Victor Emil Frankl (1905 – 1997)
Östereichischer Psychiater und Psychotherapeut. Frankl ist der Begründer der »Existenzanalyse« und damit der »Dritten Wiener Richtung der Psychoanalyse«, der sogenannten »Logotherapie«, die sich als sinn-zentrierte Therapie versteht. Er war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, zugleich aber auch Professor für die von ihm begründete Logotherapie an der International University in San Diego, Kalifornien. Außerdem hatte er Professuren an der Harvard University, an der Stanford University und an den Universitäten in Dallas und Pittsburgh inne. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Unbewußte Religiosität
Logotherapie und Theologie
Unbewußte
Religiosität
Überblicken wir nicht nur die Ergebnisse, die wir uns in den letzten Abschnitten
erarbeitet haben, sondern halten wir sie mit früheren Ergebnissen der Existenzanalyse zusammen, dann zeigt sich so etwas wie ein Dreischritt im Fortgang, in der Selbstentfaltung
dieser unserer Forschungsrichtung: Ausgegangen ist sie vom phänomenologischen
Urtatbestand des menschlichen Seins als Bewusstsein und Verantwortlichsein beziehungsweise der Synthese oder »Potenzierung« beider im Verantwortungs-Bewusstsein,
im Bewusst-sein des Verantwortung-habens.
In einer zweiten Entwicklungsphase nun unternahm die Existenzanalyse den Vorstoß
in die unbewusste Geistigkeit; so wie sie als Logotherapie das Geistige
zum Seelischen — bis dahin eigentlich dem einzigen Gegenstand der Psycho-Therapie
— hinzugenommen hatte, so lernte und lehrte sie nun auch innerhalb des
Unbewussten das Geistige sehen — also gleichsam den unbewussten Logos: Zum Es als dem triebhaft Unbewussten trat
als neuer Befund hinzu das geistig Unbewusste. Mit dieser unbewussten
Geistigkeit des Menschen — die wir dabei als eine durchaus ich-hafte qualifiziert
haben — wurde jene unbewusste Tiefe erschlossen, in der gerade die
großen, existentiell echten Entscheidungen fallen; daraus aber ergab sich
nicht mehr und nicht weniger, als dass es über das Verantwortungsbewusstsein
beziehungsweise die bewusste Verantwortlichkeit hinaus auch so etwas wie
eine unbewusste Verantwortlichkeit geben muss.
Ist die Existenzanalyse mit der Entdeckung des geistig Unbewußten jener
Gefahr entgangen, der die Psychoanalyse unterlegen war, hatte jene nämlich
nicht, wie diese, das Unbewußte ver»es«t und ent»ich«t,
so war sie außerdem noch einer weiteren, sozusagen ihrer inneren Gefahr
entgangen: Mit der Anerkennung des geistig Unbewussten begegnete sie auch
jeder möglichen einseitigen Intellektualisierung und Rationalisierung in
Hinsicht auf das Wesen des Menschen. Der Mensch konnte ihr nicht mehr als ausschließliches
Vernunftwesen erscheinen — nicht mehr als ein Wesen, das ausschließlich
von der theoretischen oder »praktischen Vernunft« her zu verstehen
ist.
Nun aber hat die Existenzanalyse in einer dritten Entwicklungsphase innerhalb
der unbewußten Geistigkeit des Menschen so etwas wie unbewußte Religiosität
entdeckt — im Sinne einer unbewußten Gottbezogenheit als einer dem
Menschen anscheinend immanenten, wenn auch noch so oft latent bleibenden Beziehung
zum Transzendenten. Während sonach mit der Entdeckung der unbewußten
Geistigkeit das Ich (Geistiges) hinter dem Es (Unbewußtes) in Sicht kam,
wurde mit der Entdeckung der unbewußten Religiosität noch hinter
dem immanenten Ich das transzendente
Du sichtbar. Hatte sich sonach das Ich als ein »auch
unbewußtes« beziehungsweise das Unbewußte als ein »auch
geistiges« erwiesen, so erschloß sich nunmehr dieses geistig
Unbewusste als ein »auch transzendentes«.
Die sich so enthüllende unbewusste Gläubigkeit des Menschen —mitgegeben
und mitgesehen im Begriff seines »transzendenten
Unbewussten« — würde besagen, dass Gott von
uns unbewusst immer schon intendiert ist, dass wir eine, wenn auch
unbewußte, so doch intentionale Beziehung zu Gott immer schon haben. Und diesen Gott eben nennen wir den unbewussten
Gott.
