Wilhelm Weischedel (1905 – 1975)

Deutscher Philosoph, der in Marburg evangelische Theologie, Philosophie und Geschichte studierte. 1932 promovierte er in Freiburg zum Dr. phil. Nach 1945 war er zunächst Dozent, dann Professor der Philosophie in Tübingen, seit 1953 war er ordentlicher Professor an der Freien Universität in Berlin. Weischedel versuchte die Möglichkeit einer »philosophischen Theologie« in Auseinandersetzung mit dem europäischen Nihilismus in dem zweibändigen Werk »Der Gott der Philosophen – Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus« kritisch zu begründen. Einem größeren Leserkreis ist er aber vor allem durch sein amüsantes Sachbuch »Die philosophische Hintertreppe« bekannt geworden, in dem er den Leser mit großer Sachkenntnis in leicht verständlicher und teilweise anekdotenhafter Form mit den Kerngedanken von 34 Philosophen aus zweieinhalbtausend Jahren (mit Thales beginnend und bei Wittgenstein aufhörend) vertraut macht.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Das Vonwoher als Gott (§ 131)
Der Gott der Philosophen (§138)
Ewigkeit oder Zeitlichkeit des Vonwoher (§140)

Das Vonwoher als Gott (§ 131)
Im Begriff des Vonwoher gipfeln also alle bisherigen Bemühungen dieses Buches um eine Philosophische Theologie in der Situation der Gegenwart. Daher muss dieser Begriff den Ausgangspunkt für alles folgende bilden. Er ist im vorstehenden in seiner Legitimität ausgewiesen worden. Es ist auch gezeigt worden, dass er das letzte Aussagbare in der Richtung auf die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der radikalen Fraglichkeit ist. Jetzt kann es sich also nur noch darum handeln, ihn nach den Aspekten, die er in philosophisch-theologischer Hinsicht bietet, zu entfalten.

Gleich zu Beginn soll die grundlegende These ausgesprochen werden: Das Vonwoher der radikalen Fraglichkeit ist der einzige Begriff, der in der Situation des offenen Nihilismus, wie sie im Paragraphen 117 dargestellt worden ist, noch verwendet werden kann, wenn von Gott geredet werden soll. Gott, das ist für den nachdenklichen Menschen der Gegenwart nicht mehr ein höchstes Seiendes; denn die Wirklichkeit im ganzen ist fraglich geworden. Gott, das ist für den nachdenklichen Menschen der Gegenwart nicht mehr ein absoluter Geist; denn die Geisthaftigkeit des letzten Prinzips ist im radikalen Fragen untergegangen. Gott, das ist für den nachdenklichen Menschen der Gegenwart nicht mehr eine absolute Person; denn die Personhaftigkeit des Absoluten ist im Feuer des radikalen Fragens verbrannt. Keiner der traditionellen Gottesbegriffe darf also unversehens mit ins Spiel kommen. Gott muss vielmehr ganz und allein von dem einzig Verbleibenden, der Fraglichkeit der Wirklichkeit, her betrachtet werden. Geschieht das aber, dann kann er nichts anderes als das Vonwoher der radikalen Fraglichkeit, des Schwebens aller Wirklichkeit zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, sein.

Man könnte fragen, warum überhaupt noch das Wort »Gott« verwendet wird und weshalb man es nicht bei dem Ausdruck »Vonwoher« belässt. Dafür lässt sich in der Tat kein durchschlagender Grund angeben, der eine Notwendigkeit ausdrückte. Es wäre durchaus möglich, auf das Wort »Gott« zu verzichten, zumal dies schon Hegel — wie im Paragraphen 69 des ersten Bandes gezeigt worden ist — in der »Phänomenologie des Geistes« erwägt. Wenn gleichwohl noch von Gott gesprochen wird, so geschieht dies darum, weil die Enthüllung der Fraglichkeit der Wirklichkeit im Zusammenhang der philosophisch-theologischen Problematik steht, wie sie im ersten Bande dieses Buches in ihrem Aufstieg und ihrem Verfall dargestellt worden ist. Das Vonwoher der radikalen Fraglichkeit steht genau an der Stelle, an der im traditionellen Sprachgebrauch Gott steht: als — wie im Paragraphen 129 ausgeführt worden ist — das Letzte und Absolute, das von der Wirklichkeit ausgesagt werden kann. Das Wort »Vonwoher« trifft also in der einzigen heute noch möglichen Weise das, was in der ganzen Geschichte der Philosophie unter dem Ausdruck »Gott« gesucht worden ist. So kann man — in etwas verwegener Formulierung — sagen: Mit dem Wort »Vonwoher« ist die uns heute noch zugängliche Wahrheit des Ausdrucks »Gott« getroffen. Damit ist der im Zeitalter des Nihilismus einzig mögliche Begriff des Gottes der Philosophen ausgesprochen.

