie auf, brauchbar zu sein, wenn wir nur selbst wollen, und werden eben deshalb auch nie von Gott verlassen, sondern im Gegenteil, je länger er uns bereits getragen hat mit Liebe und je vollkommener wir dadurch geworden sind, um desto liebender wird er auch fernerhin uns tragen und so leiten, dass es uns immer leichter werden soll, noch mehr Vollkommenheit zu erlangen.

Wahr ist es, dass es der Zweck unserer eigenen Ausbildung fordert, nicht immer eingeschränkt zu bleiben in den engen Kreis einer und derselben Bekanntschaft, dass es notwendig wird, von Zeit zu Zeit in neue Gegenden der Schöpfung versetzt zu werden und andere, bisher noch nicht bekannte Geschöpfe, unter ihnen auch solche kennenzulernen, die uns von nun an sehr lieb und teuer werden sollen. Hieraus folgt aber noch nicht, dass unsere alten Verbindungen wegen der neuen aufgelöst, noch so weniger, dass sie für immer aufgelöst werden müssten. Dies wäre vielmehr eine Einrichtung, die sich, je länger wir sie betrachten, nur um so zweckwidriger darstellt.

Mit niemand von denjenigen, mit denen wir auf einer Stufe des Daseins in Verbindung lebten, sollten wir auf einer höheren wieder zusammenkommen? Warum dies? Etwa um desto vielseitiger ausgebildet zu werden, wenn wir immer neue und neue Bekanntschaften machen? Aber die Vielseitigkeit der Ausbildung wird ja nicht dadurch erreicht, daß wir nur immer Neues lernen, das Alte aber entweder vergessen oder in unseren neuen Verhältnissen nicht ferner brauchen können; sondern nur der wird wahrhaft vollkommen, der, ohne das Brauchbare, das er schon weiß, zu verlernen, immer noch Neues hinzulernt. Würden wir aber beim Übergang zu einer höheren Stufe des Daseins aus den Verbindungen, in denen wir früher gestanden, immer herausgerissen, und nicht etwa auf eine Zeit nur, sondern so, dass wir mit den Wesen, die wir hier kennengelernt, nie wieder sollten zusammenkommen, so liegt am Tage, daß die Kenntnisse und Geschicklichkeiten, die, wir uns auf der einen Stufe des Daseins mühsam erwarben, auf der nachfolgenden kaum eine weitere Anwendung fänden, ja aus Mangel an Wiederholung sogar vergessen werden müssten. Können wir dieses für zweckmäßig halten? Können wir glauben, dass unser weisester Erzieher, Gott, uns nicht auf besseren Wegen werde zu leiten wissen?

Nein, dass wir mit einigen, dass wir selbst mit den meisten Wesen, die wir auf Erden kennengelernt, in jenem anderen Leben wieder zusammenkommen müssen, wenn es uns nützen soll, auf Erden gelebt zu haben, kann niemand in Abrede stellen; aber wenn wir gleich viele finden, können wir nicht doch einige vermissen? Und wenn nicht alle da sind, können wir nicht gerade diejenigen vermissen, die uns die teuersten waren? Können uns nicht unsere Lieben fehlen? — So wird, erwidere ich mit aller Zuversicht, die Weisheit und Güte Gottes nicht handeln! Nicht wird sie das minder Wichtige uns erhalten und verlorengehen lassen, was von unendlich größerem Wert für uns ist. Denn dieses Wiedersehen unserer Lieben, selbst wenn es zu nichts diente, als ein Verlangen zu stillen, ohne dessen Befriedigung wir uns nicht glücklich fühlen können, wir dürften erwarten, dass sie uns zugedacht sei, diese Wonne. Oder ist es dem. Gütigsten der Wesen nicht ein Gesetz, seinen Geschöpfen jedes Vergnügen, das unschuldig ist, zu gewähren? Um wieviel mehr, wenn ein so lebhaftes und aus so edlem, von ihm selbst eingepflanztem und gutgeheißenem Triebe, wenn ein aus reiner Liebe hervorgehendes Verlangen darnach vorhanden ist; wenn ohne Befriedigung dieses Verlangens alle die übrigen, dem Wesen dargebotenen Freuden nicht einmal recht genießbar für dasselbe wären; wenn dieses Wesen zur Klasse der sittlich Guten gehöret, wenn es Belohnung verdient, wenn es verdient, dass man es so glücklich mache, als nur immer möglich ist!

