Ralf Miggelbrink (1959 - )
>>>Gott
Jesus, der Bote
des Gerichts und der kommende Richter
[...] Die letzte öffentliche Rede Jesu enthält nach einer Zäsur,
die durch das Theophaniemotiv des Donners markiert wird (Joh
12, 29), die programmatische Sentenz: »Jetzt wird
Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt
hinausgeworfen« (Joh 12, 31). Jesus hat sich schon vorher im Johannesevangelium als der von Gott eingesetzte Richter des Kosmos offenbart (Joh
5, 22.27). Jesu Gericht ist hinsichtlich seines Inhaltes Gericht gemäß dem Willen des Vaters (Joh 5,30). Was das bedeutet,
erklärt Joh 12, 33. Der Vers stellt eine direkte
Verbindung zwischen dem Motiv der Erhöhung und dem Kreuzestod her. Die
Erhöhung aber ist wiederum auf das Motiv des Gerichts bezogen (Joh
12, 32). So kommt es zu der paradoxen Aussage, dass der erhoffte eschatologische
Herrschaftsantritt Gottes, mit dem die Macht der gegen Gott stehenden antagonischen
Kräfte in der Welt endgültig gebrochen wird, sich ereignet als das
tödliche Gericht über den eschatologischen Richter. Der johanneische
Jesus wird nach seiner Auferstehung den eigenen Tod als das erfolgreiche eschatologische
Gericht deuten und erklären, dass die Wahrheit der Einsicht in den erfolgreichen
Charakter des Gerichtes durch den Parakleten vermittelt werden wird (Joh
16, 8.11): Das Gericht des Kreuzes war der Herauswurf des »Herrschers
dieser Welt«. Als solches wird es aber nur unter dem Beistand des Parakleten erkannt, das heißt im
Raum des Glaubens, des Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus.
Wo dieses Bekenntnis das Leben bestimmt, da herrscht die Einsicht in den Heilscharakter
des Kreuzes, da haben Menschen jene transzendentale. die Horizonte des Deutens
und Verstehens revolutionierende Erfahrung gemacht, dass Gott in der Welt siegt,
indem er verliert, dass er diejenigen. die er sammelt zu seiner Gemeinde. inspiriert,
sich auf diese Logik einzulassen, dass der Sieg Gottes gegenüber der Welt,
seine endgültige Selbstdurchsetzung darin besteht, dass er auf diese Selbstdurchsetzung
verzichtet. Gott wirft den Herrscher dieser Welt aus der Welt, indem er sich
selber hinauswerfen lässt. Die Gestalt seiner Präsenz nach dem Herauswurf
ist diejenige des Parakleten. Durch den Parakleten sammelt er die Menschen,
die den transzendentalen Bruch, die epistemologische Revolution mitvollziehen,
im Gescheiterten das Siegreiche erkennen zu können. Soll diese johanneische
Spekulation mehr sein als eine ästhetische Spielerei, soll vielmehr die
Ästhetik der Paradoxie als Wahrheit erkannt werden. so ist dies nur möglich,
wenn der aus der Welt Verdrängte in der Wirklichkeit Gottes nicht nur der
Verdrängte ist, der ohnmächtige. leidende Gott, sondern wenn aus der
Wirklichkeit Gottes heraus eine machtvoll belebende und verwandelnde Dynamik
gegenüber der Welt spürbar wird. Das Auferstehungs- und das Pfingstbekenntnis
bezeugen diese verwandelnde und belebende dýnamis Gottes. Sie ist eine die Wirklichkeit verwandelnde Macht Gottes, die allerdings
nicht am Kreuz vorbei und unter Absehung vom Kreuz wirkt. Der Herr dieser Welt,
die antagonischen Kräfte der Wirksamkeit gegen Gott, werden nicht anders
besiegt und gerichtet, als indem ihr scheinbarer Sieg am eigenen Leibe erlitten
wird. Das ist die Wahrheit des göttlichen Gerichtes über die
Welt, die der Paraklet aufdecken wird (Joh 16, 8).