Kann nun das bisher Ausgeführte den Anspruch erheben, einen Gottesbeweis geliefert zu haben? Davon kann keine Rede sein, wenn man an die traditionellen Arten von Gottesbeweisen denkt, wie sie im 1. Teil dieses Buches ausgelegt worden sind. Weder der reine Begriff Gottes noch die Kontingenz der Welt noch die Ordnung in der Wirklichkeit führen zum Ziel. Überhaupt kann es nicht gelingen, mit dem Anspruch auf Wahrheit von Gott zu reden, wenn man meint, dies könne in der Weise eines auf unmittelbare begriffliche oder reale Gegebenheiten sich stützenden Schlusses geschehen; all diese Fakta sind ja fraglich geworden. Um noch heute vom Gott der Philosophen sprechen zu können, muss zunächst die radikale Fraglichkeit als die Wahrheit der Wirklichkeit erfaßt und im Grundentschluß übernommen sein, und es muss die Frage nach einem Vonwoher dieser radikalen Fraglichkeit in ihrer Legitimität aufgewiesen sein. Das nun ist in den bisherigen Überlegungen dieses Teiles geschehen. So kam. im folgenden mit Fug, ohne dass dahinter die Anmaßung eines Gottesbeweises stünde, von Gott geredet werden.
Damit ist die Grundfrage des vorliegenden Buches beantwortet. Es kann auch heute, im Zeitalter des Nihilismus, eine Philosophische Theologie geben. Sie ist freilich nur möglich, wenn ihren Ausgangspunkt die radikale Fraglichkeit bildet und wenn sie von Gott ausschließlich im Sinne des Vonwoher dieser radikalen Fraglichkeit redet. Die Philosophische Theologie ist dann nicht ein mehr oder minder begründetes Lehrstück, das dem allgemeinen Philosophie angegliedert wird. Sie ist vielmehr die Konsequenz und die Krönung des Philosophierens, weil sie aus diesem selber entspringt. Denn das Philosophieren wird, wenn es sein fragendes Wesen sich ausschwingen lässt, von sich selber her zur Philosophischen Theologie als der Theologie des Vonwoher. [...]

Der Gott der Philosophen
(§138)
Das nun ist der Gott der Philosophen, wie heute noch von ihm gesprochen werden kann, nachdem seine vergangenen Auslegungen untergegangen sind. Er ist kein unmittelbarer Gott, aber auch kein erdachter Gott. Er ist das Vonwoher, dessen Begriff aus der Betrachtung der Weltwirklichkeit entspringt, wenn diese als seiend, als nichtseiend und als schwebend angesehen wird. Gott ist das Vonwoher dieser Momente der Weltwirklichkeit; er ist das Sein, die Nichtigkeit und das Schweben zwischen diesen beiden, alles freilich nur in einer analogen Anwendung Begriffe. Soviel jedenfalls kann von ihm ausgesagt werden, wenn man dem Rechnung trägt, was das menschliche Denken erreichen kann. Und da im Schweben die beiden Momente des Seins und der Nichtigkeit inbegriffen und gehalten sind, kann man schließlich in einem Satze sagen: Der Gott der Philosophen — das Vonwoher — ist das absolute Schweben. Das ist freilich wenig, wenn man sich vor Augen hält, was vergangene Jahrhunderte über Wesen und Walten Gottes aussagen zu können gemeint haben. Doch hier liegt eine Grenze für ein ausweisbares philosophisches Reden. Jenseits ihrer beginnt der Bereich der Unzugänglichkeit Gottes: die Region seiner Unsäglichkeit, seiner Unvordenklichkeit. Was man nun noch wissen kann, ist nur: Gott — das Vonwoher — ist vermutlich umfassender als das, was der menschliche Geist von ihm begreifen kann. So tritt am Ende an die Stelle des Redens das Schweigen. [...]

Ewigkeit oder Zeitlichkeit des Vonwoher (§140)
[...] Fasst man die Vermutungen, die für eine Ewigkeit des Vonwoher sprechen, mit den Erwägungen zusammen, die dessen Zeitlichkeit nahelegen, dann wird der Schluss unvermeidlich: Die Frage nach Ewigkeit oder Zeitlichkeit des Vonwoher muss offen bleiben. Wie der Gott der Philosophen in sich selber ist, ob ewig oder zeitlich, gehört zu dessen Unzugänglichkeit, Unsäglichkeit und Unvordenklichkeit.
Aus: Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen , Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus ,
Band 2: Abgrenzung und Grundlegung. Sonderausgabe 1998 der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt (S. 216-218, 237-238, 241)
(reprogr. Nachdruck der 1975 in dritter Auflage erschienenen zweibändigen Ausgabe).
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