Avicenna, arabisch: Ibn Sina (980 - 1037)
Islamischer
Philosoph und Arzt. Abu
Ali Al-Husain ibn Abdullah, genannt Ibn Sina (lat. Avicenna), war Sohn eines
Gouverneurs. Er wird von vielen als der größte Gelehrte und »Fürst
der Wissenschaften« des Islam angesehen. Schon vor seinem sechzehnten
Lebensjahr studierte der überaus talentierte
»Wunderknabe« den Koran und Ethik, danach Rechtswissenschaft,
Logik, Geometrie, Astronomie, Physik, Metaphhysik und Medizin. Er eignete sich dabei ein Allround-Wissen an, das ihm später ermöglichte, die damals bekannten Wissenschaften in ein System zu bringen. Als bedeutendster
Vermittler griechischen Denkens an den Orient, verschmolz er die aristotelische
Philosophie mit neuplatonischen Gedanken. Seine Metaphysik hat großen
Einfluss auf Albertus Magnus und Thomas von Aquino ausgeübt.
Sein Hauptwerk ist das »Buch der Genesung (der
Seele)«, das Logik, Physik, Mathematik und Metaphysik umfasst.
Wesentlich hat er zudem die medizinischen Lehren der Griechen vermehrt und
sie in übersichtlicher Form dargestellt. Sein
»Canon medicinae«, gab (in lateinischer
Übersetzung) der abendländischen Heilkunde des 12. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Grundlage und blieb für ein halbes Jahrtausend das maßgebliche Lehrbuch an den medizinischen Fakultäten Europas. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Die Notwendigkeit der
Offenbarung
Damit aber nun eine gemeinsame Tätigkeit und eine gesellschaftliche
Wechselwirkung zustandekomme, bedarf der Mensch menschlicher Gesetze und gerechter
Vorschriften. Diese Gesetze und Vorschriften setzen aber einen Gesetzgeber und
einen nach Gerechtigkeit ordnenden Leiter voraus.
Dieser muss mit den Menschen reden und sie auf die Gesetze verpflichten
können. Er muss daher notwendigerweise ein Mensch sein. Allah kann
die Menschen und ihre Ansichten betreffs des Gemeinschaftslebens nicht ohne
diese Hilfe belassen.
Sie würden sich dann nämlich nicht einigen können. Jeder würde
das für richtig halten, was ihm gerecht erschiene, und für schlecht,
was ihm Schaden zufügte. So bedarf der Mensch eines Gesetzgebers, damit
die menschliche Art erhalten bleibt und er besitzt, was ihm zukommt . . .
Daher ist es notwendig, dass ein Gesandter auftritt,
und es ist ebenso notwendig, dass er ein Mensch ist. Er muss besondere
Eigentümlichkeiten besitzen, die den übrigen Menschen nicht zukommen,
so dass die Menschen an ihm Dinge sehen, die ihnen sonst nicht vor Augen
treten.
Durch diese unterscheidet er sich von ihnen. Er muss also Wunder wirken,
wie wir solche auch von unseren Gesandten (Mohammed) gehört haben; . .. er muss
den Menschen Gesetze bezüglich ihres Gemeinschaftslebens mit der Erlaubnis
Allahs und aufgrund göttlichen Befehles, göttlicher Offenbarung und
der Herabsendung des Heiligen Geistes auf den Gesandten bringen.
Die erste Voraussetzung für alles, was er als gesetzliche Vorschriften
aufstellt, ist die, dass er die Menschen lehrt, dass ein Schöpfer für sie existiert, der nur Einer ist und Allmacht besitzt, dass dieser
sowohl das Geheime wie auch das Offenbare weiß und daß ferner jeder
seinem Befehle gehorchen muss, denn das Recht zu befehlen kommt dem zu,
der die Schöpfung der Welt ausgeführt hat.
Ferner muss er den Menschen zeigen, dass dieser Herrgott für
denjenigen, der ihm gehorcht, ein glückliches, und für denjenigen,
der ihm nicht gehorcht, ein unglückliches Jenseits bereitet hat.
Auf diese Weise erlangt die große Menge (der Menschen) Kenntnis von der
Offenbarung, die von Allah und den Engeln in der Sprache der Menschen ausgeht,
indem sie diese Worte hören und dem Befehl (Allahs) gehorchen.