Unsere Formel vom unbewussten Gott meint also nicht, dass Gott an
sich, für sich, sich selbst — unbewusst sei; vielmehr meint
sie, daß Gott mitunter uns unbewusst ist, dass unsere Relation
zu ihm unbewusst sein kann, nämlich verdrängt und so uns selbst
verborgen.
Schon in den Psalmen ist die Rede vom »verborgenen
Gott«; und in der hellenistischen Antike gab es den »Dem
unbekannten Gott« geweihten Altar. Was nun unsere Formel vom »unbewussten
Gott« meint, wäre dann die verborgene Beziehung
des Menschen zum seinerseits verborgenen Gott.
Vor drei Möglichkeiten der Entgleisung jedoch hätte sich diese unsere
Formel zu bewahren. Fürs erste dürfte sie nicht pantheistisch missverstanden werden. Denn nichts liegt uns ferner, als etwa zu
behaupten, das Unbewusste oder gar das Es sei selber göttlich. Mag
sich auch gezeigt haben, dass das Unbewusste, als ein »auch
geistiges«, ebenso unbewusste Religiosität in sich birgt — nie und nimmer dürfte es darum nun auch selber mit
dem Nimbus des Göttlichen umgeben werden. Denn dass wir eine unbewusste
Beziehung zu Gott immer schon haben, bedeutet noch keineswegs, dass Gott »in uns« sei, dass er uns unbewusst
einwohne, unser Unbewusstes ausfülle — dies alles wären
Thesen einer dilettierenden Theologie.
Aber auch eine weitere Entgleisung wäre denkbar: Wir könnten die These
vom »unbewussten Gott« etwa im
Sinne des Okkultismus fehlinterpretieren; so zwar, dass jenes Paradoxon,
das sie ja enthält, nämlich die Paradoxie eines »unbewussten
Wissens« um Gott, dann hinausliefe auf die Stipulierung [Übereinkunft, Unterstellung], das Unbewusste sei allwissend oder zumindest mehrwissend als man selbst — das Es wisse
mehr, als »ich« weiß. Aber, wie wir schon sagten, das Unbewußte
ist nicht nur nicht göttlich, sondern kein einziges göttliches Attribut
kommt ihm zu, und so auch nicht das Attribut der Allwissenheit. Wie also die
erstgenannte Entgleisung einer dilettierenden Theologie, so entspräche
die zuletzt angeführte einer kurzschlüssigen Metaphysik. S.46f.
[...]
Nach wie vor aber — so wie bei Freud ist bei Jung das Unbewusste,
und so auch das »religiöse« Unbewusste, ein etwas, das
die Person determiniert. Für uns aber ist die unbewusste Religiosität,
ja ist schon ganz allgemein das geistig Unbewusste, ein entscheidendes
Unbewusst-sein — und eben nicht ein vom Unbewussten her Getrieben-sein;
für uns ist das geistig Unbewusste und erst recht die unbewusste
Religiosität, also das »transzendent Unbewusste« zumal, kein determinierendes, sondern ein existierendes Unbewusstes. Als
solches gehört es jedenfalls der (unbewusst) geistigen Existenz an,
nicht aber der psychophysischen Faktizität. Jung aber versteht »unter
Archetypen eine strukturelle Eigenschaft oder Bedingung, die der mit dem Gehirn
irgendwie verbundenen Psyche eigentümlich ist«. Damit wird die Religiosität
durchaus zu einer Angelegenheit des menschlichen Psychophysicums — während
sie doch in Wahrheit eine Angelegenheit des Trägers dieses Psychophysicums
ist, nämlich der geistigen Person. Für Jung handelt es sich bei den
religiösen Urbildern um unpersönliche Bilder eines kollektiven Unbewussten,
die sich im individuellen Unbewussten mehr oder weniger fertig einfach
vorfinden lassen — eben als psychologische Fakten, als Anteile der psychophysischen
Faktizität; und von hier aus setzen sie sich eigenmächtig, wo nicht
zwangsläufig durch — gleichsam über unsere Person hinweg. Wir
aber sind der Ansicht, dass die unbewusste Religiosität aus der
Mitte des Menschen, aus der Person selbst, hervortritt (und in diesem Sinne
wahrhaft »ex-sistiert«), sofern sie nicht in der Tiefe der Person,
eben im geistig Unbewussten, als verdrängte Religiosität in der
Latenz verbleibt.