Die Jesus-Offenbarung revolutioniert das apokalyptische Gerichtsverständnis:
Gott setzt sich im Gericht gegen die gegen ihn stehende Welt durch, er richtet
diese Welt. Dies geschieht jedoch nicht als Akt der Überlegenheit legitimer
Gewalt, sondern paradoxerweise im Durchleiden des eigenen Unterworfenseins unter
die illegitime Gewalt. Dies ist die bittere Seite der angeblichen Frohbotschaft,
dass Gott nicht richte und nicht strafe. Es ist die bittere Erkenntnis, dass
Gott straft und richtet, indem er die Gerechten das Gericht der widergöttlichen
Welt erleiden lässt und sich ihnen gegenüber gerade darin als der
erweist, der den Herrn der Welt hinauswirft. In der durchlittenen Schwäche
erweist sich die Überlegenheit der göttlichen Stärke, im zynischen
Erhöhtsein des Gekreuzigten ereignet sich die göttliche Sammlung (Joh
9, 32).
Mit den Evangelien bekennt das kirchliche Glaubensbekenntnis den Gerichteten
als den kommenden Richter. Mit Recht wurde immer darauf hingewiesen, dass das
kommende Gericht die Wesensmerkmale des Gerichteten tragen werde. Mit Recht
hat man auf Jesu Praxis der Sündenvergebung als Grund der Zuversicht hinsichtlich
des Gerichtes Christi betont hingewiesen. Wenig wurde bisher beachtet, dass
die paradoxale Auslegung des Gerichtsbegriffes durch Johannes Auswirkung auf
das christliche Reden auch vom eschatologischen Richten Jesu haben muss. Nicht
zuletzt wegen ihrer häufigen ikonographischen Rezeption dürfte die
Szene vom Weltgericht in Mt 25,31—46 das
christliche Gerichtsdenken am nachhaltigsten bestimmt haben: Eschatologisches
Gericht bedeutet hier das Schaffen klarer Verhältnisse anlässlich
der Parusie des Menschensohnes. Das Johannesevangelium zieht dagegen das Richten
Gottes in die Zweideutigkeit der weltlichen
Verhältnisse. Damit entspricht es der präsentischen Eschatologie Jesu:
Gottes eschatologisches Handeln hat in Jesus Christus begonnen. Es setzt sich
fort als Prozess der Scheidung, der krísis,
also des Gerichts. Das Reich Gottes steht
in einer antagonischen Welt mit seiner Botschaft der rettenden und vergebungsbereiten
Liebe Gottes als der Grundlage eines erneuerten, grundstürzend verwandelten
Lebens, das zur Bildung einer neuen Gemeinschaft führt, die genau dies
bezeugt: die unterscheidende, rettende und verwandelnde Macht Gottes, an der
aber auch Menschen ihre eigene Widerständigkeit gegen Gott erleben und
durchleiden müssen.
Das in Jesus Christus offenbar gewordene Heil ist spezifisches Heil. Es trägt
den Charakter seines Ursprungs von Jesus her. Es ist machtvoll sich durchsetzende
Lebensfülle Gottes, die aber unter dem Gesetz ihres Angefeindetseins weiterhin
steht. Dieser Anfeindung gegenüber setzt sie sich nicht mit den Mitteln
der Macht und der Gewalt durch, sondern ,more Dei‘,
wie es in Jesus Christus offenbar wurde: sammelnd, inspirierend, Gewalt überwindend,
vertrauend auf die größere Macht Gottes gegenüber den vernichtenden
Mächten dieser Welt. Die Größe der Macht Gottes nämlich
hat sich in der Auferweckung Jesu erwiesen als seine dýnamis,
Leben neu zu erwecken. Mit dieser Macht steht Gott spezifisch
gegen alle Mächte und Gewalten,
deren Macht immer darin besteht, mit dem Tod zu drohen oder ihn zu vollstrecken.
Gottes Macht ist nicht die Vollstreckung des Todes, sondern die Unbesiegbarkeit
des von ihm kommenden Lebens. [...]
