Paul Johannes Tillich (1886 – 1965)

  Deutscher evangelischer Theologe, der seit 1929 Professor für Philosophie in Frankfurt a. M. war, 1933 in die USA emigrierte und in New York, Havard und Chicago lehrte. 1962 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Tillich versuchte das Verhältnis von Offenbarung und Wirklichkeit, von ewiger Wahrheit der christlichen Religion und der geschichtlichen Situation des Menschen näher zu bestimmen.

Siehe auch Wikipedia
 

Das christliche Verständnis des modernen Menschen
Es ist üblich, zu fragen, wie der moderne Mensch das Christentum versteht - oder - weitaus häufiger - missversteht. Das ist eine notwendige und für Theologie und Predigt gleich wichtige Frage. Denn es ist der moderne Mensch, zu dem beide sprechen wollen, und den sie nur erreichen können, wenn sie wissen, wo er steht. Heute aber wollen wir die umgekehrte Frage stellen:

Wie sieht der moderne Mensch aus, wenn er mit christlichem Maßstabe gemessen wird?

Was hat das Christentum über den modernen Menschen zu sagen?

Solch eine Frage bedarf freilich weiterer Erörterung. Man fragt sofort: Was ist gemeint, wenn man vom modernen Menschen spricht, und wie sieht das Christentum aus, das den modernen Menschen mit christlichen Maßstäben messen soll?

Zunächst die erste Frage: Was heißt modern, wenn man vom, modernen Menschen spricht? Ohne viele Umschweife möchte ich antworten: Der Mensch in der Mitte des 20. Jahrhunderts! Sicherlich, der Mensch unserer Tage ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist das Resultat einer langen Vergangenheit, innerhalb derer man überall Punkte finden kann, in die man den Anfang des modernen Menschen zurückverlegt. Die üblichste und wahrscheinlich wichtigste Datierung der Geburt des modernen Menschen ist die Renaissance. Man kann auch mit dem 17. und 18. Jahrhundert anfangen, aber in jedem Fall kommt man von dort zu dem Bild des Menschen, der heute lebt und über den das Christentum etwas aussagen soll.


Und nun entsteht die Frage: Welches Christentum soll die Aussage machen? Diese Frage ist viel schwieriger, aber sie muss beantwortet werden. Jede christliche Theologie hat eine besondere Weise, in der sie über den modernen Menschen spricht.

Was ich ausführe, wurzelt in einem Protestantismus , der so viele moderne Elemente in sich aufgenommen hat, dass er über sich selbst spricht, wenn er über den modernen Menschen spricht. Und doch nicht ganz: Als protestantischer Christ ist man fähig, eine Dimension (Ebene, Ausdehnung, Ausmaß) menschlichen Seins zu sehen, die dem Blick des modernen Menschen, der nur moderner Mensch ist, entschwunden ist. Es ist die Dimension des Unbedingten , des Letzten in Sein und Sinn . Es ist die Dimension, die sich zeigt, wenn die Frage gestellt wird:

Wofür bin ich da?

Warum ist irgend etwas da?

Was ist der Grund, was ist der Sinn alles Seins?

Was ist der Sinn meines Seins?

Auf diese Fragen gibt die Religion Antworten. Es sind keine Antworten, die auf der Ebene wissenschaftlichen Suchens liegen. Es sind Antworten, die unmittelbar und persönlich zu dem gesprochen sind, der fragt, es sind Antworten, die mit dem ganzen Sein des Fragenden aufgenommen werden müssen, und deren Sprache das Symbol ist.

Das Christentum, d. h. viele Vertreter gegenwärtigen christlichen Denkens, wie auch ich selbst, glauben nun zu sehen, dass diese Dimension, die Dimension des Religiösen , dem typisch modernen Menschen verlorengegangen ist. Und es ist die Aufgabe des Theologen, der sich um ein Verständnis des modernen Menschen bemüht, zu zeigen, warum dieser Verlust eingetreten ist, was er bedeutet, und wie das Verlorene wieder gewonnen werden kann.

Es sind drei Prinzipien , die das Bewusstsein des modernen Menschen bestimmen und deren jede zum Verlust der Dimension des Unbedingten oder, um eine Metapher zu gebrauchen, der Dimension der Tiefe beigetragen hat. Wir können sie

das Prinzip der Innerweltlichkeit,

das Prinzip der Vergegenständlichung und

das Prinzip der Umgestaltung nennen.