Damit, dass wir der unbewussten Religiosität ihren geistig-existentiellen
Charakter belassen, statt sie der psychophysischen Faktizität zuzurechnen,
wird es uns natürlich auch unmöglich, sie für etwas Angeborenes
zu halten: Die Religiosität kann unseres Erachtens schon deshalb nicht angeboren sein, weil sie nicht ans Biologische gekettet ist. Damit soll keineswegs
bestritten werden, daß sich alle Religiosität immer schon innerhalb
gewisser präformierter Bahnen und Schemata bewegt; aber als solche Schemata
dienen ihr nicht angeblich angeborene, vererbte Archetypen, sondern die je schon
vorgefundenen konfessionellen Formen, in die sie sich jeweils ergießt.
Es ist also durchaus zuzugeben, dass solche präformierten Formen vorhanden
sind; aber bei diesen religiösen Urbildern handelt es sich nicht um in
uns schlummernde, auf biologischem Wege überkommene Archetypen, sondern
um die auf traditionellem Wege übernommenen Urbilder je unseres religiösen
Kulturkreises. Diese Bilderwelt ist uns also nicht angeboren, sondern in sie
sind wir hineingeboren.
Wir bestreiten also keineswegs, daß der Mensch für seine Religiosität
etwas vorfindet — daß es ein faktisch Vorgefundenes ist, das er
sich existentiell aneignet. Aber dieses Vorgefundene, diese Urbilder —
das sind nicht irgendwelche Archetypen, sondern das sind die Gebete unserer
Väter, die Riten unserer Kirchen, die Offenbarungen unserer Propheten — und die Vorbilder unserer Heiligen.
Der Überlieferungen stehen genug zur Verfügung — niemand braucht
Gott erst zu erfinden; aber niemand bringt ihn in Form von angeborenen Archetypen
auch schon mit. Echte und in diesem Sinne ursprüngliche Religiosität
hat also nicht das geringste zu tun mit archaischer und in diesem Sinne primitiver
Religiosität. Etwas anderes ist es freilich, wenn wir oft feststellen können,
daß die ursprüngliche — die ursprünglich vorhandene und
nachträglich verdrängte Religiosität mancher Menschen eine naive
ist: eine naive nämlich im Sinne kindlicher Gläubigkeit. Denn sofern
die unbewußte Religiosität eine verdrängte ist, steht ja gar
nichts anderes zu erwarten, als daß sie überall dort, wo sie aus
der Verschüttung gehoben wird, noch an Erlebnisbeständen der Kindheit
haftet. Und tatsächlich: sofern die Existenzanalyse zur Ekphorierung [Vorgang des Sicherinnerns] solcher verdrängt
gehaltener Religiosität führt und so eine An-amnese im wahrsten Wortsinn
leistet, sehen wir, wie sie immer wieder eine unbewußte Gläubigkeit
zutage fördert, die im wahrsten, im besten Wortsinn kindlich zu nennen
ist. Mag sie aber auch kindlich und in diesem Sinne naiv sein— primitiv,
archaisch im Sinne von Jung ist sie darum keineswegs. Nichts findet sich da,
im Ergebnis ihrer unvoreingenommenen Analyse, von all jener archaisierenden
Mythologie, wie sie uns in den Deutungen der Jungschen Schule entgegentritt;
sondern wie sie in der Existenzanalyse mitunter zutage treten, decken sich solche
unbewußt-religiösen Erlebnisbestände schlicht mit lieben alten
Bildern aus Kindheitstagen. S. 50f. [...]
Logotherapie
und Theologie
... Ich sah überzeugte Atheisten sterben, die es zeitlebens glattwegs perhorresziert [entschieden abgelehnt] hätten, an »ein höheres Wesen« oder dergleichen, an einen in einer dimensionalen Bedeutung höheren Sinn
des Lebens zu glauben; aber auf ihren Totenbetten haben sie, was sie in Jahrzehnten
niemandem vorzuleben imstande gewesen waren, »in
der Stunde ihres Absterbens« dessen Zeugen vorgestorben: eine Geborgenheit,
die nicht nur ihrer Weltanschauung Hohn spricht, sondern auch nicht mehr intellektualisiert
und rationalisiert werden kann. »De profundis« bricht das auf, ringt
sich etwas durch, tritt zutage ein restloses Vertrauen, das nicht weiß,
wem es entgegengebracht wird noch worauf es vertraut, und das doch dem Wissen
um die infauste [ungünstige] Prognose
trotzt. S. 63 [...]