Am Beispiel Jesu entfaltet sich die Dramatik des Antagonismus von Gott und Welt:
Gott will das Heil aller Menschen. Er treibt Jesus wie Jeremia in den Zorn über
die menschliche Verweigerung. Er inspiriert Jesus dazu, die Gewalt der menschlichen
Verweigerung zu durchleiden. Darin erfährt Jesus die größere
Lebensmacht Gottes, die aus dem aufgezwungenen Tod in eine neue Qualität
des Lebens führt, in der Jesus verbunden ist mit der alle Menschen suchenden
Liebe Gottes. Grundsätzlich ist damit zu rechnen, dass diese Abfolge menschlicher
Reaktionen und Erfahrungen angesichts des dynamischen Antagonismus von Gott
und Welt nicht nur die Biographie Jesu kennzeichnen, sondern dass sie prägend
ist für das Leben eines jeden Christen, dass sie gar Stufen christlicher
Existenz bezeichnet. Christliches Leben ist zu verstehen als an der forma
Christi gebildete Existenz. Es enthält immer die Dimensionen
der begeisterten Freude über Gottes Nähe, Macht und Zuwendung, die
Blinde sehen macht, Lahme gehen, die Armen die frohe Botschaft bedeutet. Christliche
Existenz würde jedoch zur zynischen Garnitur einer Welt der brutalen Gewalt
und der lebenverunmöglichenden Übermacht, träte sie nicht auch
in die Phase des Widerstandes, der Empörung, des politischen Kampfes gegen Strukturen und Zustände,
die dem Reich Gottes entgegenstehen. Diesem Kampf ist in der Gestalt Jesu kein
schneller und schmerzloser Sieg beschieden. Vielmehr wird die größere
Macht Gottes nur erfahren als die andere Macht, die das Unterliegen im Kampf
gegen die Mächte dieser Welt einschließt. Die Rettung dessen, der
Jesus von den Toten auferweckt und ihn in seiner Kirche zu einer Wirksamkeit
führt, die der galiläische Wanderprediger selbst in der Hoch-zeit
seines Erfolges nicht im Entferntesten erreichen konnte, setzt das Sterben
im Widerspruch zu einer Welt der Gewalt und der lebenverunmöglichenden
Macht voraus.
Wenn diese Stufen der Entwicklung des Antagonismus von Gott und Welt in der
Biographie Jesu kennzeichnend sind für jedes Leben, das sich an dem Vorbild
Jesu orientiert, dann kennzeichnen sie auch das kirchliche Leben. Kirchliches
Leben wird dann nicht verstehbar nach dem Vorbild einer ideologischen Vereinigung,
eines Vereins oder einer Partei, in der Menschen mit möglichst gleichen
Ideen sich zusammenfinden, um ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen. Kirche
ist Teilhabe an der mystischen Biographie Gottes
mit der Menschheit. Diese Biographie ist dynamisch, sich entwickelnd. Sie
kennt Stufen, die einander ausschließen und die dennoch zu der einen Biographie
gehören. Glaube in diesem Sinne kann sich nur als personaler Erfahrungs-
und Lernprozess ereignen. Daraus ergibt sich für die Kirche das Programm
der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen:
Menschen durchleben und durchleiden in ihr Gestalten und Phasen der Biographie
Jesu als Gestalten der Biographie Gottes mit der Menschheit. Zu dieser mystischen
Biographie gehört auch die Gestalt des Zornes, aber auch die Gestalt der
Hineinnahme des Zornes in die Gestalt einer opferbereiten Liebe, die lernt,
dass die Rebellion gegen Gewalt und missbrauchte Macht nur in der Bereitschaft
zum Verzicht auf Gewalt und Machtmissbrauch erfolgreich ist, indem sie zunächst
scheitert, um sich ganz der rettenden Aktivität Gottes zu überlassen.
Aus: Ralf Miggelbrink, Der zornige Gott. Die Bedeutung
einer anstößigen biblischen Tradition (S. 154-158)
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