Jedes dieser drei hat in der gleichen Richtung gewirkt und das geschaffen, was man als den modernen Menschen bezeichnen kann. Wir wollen diese drei Prinzipien der Reihe nach betrachten und auf diese Weise dem christlichen Verständnis des modernen Menschen näherkommen. Dabei muss von vornherein bemerkt werden, dass diese Prinzipien in ihrer ursprünglichen Bedeutung keineswegs antireligiös waren, es aber im Lauf ihrer Entwicklung wurden.

Das Prinzip der Innerweltlichkeit hatte ursprünglich den Sinn, dass das Göttliche nicht in einer Überwelt seinen Sitz hat, sondern dass es in jedem Teil dieser Welt, in der Sonne wie in dem Sandkorn, in dem Tier wie in dem Menschen, ganz gegenwärtig ist. Man braucht nicht in eine Überwelt zu steigen, um Gott zu haben, man kann ihn hier und jetzt haben, ganz und wirklich, obgleich kein Endliches ihn umschließen und begreifen kann. Es war eine religiös gesättigte Innerweltlichkeit, aus der das moderne Prinzip der Innerweltlichkeit geboren wurde.

Im Laufe der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geschah es jedoch, dass das religiöse Element, die Dimension der Tiefe, verschüttet wurde. Der Geist der industriellen Welterkenntnis und Weltbeherrschung ist auf die Dimension des Horizontalen gerichtet. Alles, was vom Vertikalen hereinbrechen könnte, stört ihn. Er braucht eine berechenbare Welt, aus der alles Unberechenbare gebannt ist. Die Vertikale hat zwei Richtungen, die nach oben und die nach unten. Die Richtung nach oben steht symbolisch für das Schöpferisch-Göttliche, die Richtung nach unten für das Zerstörerisch-Dämonische . Es war dem modernen Bewusstsein nicht zu schwer, mit der Richtung nach oben fertigzuwerden. Man brauchte sie nicht zu verneinen, im Gegenteil, es war oft nützlich, sie für innerweltliche Zwecke zu benutzen. Man konnte soziale Herrschaftsverhältnisse als gottgewollt rechtfertigen.

Man konnte politischen Zielen eine religiöse Weihe geben, man konnte nationale Aspirationen religiös begründen. Allerdings war das alles nur möglich, nachdem das Religiöse verharmlost, die Linie nach oben unschädlich gemacht war. Für Erschütterungen, wie sie von dem prophetischen Erlebnis des Göttlichen ausgehen, ist in dem typischen Denken der industriellen Gesellschaft kein Platz, und ebensowenig für die Botschaft von einem neuen Sein, das in die Welt eingebrochen ist und ständig einbricht. Aber schwieriger als mit der Vertikalen nach oben fertigzuwerden, war es für den modernen Menschen, die Vertikale nach unten, das Dämonisch-Zerstörerische auszuscheiden.

Schon früh im 18. Jahrhundert versuchte man es und nicht ohne Erfolg. Das extremste Symbol der Richtung nach unten, die Hölle , wurde leicht beseitigt, und das Wort selbst erhielt sich nur als Fluchwort in der Sprache. Bald folgte der Begriff der Sünde , vor allem der Erbsünde . Er schien einen tiefen Pessimismus über die menschliche Situation auszudrücken und unvereinbar zu sein mit einer freudigen Bejahung des Innerweltlichen. Endlich folgte die Verbannung des Todes aus dem öffentlichen Bewusstsein, aus dem Gespräch und aus der Sicht. Es wurde als taktlos angesehen, vom Tode zu reden. Und mit all dem ging nicht nur der Teufelsaberglaube mit seinen furchtbaren Folgen, sondern auch das Bewußtsein um die dämonischzerstörerischen Kräfte im Leben des einzelnen und der Gesellschaft über Bord. Das ist der moderne Mensch, geformt durch das Prinzip der Innerweltlichkeit.

Und doch ist er es nicht. Er war es nie ganz und er ist es nicht mehr. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat erlebt, dass die Vertikale nach unten nicht abgeschnitten werden kann, er hat erlebt, dass er endlich ist. Und er rennt an gegen die Mauern der Endlichkeit, gegen das Gefängnis, in das ihn das Prinzip der Innerweltlichkeit eingeschlossen hat. Die Innerweltlichkeit, die im Anfang Befreiung war von einem immer drohenden Jenseits , wird von vielen Menschen unserer Tage als Gefangenschaft erlebt. Die Angst der Endlichkeit hat auch die Träger und Beweger der industriellen Gesellschaft ergriffen. Die Kunst, Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts sind ein überwältigendes Zeugnis dafür. Ihr Stil, der Stil der Zerrissenheit und des Rückgangs auf die Urelemente des Universums und des Menschen, zeigt, dass die Dämonen - um dieses Symbolwort zu gebrauchen -, die verbannt zu sein schienen, zurückgekehrt sind.