Wenn die Psychotherapie das Phänomen der Gläubigkeit nicht als ein
Glauben an Gott, sondern als den umfassenderen Sinnglauben auffaßt, dann
ist es durchaus legitim, wenn sie sich mit dem Phänomen des Glaubens befaßt
und beschäftigt. Sie hält es dann eben mit Albert Einstein, für
den die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen religiös sein heißt.
Ich möchte nun ergänzen, daß ein analoges Statement auch von
Paul Tillich stammt, der uns die folgende Definition anbietet: »Religiös
sein heißt, leidenschaftlich die Frage nach dem Sinn unserer Existenz
zu stellen.«
Jedenfalls ließe sich sagen, daß die Logotherapie — immerhin
primär eine Psychotherapie und als solche der Psychiatrie, der Medizin
zugehörig — dazu legitimiert ist, sich nicht nur mit dem Willen zum
Sinn zu befassen, sondern auch mit dem Willen zu einem letzten Sinn, einem Über-Sinn,
wie ich ihn zu nennen pflege, und der religiöse Glaube
ist letztlich ein Glauben an den Übersinn — ein Vertrauen auf den
Übersinn.
Gewiß, diese unsere Auffassung von Religion hat nur noch herzlich wenig
zu tun mit konfessioneller Engstirnigkeit und deren Folge, mit religiöser
Kurzsichtigkeit, die in Gott anscheinend ein Wesen sieht, das im Grunde nur
auf eines aus ist: daß eine möglichst große Zahl von Menschen
an ihn glaubt, und überdies noch genau so, wie eine ganz bestimmte Konfession
es vorschreibt.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Gott so kleinlich ist. Ich
kann mir aber auch nicht vorstellen, daß es sinnvoll ist, wenn eine Kirche
von mir verlangt, daß ich glaube. Ich kann doch nicht glauben wollen —
ebensowenig wie ich lieben wollen, also zur Liebe mich zwingen kann, und ebensowenig
wie ich mich zur Hoffnung zwingen kann, nämlich gegen besseres Wissen.
Es gibt nun einmal Dinge, die sich nicht wollen lassen — und die sich
daher auch nicht auf Verlangen, auf Befehl herstellen lassen. Um ein einfaches
Beispiel zu bringen: Ich kann nicht auf Befehl lachen. Wenn jemand will, daß
ich lache, dann muß er sich schon bemühen und mir einen Witz erzählen.
Analog verhält es sich auch mit der Liebe und dem Glauben: sie lassen sich
nicht manipulieren. Als intentionale Phänomene stellen sie sich vielmehr
erst dann ein, wenn ein adäquater Inhalt und Gegenstand aufleuchtet.
Eines Tages wurde ich von einer Reporterin des amerikanischen Time-Magazins
interviewt. Ihre Frage war, ob der Trend von der Religion wegführt. Ich
sagte, der Trend führe nicht von der Religion weg, sehr wohl aber von jenen
Konfessionen, die anscheinend nichts anderes zu tun haben, als gegeneinander
zu kämpfen und sich gegenseitig die Gläubigen abspenstig zu machen.
Nun fragte mich die Reporterin, ob dies heißt, daß es früher
oder später zu einer universalen Religion kommen wird, was ich aber verneinte:
im Gegenteil, sagte ich, wir gehen nicht auf eine universale, vielmehr auf eine
personale — eine zutiefst personalisierte Religiosität zu, eine Religiosität,
aus der heraus jeder zu seiner persönlichen, seiner eigenen, seiner ureigensten
Sprache finden wird, wenn er sich an Gott wendet.
Dies bedeutet selbstverständlich noch lange nicht, daß es keine gemeinsamen
Rituale und Symbole geben wird. Gibt es doch auch eine Vielzahl von Sprachen
— und doch: Gibt es nicht für viele unter ihnen ein gemeinsames Alphabet?
So oder so, in ihrer Verschiedenheit gleichen die verschiedenen Religionen verschiedenen
Sprachen: Niemand kann sagen, daß seine Sprache den anderen Sprachen überlegen
ist — in jeder Sprache kann der Mensch an die Wahrheit herankommen —
an die eine Wahrheit, und in jeder Sprache kann er irren, ja lügen. So
kann er denn auch durch das Medium jeder Religion hindurch zu Gott finden – zu dem einen Gott. S.64f.
Aus: Victor E. Frankl: Der unbewußte Gott, Psychotherapie
und Religion
Erschienen als dtv-Taschenbuch 35058
© 1974 und 1988 by Kösel-Verlag GmbH & Co., München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlages