Richard Rolle von Hampole (1300 – 1349)

  Englischer Einsiedler und Mystiker, der mit neunzehn Jahren die Universität Oxford verließ und danach an verschiedenen Orten als Laienprediger und Einsiedler lebte. Für Rolle ereignet sich der Höhepunkt der mystischen Ekstase im harmonischen Zusammenklang der Seele mit der überirdischen Melodie der himmlischen Sphären.


Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis
Mystisches Selbstzeugnis
Zweierlei Armut


Mystisches Selbstzeugnis
Von dem Anfang meiner Lebens- und Geistesumwandlung bis zu dem Augenblick, wo mein Geist des Himmelstores ansichtig wurde, um mit den Augen des Herzens das Himmlische enthüllt zu schauen und zu erkennen, wie ich meinen Geliebten suchen und zu ihm mich durchringen solle, verflossen drei Jahre weniger drei Monate. Dann verging ein Jahr, in dem das Tor des Himmels geöffnet blieb, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich die Glut der ewigen Liebe wahrhaft im Herzen empfand. Ich saß nämlich in einer Kapelle, und während ich mich an der Süßigkeit des Gebets oder der Betrachtung gar sehr ergötzte, empfand ich plötzlich in mir eine ungewohnte, wonnigliche Glut. Lange zweifelte ich, woher sie stamme, bis ich merkte, dass sie nicht von einem Geschöpfe, sondern vom Schöpfer ausgehe. Denn ich fand sie in steigendem Maße nur immer brennender und wonniger.

Während der Zeit, wo jene unvergleichlich süße Glut in sinnlich wahrnehmbarer Weise brannte, verging ein halbes Jahr, drei Monate und einige Wochen bis zur Einflößung und Wahrnehmung des himmlischen oder geistlichen Tones, der in. dem ewigen Lobgesang erklingt und die Süßigkeit der überirdischen Melodien atmet, da er nicht hervorgebracht noch vernommen werden kann außer von dem, dem er mitgeteilt worden ist — und ein solcher muss gereinigt und von der Erde gelöst sein. Als ich nämlich in derselben Kapelle saß (es war am Abend vor Essenszeit) und nach Kräften sang, da hörte ich über mir wie ein Getön von Zitherspielern oder richtiger von Singenden. Und während ich auch durch Gebet meinen Sinn mit voller Sehnsucht auf das Himmlische richtete, spürte ich alsbald in mir einen wunderbaren Zusammenklang und empfing vom Himmel die wonnereichste Harmonie, die je in meiner Seele weilte. Denn mein Denken verwandelte sich fortwährend in tönenden Gesang und meine Betrachtungen in Hymnen, und im Verfolge brach vor dem Übermaß innerer Süßigkeit das als Gesang hervor, was ich zuvor nur gesagt hatte. Im Verborgenen freilich, nur vor meinem Schöpfer. Nicht wurde dies denen bekannt, bei denen ich weilte. Wenn sie es gewusst hätten, würden sie mich über die Maßen geehrt haben, und ich hätte so den schönsten Teil jener Gnade eingebüßt und wäre in Trostlosigkeit verfallen.

Zuweilen ergriff mich Verwunderung darüber, dass ich also verzückt war und dass Gott mir Gnaden verliehen, um die ich meines Wissens nicht gebeten und von denen ich nicht glaubte, dass sie auch dem Heiligsten in diesem Leben zuteil würden. Daher erachte ich, dass dies keinem seiner Verdienste wegen zuteil werde, sondern dass Christus es aus Gnade verleihe, wem er wolle. Ich glaube jedoch, dass niemand jene Gnade erhalte, wenn er den Namen Jesu nicht auf besondere Weise liebt, so dass er denselben nie (außer im Schlafe) aus seiner Erinnerung schwinden lässt . . .

So verflossen denn vier Jahre und etwa drei Monate von dem Anfang meiner Geistesumwandlung bis zur höchsten Stufe der Liebe Christi, die ich durch Gottes Gnade erreichen mochte, wo ich das Lob Gottes in Jubelgesang erschallen ließ. Dieser Zustand mit den früheren zusammen dauert dann bis zum Ende, und nach dem Tode wird er noch vollkommener, da die Wonne der Liebe, die hienieden beginnt, im Reiche des Himmels zur glorreichsten Vollendung gelangen wird
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S.440ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München


Zweierlei Armut
Ich habe für meine Person gelernt, in den Verhältnissen, in denen ich bin, mir selbst zu genügen: ich weiß mich einzuschränken und weiß auch mit Überfluß umzugehen. Phil 4, 11
In der Lösung vom Irdischen mit Nachfolge Christi liegt nach dem Wort Jesu die Vollkommenheit (Lk 18,22). Nicht alle folgen Christus, die ihre Güter aufgegeben haben — und manche, die ihm äußerlich nachfolgten, sind nachher weniger gut als vorher.

Worauf es ankommt, ist vor allem eine Verwandlung des Begehrens, eine neue Geisteshaltung. Aus einem stolzen soll ein demütiger, sanfter, liebevoller, freigebiger, reiner, mäßiger Mensch werden. Was ist Armut des Geistes anders als Herzensdemut, wodurch man seine Armseligkeit erkennt und das Bewusstsein hat, alles nur von der Gnade Gottes zu empfangen? Die Armut als solche, die Armut im äußeren Sinne, ist noch keine Tugend, sondern eher ein Übel stand und nicht um ihrer selbst willen lobenswert, sondern sofern sie ein Mittel der sittlichen Reinigung und Reife ist. Dann ist sie lobenswert und wünschbar und bewahrt vor falscher Ehrsucht.

Die wohl die freiwillige Armut haben, aber ohne Demut und Milde wie Christus sie lehrte, sind ärmer daran als die Heiden. Die aber durch Demut und Milde hervorragen, werden, auch wenn sie großen Reichtum besitzen, zum Reiche Christi stehen.

Auch die nicht äußerlich arm sein möchten, können zu hoher Tugend gelangen und sich zur Schau des Himmlischen erheben, wenn sie sich vom Geist der Welt freihalten und an das Irdische nicht ihre ganze Liebe hängen, sondern es mit innerer Freiheit besitzen, so dass sie gegebenenfalls sich auch davon lösen können.

Laßt uns Hohes im Sinne haben, auch wenn wir‘s nicht zu Hohem bringen! Auf das wenige Große, was wir besitzen, wollen wir nicht stolz sein und uns nichts darauf einbilden: dann werden wir zu einer schönen Ordnung des menschlichen Lebens gelangen.
S.227
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München