Ralf Miggelbrink (1959 - )
Deutscher Religionsphilosoph und Theologe; Studium der katholischen Theologie, Philosophie und Germanistik; 1989 Promotion in Münster; langjährige Arbeit im Schuldienst; 1999 Habilitation für Dogmatik in Innsbruck; seit 2001 Professor für Systematische Theologie in Essen. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Biblischer Gotteszorn
Christus
Jesus, der Bote des Gerichts und der kommende Richter
Biblischer
Gotteszorn
Sowohl bei den Propheten als auch in der deuteronomistischen Bewegung verbinden
sich die Motive der Transzendenz Gottes, der Ethisierung der Religion, der Individualisierung
der Verantwortung mit Motiven göttlicher Gewalt und göttlichen Zorns.
Die Hauptquellen biblischen Gotteszornes erweisen die göttliche Negativität
gegenüber Welt und Mensch nicht als Rudiment archaischer Verehrung für
das Gewalttätige, sondern erkennen diese Negativität Gottes gegenüber
Welt und Mensch als Moment an jener Transzendenz Gottes,
deren Erkenntnis die Ethisierung der Religion begleitet. Diese Beobachtung
muss eingewandt werden gegen den Versuch Georg Baudlers, die Wirklichkeit des
Gotteszorns im Alten Testament zu deuten als Rudiment einer archaischen Furcht
vor der zerstörerischen Wildnis, die ihr Symbol im wütenden Stier
habe.
Das prophetisch-deuteronomistische Bild des zornigen Gottes entspringt nicht
zerstörerischer Naturerfahrung. Es sind vielmehr höchst konkrete Bilder
kriegerischer Gewalt, denen realistische Einschätzungen drohender militärischer
Niederlagen zu Grunde liegen. Die Rede vom zornigen Gott verbindet sich mit
politischer und militärischer Hellsichtigkeit. Es ist keineswegs panische
Angst, sondern eher strategischer Realismus, der die Bilder der Vernichtung
evoziert. Von Realismus zeugt auch die Eigendynamik, die die Propheten dem Zorn
Gottes zuordnen: Wo Gott zürnt, da wütet Gewalt nicht so punktgenau,
dass zwischen Gerechten und Ungerechten unterschieden würde. Wenn die Katastrophe
im Zusammenbruch der sozialen Ordnung besteht, dann betreffen die Folgen alle
Menschen im Sozialwesen. Der politisch-strategische Realismus und nicht die
theologische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes bestimmt ganz offensichtlich
die konkrete Gestalt, in der die biblischen Autoren das Wüten des Gotteszornes
erblicken.
Dieser strategisch-politische Realismus ist in der Achsenzeittheorie unweigerlich
mit der Bindung des Einzelnen an den transzendenten Gott verbunden. Erst in
der Bindung an den alle gesellschaftlichen, familiären und sippenmäßigen
Bindungen übersteigenden Gott entwickelt sich jene Freiheit des Denkens,
die die Ungeheuerlichkeit des Unterganges der eigenen Lebenswelt überhaupt
denkbar macht. Denkbar aber wird die Katastrophe im Horizont der anderen Motive
der Achsenzeit: Die staatliche Katastrophe wird gedacht als Folge der moralischen
Katastrophe. Als solche bleibt sie gebunden an den Zielgrund der Moralität,
den transzendenten Gott. Diese Bindung wird in der Metapher des Gotteszornes entfaltet.
Die Theologie des Gotteszornes verschärft die moralische, rechtliche und
schließlich die staatliche Katastrophe zur religiösen. Zugleich aber
liegt in dieser Bindung des Unterganges an Gott auch ein Hoffnungsaspekt beschlossen,
wie ihn das Jeremiabuch entfaltet. Der Untergang ist trotz der Wahllosigkeit
des mit ihm verbundenen Wütens doch kein blindes Fatum. Das vermehrt den
mit ihm verbundenen Schmerz, birgt aber auch die Hoffnung eines Neuanfangs.
[...]
Mit welchem Recht lassen sich Dignitätsunterschiede biblischer Texte rational
überprüfbar und nachvollziehbar begründen? Dies ist sicherlich
da möglich, wo der historisch-kontingente Zweck bestimmter Textelemente
sehr klar zu Tage liegt. Wo aber ganze Bücher oder größere Texteinheiten
betroffen sind, gebietet der Respekt vor der Bibel als der Urkunde der Offenbarung
Gottes die sorgfältige Nachfrage, ob nicht auch diese Texte einen Offenbarungsgehalt
erkennen lassen, der im Gesamtkontext der biblischen Gottesaussage sinnvoll
interpretierbar ist. Hilfreich ist dabei ein Offenbarungsmodell, das ein Verständnis
des Entstehungskontextes biblischer Literatur ermöglicht, das dieses nicht
bloß als störendes, möglichst wegzufilterndes ,Rauschen‘ im Kommunikationsprozess des Gläubigen mit der Urkunde seines Glaubens
wahrnimmt.
Ein solches Verständnis des historischen Entstehungskontextes biblischer
Texte als selbst zur Offenbarung Gottes hinzugehörig setzt die Überwindung
eines latenten Deismus in der Systematischen Theologie voraus. Ein solcher latenter
Deismus ist überall dort wirksam, wo der Theismus immunisiert wird durch
die weitestgehende Trennung von Gott und Geschichte. Diese Trennung scheint
zunächst ja der legitime Ausdruck der fundamentalen Einsicht in die Transzendenz
und Weltjenseitigkeit Gottes zu sein. Darin gerade unterscheidet sich der biblische
Gott von den Götzen, dass er die Welt umspannen kann als der, der nicht
zu ihr gehört, dass er die Welt erlösen kann als der, der nicht in
ihren Mechanismen gefangen ist. Als der absolut Transzendente wird Gott nicht
getroffen durch die menschliche Beschwerde ob seiner mangelnden Erfahrbarkeit.