Man weiß wieder um die tragische Verfallenheit des Menschen, um Schuld, Entleertheit und Verzweiflung. Aber das heißt noch nicht, daß die Mauern der Endlichkeit durchbrochen sind. Kein nüchterner Beobachter wird behaupten, daß die religiöse Welle, die sich in der westlichen Welt, in Amerika wie in Europa, erhoben hat, die Antwort auf die Frage nach der Dimension der Tiefe ist. Sie zeigt an, daß viele Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine solche Antwort suchen. Aber oft hat man das Gefühl, daß diese Wiederkehr des religiösen Interesses eine Gefahr für die Ehrlichkeit und Radikalität des Fragens werden kann. Sie wird es immer dann, wenn die Symbole der Vertikale selbst in den Dienst der Horizontale gestellt werden, mit anderen Worten, wenn die Hinwendung zur Religion von den Mächten der Propaganda, der Reklame, des Geschäfts für ihre sehr endlichen Zwecke benutzt wird. Dadurch wird das Gefängnis der Innerweltlichkeit nur unentrinnbarer.

Eng verbunden mit dem Prinzip der Innerweltlichkeit ist das der Vergegenständlichung. Auch dieses Prinzip war ursprünglich religiös gemeint. Hinter ihm steht die Würdigung des Menschen, jedes Menschen als eines individuellen Spiegels des Universums, als einer Welt im Kleinen, aber doch erhoben über alle anderen Schichten des Daseins. Der Mensch, begabt mit Vernunft, ist dazu bestimmt, alles, was ihm begegnet, erkennend zu spiegeln und handelnd zu beherrschen. Er ist das Subjekt, dem gegenüber alles andere zum Objekt wird. In Wissenschaft und Technik kommt dieses Programm zur Erfüllung. Sie befreien von Aberglauben und magischer Angst, von der Knechtschaft unter mechanische Verrichtungen, die von den Mechanismen der Natur selbst übernommen werden können; sie entmächtigen alles Wirkliche zugunsten dessen, dem durch seine Vernunft Macht über die Dinge gegeben ist. Die Dinge haben aufgehört, Mächte zu sein, und sind Objekte geworden. Aber sie haben sich an dem gerächt, der sie unterworfen hat. Sie haben den Menschen in sich hineingezogen, ihn selbst zu einem Ding gemacht.

In dem Gefängnis der bloßen Endlichkeit wird der Mensch zum Ding. Die Gefahren dieser Situation sind von prophetischen Geistern des 19. Jahrhunderts beschrieben worden, und in unserem Jahrhundert sind sie in aller Mund. Wir sehen heute, was es heißt, ein Teil der gesellschaftlichen Maschine zu sein, die produziert und konsumiert und den einzelnen zwingt, sich ihren Gesetzen anzupassen. Das kam zuerst zum Bewußtsein in der Reaktion des industriellen Proletariats gegen sein Schicksal, eine Ware im Wirtschaftsprozeß und ein Maschinenteil im Produktionsprozeß geworden zu sein. Es wurde dann deutlich in der Lebenssituation der unteren Angestellten und Beamten mit der Mechanisierung ihres täglichen Lebens in Arbeit und Freizeit.

Gegenwärtig zeigt es sich vor allem in der Forderung einer bis ins einzelne gehenden Konformität, die an die mittleren und höheren Angestellten der großen industriellen Unternehmungen sowie an die mittleren und höheren Beamten des bürokratischen Apparats gestellt werden. Vor allem aber zeigt es sich in der Art, wie die ganze westliche Welt unter dem ständigen Druck der Mächte steht, die die öffentliche Meinung schaffen, Radio und Fernsehen, Zeitung und Lichtspiel, Reklame und Propagandarede. Der halb unbewußte Charakter des Einflusses durch diese Mittel macht sie besonders gefährlich für die geistige Freiheit auch da, wo die politische Freiheit garantiert ist. Der moderne Mensch steht zwischen der Angst, sich gegen die Forderungen der Konformität zu vergehen, und der Angst, der Konformität zu verfallen und sein menschliches Selbst darin zu verlieren.