Der Gesandte darf den Menschen nichts aufbürden, was in Bezug auf die Erkenntnis
Allahs höhere Anforderungen stellt, als das soeben Dargelegte, nämlich:
dass Allah der Eine ist und keinen Gleichen neben sich hat.
Wenn der Gesandte so weit gehen wollte, den Menschen aufzubürden, die Existenz
Allahs wissenschaftlich zu beweisen, während Allah doch nicht Gegenstand
eines Hinweises in einem bestimmten Raume sein kann, noch auch nach Art der
Prädikation teilbar ist, noch sich außerhalb oder innerhalb der Welt
befindet, noch irgendetwas nach Art der irdischen Dinge Beschaffenes ist —
dann würde er den Menschen damit eine übergroße Last aufbürden
und die religiösen Vorstellungen nur verwirren...
Diese Gedanken kann nur der erfassen, der sich in die Betrachtung vertieft und
sich von den übrigen Menschen absondert, um ein einsames Leben zu führen.
Die anderen jedoch vermögen sich diese geistigen Inhalte nicht so vorzustellen,
wie sie vorgestellt werden müssen; sie können sie sich nur in unvollkommener
Weise vergegenwärtigen.
Nur wenige Menschen können den wahren Begriff der Einheit und unkörperlichen
Natur Allahs erkennen, und daher zögern viele auch gar nicht, ein solches
Sein zu leugnen. Dadurch verfallen die Menschen auf Streitigkeiten und wenden
sich eingehenden Untersuchungen und Vergleichen zu, die sie von der Ausführung
der zum Gemeinschaftsleben notwendigen Handlungen abhalten.
Die wissenschaftlichen Forschungen über religiöse Fragen verleiten
die Menschen vielfach zu Ansichten, die dem Glücke des Zusammenlebens der
Menschen hinderlich sind und der Wahrheit der Offenbarung widersprechen. Zugleich
werden dadurch Zweifel und Bedenken erregt.
Darin liegt die Schwierigkeit der Aufgabe für den Gesetzgeber, dass
er die Menschen von diesen Untersuchungen zurückhält. Nicht jedem
ist das Verständnis der theologischen Probleme leicht.
Auch kann der Gesetzgeber nicht zeigen, daß er die wahre und tiefe Erkenntnis
besitzt, während er sie jedoch dem Volke vorenthält. Er darf sich
nicht der Gefahr aussetzen, auf Widersprüche zu stoßen, wenn er solche
Gedanken darlegt.
Vielmehr hat er die Aufgabe, den Menschen die Allmacht Allahs und seine Herrlichkeit
durch Zeichen und Bilder klar zu machen, die er von Dingen hernimmt, die von
den Menschen als erhaben und groß geachtet werden.
Er teilt den Menschen mittels dieser Bilder jenes Maß der Erkenntnis Allahs
mit, das heißt, er lehrt sie, dass Allah nichts gleichkommt, dass
er keinen (anderen) Gott neben sich hat und dass ihm kein Wesen ebenbürtig
ist.
In der gleichen Weise muss den Menschen die Lehre über das Jenseits klargelegt werden in einer Art und Weise, wie sie sich dieses Jenseits überhaupt
vorstellen können und so, dass es ihre Seelen beruhigt.
Daher muss er die Lehre über das Glück und Unglück des jenseitigen
Lebens in Gleichnissen vorführen, die aus den Vorstellungen hergenommen
sind, die die Menschen verstehen und sich innerlich vergegenwärtigen können
... Die Predigt des Gesandten muss— darin ist kein Schaden —
in Zeichen und Andeutungen bestehen. Diese fordern die, welche durch ihre Naturanlage
für philosophische Untersuchung begabt sind, auf, die Wahrheit wissenschaftlich
zu erforschen.
Nach: M. Haller, Die Metaphysik Avicennas,
Halle- New York 1907 (S.661-666)
Text auch enthalten in: Islamische Geisteswelt von Mohammed bis zur Gegenwart
. Herausgegeben von Rudolf Jockel (S.157-160)
Holle Verlag , Darmstadt