Die biblische Gottesbotschaft aber ist fundiert durch die Überzeugung,
dass der Transzendente in der Welt und der Geschichte aktiv ist, ja, dass der
tiefste Sinn seiner Jenseitigkeit sich für Menschen erst erschließt
in diesem leidenschaftlichen Wirken Gottes in der Welt. Gottes Jenseitigkeit nämlich ist nicht das reine Desinteresse des über allem Erhabenen (excelsus super omnia), sondern Gottes
Jenseitigkeit ist die Möglichkeitsbedingung dafür, dass seine Diesseitigkeit wirklich erlösend sein kann.
Die Aktivität Gottes in der Geschichte, seine Kausalität in der Welt
ist mehr, als der dünne Begriff ,,Erfahrung“ zu retten vermag. Der Begriff der „Erfahrung“ schien lange Zeit
das einzige Reservat zu umgrenzen, das die Theologie der innerweltlichen Wirksamkeit
Gottes noch einzuräumen bereit war. Der Begriff brachte dazu durchaus geeignete
Bedeutungsdimensionen mit: Wo Gottes Präsenz in der Geschichte mit dem
Begriff der Erfahrung bezeichnet wird, da wird ernst genommen, dass sich Gott
durch Menschen in die Geschichte hinein vermittelt. Erfahrung bezeichnet dabei
eine Form des Wissens, die in der Lebensgeschichte des Einzelnen gewonnen wird
und die deshalb fest im Gedächtnis und der gewordenen Persönlichkeit
des Einzelnen verwurzelt ist.
Dennoch ist der Erfahrungsbegriff überfordert, wenn er zum Inbegriff der
innerweltlichen Wirksamkeit Gottes und seines Den-Menschen-Offenbarwerdens wird.
Dies gilt aus drei Gründen:
(1) Erfahrung bezeichnet auch eine vage, ungenaue
Form des Wissens.
(2) Erfahrung bezeichnet ein bis zur Inkommunikabilität
subjektives Wissen.
(3) Erfahrung bezeichnet ein rein inneres Erleben des Subjekts.
Die Bibel dagegen schildert Gottes Wirksamkeit in der Welt nicht als vage, inkommunikabel
und lediglich das innere Erleben des Menschen betreffend, sondern gerade im
Kontext des Zornes Gottes wird Gottes Wirken in der Welt erkannt als dezidiertes,
sehr mitteilungsorientiertes und politisch-öffentlich relevantes.
Bei den Schriftpropheten wird Gottes Wille für die konkrete Gegenwart offenbar
durch einen intellektuellen Prozess. Innerhalb dieses Prozesses findet eine
ökonomisch-politische Analyse der Gegenwart statt, die konfrontiert wird
mit der biblischen Weisung zu einem staatlich-gesellschaftlichen Leben, das
orientiert wird an der Verpflichtung, allen Lebensraum zu gewähren. Die
Erfahrung der Diskrepanz zwischen der Weisung JHWHs zum Leben einerseits und
der erfahrenen Realität andererseits lässt die Propheten in ihre geschichtliche
Situation hinein verkünden, was sie als »Wort JHWHs« erleben. Innerhalb dieses Konzepts einer historisch-praktischen Auslegung
des Willens JHWHs für die Welt ist es nicht erforderlich, theologische
Sätze von zeitloser Dauer zu formulieren. Theologische Gottesrede ist nicht
theo-logische Rede über Gott,
sondern Vermittlung der Worte (lógoi) Gottes in die konkrete Situation der Gegenwart hinein. Das bedeutet jedoch nicht,
dass die Worte der Propheten nur zeitgeschichtlich interessant wären, so
als müssten sie den Dogmatiker nicht interessieren, weil der Exeget in
seiner Rolle als biblischer Zeithistoriker sich bereits erschöpfend mit
ihnen befasst. Die zeitgeschichtliche Kontingenz schließt die metageschichtliche
Relevanz deshalb nicht aus, weil sich historische Konstellationen ebenso wiederholen,
wie Gottes Weisung zur Ermöglichung des Lebens für alle zeitlos der
Schöpfung als Gesetz eingeschrieben ist. Es wiederholt sich der Grundkonflikt
zwischen Gottes Weisung zu einer Leben ermöglichenden Gemeinschaftstreue
und den wuchernden Strukturen menschlichen Eigennutzes, die sich aufblähen
und perfektionieren, bis sie schließlich daran zugrunde gehen, dass sie
dem Willen des Schöpfers und der von ihm verfolgten Ordnung der Welt widersprechen.
Wird Theologie so verstanden, als Teilhabe an dem Prozess, in dem Gott innergeschichtlich
wirksam im Wort der Weisung und Zurechtweisung sich selbst vermittelt, dann
überwindet Theologie die Versuchung einer rein objektivierenden Sprechweise,
die von der Theologie selbst in Bezug auf Gott immer als inadäquat erkannt
wurde. Gottesrede steht dann unter dem Primat der aktiven Einflussnahme in den
gesellschaftlichen und politischen Prozessen der Gegenwart. Im Lichte eines
solchen nicht mehr am Ideal der theoretischen Vernunft, sondern am Vollzug der
praktischen Vernunft orientierten Modells theologischer Rede wird auch ein verändertes
Verständnis biblischer Widersprüche möglich.
Aus: Ralf Miggelbrink, Der zornige Gott. Die Bedeutung
einer anstößigen biblischen Tradition (S. 38-39, 42-45)
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