Der Ausdruck der Revolte ist am sichtbarsten in der gleichen Kunst, Literatur und Philosophie, die durch das Gefängnis der Endlichkeit brechen wollen. Der expressive Stil des 20. Jahrhunderts ist ein einziger großer Protest gegen die Vergegenständlichung des Menschen; aber er führt nicht weiter als bis zu dem gleichen Fragezeichen, das wir hinter die Hinwendung zur Religion setzten. Es mag auch hier so sein - und ist schon zum Teil so, z. B. in der Bildreklame -, daß die Ausdrucksformen des Protestes gegen die Vergegenständlichung des Menschen als Mittel in ihren Dienst gestellt werden. Sie werden dadurch, so revolutionär sie auch zuerst erschienen, Elemente der Konformität, in die unsere Zeit auch die extremsten Ideen zu pressen versucht. Hier muß hinzugefügt werden, daß in dieser Beziehung der Unterschied der westlichen und östlichen Welt immer geringer wird.

Nun noch einen kurzen Blick auf das dritte der Prinzipien, die den modernen Menschen bestimmen, das Prinzip der Umgestaltung, nämlich der Umgestaltung von Natur und Gesellschaft durch den Menschen. Auch hier ist der religiöse Hintergrund deutlich. Es ist der Wille, die Erde zum Schauplatz für ein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und des Glückes für alle zu machen, religiös gesprochen zum Schauplatz des Reiches Gottes. Aber bald wurde der religiöse Hintergrund verstellt durch die tatsächliche Beherrschung und Dienstbarmachung der Natur, sowie durch die Organisation der Gesellschaft für diesen Zweck.

Unter dem Symbol des Fortschritts wird mehr und mehr produziert. Die unbegrenzte Möglichkeit zu produzieren, wird zur unwiderstehlichen Versuchung, es zu tun. Es wird produziert, weil Produktion möglich ist. Und sie ist möglich auch über die Grenzen des irdischen Raumes hinaus. Immer neue Möglichkeiten tun sich auf und werden verwirklicht, man stößt grenzenlos vorwärts in die Horizontale, bis plötzlich aus der verstellten vertikalen Dimension sich die Frage erhebt: Wofür? Ist Glück erreicht, Gerechtigkeit, Friede? Oder ist die Qual der Rastlosigkeit, die Spaltung der Welt, die Ungerechtigkeit in der Verteilung von Macht und Besitz zwischen den Völkern, die Möglichkeit der Selbstzerstörung durch die Werkzeuge der Naturbeherrschung das Ergebnis des Vorwärtsdrängens in der Horizontalen? Ekel, Leere, das Gefühl der Sinnlosigkeit haben viele moderne Menschen, besonders in der jüngeren Generation, ergriffen. Die seelische Balance Unzähliger ist ins Wanken geraten. Der Fortschrittsgedanke hat seine Faszination verloren.

Der utopische Glaube an das Reich Gottes auf Erden ist verschwunden. Man sucht Heilung aus der vertikalen Richtung, vielfach in mystischen Formen. Aber auch hier erscheint der modernisierte religiöse Medizinmann und biegt die vertikale Linie zurück ins Horizontale, indem er dem seelisch Verwirrten verspricht, ihn wieder fähig zu erfolgreichem Konkurrenzkampf zu machen.

Das ist das Bild des modernen Menschen, gesehen in christlich-protestantischer Sicht. Es ist nicht das Bild des Menschen ohne Gott. Im Grunde gibt es das überhaupt nicht, weil Gott den Menschen nie aus der Hand läßt. Aber es ist das Bild eines Menschen, der nicht mehr weiß, daß und wie er in der Hand Gottes ist.

Es ist das Bild des modernen Menschen, dem die Prinzipien seiner Modernität zerbrochen sind, der um die vertikale Dimension ringt, die er verloren hatte, der gegen die Mauern der Endlichkeit anrennt, zwischen denen er gefangen ist, der verzweifelt das Selbst verteidigt, das ihm die Verdinglichung der Welt zu rauben droht, der sich aus der sinnlos gewordenen Horizontale in die sinngebende Vertikale retten will. Wenn das der moderne Mensch ist, dann ist er eine Frage, die das christliche Gewissen hören und unter die es sich selbst stellen muß in der Hoffnung, daß die christliche Botschaft Antworten enthält, die der moderne Mensch vernehmen kann, wenn sie zu ihm in seiner Situation und in seiner Sprache gesagt werden. S.143ff.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 292, Das ist der Mensch, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks . Copyright 1959 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart