John Stuart Mill (1806 - 1873)
>>>Gott
Vorbildfunktion
Christi
Vor allem aber kommt die wertvollste Wirkung auf den Charakter,
den das Christentum hervorgebracht hat, indem es in einer göttlichen Persönlichkeit
einen Maßstab von Vortrefflichkeit und ein Vorbild aufgestellt hat, selbst
dem absolut Ungläubigen zugute und kann der Menschheit nie mehr verlorengehen.
Denn es ist eher Christus als Gott,
den das Christentum den Gläubigen als Muster menschlicher Vollkommenheit
vor Augen gestellt hat. Es ist der fleischgewordene Gott
eher als der Gott der Juden oder der Natur, der
in seiner idealen Gestalt einen so großen und heilsamen Einfluß
auf den modernen Geist geübt hat. Und was uns philosophische Kritik auch
sonst noch nehmen mag — Christus bleibt uns
dennoch, eine einzig dastehende Gestalt, ebenso unähnlich allen seinen
Vorgängern wie allen seinen Nachfolgern, selbst denen, die sich seiner
unmittelbaren persönlichen Unterweisung erfreuten. Es tut nichts zur Sache,
ob man sagt, daß der Christus, wie er in
den Evangelien dargestellt ist, nicht historisch sei und daß wir nicht
wüßten, wieviel von dein, was an ihm bewunderungswürdig ist,
von der Tradition seiner Anhänger hinzugefügt worden ist.
Die Tradition der Nachfolger genügt, alle möglichen Wunder hinzugefügt
zu haben, und sie mag alle Wunder hinzugefügt haben, die er bewirkt haben
soll. Aber wer unter seinen Schülern oder unter den von ihnen Bekehrten
war imstande, die Jesus zugeschriebenen
Reden zu erfinden oder das Leben und den Charakter, wie sie uns in den Evangelien
entgegentreten, zu erdenken? Gewiß nicht die galiläischen
Fischer; gewiß nicht Paulus, dessen Charakter
und Neigungen in eine ganz andere Richtung gingen; und noch weniger die ersten
christlichen Schriftsteller, bei denen nichts offenbarer ist, als daß
alles Gute, was an ihnen war (wie sie auch immer bekannten),
aus der höheren Quelle hergeleitet war.
Was von einem Schüler hinzugefügt und interpoliert werden konnte,
können wir in den mystischen Partien des Johannes-Evangeliums
sehen, die Philo und den Alexandrinischen
Platonikern entlehnt und dem Heiland in
den Mund gelegt sind — in langen Reden über sich selbst, von
denen die anderen Evangelien nicht die geringste Spur enthalten, obgleich sie
angeblich bei den bedeutendsten Anlässen und in Gegenwart aller seiner
Hauptjünger, ganz besonders beim heiligen Abendmahl, gehalten sein sollen.
Der Orient war voll von Männern, die jede beliebige Menge von solchem Zeug
gestohlen haben konnten, wie es die vielerlei Sekten der orientalischen Gnostiker
später getan haben; aber dem Leben und den Reden Jesu
ist ein Zeichen persönlicher, mit tiefster Einsicht verbundener Originalität
aufgeprägt, das — sofern wir die müßige Erwartung aufgeben,
wissenschaftliche Genauigkeit da zu finden, wo etwas ganz anderes beabsichtigt
war — den Propheten von Nazareth selbst in der Wertschätzung derer,
die nicht an seine Inspiriertheit glauben, in die erste Reihe der Männer
von erhabenem Genius stellen muß, deren sich
unser Geschlecht rühmen kann.
Wenn dieser außerordentliche Genius mit den Eigenschaften des wahrscheinlich
größten moralischen Erneuerers und Märtyrers, den es jemals
auf Erden gegeben hat, verbunden erscheint, so kann man nicht sagen, daß
die Religion eine schlechte Wahl getroffen hat, indem sie diesen Mann als den
idealen Repräsentanten und Führer der Menschheit aufgestellt hat;
auch jetzt noch würde es selbst für einen Ungläubigen nicht leicht
sein, eine bessere Übersetzung der Regeln Tugend vom Abstrakten ins Konkrete
zu finden als die, zu leben, daß Christus
unser Leben gutheißen würde. Nimmt man hinzu, daß auch für
den rationalen Skeptiker weiterhin eine Möglichkeit besteht, daß
Christus wirklich das war,
wofür er sich hielt, nicht Gott —
denn darauf erhob niemals auch nur den geringsten Anspruch und würde in
einem solchen Anspruch wahrscheinlich eine ebenso große Blasphemie gesehen
haben wie die Männer, die ihn verurteilten —, aber ein mit einer
besonderen, ausdrücklichen und einzigen Mission, die Menschheit zur Wahrheit
und zur Tugend zu führen, betrauter Mann, so dürfen wir wohl schließen,
daß die Einflüsse der Religion auf den Charakter, die übrig
bleiben, nachdem die rationale Kritik ihr Äußerstes gegen die Beweisgründe
der Religion getan hat, sehr wohl der Erhaltung wert sind und daß das,
was ihnen an unmittelbarer Stärke im Vergleich mit der eines festeren Glaubens
mangelt, durch die größere Wahrheit und Gradlinigkeit der Moral,
die sie verbindlich machen, mehr als aufgewogen wird.
Aus: John Stuart Mill, Drei Essays über die Religion.
Natur – Nützlichkeit der Religion – Theismus
Auf der Grundlage der Übersetzung von Emil Lehmann, neu bearbeitet und
mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Dieter Birnbacher
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© 1984 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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