Allein es handelt sich bei dieser Wiedervereinigung mit unseren Lieben wirklich nicht um das bloße Vergnügen, das wir, die Wiedervereinigten, in dem erneuten Umgange finden; sondern hier gibt es noch andere, sehr wesentliche Vorteile, die erreicht werden können und sollen. Nicht glücklicher bloß, sondern auch besser können wir durch die gewünschte Wiedervereinigung mit unseren Lieben werden; nicht bloß für uns kann daraus erhöhte Seligkeit hervorgehen, sondern wir werden uns auch aufgelegter und tüchtiger fühlen, Glück und Seligkeit in unserer Umgebung zu verbreiten. -, Einmal schon darum, weil wir uns glücklicher fühlen. Denn es ist doch gewiss, dass wir uns um so aufgelegter und fähiger finden, anderen um uns her wohlzutun und sie zu beglücken, je froher und glücklicher wir selbst geworden sind, Dann aber auch noch aus anderen Gründen. Um des Guten recht vieles zu wirken, dürfen wir nicht allein, sondern wir müssen vereiniget mit vielen anderen wirken. Dies gilt nicht bloß von unserem Erdenleben, bei unseren gegenwärtig noch so beschränkten Kräften, sondern auch in der künftigen Welt, so groß unsere Kräfte dort immer geworden sein mögen, müssen wir doch bei weitem mehr ausführen können, wenn wir in zweckmäßiger Vereinigung, als wenn wir einzeln wirken. Vereinigungen also, gesellschaftliche Verbindungen werden in jener anderen Welt nicht minder erwünschlich und notwendig sein als in der gegenwärtigen, soll anders des Guten recht viel zustande kommen. Dass aber solche Verbindungen viel eher gestiftet werden und sich bei weitem wirksamer erweisen müssen, wenn wir zusammenkommen mit Wesen, deren Beschaffenheit wir schon kennengelernt, die schon mit uns· in Verbindung gestanden, in deren Gesellschaft zu wirken und Gutes zu wirken uns schon zur Gewohnheit geworden, wem brauchten wir das erst eigens darzutun? Es kommt noch hinzu, daß in dem Wiederfinden derer, die wir auf Erden gekannt, öfters ganz eigene Anlässe und Aufforderungen zum Guten liegen. Treffen wir diejenigen dort wieder, die uns auf Erden wohlgetan, denen wir unserem eigenen Gefühle nach Dank, und zwar ewigen Dank, schuldig geworden: welche Gelegenheit und welche Verbindlichkeit, ihnen nun Gutes um Gutes zu entgelten!

Finden wir Menschen dort, die an uns irre geworden waren, die sich, es sei durch unser eigenes Verschulden oder auch ohne dasselbe, an uns geärgert hatten, welche Gelegenheit und Aufforderung, nun wiedergutzumachen, was früher nicht gutgetan war; nun zu beweisen, dass wir nicht so gesinnet waren, wie man sie glauben gemacht, oder dass wir jetzt wenigstens besser gesinnt sind! Sehen wir Personen dort, welche die Erde verkannt hatte, die ihre edlen wohltätigen Zwecke hier nicht nach Wunsch ausführen konnten aus Mangel an kräftigem Beistande von seiten anderer, welche Gelegenheit und Verpflichtung, ihrer Sache nun gerechtere Anerkennung, ihnen Gefährten und Teilnehmer zu verschaffen! Kommen wir dort mit Eltern, Erziehern, Lehrern und anderen Personen zusammen, welche nichts sehnlicher wünschten, als dass wir recht gut und vollkommen würden, mit welchem Eifer werden wir auch schon aus dem Grunde arbeiten an unserer Vervollkommnung und nicht ermüden, Gutes zu tun, auf dass sich diese Lieben dereinst unser recht herzlich erfreuen!

Aus: Bernard Bolzano - Ausgewählte Schriften (S.324-329 aus Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele)
Herausgegeben und eingeleitet von Eduard Winter
Union Verlag Berlin

Paradoxien des Unendlichen
Ich komme nun zu der Behauptung, dass es ein Unendliches nicht bloss unter den Dingen, die keine Wirklichkeit haben, sondern auch auf dem Gebiete der Wirklichkeit selbst gebe. Wer immer nur, es sei durch eine Reihe von Schlüssen aus reinen Begriffswahrheiten, oder auf sonst eine andere Weise, zu der hochwichtigen Ueberzeugung gelangt ist, dass ein Gott sei, ein Wesen, welches den Grund seines Seins in keinem anderen hat, und eben deshalb ein allvollkommenes ist, d. h. alle Vollkommenheiten und Kräfte, welche nur neben einander vorhanden sein können, und jede derselben in jenem höchsten Grade, in welchem sie nur neben einander sein können, in sich vereiniget: der nimmt schon eben hiermit das Dasein eines Wesens an, welches in mehr als Einem Betrachte, in seinem Wissen, in seinem Wollen, in seinem Wirken nach Aussen (in seiner Macht) Unendlichkeit hat, unendlich Vieles (nämlich das All der Wahrheiten) weiß, unendlich Vieles (nämlich die Summe alles nur an sich möglichen Guten) will, und Alles, was es will, durch seine Kraft, nach Aussen zu wirken, in Wirklichkeit setzt. Aus dieser letzteren Eigenschaft Gottes ergibt sich die weitere Folge, dass es auch ausser ihm Wesen, nämlich geschaffene gibt, die wir im Gegensatze zu ihm nur endliche Wesen nennen; an denen sich aber dennoch manches Unendliche nachweisen lässt. Denn schon die Menge dieser Wesen muss eine unendliche sein; ingleichen die Menge der Zustände, die jedes einzelne dieser Wesen während einer auch noch so kurzen Zeit erfährt, muss (weil jede solche Zeit der Augenblicke unendlich viele enthält) unendlich groß sein u. s. w. Auch auf dem Gebiete der Wirklichkeit begegnen wir also überall einer Unendlichkeit.
Aus: Bernard Bolzano: Paradoxien des Unendlichen ( S.36-37)
Herausgegeben aus dem schriftlichen Nachlaß des Verfassers von Dr. Franz Prihonsky. 1851
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1964